Advent
Die Advents- und Weihnachtszeit ist nicht nur der besinnlichste Zeitabschnitt in der Schule, sondern auch einer der interessantesten und spannendsten.
Warum?
Nun - so finden tiefgreifende Diskussionen mit der Schulleitung statt, in denen sinniert und überlegt wird, ob man einen Adventskranz aufhängt oder lieber gleich einen Weihnachtsbaum mit bunten Kugeln und elektrischen Kerzen vor die Eingangstüre stellt.
Dagegen haben nun aber die Pfarrer und Religionslehrer hre ernsthaften Bedenken.
Diese heidnischen Gebräuche überlasse man den Supermärkten und Einkaufszentren - wobei sie nicht unrecht haben, wird man doch schon lange vor dem Nachdenken über diese Zeit vielfältig daran erinnert, welche Stunde bald schlagen wird.
Im Kollegium meiner Schule war man sich dann irgendwann einig, einen schlichten Adventskranz in die Aula zu hängen, tief genug, um morgens nach dem Durchschreiten der Eingangstüre nicht übersehen zu werden, noch hoch genug, um Schülerangriffen gewachsen zu sein - und - mit echten brennenden Kerzen bestückt!
Seit Jahren frage ich mich, welche artistischen Höchstleistungen erbracht werden müssen, um die Kerzen anzuzünden, bei einem Hausmeister von einem Meter fünfzig Körpergröße!?
Dennoch, die Kerzen brannten auch in jenem Winter, als sich folgende Begebenheit zutrug, die aber - und das ist bezeichnend - eigentlich überhaupt nicht registriert wurde.
Sieben Uhr fünfundvierzig, Beginn der ersten Schulstunde. Freitag - müde Horten von Schülern schleichen ins Schulhaus, um schlaftrunken ihre Klassenzimmer zu erreichen.
Keiner sieht die zwei einsamen Kerzen des Adventskranzes, die teilnahmslos vor sich hin brennen.
Eine der Beiden wird jedoch in Kürze von sich reden machen und dann in den Mittelpunkt des Geschehens rücken.
Um neun Uhr dieses denkwürdigen Vormittages betritt Kollege Alfred Kindskowsky gemessenen Schrittes das Schulhaus, motiviert für sein nächstes pädagogisches Unterfangen: Mathematik Klasse sieben, Thema:
"Wieviele Nikoläuse muss eine Schokoladenfabrik ab ostern herstellen, um kurz nach den Sommerferien einhundertdreizehn Stück in je einhundertsiebenunddreißigtausendachthundertzweiundneunzig Geschäfte zaubern zu können, nachdem durch unvorhergesehene Temperatureinbrüche zwanzig Prozent der Weißbärte geschmolzen und dann als Herbstgartenzwerge zu weit reduziertem Preis an Kleingärtner offeriert werden?"
Nun - Kollege Alfred Kindskowsky betritt also das Schulgebäude und schaut - er weiß nicht warum, aber heute tut er es - ja, er schaut zum Adventskranz hoch und kann es nicht glauben, was er dort sieht - eine Kerze ist größer und mächtiger, viel heller als es Kerzen normalerweise zu sein pflegen und - sie entfaltet sogar einen Bethlehemschweif!
Versonnen - ob der weihnachtlichen Sinneseingebung völlig überrascht - geht er weiter, Stufe um Stufe, und wirft dann nach langem Zögern der adventlichen Fata Morgana heimlich noch einen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass die vielerlei Sinneseindrücke der glitzernden Werbeseuchenbotschaften ihn nicht wirklich überrumpelt hatten.
Doch der erneute Blick ändert nichts, nein! Im Gegenteil! Der Stern von Bethlehem wächst nach oben, der Schein wird heller und höher, breitet sich an der Decke aus, gibt weihnachtliche Duftwolken von sich!
"Mein Gott, es brennt!" Dieser absurde Gedanke - Traum und Alptraum zugleich - durchzuckt das Gehirn des Kollegen Alfred Kindskowsky in diesem Augenblick. "Was tun?"
Es gibt mehrere Lösungsmöglichkeiten, die alle gleichzeitig die lehrerliche Psyche in Sekundenbruchteilen beschäftigen.
Erste Möglichkeit: "Mich geht das überhaupt nichts an, ich bin hier Lehrer. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Also ist es nicht denkbar!"
Zweite Möglichkeit: "Ich bin total fertig! So weit ist es schon mit mir gekommen! Es wird Zeit, dass die Ferien kommen, ich sehe schon Gespenster - Störung! Weitergehen, nicht umdrehen!"
Dritte Möglichkeit: "Die Schüler schrecken vor nichts zurück, sie lassen sich immer wieder neue Späße einfallen, um uns Lehrer an den rand des Wahnsinns zu bringen. Einen interaktiven Adventskranz! Unverschämtheit!
