Cover

Frau Boisenbergs kleines Geheimnis



„Heinz?“
„Ja, Gerda?“
„Schläfst du?“
„Jetzt nicht mehr.“
„Tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe, aber ich musste gerade daran denken, dass wir bald unseren 50. Hochzeitstag haben.“

„Genau in drei Tagen und ich kann dir nicht einmal Blumen kaufen. Da rackert man sein ganzes Leben und dann kann man seiner Frau zu so einem Anlass nicht einmal ein paar Blumen kaufen. Sie sollten uns, statt der minimalen Rente, Gift geben, dann hätten wir das Elend wenigstens hinter uns. Und die Gauner, die über unsere Rente entscheiden, genehmigen sich, zwischen ihren Korruptionsaffären, noch schnell eine Diätenerhöhung. Pack!“

„Ach Heinz, ärgere Dich doch nicht, du kannst ja doch nichts daran ändern. Kostet nur deine Nerven.“
Frau Boisenberg tätschelt ihrem Mann beruhigend die Hand. Sie haben ihre Liegestühle immer dicht beisammen stehen, so dass sie sich jederzeit berühren können.

Herr Boisenberg steht langsam aus seinem Liegestuhl auf. Sein volles weißes Haar bildet einen schönen Kontrast zu seinem braungebrannten Gesicht. Er hat sich in den vielen Jahren nicht sehr verändert. Groß, schlank, den Kopf stolz erhoben, so war er schon immer, denkt sie, als sie ihn so vor sich stehen sieht.

Sie räkelt sich auf ihrem Liegestuhl. Ihre langen, glänzenden, roten Haare umrahmen ihr immer noch schönes Gesicht mit den winzigen Sommersprossen. Ihre türkisgrünen Augen blitzen in der Sonne. Ihre reifen, weiblichen Rundungen ziehen auch heute noch die Blicke der Männer auf sich.

„Verdammt noch mal! Verdammt! Was bin ich nur für ein alter Trottel!“, hört sie ihn im Haus schimpfen.
„Heinz, was ist los?“ Frau Boisenberg steht schnell auf und eilt ins Haus. Wenn ihr Mann so flucht, muss etwas Schlimmes geschehen sein.

Ihr Mann steht völlig verstört am Küchentisch und hat die Reste seiner Brille in der Hand.
„Stell dir vor, was ich Vollidiot gemacht habe. Mir fällt die Brille runter und blind, wie ich bin, versuche ich sie aufzuheben und trete auch noch drauf.“

„Dann musst du gleich zum Augenarzt und dir eine neue verschreiben lassen.“
„Und mit welchem Geld soll ich die kaufen? Du weißt doch, dass die Kasse für Brillen fast nichts mehr bezahlt und schon gar nicht meine Mehrstärkengläser. Ich kann mir keine neue Brille kaufen. Unsere Gesundheitsministerin ist wahrscheinlich der Meinung, wer sein Elend nicht sieht, lebt glücklicher.“
„Siehst du mit deiner alten überhaupt nicht mehr?“
„Sie reicht vielleicht um eine Türe zu erkennen, aber lesen und mit dem Laptop arbeiten kann ich damit nicht.“
„Du verbringst doch die meiste Zeit mit Lesen und an deinem Computer, was willst du denn jetzt machen?“ Sie weiß, dass dieser Verlust eine Katastrophe für ihn ist.

„Ich könnte mich jeden Tag besaufen. Dazu haben wir allerdings auch nicht genügend Geld. Oder ich könnte von einer Brücke springen, da finde ich mit meiner alten Brille noch hin.“ Niedergeschlagen sitzt er beim Tisch und stützt seinen Kopf in die Hände.

Gut dass er keine Brille auf hat, denn sonst könnte er sehen, wie seiner Frau die Tränen über die Wange laufen. Sie weiß, auf den Computer könnte er zur Not noch verzichten, aber ohne zu lesen würde er nicht leben können und wollen. Sie sieht zu ihm. Er sitzt immer noch wie versteinert auf seinem Platz und starrt vor sich hin.

