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Jean und Jo


„Kann ich ihnen irgendwie helfen?“ Jean Moser hob seinen Kopf, seine weiße Mähne war windzerzaust. Sein ansonsten braunes Gesicht war kreideweiß und der Schweiß rann ihm über das Gesicht. Er hatte sich, als ihm schwindelig wurde, auf eine Bank gesetzt. Die Frau, die vor ihm stand, sah ihn besorgt an.
„Danke, lieb von ihnen. Eine kleine Schwäche, es geht gleich wieder.“
„Sie sehen wirklich nicht gesund aus, soll ich ihnen vielleicht ein Taxi rufen?“
„Danke, wirklich sehr freundlich, aber meine Frau muss gleich kommen“, schwindelte Jean, denn er hatte keine Frau. Seine Frau war vor fünf Jahren, zwei Monaten, drei Wochen und zwei Tagen an Krebs gestorben. Er hatte diesen Verlust bis heute nicht verwunden und hoffte, dass er bald seiner Frau folgen könne.

„Dann nichts für ungut, passen sie auf sich auf.“
„Wiedersehen, danke.“ Jean war erleichtert, als die Frau ihren Weg fortsetzte. Nicht auszudenken, wenn sie wirklich ein Taxi gerufen hätte. Er hatte keinen Cent mehr in der Tasche. Seine 347 Euro Grundsicherung reichten kaum zum Leben und schon gar nicht für den Luxus einer Taxifahrt.

Er war auf dem Weg zur Kirchenküche, wo er drei Mal in der Woche ein warmes Essen und Kaffee bekam. Die übrige Zeit ernährte er sich von Tee und Zwieback.

Sein Herz spielte verrückt bei diesem Föhn, der wieder einmal bleischwer auf München lag. Mit seinen Medikamenten hätte er das Wetter besser ertragen. Er hatte sie jedoch vor einiger Zeit abgesetzt, um sich die Zuzahlung und die Praxisgebühren zu sparen.

Als er endlich, völlig erschöpft, bei der Kirchenküche angekommen war, holte er sich sein Essen und ging damit zu einem Tisch, an dem ein Mädchen ganz alleine saß.

„Mahlzeit“, grüßte er sie freundlich, wie jeden Tag. Das Mädchen hob weder den Kopf noch antwortete es ihm, wie jeden Tag.

Er widmete sich seinem Essen und konzentrierte sich darauf, trotz seines Hungers, nicht zu schnell zu essen.
Johanna – er hatte von Pfarrer Mitterer, dem Gründer der Einrichtung, erfahren, dass das Mädchen so hieß – aß langsam und bedächtig, ohne auch nur einmal den Kopf zu heben.
Sie saß da, tief über ihren Teller gebeugt. Ihre langen, dunkelbraunen Haare fielen in leichten Naturlocken über ihre Schultern und bedeckten auch den Großteil ihres hübschen Gesichtes.

Jean trank nach dem Essen, wie immer, eine Tasse Kaffee und begann in sein Notizbuch zu schreiben. Er schrieb Kindergeschichten, nur für sich. Johanna ging nach dem Essen zur Leseinsel, wo eine Frau Geschichten vorlas.

Eines Tages hatte sich Jean dazu entschlossen, Johanna anzusprechen.
„Ich heiße Jean und ich freue mich, dass ich eine so schweigsame Tischgenossin habe. Ich mag die geschwätzigen Menschen nicht, die pausenlos plappern. Wenn es Dir Recht ist, nennen ich Dich Jo. Ist zwar ein Jungenname aber wesentlich kürzer als Johanna.“
Er wusste vom Pfarrer, dass das Mädchen seinen Namen hasste, weil sie seinetwegen immer wieder gehänselt wurde.

Jo hob den Kopf und Jean sah in zwei strahlend blaue Augen. Sie musterten ihn ernst, ohne ein Wort zu sprechen, nickte leicht, und senkte dann wieder den Kopf.

Am nächsten Tag nach dem Essen, zog Jean ein kleines Päckchen aus seinem Rucksack und schob es zu Jo hinüber.
„Für Dich, vielleicht kannst Du es brauchen?“
Jo nahm das Geschenk und packte es aus. Es war ein rotes Tagebuch mit Schloss. Das Geld hätte Jean zwar dringend gebraucht, aber er wollte Jo unbedingt eine Freude machen.

„Danke.“ Beim Klang dieser melodischen Stimme, hob Jean erstaunt den Kopf. Das winzige Lächeln, das in Jos Augen aufblitzte, entschädigte ihn für seine Entbehrungen.

Als er dann zu seinem Block griff und zu schreiben begann, schrieb auch Jo in ihr neues Tagebuch.

