Requiem.
Ein greller Blitz durchschnitt die schwüle Sommernacht. Das große Messer funkelte in seinem Schein kurz auf, bevor es tief in das Fleisch eindrang. Die Kerze flackerte im Luftzug, der durch das offene Fenster herein strich, und malte seltsame Schatten an die Wand. Aus der Musikanlage erklang leise und eindringlich die Todesarie aus La Traviata. Der Tod Violettas. Langsam zog ich die Klinge aus dem Parmaschinken und steckte mir genüsslich einen Streifen in den Mund. Der blutrote Brunello funkelte im Licht der züngelnden Flamme. Gab es ein dramatischeres Spektakel als ein Gewitter und Verdi?
Ich trank gerade einen großen Schluck des wunderbaren Weins, als es an der Türe läutete. Wer konnte das sein? Ich erwartete niemanden und hatte auch keine Lust auf Gesellschaft. Ich schaltete meinen versteckten Überwachungsmonitor an, um zu sehen, wer mich stören wollte. Es war Melanie, meine Nachbarin. Da würde ich eine Ausnahme machen. Sie war eine Augenweide. Groß, ein schmales Gesicht mit dunklen, fast schwarzen Augen und vollen Lippen. Sie war schlank und gut proportioniert. Ihre glänzenden, kastanienbraunen Haare reichten ihr fast bis zu den Hüften.
Was wollte sie um diese Zeit von mir? Ich sah, dass sie wieder gehen wollte. Schaltete schnell den Monitor ab und lief zur Türe. Wäre ich damals nur sitzen geblieben und hätte meinen Wein getrunken.
„Hallo Melanie“, begrüßte ich sie „kann ich dir helfen?“
Sie hatte sich bereits ihrer Wohnung zugewandt und drehte sich jetzt zu mir um.
„Hi Maik, ich dachte schon, du willst heute deine Ruhe haben. Hätte ich gut verstehen können. Hast du trotzdem kurz für mich Zeit oder soll ich morgen kommen?“
„Für eine schöne Frau habe ich immer Zeit, komm rein.“
Sie lächelte mich unergründlich an und folgte mir in die Küche.
„Wow, du hast es aber romantisch. Das hätte ich bei einem Computerfreak nicht erwartet.“
„Das ist eben mein zweites Gesicht. Du weißt ja wie bei Jekyll und Hyde.“
„Muss ich jetzt Angst haben?“, fragte sie mit einem Lächeln.
„Willst du mir nicht bei meinem kargen Imbiss Gesellschaft leisten?“
Sie wollte.
Wir prosteten uns zu und genossen still das Essen. Dabei lauschten wir der sterbenden Violetta. Gleißende Blitze, gefolgt von grollenden Donnern, umrahmten eindrucksvoll Verdis Drama.
„Das war wirklich wunderschön“, sagte Melanie, als die Musik verstummte.
„Warum bist du eigentlich zu mir gekommen? Hattest du alleine Angst vor dem Gewitter?“, fragte ich sie lächelnd.
„Nein, ich brauche deinen Rat. Vielleicht auch deine Hilfe. Aber ich möchte diese zauberhafte Stimmung jetzt nicht zerstören.“
Ich sah ihr tief in die Augen. Die schwarzen Locken umrahmten ihr Gesicht und in ihren Augen spiegelte sich die Flamme der Kerze. Sie war von einer fast unwirklichen Schönheit. Oder kam das vom Kerzenlicht oder von Verdi oder vom Brunello?
„Raus mit der Sprache, womit kann ich dir helfen?“
„Lass uns morgen darüber sprechen. Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich noch ein paar Minuten deinen Wein, deine Musik und diese Atmosphäre genießen.“
„Mich nicht?“, fragte ich sie mit einem Lächeln.
„Natürlich, ohne dich wäre das alles nichts“, sagte sie ganz ernst.
Ein Schauer durchlief meinen Körper. Offensichtlich ging es ihr nicht anders denn ihre Brustwarzen zeichneten sich deutlich unter ihrer Bluse ab. Vorsicht!, rief ich mich aus meinen Träumen zurück. Sie will nur einen Gefallen von dir, sonst nichts. Wir saßen schweigend da, lauschten der Musik und dem Unwetter, tranken und aßen mit sinnlichem Genuss. Sie lud mich zum Frühstück ein, und als wir uns die Hände gaben, hatte ich ein Gefühl als würde ein Stromkreis geschlossen. In diesem Augenblick hätte alles passieren können aber wir ließen ihn ungenutzt verstreichen.
Ich stand früh auf, um frische Brötchen zu besorgen. Dann läutete ich bei Melanie. Bei der zweiten Tasse Kaffee fragte ich sie nach dem Grund ihres gestrigen Besuches.
