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Preis der Moral.



"Pünktlich wie immer, Herr Winter", verabschiedet mich der Pförtner, wie jeden Abend.
"Stimmt genau, auf Wiedersehen", antworte ich ihm, wie jeden Abend.

In den letzten Wochen und Monaten konnte ich es kaum erwarten endlich nachhause, in meine Wohnung und zu meinem Computer zu kommen. Heute drängt mich nichts.

Der Bus kommt wie immer pünktlich auf die Minute. "Schöner Abend heute", begrüße ich Willy Otremba, den Fahrer. Was soll an diesem Abend schön sein, dachte ich bei mir und bemühte mich, ein freundliches Gesicht zu machen. Schließlich konnte Willy nichts dafür und er konnte ja nicht wissen, dass dies ein besonderer Abend für mich werden sollte. Wir kennen uns seit ich hier bei dieser Firma arbeite und das sind schon fast fünf Jahre. Eines Abends trafen wir uns in einer Kneipe und haben uns, bei einigen Bierchen, angefreundet. Er lebt seit seiner Scheidung alleine, fühlt sich einsam und hat schon alles Mögliche und Unmögliche versucht eine Frau zu finden. Bisher ohne Erfolg.
"Soll aber noch regnen", meint Willy.
"Dabei hatten wir in letzter Zeit eine ganze Menge Regen", antworte ich ihm.
Regen? In den letzten Monaten hatte mich der Regen nicht interessiert.

An meiner Haltestelle verabschiede ich mich von Willy, wünsche ihm viel Glück und steige aus. Er sieht mir verwundert nach und winkt mir zu. In meiner Wohnung angekommen, hänge ich meine Sachen ordentlich auf und lasse meinen Blick prüfend durch den Raum wandern. Es muss anständig und aufgeräumt aussehen, wenn sie herein kommen.

Abendessen? Wozu, das lohnt sich nicht mehr. In der Küche schlucke ich eine Hand voll Pillen, die würden reichen, und spüle sie mit einem Glas Rotwein hinunter. Der Wein "für besondere Anlässe", passt gut. Jetzt brauche ich noch Musik. Meine Lieblings CD von Austria3 ist das Richtige. Wolfgang Ambros singt:"Heit drah i mi ham". Die Flasche und das Glas brauche ich auch noch.
Auf meinem Relaxstuhl liege ich bequem. War ein guter Kauf. Ein Schluck Wein. Die Musik erfüllt den Raum.

Meine Gedanken wandern zu Dir, wohin sonst? In den letzten Monaten hast Du immer mehr Besitz von mir ergriffen. Meine Gefühle und mein Denken kennen nur ein Ziel, dich. Sternchen, dieser Nick Name passt wirklich zu dir. Du bist mein Stern. Was hast du mit mir gemacht?

Anfangs schrieben wir uns täglich, später fast schon im Stundentakt.
Es dauerte, bis ich endlich begriff, dass ich dich liebe. Ab da hat mich die Angst, dich zu verlieren, nicht mehr verlassen.
Nach langer Zeit wagte ich es endlich, dir zu gestehen, dass ich dich liebe. Voll Furcht wartete ich auf deine Reaktion. Mit jeder Stunde, die verging, wurde ich ängstlicher. Habe ich dich verloren? Diese Frage rotierte immer schneller in meinem Kopf. Dann kam endlich deine ECard. Inzwischen zitterte ich innerlich vor Aufregung. Lächerlich, in meinem Alter! Deine ersten Worte waren: "Ich liebe Dich auch." Ich war glücklich! Unsagbar! Tränen rannten mir über das Gesicht. Verrückt, total verrückt! Ich liebte eine Frau aus dem Internet, die ich noch nie gesehen hatte. Ich weinte, weil sie mir schrieb, dass sie mich liebte. Genau so könntest du dir einen Scherz mit mir erlauben. Was war los mit mir? Wo war mein analytischer Verstand?
Was blieb waren Gefühle.

Unsere Chats wurden immer länger, die Mails immer mehr, unsere Sprache immer vertrauter, verliebter, die Inhalte immer intimer.
Ich bekam Angst, dass du Probleme mit deinem Mann bekommst, wenn du so lange am Computer sitzt. Doch du hast das Alles souverän gemeistert.

Unsere Sehnsucht wurde immer unerträglicher. Wir wollten zueinander, uns endlich in die Arme nehmen, uns spüren. Schnell.
Wir beschlossen, uns an einem Wochenende zu treffen. Ein Wochenende, nur für uns. Ein Traum! Du erzähltest deinem Mann, dass du eine Freundin besuchen würdest.

Der Wein schmeckt wirklich gut. Irgendwie habe ich ein Gefühl, als würde ich schweben. Ich habe dir versprochen, dein Schutzengel zu werden, ist das schon der Anfang?

Dieses Wochenende! Vor Aufregung war ich schon viel zu früh auf dem Bahnhof und halb erfroren, bis der Zug endlich kam. Ich war wie betäubt. Dann sah ich dich. Wir flogen uns in die Arme. Es gab keine Scheu, es war als würden wir uns schon ewig kennen. Endlich spürten wir uns, rochen uns, sahen uns.
Wir lagen auf unserem Bett und redeten und redeten. Sahen uns in die Augen, berührten uns. Wir waren in einem Universum aus Liebe, Zärtlichkeit und Verstehen. Die Kerzen flackerten und warfen seltsame Muster an Wand und Decke es schien als würden sie zu Mozarts fröhlicher Musik tanzen. Wir waren wie verzaubert und verwöhnten uns mir all der Zärtlichkeit die uns Beiden so fehlte in unserem Leben. Als wir uns liebten war es als würde endlich zusammen gefügt, was schon immer füreinander bestimmt war. Nur Liebe und unendliches Glück hüllte uns ein und ließ uns für diese Zeit alles Andere vergessen.

Dann kam der Abschied. Wind, Schneetreiben, eisige Kälte und wir mussten uns trennen. Ich war innerlich erfroren. Sprachlos. Leblos. Deine Augen waren nur Schmerz und Trauer. Auch du sprachlos.

Nach diesem Wochenende wurden unser Mails noch inniger und liebevoller.

Ich trinke noch ein Glas. Ex. Wie viel Zeit bleibt mir noch? Schwebe oder fliege ich schon?

Dann vorgestern dein letztes Mail. Du kannst nicht so weiterleben, hast du mir erklärt. Dein Glaube, dein Gewissen würden es nicht erlauben und du wolltest deine Familie nicht zerstören. Ich sollte dich verstehen und dir verzeihen. Das tue ich. Ich wusste immer, es würde nicht für ewig sein. In meinem letzten Mail schrieb ich dir: "Ich verstehe Dich Sternchen, ich verzeihe Dir, ich liebe Dich."

Es wird so dunkel. Es ist so still. Was ist mit der Musik? So still. Sternchen? Stille.

Das Telefon dudelt laut und nach dem dritten Läuten schaltet sich der Anrufbeantworter ein.
"Carino, bist Du da? Komm hebe bitte ab. Bitte! Anscheinend bist Du wirklich nicht da? Bitte, bitte vergiss meinen Brief von vorgestern. Er war ein Fehler. Ich weiß jetzt, ich kann ohne Dich nicht leben. Bitte Liebster, verzeih mir. Bitte verzeih mir. Ich rufe Dich später noch einmal an. Ich muss zu Dir. Ich liebe Dich so sehr!"

Stille.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.01.2009

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