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...sie können kein Brot wegwerfen!




Vorwort

In einer TV-Sendung sprach am 24. Januar 2004 die Buchautorin Sabine Bode über die Kriegskinder des zweiten Weltkrieges, die Generation, die ab 1930 geboren wurde. Sie hat mit vielen dieser „Kriegskinder“ gesprochen um herauszufinden, wie die Kriegsjahre diese Kinder geprägt haben. Allen gemeinsam, so sagte Frau Bode, war die Aussage, sie können kein Brot wegwerfen. Frau Bode beendete ihre Ausführungen mit der Hoffnung, dass die Medien dieser Generation etwas mehr Aufmerksamkeit schenken.

Diese Sendung weckte viele Erinnerungen an eine Zeit, über die ich lange nicht mehr nachgedacht habe – jetzt tat ich es und vielleicht können meine Erinnerungen dazu beitragen zu zeigen, wie unser Leben, unsere Kindheit und Jugend damals aussahen, wobei ich die Ereignisse meiner ersten drei Jahre nur so wiedergeben kann, wie sie mir exakt 22 Jahre später an meinem Geburtstag 1955 mitgeteilt wurden.

Ebenso habe ich nur über d i e historischen Daten und Ereignisse der Ära des dritten Reiches berichtet, wie ich sie selbst in Erinnerung habe, alles andere würde diesen Bericht verfälschen.

Der Anfang

Ich wurde im Juli 1933 in Berlin geboren und von der Charité direkt in ein Städtisches Waisenhaus gebracht. Die Gründe meiner Mutter, warum sie mich nicht haben wollte, kenne ich nicht. Ich verbrachte ein halbes Jahr im Waisenhaus in einem Riesensaal, in dem circa dreißig Kinderbettchen standen. Im September kam ein Ehepaar ins Waisenhaus, um ein Baby zu adoptieren. Als Polizeibeamter bekam mein späterer Adoptivvater relativ schnell die Genehmigung, die Adoption eines Kindes zu beantragen, da seine Frau und er nachweisen konnten, dass sie keine eigenen Kinder bekommen würden. Sie gingen von Bett zu Bett und meine spätere Adoptivmutter war sehr angetan von einem schwarzhaarigen kleinen Mädchen, während ich meine Auswahl selbst traf, indem ich einfach nach dem Finger griff, den mein späterer Adoptivvater in mein Bett hielt. Er hielt das im wahrsten Sinne des Wortes für einen Fingerzeig, wie er mir später sagte und das Ehepaar entschied sich für mich.

Nun wurde die Adoption beantragt und die Mühlen der Behörden begannen zu mahlen. Zunächst war es unumgänglich nötig, meine arische Abstammung zu erkunden – immerhin gab es unter meinen Vorfahren väterlicherseits eine Auguste Wilhelmine Schulz, deren Vater „Johann Salomon Fiedler“ hieß – aber dies wurde offenbar als nicht s o gravierend angesehen, als dass es die Genehmigung der Adoption hätte beeinträchtigen können.

Alsdann kam ich wieder in die Charité – man erzählte mir später, hier wäre Rückenmark für weitere wichtige Untersuchungen entnommen worden und vor allem wurden mir acht Furunkel am Hinterkopf entfernt, die durch das monatelange Liegen entstanden waren, die Schwestern waren mit der Pflege der Säuglinge restlos überfordert.

Nachdem die arische Abstammung zweifelsfrei gewährleistet war, durfte mich das Ehepaar im Dezember 1933 in ihre Wohnung nach Steglitz holen – zunächst 6 Monate lang als Pflegekind. Da die Wunden am Hinterkopf medizinisch nachbehandelt werden mussten, brachten sie mich zu ihrem damaligen Hausarzt und reichten die Rechnung zur Begleichung bei der für Polizeibeamte zuständigen Stelle ein – sie wurde nicht beglichen mit dem Bescheid, es handele sich um einen Arzt jüdischer Abstammung und diese Rechnung müsse von dem Ehepaar selbst beglichen werden. Da die Rechnung im Verhältnis zu dem Gehalt meines Pflegevaters sehr hoch war, konnten sie diesen jüdischen Arzt nicht mehr konsultieren. Sie suchten fortan einen Kinderarzt arischer Abstammung auf. Spätestens alle 4 Wochen erschien ein Beamter des für Adoptionen zuständigen Amtes und kontrollierte, ob für mich ausreichend gesorgt und das Umfeld für einen Säugling in Ordnung und ich in gesicherten Verhältnissen untergebracht war. Ich wurde dann Anfang 1934 zur Adoption freigegeben.