Sie hatte Angst um ihn, denn sie wusste, dass er sich schon vor vielen Jahren im Internet eine Giftkapsel gekauft hatte. Damals hatte er zu ihr gesagt: “Wenn du vor mir sterben solltest oder wenn ich mir nicht mehr selber helfen kann, dann mache ich Schluss.“ Er hat sein ganzes Leben zu seinem Wort gestanden, er würde auch jetzt dazu stehen. Da war sie ganz sicher.

Sie musste Geld besorgen, aber wo und wie? Mit ihren kleinen Renten kamen sie gerade so über die Runden. Wo sollte sie da Geld für die Brille hernehmen? Dieser Gedanke kreist in ihrem Kopf wie ein Karussell. Könnte man mit Betteln so viel verdienen? Dazu braucht man aber eine Genehmigung, erinnert sie sich. In Deutschland braucht man für alles eine Genehmigung, nur sterben kann man ohne.

So sitzen sie stumm am Tisch, jeder in seine Gedanken verstrickt.
Plötzlich steht sie energisch auf und sagt: „Ich gehe noch schnell etwas besorgen.“
„Soll ich dich begleiten?“
„Nein, bleib hier sitzen, ich bin gleich wieder da.“
Um ein Haar hätte sie ihn gefragt, ob sie ihm sein Buch bringen soll. Bei diesem Gedanken wird ihr siedend heiß.

Er hört die Türe klappen und kurz darauf ihre Schritte auf dem Plattenweg zum Gartentor. Was soll er jetzt machen? Ohne zu lesen will er nicht leben. Brille kann er sich keine kaufen. Könnte er noch etwas zu Geld machen? Den Laptop könnte er verkaufen. Schweren Herzens, aber es war die einzige Möglichkeit? Aber wie soll er ihn ins eBay stellen, ohne Brille? Ins Pfandleihhaus,. ja das wäre die Idee.

Sofort packt er seinen Laptop in die Tasche und fährt in die Stadt.
„Für die alte Kiste kann ich Ihnen höchstens hundert Euro geben.“, sagt der Pfandleiher.
„Hundert! Der hat einmal mehr als das Zehnfache gekostet.“
„Ja, aber vor zehn Jahren, tut mir Leid, mehr ist einfach nicht drin.“
Boisenberg tritt wie betäubt zurück auf die Straße. Seine letzte Hoffnung war vernichtet. Jetzt ist Schluss, jetzt habe ich genug von diesem Rentnerleben, denkt er, und macht sich zielstrebig auf den Heimweg.

Seine Frau kommt ihm schon aufgeregt und mit Tränen in den Augen entgegen. „Wo warst du denn? Ich dachte schon…“. Sie braucht alle Kraft um nicht loszuheulen.

Er nimmt sie zärtlich in die Arme und küsst ihr die Tränen aus dem Gesicht.
„Ich habe versucht meinen Laptop zu verpfänden. Die wollten mir aber nur hundert Euro dafür geben. Was soll ich mit hundert Euro?“
„Komm in die Küche, ich muss dir etwas zeigen.“ Sie löst sich aus seiner Umarmung und zieht ihn in die Küche. Auf dem Küchentisch liegt ein ganzer Stapel Geldscheine.

„Wo hast du denn das her und wie viel ist das?“
„Es ist von der Bank und es sind genau 1.000 Euro. Genug für deine neue Brille, eine kleine Feier zu unserem Jubiläum und einen Notgroschen.“
„Von der Bank? Aber wir haben doch schon lange kein Geld mehr auf der Bank?“
„Ich schon“, sagt sie mit einem spitzbübischen Lächeln und küsst ihn mitten auf den Mund.

Am nächsten Tag erschienen die lokalen Zeitungsblätter mit dieser Schlagzeile:
„Mysteriöser Banküberfall, Bankräuber verlangt nur 1.000 Euro

Herr Boisenberg konnte diesen Bericht zum Glück nicht lesen, seine neue Brille war noch nicht fertig.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 04.02.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /