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Ein schlimmer Tag



Schon am Morgen, auf dem Weg zur Schule, ahnte Rudi, dass dies ein schlimmer Tag werden würde. Wie schlimm, wusste er zum Glück nicht.

Seine Klasse machte heute einen Ausflug. Er nicht. Er hatte das Geld für den Ausflug nicht gebracht. Nicht weil seine Eltern arm waren, sondern weil er schon vor einiger Zeit aufgehört hatte zu sprechen.
Als sein Vater ihn das letzte Mal so verprügelte, dass er zwei Wochen nicht aus dem Haus durfte, damit niemand seine Verletzungen sah, hatte er sich vorgenommen, nie wieder zu sprechen.
Er sprach in der Schule nichts und auch nichts zu Hause. Was zur Folge hatte, dass seine Mutter ihn ständig ohrfeigte, seine Schwestern ihn hänselten und sein Vater ihn, wann immer er Zeit hatte, verprügelte.

Seine zehn Jahre ältere Schwester, Theresa, nannte ihn nur den „kleinen Trottel“. Inzwischen machte es ihm nichts mehr aus. Er nannte sie dafür, allerdings nur in Gedanken, fette Kuh. Eva war nur vier Jahre älter als Rudi und Mamas Liebling. Rudi verachtete sie alle, denn wenn sein Vater brüllte, dann wagte keine von ihnen aufzumucken. Nur er, er schwieg. Er schwieg eisern, immer. Es fiel ihm nicht schwer, denn was hätte er mit denen reden sollen?

Wenn die physischen und psychischen Qualen zu groß wurden, floh er in „seine“ Welt. „Seine“ Welt war in seinem Kopf und dorthin konnten sie ihm nicht folgen. Dort war sein wirkliches Zuhause und dort geschah nur, was er wollte. Anfangs wurde er oft durch seine Schmerzen wieder aus „seiner“ Welt gerissen. Dann wünschte er sich nichts sehnlicher als zu sterben. Inzwischen beherrschte er diese Flucht, wurden die Schmerzen zu groß, machte er sich aus dem Staub . Jetzt hatte er allerdings ein anderes, ein neues Problem, es wurde immer schwerer für ihn, „seine“ Welt wieder zu verlassen.

Als er in der Schule ankam, herrschte überall große Aufregung. Seine Mitschüler freuten sich schon auf den Ausflug. „Rudi, warum kommst du nicht mit!“, riefen einige. Obwohl er niemals sprach, war er beliebt bei seinen Mitschülern. Er schwieg und tat, was er wollte, das imponierte ihnen.

„Rudi“, das war die energische Stimme der Klassenlehrerin, „du gehst in die Parallelklasse. Komm mit!“
Dies war eine Demütigung, denn diese Klasse war eine Mädchenklasse. Er musste sich in die letzte Bank setzen und die blöden Mädchen glotzten ihn an und kicherten.

Der Nachmittag war schön. Rudis Eltern und seine Schwestern waren nicht zu Hause und so fühlte er sich frei. So frei, wie er die ersten Jahre seines Lebens aufgewachsen war. Keine Eltern, keine Schule, keine Schwestern. Seine Eltern gingen arbeiten und seine Schwestern durften im Internat sein. Die Schule brachte den Umschwung. Bis dahin interessierte sich niemand dafür, was er den ganzen Tag machte. Meist verbrachte er die Tage mit seinen Freunden, die auch alleine waren. Sie spielten Fussball, schwammen im nahegelegenen See, rodelten oder bauten sich Verstecke aus denen heraus sie die Erwachsenen beobachteten. Rudi liebte es ganz besonders unter dem grossen Konzertflügel zu liegen, Petzi, seine Katze auf dem Bauch und zu träumen.

Erst mit der Schule begann das Verhängnis. Nach der ersten Stunde, am ersten Schultag, stellte er fest, dass dies nichts für ihn sei und er ging heim.
Sein Vater unterrichtete an derselben Schule Musik. Zwar nicht in der Grundschule aber doch an derselben Schule. Der Direktor teilte seinem Vater mit: „Herr Professor, ihr Sohn ist nach der ersten Stunde einfach nach Hause gegangen“. Das war der Anfang vom Ende.

„Du faules Miststück machst mich zum Gespött der Schule!“, brüllte sein Vater und schlug mit der Faust auf ihn ein. Sein Vater musste mit der Faust schlagen, damit er sich seine Musikerfinger nicht verletzte. Er spielte Gitarre und seine „heiligen“ Finger durften weder durch Arbeit noch durch Prügel missbraucht werden.

Damals weinte Rudi noch denn er hatte panische Angst vor seinem Vater der ihm solch fürchterliche Schmerzen bereitete. „Warum?“, fragte er sich immer wieder und fand keine Antwort. "War es seine eigene Schuld?"

„Mein Sohn ist gestern beim spielen vom Baum gefallen“, erzählte damals sein Vater in der Schule, um die Verletzungen seines Sohnes zu erklären.
So fing es an und es folgten unzählige Prügelattacken, eingeleitet durch die Ohrfeigen seiner Mutter, begleitet vom Spott der Schwestern.

Heute stürmte sein Vater am Abend wutentbrannt in die Wohnung und brüllte:„Wo ist dieser Kerl!“.
„Was ist los, was hat er denn schon wieder angestellt?“, fragte seine Mutter.
„Muss ich mich doch von dem blöden Fatzke von Direktor fragen lassen, ob wir nicht genug Geld hätten, um unserem Sohn den Ausflug zu bezahlen. Wusstest du etwas von diesem Ausflug?“
„Ich, nein ich hatte keine Ahnung, mir hat er nichts gesagt, der Herr spricht ja nicht mit Jedem.“
„Unser kleiner Idiot war wieder zu blöde zum reden“, kommentierte Theresa.
„Blöder, Blöder,“ spottete Eva und lachte mit ihrer Schwester.

Sein Vater packte Rudi vorne am Hemd, riss ihn vom Stuhl hoch und schlug mit der anderen Faust zu. Rudi schrie nicht und weinte nicht denn zu dieser Zeit beherrschte er seine Flucht bereits perfekt.

Da Rudi in keiner Weise auf sein Gebrüll und seine Gewalt reagierte, brachte dies den Vater immer mehr in Rage und er steigerte sich in eine wilde Raserei.
Bis die Mutter schrie: „Hör auf! Du bringst ihn noch um!“
Erschöpft und schweißüberströmt hörte der Vater auf. „Steh auf und verschwinde!“ schrie er das Kind an. Doch Rudi wollte nicht mehr zurück aus „seiner“ Welt, zu unerträglich waren die Schmerzen. Er lag blutend am Boden und auch die Fußtritte seines Vaters konnten ihn nicht dazu bewegen wieder aufzustehen. Dann erlöste ihn eine tiefe Bewusstlosigkeit.

Seine Eltern standen ratlos vor ihm, bis die Mutter schließlich sagte: “Ich hole jetzt den Werner“. Werner, war ein Nachbar und Arzt. Rudi mochte Onkel Werner, denn der war lustig und vor allen Dingen traute er sich, seinem Vater zu widersprechen. Ja, manchmal dachte er sogar, dass sein Vater Angst vor Onkel Werner habe.

„Was habt Ihr beiden Irren denn schon wieder mit dem Buben gemacht?“ Laut und zornig stellte Werner diese Frage.
„Wir haben ihm nur ein paar Ohrfeigen gegeben“, sagte der Vater.
„Warum ist er dann bewusstlos?“
Die Eltern schwiegen.
„Ich hätte gute Lust dich auch so zu verprügeln“, fauchte Werner und ging wütend auf Rudis Vater zu. Der wich, weiß im Gesicht, vor ihm zurück.
Werner hob Rudi vorsichtig auf, trug ihn zu seinem Bett und begann seine Wunden zu versorgen. Zum Schluss gab er Rudi noch eine Injektion gegen die Schmerzen.

„Das nächste Mal rufe ich die Polizei, das verspreche ich Euch! Morgen Vormittag komme ich wieder und sehe nach dem Jungen und wenn es ihm dann nicht besser geht, bringe ich ihn ins Krankenhaus. Die verständigen dann sowieso die Polizei. Also sorgt dafür, dass es ihm bis morgen besser geht.“ Wütend schlug Werner die Wohnungstür hinter sich zu.