So begann meine Kindheit in Berlin-Steglitz. Meine Erinnerung reicht ungefähr in das Jahr 1937 zurück. Mein Vater war ein fröhlicher Mensch, der gern mit mir herumtobte, mir vieles beibrachte und sich mit mir abgab, wann immer er Zeit hatte. Wenn er da war, war es einfach schön.

Meine Mutter war als Tochter eines preußischen Beamten eher herb, sehr auf die Erfüllung von Pflichten bedacht und sie sorgte sich um meine gute Erziehung. Damals waren kleine Mädchen brav, sagten immer „bitte“ und „danke“, hatten sonntags feine Sachen an, Kleidchen, weiße Söckchen, Lackschuhe, Schleifchen im Haar und sie machten sich vor allen Dingen nicht schmutzig.
Ich lernte frühzeitig, mit Messer und Gabel zu essen, redete nicht während des Essens und fragte artig, ob ich vom Tisch aufstehen dürfte, wenn ich mit Essen fertig war – meistens durfte ich es nicht.

Im Sommer gingen wir sonntags, wenn mein Vater dienstfrei hatte, was bei der Polizei nicht immer der Fall war, in den Palmengarten oder in den Grunewald, und da mein Vater des öfteren seine Sangesbrüder zu uns nachhause einlud, konnte ich bald alle einschlägigen Lieder über die Holzauktion im Grunewald, das Mariechen, das weinend im Garten saß, den Jäger aus Kurpfalz und ähnliches auswendig. Das sang ich dann zusammen mit meinem Vater auf diesen Spaziergängen zur Erheiterung der anderen Wanderer laut und schallend – seltsam, an was man sich erinnert, aber es existiert davon ein Foto, wahrscheinlich liegt es daran!

Das Brandunglück

Im Winter 1937 fuhren wir zu meinen Großeltern nach Goslar, um dort Weihnachten zu verleben.
Es lag Schnee und ich spielte auf dem Hof mit meiner Cousine, die ein Jahr älter war als ich, also 5 Jahre alt. Mein Großvater war im Landratsamt - dort arbeitete er - und mein Vater machte Besorgungen. Da gab es plötzlich einen lauten Knall und kurz darauf stürzten meine Mutter und meine Großmutter brennend auf den Hof und wälzten sich schreiend in den Schneehaufen, die dort aufgetürmt lagen. Ich weiß nur noch, dass ich die Hoftür aufriss und um Hilfe schrie und Nachbarn, die von ihren Fenstern aus gesehen hatten, dass unsere Küche brannte, riefen die Feuerwehr und holten meine Cousine und mich in ihr Haus, andere kümmerten sich um meine Mutter und meine Großmutter.

Beide kamen ins Goslarer Krankenhaus, die Feuerwehr löschte den Brand in der Küche und konnte ein Übergreifen auf die anderen Räume verhindern. Das war schon deswegen nicht so selbstverständlich, weil es sich um ein altes Fachwerkhaus aus dem Jahr 1790 handelte, das wie Zunder hätte aufbrennen können, wenn die Feuerwehrleute nicht so schnell da gewesen wären. Meine Mutter hatte Verbrennungen 2. Grades im Gesicht und 3. Grades an beiden Händen, meine Großmutter 2. Grades an beiden Armen und auf der Brust. Ich durfte erst Tage nach dem Brand mit in die Klinik, weil meine Mutter mich sehen wollte, aber ich vergesse den Anblick niemals: sie lag da, das ganze Gesicht verbunden, es gab nur 2 Schlitze für die Augen und je einen für die Nase und den Mund und ich weinte furchtbar und sagte „das ist nicht meine Mutti“ und sie mussten mich von dort mit einem Schock wegbringen. Mein armer Vater hat wirklich viel durchgemacht in jenen Tagen. Ich erholte mich aber wesentlich schneller als meine Mutter und meine Großmutter und konnte am nächsten Tag wieder zurück ins Haus. Es stellte sich heraus, dass die beiden Frauen Anzüge meines Großvaters mit Benzin gereinigt hatten, aber im Küchenofen war noch Glut und die Benzindämpfe entzündeten sich, es gab eine Explosion und die Küche brannte. Zum Glück hatte meine Großmutter noch die Küchentür gefunden, meine Mutter aus der Tür geschubst und beide rannten auf den Hof. In dem Schnee hatten beide Schmutz in die Wunden bekommen und so dauerte der Heilungsprozess entsprechend lange. Das war ein ganz trostloses Weihnachten und gleich danach musste mein Vater zurück nach Berlin und ließ mich in Goslar zurück, bis meine Mutter soweit wieder hergestellt war, dass wir auch nach Berlin fahren konnten – eine schlimme und traurige Zeit, denn ihr Gesicht war entstellt und sie konnte mit den Händen nichts machen.

