Vermisst
„Nein, wie süß er da aussieht, ihr Patrick“, Frau Schulz, die Ladenbesitzerin, schüttelt bekümmert den Kopf und gibt das Foto zurück.
„Ich habe es kurz vor seinem ersten Fußballspiel gemacht und er war so stolz, mitspielen zu dürfen“. Die letzten Worte gehen in einem Schluchzen unter. Frau Ebermann, die Mutter des vermissten Jungen, steht verloren in der Mitte des kleinen Dorfladens und wird von Weinkrämpfen geschüttelt.
„Darf ich das Foto von meinem Kleinen hier bei ihnen an die Türe hängen?“ fragt die Mutter.
„Selbstverständlich, warten sie, ich helfe ihnen“. Gemeinsam befestigten sie das Foto an der Tür. „Danke“ sagt Frau Ebermann und verlässt mit
hängenden Schultern den Laden.
"Arme Haut“, denkt sich Frau Schulz, „vor zwei Jahren stirb ihr Mann so plötzlich an Krebs und jetzt das“. Sie betrachtet das Foto von Patrick. Es zeigt ihn in seinem Sportdress, das Käppi keck mit nach hinten gedrehtem Schirm auf dem blonden Schopf. Er isst einen Apfel und es scheint als wäre es ihm unangenehm dabei fotografiert zu werden. „Wirklich ein nettes Kerlchen“ murmelt die Ladenbesitzerin. Dann macht sie sich wieder an die Arbeit.
Bergl ist ein kleines Dorf in Oberbayern. Wegen seiner absoluten Bedeutungslosigkeit ist es ein schönes Dorf geblieben. Außer einigen Wirtshausraufereien dann und wann, gab es hier bisher auch noch keine Verbrechen. Jetzt in der Sommerhitze, liegt es träge und beschaulich in der Sonne. Erst am Abend, wenn es kühler wird, treffen sich die Bewohner im Biergarten oder in der Eisdiele.
Die Gespräche waren bisher ruhig und gemütlich, ab zu wurde auch laut gelacht. Nicht so gestern und heute. Die Leute stehen und sitzen laut diskutierend beisammen. Das Verschwinden des kleinen Patricks ist das einzige Thema. Die Ruhe ist weg.
Schon werden die ersten Verdächtigungen ausgesprochen. Die wildesten Theorien entwickelt.
„Des warn bestimmt de von da Russenmafia“, meint einer. „Schmarrn, Russenmafia, de wolln doch immer Geld. De Frau hat doch ka Geld“, widerspricht ein Anderer. „Dann wars halt ana von de depperten Sexverbrecha, die de Richter immer glei wieder laufen lassen!“, ruft einer aufgeregt. „Genau, de perversen Säu, umbringen sollt ma sie alle“, stimmt ein anderer zu.
„Vielleicht is er ja ausgrissen?, gibt eine Frau zu denken.
„Ausgrissen? Des brave Buberl? Na, na den hat ana umbracht“ antwortet eine andere.
„Verschreis net, sag so was net! De arme Frau“, meint eine Alte.
So diskutieren sie stundenlang und zur Freude des Wirtes auch viele Biere lang. Mit jedem Bier wächst die Aggressivität. An die einsame Mutter, die um ihren Sohn weint, denkt zu dieser Stunde niemand mehr.
Die Bretterwand des Bootshauses, an die Patrick sich angelehnt hat, strahlt noch die Wärme des Tages aus. Die Wellen des Sees glitzern im Mondlicht. Leise plätschert das Wasser zwischen den Booten. Er riecht den See, der laue Abendwind bringt den Duft frisch gemähten Grases zu ihm. Ab und zu quakt eine Ente aufgeregt. Er fühlt sich wohl.
Seit sein Vater gestorben war, hatte die Mutter ihn mit ihrer Fürsorge erdrückt. Er konnte es irgendwann nicht mehr ertragen, die Enge der Wohnung, den Friedhofsbesuch an jedem Sonntag, die Trauer, die wie eine schwere Bürde auf ihm lastet. Er liebte seinen Vater sehr und dachte in der ersten Zeit auch, er würde nicht weiterleben können ohne ihn. Aber dann hatte er begriffen, sein Vater würde nicht zurückkommen und für ihn ging das Leben weiter.
Seine Mutter aber versank in ihrer Trauer und drohte ihn mitzureißen.
Ohne lange nachzudenken und planlos fuhr er nach der Schule mit seinem Fahrrad los. Nicht nach Hause, nein, er verließ das Dorf in der Gegenrichtung. Keiner hatte ihn in der Mittagshitze gesehen. Mit jedem Kilometer, den er zwischen sich und das Dorf brachte, fühlte er sich leichter. Erst später, als sich Hunger und Durst bemerkbar machten, überlegte er, wo er hinfahren könnte. Da fiel ihm das Bootshaus, der Eltern seines besten Freundes, am Chiemsee ein. Er hatte schon viele unvergessliche Wochenenden und Ferien dort verbracht. Er kannte das Versteck des Schlüssels und wusste, dass es genügend Vorräte gab. So radelte er glücklich und befreit bis an sein Ziel.
Mit schwimmen, in der Sonne dösen und lesen verbrachte er die Tage. Es waren die schönsten Tage seit dem letzten Urlaub mit seinen Eltern am Meer.
Doch schon am Vortag, als er bemerkt hatte, dass die Essvorräte zu Ende gingen, hatte sich sein Gewissen gemeldet. Er hatte nicht bedacht, dass seine Mutter große Angst um ihn haben würde. So beschloss er, am nächsten Tag zurückzufahren.
Er machte sich keine Sorgen, was ihn zu Hause erwarten würde, seine Mutter würde glücklich sein, ihn wieder zu haben.
In der Kühle des nächsten Morgens strampelte er vergnügt seinem Zuhause entgegen. Inzwischen freute er sich schon auf das Wiedersehen mit seiner Mutter. Bald würde er eine kleine Rast machen, denn er wollte auch diesen Tag noch in vollen Zügen genießen.
Hinter ihm heulte der Motor eines Sportwagens auf. „So ein Depp“, dachte er, als er das Quietschen der Reifen hörte. Das Krachen, als das Auto ihn mit hoher Geschwindigkeit erfasst, hörte er nicht mehr.
Das Auto entfernte sich, ohne anzuhalten, in rasendem Tempo.
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2009
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