„Ich weiß nicht, ob es dein Metier ist aber eventuell kannst du mir doch helfen. Du weißt ja ich bin freie Journalistin und mein Spezialgebiet ist Kindesmissbrauch und Gewalt gegen Frauen. Ich recherchiere zurzeit wegen eines Kinderpornoringes. Ich möchte die Leute bloßstellen, die mit diesen Fotos handeln und sich am Leid der geschundenen Kinder aufgeilen. Ich hatte gestern eine Verabredung mit einem Informanten. Aber er ist nicht zum vereinbarten Treffen gekommen. Das ist noch nichts Außergewöhnliches, damit muss ich leben. Was seltsam ist, an seinem Handy meldet sich die Mailbox, so als würde er einfach nicht abheben. Er hat es offensichtlich nicht ausgeschaltet. Ich habe immer wieder versucht, ihn zu erreichen, aber er geht nicht ran. Das kommt mir komisch vor. Ich frage mich, ob ihm etwas zugestoßen ist. Was meinst du?“
„Wirklich eigenartig. Vielleicht hat er kalte Füße bekommen und er will einfach nicht mit dir reden?“
„Das ist natürlich nahe liegend, andererseits ich kann nicht so recht daran glauben. Er war so gierig auf das Honorar, dass ich ihm versprochen hatte. Leider weiß ich nicht, wo er wohnt. Hast du eine Idee, wie ich ihn finden könnte?“
„Ihn zu finden wird schwer sein, aber ich kann versuchen, sein Handy zu orten. Wenn er es wirklich eingeschaltet hat, wissen wir bald, wo er ist.
„Das kannst du?“
„Ich versuche es. Ohne Einverständnis des Betroffenen ist es zwar nicht ganz legal, aber mit der richtigen Software ist es kein Problem. Gib mir bitte seine Telefonnummer.“
Ich ging damit zu meinem Laptop und einige Minuten später wusste ich, wo sich sein Handy im Augenblick befand. Es war in einer Schrebergartenkolonie, nicht weit von hier. Wir parkten vor der Laubensiedlung, die sinnigerweise „Grüner Daumen“ hieß. Schon nach wenigen Schritten waren wir von natürlichen und künstlichen Gartenzwergen umzingelt. Die lebenden Exemplare musterten uns argwöhnisch, die anderen ignorierten uns. Ich drehte mich kurz um und bemerkte, dass wir unter skeptischer Beobachtung standen. Als das Navi mir signalisierte, dass wir die richtige Stelle erreicht hatten, wählte ich die Nummer des Informanten und wir hörten vor uns im Gras eine Polizeisirene heulen. Eine lustige Handymelodie für einen Verbrecher. Wir durchsuchten das Gras und nach wenigen Minuten hatten wir es gefunden. Es lag direkt vor einer Laube. Sie schien leer zu stehen.
„Was wollte er hier?“, fragte ich Melanie. Sie zuckte nur die Achseln und meinte: “Lass uns schnell verschwinden. Die Gartenzwerge glotzten uns an und rückten immer näher.“
„Wohin jetzt?“, fragte ich sie, als wir vor meinem Auto standen..
„Was hältst Du davon, wenn ich dir zur Revanche etwas zum Essen koche?“ Sie sah mich erwartungsvoll an.
“Leider kann ich, trotz großen Hungers, dein verlockendes Angebot nicht annehmen. Ich muss heute noch einen dringenden Auftrag erledigen. Das kann, wenn es kompliziert wir, auch die ganze Nacht dauern.“
Sie schien nicht sehr enttäuscht zu sein und wir verabredeten und für den nächsten Tag zum Mittagessen. Dann hauchten wir uns einen Kuss auf die Wangen und trennten uns.
Das mit dem Auftrag war natürlich geschwindelt. Ich wollte unbedingt heute Nacht noch einmal zu dieser Laube. Was war da geschehen? Der Typ konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Warum hatte Melanie urplötzlich kein Interesse mehr daran, ihn zu aufzuspüren? Hatte sie dieselbe Idee wie ich? Warum lag das Handy vor dieser Laube? Hatte er es verloren oder wollte er sie in eine Falle locken? Eine Antwort auf diese Fragen konnte ich nur finden, wenn ich der Laube einen Besuch abstattete.
Ich sah mir auf der Karte die Lage der Hütte an. Sie lag am Rand des Areals. Von einem Feldweg aus war es ein Leichtes, an ihre Hinterseite zu gelangen.
Mein schwarzer Karateanzug sorgte für Bewegungsfreiheit und machte mich im Dunklen fast unsichtbar. Um 23 Uhr verließ ich meine Wohnung. Bei Melanie war es dunkel. Schlief sie schon?