In Berlin holte mein Vater unser Erspartes vom Sparbuch, unsere Berliner Freunde legten zusammen, die Kollegen meines Vaters stifteten Geld und so konnte das Gesicht meiner Mutter in einem Kosmetiksalon von Elisabeth Arden behandelt werden, was für unsere Verhältnisse sündhaft teuer war, und wenn sie auch nie wieder so aussah wie vorher hatte sie später dennoch wieder ein Gesicht erhalten, das keine Brandnarben mehr aufwies – im Laufe der Jahre sah sie sogar wieder hübsch aus, sie war eine zierliche Frau und hatte ein schmales Gesicht. Die Hände jedoch blieben immer vernarbt, anfangs konnte meine Mutter nicht einmal Gummihandschuhe anziehen und in dieser Zeit habe ich im Haushalt helfen müssen, ich konnte Geschirr spülen, dazu stand ich auf einem Hocker, musste die kleine Wäsche waschen und Obst und Gemüse waschen und putzen und ich war sehr stolz, wenn mein Vater mich lobte und mir sagte, dass es ohne mich gar nicht ginge.

Das Jahr 1939 – der Krieg beginnt

Die Zeit verging und im April 1939 wurde ich eingeschult, im Juli wurde ich 6 Jahre alt und der Test hatte ergeben, dass ich schulreif war. Ich erinnere mich daran, dass ich sehr gern in die Schule ging und mit großem Eifer Lesen und Schreiben lernte, so konnte ich doch endlich selber lesen und musste nicht darauf warten, dass man mir vorlas. Das war schon deshalb so toll, weil die Freunde meiner Eltern, die des öfteren zum Rommé-Spielen kamen, mir ab und zu ein Buch mitbrachten. „Die Freunde“: das war ein kinderloses Ehepaar, zwei unverheiratete Tanten sowie ein Ehepaar mit einem 10-jährigen Sohn namens Klaus, mit dem ich befreundet war, bis er 1990 leider starb.

Den Sommer 1939 verbrachten wir u.a. mit Ausflügen, baden gehen, sonntags gab es manchmal Eis im Gartencafé im Grunewald – für mich etwas ganz Besonderes, oder wir bummelten den Kurfürsten Damm entlang. Die größte Attraktion waren dort die vielen Leierkastenmänner, die wunderschöne Moritaten spielten und auf jedem Leierkasten saß ein kleines lebendiges Äffchen, Tierschützer hatten seinerzeit offenbar noch nichts dagegen. Meine Eltern hatten immer größte Mühe, mich zum Weitergehen zu bewegen.

So verging der Sommer, ohne dass ich besondere Erinnerungen mit dieser Zeit verknüpfe. Ganz genau kann ich mich aber noch an die Rundfunkansprache vom 1. September erinnern, in der Hitler Polen den Krieg erklärte, denn meine Eltern waren entsetzt, die Stimmung war niedergedrückt und mein sonst so fröhlicher Vater war sehr ernst und ich begriff nur, dass sich nun etwas geändert hatte, das mir aber gar nicht gefiel.

Kriegsbeginn

Wohin man kam, auch wenn unsere Freunde zu Besuch kamen, wurde nun über den Krieg geredet, mein Vater wollte z.B. nicht der Partei beitreten, wohingegen der Vater von Klaus sofort eingetreten war. Ich hatte in der Schule von der Partei gehört, die als etwas ganz Besonderes dargestellt wurde.
Ich hörte von der Hitlerjugend und Klaus erzählte mir davon, wir sahen sie „Unter den Linden“ marschieren mit ihren Trommeln und Fahnen und ich wollte gern dazugehören, aber im Gegensatz zu Klaus war ich war natürlich noch zu jung.

Posen/Warthegau 1940

Mein Vater bekam das Ergebnis seiner Weigerung, in die Partei einzutreten, zum 31. Juli 1940 zu spüren, jedenfalls führte er die kommenden Ereignisse darauf zurück: Er schied aus der Berliner Polizei aus und wurde in die Gauhauptstadt Posen im Warthegau versetzt. Er arbeitete dort als Stadtobersekretär in der Verwaltung. Hitler hatte Polen erobert und holte viele Deutsche – unliebsame, wie ich heute denke – aus dem Reich nach Polen. Die polnische Bevölkerung musste Häuser und Wohnungen räumen und wir Deutschen, die wir dorthin praktisch ausgesiedelt wurden, bekamen Wohnraum zugeteilt.