Die vierte Möglichkeit ist die richtige, entscheidet Kollege Alfred Kindskowsky, auch vom privat- und beamtenrechtlichen Standpunkt aus!
So geht er gemächlich noch einen Stock höher, klopft an die Türe des Chefs - vorsichtig und verhalten, damit niemand erschrickt oder gar aufwacht!
Das kernige "Herein!" ermutigt ihn zum öffnen der Türe und dem zaghaften Hinweis: "Herr Rektor, anscheinend brennt der Adventskranz!"
Ein Chef, mehrere Gehaltsgruppen höher besoldet, muss es gewohnt sein, schnelle Entscheidungen zu treffen und reagiert deshalb nach der angebrachten Schrecksekunde goldrichtig: "Der Brand muss gelöscht werden!"
Alles würde nun seinen korrekten und unaufhaltsamen Gang gehen, wenn nicht Junglehrerin Ursula Hrungas just um neun Uhr dieses Tages für ihren wohlvorbereiteten Tafelanschrieb ein Stück allergiefreie Kreide benötigt hätte.
Dieses wichtige Medium war jedoch nicht vorhanden und der Schüler Raimond Silberstein erbot sich großzügig, den notwendigen Gang zum Sekretariat - dort wird die Kreide verwaltet - der an diesem Tage etwas unpässlichen Kollegin Ursula Hrungas abzunehmen.
Man sollte den Schüler Raimond Silberstein charakterisieren, damit man ihn verstehen und seine spätere Handlungsweise nachvollziehen kann:
Raimond, 14 Jahre alt. Vater: Lehrer. Damit ist im letzten Wort schon ein ganzes Buch geschrieben.
Schule, in diesem Alter an sich schon ein Schimpfwort oberster Kategorie, gepaart mit einem Vater, der von Beruf Lehrer und dazu noch an derselben Schule unterrichtet!?
Das alles ist einfach zu viel für die Schülerseele des Raimond Silberstein.
Raimond also, der Schulhäuser schon in allen Variationen zusammenfallen sah, zerbombt, vom Sturm eingerissen, von Dinosauriern zertrampelt und natürlich - viele Male abgebrannt bis auf die Grundmauern!
Raimond kommt kurz nach Kollege Kindskowsky zur Stelle des Geschehens und sieht die leuchtende Pracht des Adventskranzes.
Er reagiert schneller als unser Kollege Alfred, obwohl auch er gewaltige Entscheidungsprozesse leisten muss.
Es sind aber nur zwei Varianten, die ihm sein etwas einfacher strukturiertes Schülergehirn suggeriert, wobei der sonst so verdammte Fernsehkonsum entscheidend mithilft, dass Raimond die an sich freundlichere Entscheidung trifft.
Denn was ist für einen katastrophenverwöhnten Schüler im Prinzip ein brennendes Schulhaus? Eine Lapalie zu Rambo, flammendem Inferno, Vergewaltigung und Zombie!
Viel interessanter sind da schon die geheimnissvollen roten Bomben, die überall an der Wand hängen, an denen man so oft mit juckenden Fingern vobeigeht, vor denen man fragend steht, bis der Lehrer nach der Pause wieder das Klassenzimmer aufschließt.
Was passiert wohl, wenn man den handlichen Griff betätigt?
Das ist so wie die Frage, ob das Licht im Kühlschrank wohl tatsächlich aus geht, wenn man die Türe schließt?
In Raimonds Situation war das reizvollere Vorgehen sofort erkannt, und bevor der entschlussfreudige Chef mit unserem Kollegen Alfred Kindskowsky erscheint, um nachzusehen, ob auch wirklich ein "Fünkchen" Wahrheit am bekannten Vorfall ist, betätigt Raimond Silberstein besagten Griff und die Pracht eines herrlichen weißen Schaums versprüht sich in einem nimmerendenwollenden Strom über alle Stockwerke des Schulhauses und lässt es mitsamt Inventar und Adventskranz unter einer winterlichen Decke versinken.
Raimonds Augen glänzen wie am Weihnachtstag, und er nimmt sein wohlverdientes Lob entgegen.
Das Schulhaus ist gerettet!
Nur sein lehrerlicher Vater murmelt vor sich hin: "Muss mein Grasdackel die Schule löschen!"
Versonnen kehrt an diesem Tage der Kollege Alfred Kindskowsky die weiße Pracht zusammen. Krampfhaft überlegend, warum gerade er, der Retter der Schule, der den Brand als erster entdeckt und gemeldet hatte, warum gerade er die weihnachtliche Pracht zusammenkehren muss!?
Ob wir auch in diesem Jahr wieder einen Adventskranz haben?
Natürlich! Aber mit wunderhübschen elektrischen, Ölflammen gleichenden Flackerkerzen!
Denn - wie leicht könnte doch etwas passieren?!
Tag der Veröffentlichung: 14.08.2008
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