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Endlich fre

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Es kam mit der Morgenpost: ein ganz normal aussehendes Paket in braunem Packpapier und verschnürt mit derber Doppelschnur. Es unterschied sich in nichts von Tausenden anderen Paketen, wie sie die Postboten täglich austragen. Mit diesem aber hatte es eine besondere Bewandtnis – eine ganz besondere.
Er erwartete es schon sehnlichst. Ungeduldig riss er die Verpackung auf. Als das Papier entfernt war, hielt er unwillkürlich den Atem an. Würde alles da sein, so wie er es bestellt hatte?
„Es hat geklappt“, rief er froh. Das erste Mal seit Monaten fühlte er sich erleichtert und frei. Fast sein gesamtes Harz IV – Geld hatte er in diesen Einkauf investiert. Nachts hatten ihn Albträume geplagt. Immer wieder hatte er geträumt, dass sein Geld verloren war und er seine Bestellung nie bekommen würde. Bei Interneteinkäufen weiß man ja nie genau. Schweißgebadet, mit rasendem Herz war er aufgewacht. Was wenn der Zoll das Paket beschlagnahmen würde? Was wenn sie ihm nicht das Richtige schicken würden?

Endlich war die Ungewissheit vorbei!

Bevor er die Wohnung verließ, zählte er noch einmal sein Geld, es würde reichen. In den vergangenen Tagen hatte er seinen ohnehin schon bescheidenen Speiseplan weiter eingeschränkt, hatte alles gespart für diesen Tag.

Natürlich hätte er wie viele andere in dieser Zeit zu einer Suppenküche gehen können, doch er konnte seinen Stolz nicht überwinden. Zu Hungern war gar nicht so schlimm. Nur am Anfang tat es weh, später hatte er keinen Hunger mehr. Er spürte, dass er etwas wacklig auf den Beinen wurde und von Zeit zu Zeit offensichtlich Halluzinationen hatte. Alles nicht so schlimm.

„Na, Ihnen scheint es ja gut zu gehen“, begrüßte ihn die Nachbarin, als er die Wohnung verließ. „Ja, ganz wunderbar, ich hoffe Ihnen auch“, antwortete er beschwingt.

„Arbeitslos, Hartz IV – Empfänger, abgemagert aber freut sich wie ein Schneekönig“, murmelte die Frau und sah ihm kopfschüttelnd nach.

Sein erstes Ziel war ein Kaffeehaus am Viktualienmarkt. Als er eintrat, schlug ihm der Duft von frischem Kaffee, Kuchen und Brot entgegen. Gedämpftes Murmeln, das ab und zu durch das Klappern von Geschirr unterbrochen wurde, er liebte diese Atmosphäre. Mit einer Zeitung vom Zeitungsständer setzte er sich ans Fenster. So konnte er das geschäftige Treiben am Markt beobachten.

Er gönnte sich ein opulentes Frühstück aus Cappuccino, Butterbrezen und einem Croissant. Schluck für Schluck und Bissen für Bissen genoss er es. Langsam breitet sich eine wohlige Wärme in ihm aus.

Später machte er einen Spaziergang über den Markt. Er genoss den Duft nach Käse, Gewürzen und Salzgurken. Früher, als er noch Arbeit hatte, war er oft hier gewesen und hatte so manches Schmankerl genossen. Mit Hartz IV blieb ihm nur der Duft, der war kostenlos.

Er setzte sich auf den Stuhl eines Imbisses und beobachtete die Leute. Manche in Hektik, andere schlenderten gelassen zwischen den Ständen herum. Seine Gedanken gingen zurück in die Zeit, als seine Frau noch lebte und sie zusammen hier gesessen hatten. Sie waren sich damals ihres Glückes nicht bewusst.

Dann ihre Krankheit und ihr plötzlicher Tod.
Wochenlang war er wie betäubt. Überwunden hatte er es nie, nur überlebt. Wenigsten hatte sie den sozialen Abstieg, der mit seiner Arbeitslosigkeit kam, nicht mehr miterleben müssen.

Anfangs, mit dem Arbeitslosengeld ging es noch. Aber er verbrauchte langsam das wenige Ersparte, immer noch in der Hoffnung, bald eine Arbeit zu finden. Nach über sechshundert erfolglosen Bewerbungen, musste er einsehen, dass er mit 59 Jahren wohl arbeitslos bleiben würde. Mit Hartz IV kam dann der totale Abstieg. Er konnte nicht mal mehr das Wohngeld der Eigentumswohnung bezahlen. Beim Sozialamt sagte man ihm, er müsse die Wohnung verkaufen und sich eine kleinere suchen. Laut Hartz IV stünden ihm nicht so viele Quadratmeter zu. Wenigstens war diese Schmach seiner Frau erspart geblieben.

Er holte sich ein Glas Rotwein am Kiosk, saß in der Sonne und versuchte an nichts mehr zu denken. Sein abgemagerter Körper sog die Wärme auf wie ein trockener Schwamm das Wasser, er würde sie für seine bevorstehende Reise dringend benötigen.

Später, als ihm kalt wurde, ging er ins Kino. Er achtete nicht auf den Film, sondern genoss die Ruhe und die Dunkelheit. Damals, als er seine Frau kennen gelernt hatte, flüchteten sie oft vor der Kälte ins Kino. Meist saßen sie in der letzten Reihe, sie wärmten sich aneinander und küssten sich. Er schreckte aus seinen Träumen hoch. Das Licht war angegangen und die ersten Leute verließen bereits den Saal.

Inzwischen war es dunkel geworden. Er ging schnell, als müsste er zu einer wichtigen Verabredung. Jetzt wollte er keine Zeit mehr verlieren.

Zu Hause angekommen, öffnete er das Paket und legte das braune Packpapier ordentlich zusammen. Die darin enthaltenen Schachteln reihte er aneinander.

Zu seinem letzten Geburtstag hatte er von seinem Freund eine besondere Flasche Rotwein bekommen. Die öffnete er jetzt und schenkte sich ein Glas ein.

Er entnahm der ersten Schachtel die Streifen mit den Tabletten, drückte sie aus der Verpackung und legte sie vor sich auf den Tisch. Entschlossen und ruhig schluckte er eine nach der anderen und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. Dies wiederholte er für jede Packung. Insgesamt hundertzwanzig Mal.

Als er damit fertig war, warf er die Verpackung in den Müll und setzte sich in seinen Lieblingsstuhl. Er trank einen großen Schluck von seinem Wein.
„Prost Herbert, mein Freund, danke für deinen guten Tropfen“, sagte er laut und prostete dabei in Gedanken seinem Freund zu.

„Mein Schatz, jetzt bin ich gleich bei dir“, flüsterte er und lächelte glücklich.

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Tag der Veröffentlichung: 08.02.2009

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