Im November 1940 war es soweit, dass mein Vater meine Mutter und mich nachholen konnte. Wir verabschiedeten uns von unseren Freunden und ich war sehr traurig, das weiß ich noch. Wir zogen in eine sehr schöne 3-Zimmer-Wohnung am Stadtrand von Posen. Die Polen wurden, soweit ich mich erinnere, z.T. in Kellerwohnungen oder in Hinterhäusern untergebracht, sie durften nie im ersten Waggon der Straßenbahn fahren, nur im zweiten, und wir durften mit den polnischen Kindern auf keinen Fall spielen, nicht einmal sprechen, was wir natürlich doch machten, schon, weil es verboten war. Die polnischen Männer arbeiteten als Hausmeister, fuhren den Müll ab, ihre Frauen putzten in den deutschen Haushalten und ich denke, ich habe das damals nicht als etwas Besonderes empfunden, das war eben so.

Ich war inzwischen direkt anstelle der 2. Klasse, in der ich in der Grundschule in Berlin war, im November in die 3. Klasse der Posener Volksschule eingeschult worden, weil wir in Berlin im Unterricht wesentlich weiter waren. Und dort lernten wir, dass die Polen minderwertig seien und wir Deutsche das Herrenvolk, dass wir alle mit 10 Jahren in die Hitlerjugend kämen, was wir sehr erstrebenswert fanden, denn auch hier sahen wir sie überall im Einsatz in der Stadt, auf den Bahnhöfen oder bei großen Aufmärschen – alle uniformiert mit den Riesenfahnen und ich erinnere mich an ein Lied „Und die Fahne flattert uns voran“, das sie sangen bei ihren Märschen durch die Stadt. Wir hatten in der Schule nur den einen Wunsch: wir wollten dazu gehören. Auch wir lernten in der Schule Marsch- und Wanderlieder, die bei Schulausflügen gesungen wurden, und diese Ausflüge waren bei uns Schülerinnen besonders beliebt.

Ich hatte mich schnell eingelebt in der neuen Umgebung mit den neuen Schulfreundinnen und es ging uns auch finanziell sehr gut, mein Vater war in seiner Stellung sehr zufrieden, wir konnten uns vieles leisten, waren sehr schön eingerichtet und fuhren auch jedes Jahr in Urlaub, entweder zu den Eltern meiner Mutter nach Goslar, von denen ich schon berichtete oder zu den Eltern meines Vaters nach Weida in Thüringen. Letztere wohnten in einem kleinen Haus, sie hatten nicht viel Geld, aber es war eine ganz besondere Atmosphäre dort voller Wärme und Herzlichkeit. Vor allem gab es eine Menge Cousinen und Cousins, mein Vater hatte 6 noch lebende Geschwister, die alle mit ihren Kindern in Weida und Gera wohnten, ich durfte mit ihnen auf der Straße toben und meine Oma warf abends die Stullen in Pergamentpapier auf die Straße, und wir aßen dort unten und keiner schimpfte – das war einfach herrlich und ich war immer sehr traurig, wenn ich dort wieder weg musste.


Ganz anders in Goslar – auch dort fuhr ich gern hin, denn ich mochte meinen Großvater sehr, weil er sich mit mir ernsthaft unterhielt, aber meine Großmutter war eine kühle Frau, die niemanden so recht an sich heranließ und die selten lachte. Von mir hielt sie sowieso nicht viel, warum wusste ich nicht, ich verstand das erst viele Jahre später. Im gleichen Haus wohnte die Tochter der Schwester meiner Mutter, die mit 37 Jahren an einer vereiterten Mandelentzündung gestorben war und ein Bruder meiner Mutter mit Frau und Sohn. Dieser Onkel Reinhold war ebenso zurückhaltend wie meine Großmutter, sagte des öfteren, ich solle nur meine vorlaute Klappe halten, ich sei ein Kuckucksei und wüsste gar nicht, wie dankbar ich zu sein hätte. Und mit meiner Cousine, die in einem heißen Sommer einen Sonnenstich erlitten hatte, verstand ich mich sowieso nicht, die wurde grenzenlos verwöhnt von der Großmutter und man musste immer nett zu ihr sein, weil sie gelegentlich „döste“, wie alle das nannten, dann irrte sie etwas ziellos herum und wir fingen sie abwechselnd wieder ein – sehr lästig, wie ich damals fand. Und mein Cousin war ein Rüpel, mit dem ich mich dauernd herumprügelte.

Ich fragte meine Mutter, warum

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Marianne Granse
Bildmaterialien: Marianne Granse
Lektorat: 2004 hat das Lektorat Cornelia Goethe Literaturverlag das Manuskript einem Fachlektor weiter gegeben, die Prüfung ist positiv ausgefallen. Der Druckkostenzuschuss war mir mit 6.000 DM zu teuer
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2012
ISBN: 978-3-95500-328-9

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