„Grüß Gott, Jean.“
Jean hob seinen Kopf und sah, wie Pfarrer Mitterer auf ihn zukam.
„Hallo, Herr Pfarrer, was verschafft mir die Ehre?“
„Ich habe eine große Bitte. Unsere Vorleserin, Frau Fuchs, ist krank geworden und ich konnte noch keinen Ersatz finden. Könnten sie vielleicht einspringen?“
Jo beobachtet Jean aufmerksam.
„Ich weiß nicht Herr Pfarrer, ob ich das kann, ich habe so etwas noch nie gemacht.“
„Machen wir es so, sie versuchen es und wenn sie merken, es geht nicht, dann hören sie auf. Ich bleibe so lange bei ihnen.“
„Gut, dann probieren wir es.“, willigte Jean ein.
„Jean soll aus seinem Buch vorlesen.“
Die beiden Männer starrten Jo staunend an.
„Sie hat gesprochen“, sagte der Pfarrer und sein Gesicht strahlte. Zu Jo gewandt sagt er: „Das müssen wir Jean überlassen, es sind seine Geschichten.“
„Bitte“, Jo sah Jean beschwörend an.

Die drei gingen zur Leseinsel, wo schon einige Kinder auf sie warteten.
Jean setzt sich auf das Sofa. Jo direkt neben ihn.
Er begann seine Geschichten vorzulesen. Bald verstummte das letzte Flüstern und die Kinder lauschten gespannt. Ab und zu wurde die gespannte Stille durch das helle Lachen der Kinder durchbrochen. Der Pfarrer beobachtete dies mit einem zufriedenen Schmunzeln und verließ unbemerkt den Raum.

Von nun an las Jean jeden Tag aus seinen Geschichten vor und immer mehr Kinder hörten ihm zu. Einmal fragte ihn der Pfarrer, ob er sich nicht eine oder zwei seiner Geschichten kopieren könnte, sie würden ihm so gut gefallen. Jean willigte gerne ein.

Da Jos Mutter Schicht arbeiten musste und Jo nicht gerne alleine blieb, verbrachte sie bald diese Zeit bei Jean. Er half ihr bei den Aufgaben und lernte ihr, auf seinem Klavier, das spielen. Jo war nicht nur enthusiastisch dabei sondern auch sehr musikalisch. Es dauerte nicht lange, bis sie die ersten Stücke fehlerfrei und schön spielen konnte.

Irgendwann in dieser Zeit lachte Jo zum ersten Mal.

So vergingen die Monate und da Jo's Mutter nicht genug Geld hatte, verbrachte Jo auch einen grossen Teil der Ferien mit Jean. Sie fuhren zusammen an die Badeseen, da diese kostenlos waren, und während Jo im Wasser herum tollte, schrieb Jean weitere Geschichten.

Eines Tages nahm Jean sie zu einer Open Air Aufführung in Nymphenburger Schlosspark mit. Sie saßen auf einer Decke, aßen die mitgebrachten Brote und lauschten andächtig der Musik von Mozart, Hayden, Schubert und Vivaldi. Dieses Konzert und die Atmosphäre des Schlossparks in dem bald die ersten Fackeln zu flackern begannen, beeindruckte Jo tief. Immer wieder erzählte sie ihrer Mutter und Pfarrer Mitterer von diesem Erlebnis. Jo's Mutter war glücklich über die positive Veränderung die Jean bei ihrer Tochter bewirkt hatte. Die frühere Traurigkeit war verschwunden und Jo's helles, melodische Lachen tröstete und erfreute alle.

Jean ging es immer schlechter. Er aß nur, weil Jo ihn darum bat und er schleppt sich mühsam zur Kircheneinrichtung um den Kindern vorzulesen. Das Essen war zur Nebensache geworden. Jo trug ihm seinen Rucksack und stützte ihn so gut sie konnte. Sein elender Zustand machte sie sehr traurig, denn sie hatte ihn während der vergangenen Zeit sehr lieb gewonnen und nach ihrer Mutter, war er der wichtigste Mensch in ihrem Leben geworden.

„Alles mal herhören!“, rief der Pfarrer laut. Jean und die Kinder sahen ihn freudestrahlend zur Leseinsel kommen. „Jean, können Sie sich noch an die beiden Geschichten erinnern, die Sie mir gegeben haben? Ich habe sie einem Verlag geschickt und der will ihre gesamten Geschichten veröffentlichen. Ich habe hier die Zusage und 2000 Euro gibt es als Vorschuss. Jean, Sie werden reich und berühmt.“ Das Gesicht des Pfarrers glänzt rot vor Freude und er fuchtelt wild mit dem Brief umher.

Die Kinder riefen aufgeregt durcheinander und wollten den Brief vorgelesen bekommen. Alle Augen waren gespannt auf den Pfarrer gerichtet.

Nur Jo sah mit panischer Angst in Jeans Augen. Er war bei den Worten des Pfarrers kreidebleich geworden und kippte langsam zur Seite. Sein Kopf rutschte auf Jo’s Schulter und seine Hand umklammerte ihre, als suchte er Halt.

Sie saß wie erstarrt und die Tränen liefen ihr über die Wangen. „Lass mich bitte nicht alleine, lass mich bitte nicht alleine“, flüsterte sie in einem fort.

Doch Jean hatte sie bereits verlassen.

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Tag der Veröffentlichung: 02.02.2009

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