Als Rudi am nächsten Tag aufwachte, hatte er ein Gefühl als würde er auf Nägeln liegen. Es gab keine Stelle an seinem Körper, die ihn nicht schmerzte. In seinem Mund hatte er den Geschmack von vertrocknetem Blut. Vorsichtig berührte er seine Lippen. Blitzschnell zog er den Finger wieder zurück, denn eine heiße Schmerzwelle durchfuhr ihn. Seine Lippen waren mehrfach geplatzt und geschwollen.

Er hatte Durst, solchen Durst. Seine Zunge klebte am Gaumen und dann war da noch dieser ekelhafte Blutgeschmack. Er musste etwas trinken! War jemand in der Wohnung? Er hatte Angst seinem Vater zu begegnen. Mit angehaltenem Atem lag er da und lauschte. Im Garten zwitscherten die Vögel, ein Insekt brummte irgendwo im Zimmer, aber keine Geräusche von Menschen.
Langsam stellte er einen Fuß auf den Boden, dann den zweiten. Das Zimmer begann sich im rasenden Tempo zu drehen und es wurde ihm schwarz vor Augen. In seinem Kopf hämmerte ein wilder Schmerz und er spürte wie ihm das Blut, aus einer Wunde am Kopf, über den Nacken rann.
Werner hätte sie nähen sollen, aber er hatte dem geschundenen Kind nicht noch mehr Qualen bereiten wollen. Außerdem würde er ja am Vormittag kommen um nach Rudi zu sehen.

Rudi blieb ruhig sitzen, bis sich das Karussell langsamer und langsamer drehte. Er wollte nicht wieder bewusstlos werden, doch er wurde von einem Gedanken beherrscht – Durst. Er brauchte Wasser.
Zögernd richtete er sich auf. Er stand, aber wieder drehte sich alles um ihn. Da kniete er nieder und kroch auf allen Vieren zur Küche. Am Boden hatte sich eine Pfütze Blut gebildet, dass ihm von der Schulter über die Brust lief und von dort auf den Boden tropfte. Sofort wallte wieder panische Angst in ihm auf. Er musste das Blut wegmachen, bevor seine Eltern zurückkamen. Aber erst trinken, trinken, er konnte an nichts Anderes mehr denken. Er kroch zur Tür, durch die Anstrengung lief das Blut noch schneller aus seiner Wunde und hinterließ eine glänzende, rote Schneckenspur.

Endlich war er angekommen und er zog sich mühsam an der Türe hoch. Noch drei Schritte, dann war er am Waschbecken. Wasser! Seine Knie schlotterten, er keuchte vor Anstrengung und wieder begann die Karussellfahrt. Endlich hatte er sein Ziel erreicht! Gierig trank er direkt von der Leitung aber dann sackte er bewusstlos in sich zusammen.

„Ja wie sieht es denn hier aus!“, keifte seine Mutter, die in die Küche trat. „So ein Schweinestall, wenn du glaubst, dass ich das sauber mache, hast du dich getäuscht! Das machst Du! Steh Sofort auf und spiele hier nicht den toten Mann!“ Ihre Stimme überschlug sich hysterisch.

„Was geiferst du denn hier schon wieder so rum?“, war Werners Stimme von der Türe zu hören.
„Nun sieh dir das doch einmal an, was dieser Trottel hier für eine Sauerei gemacht hat!“
„Um Gottes willen, was ist denn mit dem Buben?“ Der Arzt lief zu dem leblos am Boden liegendem Kind.
„Der mimt hier wieder den Schlafenden, aber darauf falle ich nicht mehr rein“.
Werner hatte sich neben Rudi gekniet und begann ihn zu untersuchen.

Dann, schwerfällig, wie unter einer gewaltigen Last, stand er auf und stellte sich vor Rudis Mutter.
„Warum steht er denn nicht auf, der Schlappschwanz!“, keifte sie gleich wieder los.

„Weil Rudi tot ist“, sagte Werner eisig und zog sein Handy aus der Tasche.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.02.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Geschichte allen gequälten und misshandelten Kindern.

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