Dreißig Grad und jede Menge Palmen.
Riecht oder besser gesagt, stinkt Bürokratismus eigentlich? So wie es in einer Schlächterei nach vertrocknetem Blut und Tod stinkt?
Ist es der Angstschweiß der Arbeitssuchenden, gemischt mit der Gleichgültigkeit der Beamten, der diese besondere Geruchsmischung in einer deutschen Arbeitsagentur erzeugt? Jedes Mal, wenn ich dieses Gebäude betrete, kommen bei mir diese und andere Fragen hoch. Kaum hat man einige Atemzüge dieser Luft geatmet, machen sich auch schon die ersten Depressionen bemerkbar.
Ich ziehe meine Nummer, 197. Die Anzeige zeigt 47. Bestimmt ist es kein Zufall, dass man hier sofort zu einer Nummer gemacht wird. Eine Nummer hat keine Gefühle, keine Persönlichkeitsrechte, keine Meinung.
Hundertfünfzig Nummern, aber kaum Menschen zwischen mir und der Erlösung, dort hinter einer der Türen. Im Warteraum sitzen maximal 20 Leute. Wo sind denn die anderen 150? Vielleicht arbeiten sie hier mit „Toten Seelen“. Sicher manipulieren sie diese Anzeige da an der Wand, weil sie die Anweisung von oben haben, die Menschen hier soweit zu kriegen, dass sie irgendwann fliehen, nur um aus dieser Psychomühle zu entkommen. Darauf warten sie nur! Dann kann man Ihnen die Leistungen kürzen!
Doch den Gefallen tue ich ihnen nicht!
Ich sitze auf einem dieser unbequemen Plastikstühle, auf denen man unweigerlich kleben bleibt. Ja, man bleibt kleben, physisch und psychisch.
Aus dem Rucksack hole ich mein Buch und mustere über dessen Rand meine Leidensgenossen. Was geht wohl in deren Köpfen vor? Warum wehrt sich niemand gegen diese Behandlung? Warum wehre ich mich nicht? Ich kenne die Antwort. Weil ich auf dieses Geld angewiesen bin! Ich muss ich mich demütigen lassen, ich muss ich mich zur Nummer machen lassen, muss „ja“ sagen, obwohl ich „nein“ schreien müsste. Ich verkaufe hier meine Würde, meinen Stolz, und werde so zur Staatsnutte.
Hier sieht man nie einen von den Politikern oder Reportern, die darin wetteifern, die arbeitsscheuen Drückeberger zu beschimpfen. Was würde von ihrem forschen, hirnlosen Gelaber nach einem Tag in dieser Atmosphäre wohl übrig bleiben?
Die 86 leuchtet auf. War die letzte Nummer nicht 62? Veranstalten sie da drinnen ein Arbeitslosenroulette?
Mir gegenüber sitzt eine attraktive Dame im grauen Businesskostüm. Schwarze, schulterlange Haare, kastanienbraune, fast schwarze Augen, lange, schwarze Wimpern. Keine Größe 36, nein, reifer und schöner. Auch sie hat ein Buch in der Hand und tut, als würde sie lesen. Unsere Blicke treffen sich und verweilen einen Wimpernschlag. Das Lächeln in ihren Augenwinkeln ahne ich mehr, als dass ich es wirklich sehe.
Lange Zeit wird keine neue Nummer aufgerufen. Dann kommen drei übergewichtige Matronen in Gesundheitssandalen aus dem Zimmer. Langsam, sehr langsam, jede mit einer Kaffeetasse in der Hand. Schnell sind nur Ihre Münder.
Ich suche wieder die braunen Augen. Wir treffen uns und sind einer Meinung: „Faules Pack.“
Es wird stickiger und bedrückender. Die Minuten versickern nur widerwillig, kaum merkbar, in diesem Morast aus Gleichgültigkeit und Niedergeschlagenheit.
Habe ich geschlafen oder war ich in den braunen Augen versunken? Plötzlich ist die 196 in der Anzeige. Die Businessfrau geht in das Zimmer und kommt nach wenigen Minuten stolz und ungebrochen wieder heraus. Unsere Augen treffen sich nochmals, dann bin ich an der Reihe.
„Sie schon wieder“, begrüßt mich mein Betreuer. „Sie wissen doch, so lange ich massenweise Vierzigjährige zu vermitteln habe, kann ich mich mit einem Fünfzigjährigen, nicht beschäftigen.“
„Ich wollte nur mal wieder von Ihnen getröstet werden“, antworte ich und schenke ihm mein Sonntagslächeln. „Schön, das habe ich ja jetzt getan“, antwortet er mit einem unverbindlichen Lächeln. Dann knallt er mir einen Stempel auf mein Formular und ich stehe wieder vor der Türe.
Ein Blick auf die Uhr, fünf Stunden war ich in dieser Depressionsfabrik. Jetzt nichts wie raus.
Als ich das Haus verlasse, sehe ich sie sofort. Sie telefoniert mit ihrem Handy. Ich setzte mich auf eine Bank und höre, nicht ganz unfreiwillig, ihrem Gespräch zu. Was ich höre, finde ich wirklich seltsam.
„Ja, jeden Tag über 30 Grad und strahlend blau von morgens bis abends … (ein Lkw) jede Menge Palmen, sogar hier vor der Zelle, Dattelpalmen, nehme ich an…(die Straßenbahn)“
Unsere Augen treffen sich, sie legt den Zeigefinger an ihre Lippen und schenkt mir ein verschwörerisches Lächeln.
„Braun werden? Wer will denn heute noch braun werden?“
Hier könnte man auch nur von den Abgasen braun werden, denke ich.
„Männer, ja … (leider wieder ein LKW)“ Sie lächelt mich offen an. „Ach so..(ein kaputter Auspuff)... traumhafte Bootsfahrt bei Vollmond. … Nein, nein,...nicht so, wie du denkst …Ich muss jetzt Schluss machen, es steht jemand vor der Zelle … ich dich auch … Tschüss!“
Sie klappt ihr Handy zu und kommt zu mir. „Ich muss meiner Freundin Geschichten erzählen, sie ist seit langer Zeit arbeitslos und wenn sie erführe, dass auch ich keinen Job mehr habe, würde sie jede Hoffnung verlieren. Darf ich Sie auf ein Gläschen Sekt einladen? Ich muss meine Depressionen runterspülen und das geht am besten zu Zweit.“
Ohne meine Antwort abzuwarten, hakt sie sich bei mir unter, und wir steuern zielstrebig das nächste Cafe an.
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2009
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