Ich fuhr ein Stück in den Feldweg und ging den Rest zu Fuß weiter. Der Zaun stellte kein Hindernis dar. Mit einem Satz war ich darüber und stand genau hinter der Laube. Es war eine mondlose und stille Nacht. Nur die
Nachträuber waren auf der Jagd und aus der Ferne hörte man den Autoverkehr rauschen. Ich legte mein Ohr an die Bretterwand der Kate. Sie war noch warm von der Sonne und roch nach Teer.
Ich lauschte konzentriert. Nichts. Oder?
Waren da Schritte? Dann ein Geräusch, als würde eine Sektflasche entkorkt. Feierte da jemand? Stille. Hatte ich mich getäuscht? Zur Sicherheit verharrte ich noch ein paar Minuten bewegungslos.
Vorsichtig tastete ich mich an der Wand entlang und fand die Hintertüre. Sie war nicht verschlossen. Seltsam. War ich gerade dabei in eine Falle zu tappen? Langsam zog ich die Türe Zentimeter für Zentimeter auf. Sie ließ sich zu meiner Überraschung, völlig geräuschlos öffnen. Vorsicht!
Meine innere Alarmglocke schrillte so laut, dass ich Angst hatte, jeder im Umkreis von hundert Metern könnte sie hören. Es lauerte eine Gefahr in dieser Dunkelheit. Ich spürte sie. Sie umgab mich wie eine unsichtbare Hülle und schärfte meine Instinkte.
Aus welcher Richtung würde sie mich anspringen?
Lautlos glitt ich in den Raum. Ein schneller Schritt nach rechts, um von der hellen Türöffnung weg zu kommen. Dann blieb ich stehen, hielt den Atem an und starrte angestrengt in die Finsternis.
Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich, dass ich mich in einem kleinen Büro befand. Was hatte das in einer Gartenlaube zu suchen? Auf einem Schreibtischstuhl lag ein Bündel Kleider. Hatte sich hier jemand umgezogen? Ich drehte den Stuhl zu mir. Der Schock traf mich unerwartet. Wie ein Ertrinkender japste ich nach Luft. Das Kleiderbündel war ein Mensch.
Melanie!
Ihr Kopf war nach vorne auf die Brust gesunken. Ich hob ihn an uns sah das Einschussloch in ihrer Stirne. Ihre toten Augen starrten in die Leere. Das Blut glänzte noch feucht. Ich berührte ihren Hals, sie war noch warm. Es musste also erst vor Kurzem geschehen sein. War das das Geräusch das ich gehört hatte? Warum war ich nicht ein paar Minuten früher gekommen?!
Ich ahnte mehr als ich sah, dass sich etwas blitzschnell auf mich zu bewegte. Meine Reflexe funktionierten automatisch. Ich ließ mich seitlich wegkippen und setzte gleichzeitig zu einem Yoko Geri, einem Fußstoß an. Der Schmerz in meinem Fuß zeigte mir, dass ich getroffen hatte. Es folgte ein Stöhnen und ein Poltern. Stille. Ich hörte nur das rasende Pochen meines Herzens. Was war geschehen? Ich wartete noch einige Minuten, dann schob ich mich seitlich in Richtung Türe und versuchte etwas zu erkennen. Es gelang mir nicht.
Endlich ertastete ich den Lichtschalter. Ich schaltete ihn an und ließ mich gleichzeitig auf den Boden fallen. Die Neonröhren zuckten einige Male, bis sie den Raum in grelles, erbarmungsloses Licht tauchten.
Melanie starte mich mit ihren toten Augen an. Der Tisch war mit ekelhaften Pornofotos bedeckt. An der hinteren Wand lag zusammengesunken ein Mann. Nach Melanies Beschreibung musste das ihr Informant sein. Eine Pistole mit Schalldämpfer lag vor seinen Füßen und ich kickte sie quer durch den Raum. Dann näherte ich mich vorsichtig dem Mörder.
Ich fühlte nach dem Puls. Nichts.
Wie so oft saß ich an meinem Küchentisch. Der laue Sommerwind spielte mit der Flamme der Kerze. Die Schatten zeichneten geheimnisvolle Figuren an die Wand. War es tatsächlich erst einen Tag her, dass Melanie hier bei mir saß? Voll Trauer lauschte ich Mozarts Requiem.
Confutatis maledictis flammis acribus addictis –
Die Übeltäter sind verbannt, den sengenden Flammen übergeben.
Ich fühlte mich einsam. Einsamer als je zuvor.
Texte: Wilhelm Domandl
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2017
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Paul.