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Das rote Buch

Es war dunkel, so dunkel, dass man noch nicht einmal die Hand vor dem eigenen Auge sehen konnte. Sie ging mit langsamen Schritten die Treppen hoch in den ersten Stock. Ihre Finger tasteten nach dem Lichtschalter, doch als sie drauf drückte passierte nichts. Sie schlich weiter nach vorne und stieß mit einer alten Kommode zusammen. Sie fluchte lautstark und legte ihre Hände auf den Tisch, sie konnte eine Kerze ertasten und kramte in ihrer Jeanstasche nach ihrem Feuerzeug. Die Flamme loderte erst auf als sie drei Mal über das kleine Metallrädchen gezogen hatte. Sie fragte sich warum sie nicht schon vorher das Benzinfeuerzeug angezündet hatte und hielt es an den Kerzendocht. Es dauert ein paar Sekunden bis der Funke übersprang, aber dann erhellte ein warmes Licht den Raum und sie entdeckte noch mehr Kerzen.
Als alle Kerzen den Raum erleuchteten blickte sie sich um. Eine ganze Wand war mit Bücherregalen vollgestellt, die Bücher waren mit festem, dunklen Leder gebunden. Sie ließ ihren Blick eine Weile über die Bücher wandern bis sie auf die Eichenregale zuging und kurz vor ihnen stehen blieb. Sie konnte das alte Papier, die Tinte und das Leder riechen. Sie konnte sich vorstellen, was für wunderbare Geschichten sich hinter den geschlossenen Buchdeckeln verbargen. Die Neugier brannte in ihren Adern und sie streckte ihre Hand aus. Ihre Fingerkuppen berührten den Rücken eines der Bücher, es war in dunkelrotes Leder gebunden.
Sie zuckte zusammen als eine laute Stimme durch den Raum hallte und zog die Hand so schnell zurück dass ihr Handgelenk knackte.
„Finger weg“, rief die Stimme. Sie war dunkel, düster und definitiv männlich. Als sie sich hektisch in dem kleinen Raum umsah sackte ihr Herz in die Hose, denn zu der grausamen Stimme hatte sie kein Gesicht, geschweige denn einen Körper oder Schatten.
„Fass das Buch nicht noch einmal an“, brüllte die Stimme wieder und ihr Brustkorb schien zu vibrieren.
„Wo zum Henker bist du?“, schrie sie und machte einen Schritt nach hinten, ihr Rücken war leicht an das Regal gedrückt.
„Nein!“
Auf einmal stand da ein Mann vor ihr in einem Cut, mit Erde befleckt und die Fliege hing lose an seinem Hals, die Weste war auf. Seine Haare waren durcheinander, sie standen im Kontrast zu seiner dunklen Haut. Seine weißen Augen starrten sie wütend an und um seinen Körper schien eine Art Aura.
„Fass das Buch nicht an, habe ich gesagt!“
Sie machte sofort einen Schritt nach vorne und hob ihre Hände, um sich zu verteidigen falls dieser mysteriöse Fremde beschließen sollte sie wegen eines Buches zu töten oder anzugreifen.
„Ist ja okay“, flüsterte sie und starrte wie hypnotisiert in die weißen Augen des Fremden. Kaum berührte ihr Rücken nicht mehr das Bücherregal löste sich die Aura langsam auf und das wütende Funkeln in seinen Augen verschwand.
„Danke“, murmelte er und auf einmal war er wieder verschwunden, nur noch eine Nebelschwade war an der Stelle wo er gestanden hatte.
„Oh Nein! Komm sofort wieder zurück oder ich flambier die Bücher“, rief sie und packte eine Kerze.
„Nein!“ Sofort war er wieder da, wieder mit der dunklen Aura und den wütenden Augen.
„Wer bist du?“, fragte sie und pustete die Kerze aus. Sie war Schriftstellerin, genauer gesagt Journalistin für eine kleine Zeitschrift in Donegal in Nordirland, und ihr Interesse an der Geschichte des Mannes war noch mehr geweckt.
Die Aura des Mannes verschwand wieder, gefolgt von dem wütenden Blick.
„Was bist du? Ist die Frage besser?“ Der Mann schüttelte seinen Kopf und da war wieder nur die Nebelschwade. „Och das ist doch jetzt nicht wahr, oder? Ich bin 4 Stunden zu diesem Turm gewandert, habe mir meinen Arm aufgeschlagen und das nur weil ich einer alten Dame geglaubt habe, die mir erzählt hat, dass hier ein Geist sein Unwesen treibt. Nach reichlicher Recherche fand ich schließlich heraus, dass hier mal ein Graf gewohnt hatte, der sein Leben damit verbracht hat seltene Bücher zu sammeln.“ Sie wartete und holte ihr Feuerzeug raus. „Ach komm schon! Entweder du bist ein Magier oder Ninja oder aber du bist ein Geist, was im Moment zwar verrückt klingen mag, aber du wärst der dritte Geist den ich sehe.“ Der erste war in einem Schiffswrack unter Wasser, als sie es untersuchte um einen Artikel über den Untergang zu schreiben und der zweite war in der Kaffeeecke der Redaktion einer Dubliner Zeitung. Dieser Geist war kein geringerer als Oscar Wilde in Person, oder Licht und Seele. Er hatte ihr erzählt, dass er immer mal wieder in irgendwelche Redaktionen vorbei flog um sich schreibende Menschen anzusehen. Er hatte ihr auch von der Frau erzählt, die sie hier hin geführt hatte.
Sie brüllte noch weiter in die Leere, doch der Geist tauchte nicht wieder auf. Stattdessen hallte ihre Stimmt von der anderen Wand wider und irgendwann kam nur noch ein Krächzen heraus. Dann seufzte sie und legte ihre Hand auf das roteingebundene Buch. Es dauerte keine Sekunde bis der Mann wieder auftauchte, wütend wie eh und je.
„Fass es…“
„Nicht an. Ja ich weiß“, beendete sie den Satz und verschränkte sie Arme. „Ich meine es ernst. Bist du dieser Graf von dem die Frau gesprochen hat?“
„Was willst du von mir?“, fragte er mit betrübter Stimme.
„Deine Geschichte. Was ist deine Geschichte?“ Der Mann senkte seinen Kopf und es wurde totenstill. „Ich verspreche dir keinem Buch etwas zu tun, weder fasse ich sie an, noch werde ich sie abfackeln, dafür mag ich Bücher viel zu sehr.“
„Danach gehst du!“ Es war keine Frage und er blickte langsam auf.
„Wer bist du? Der Graf?“ Sie machte einen Schritt nach vorne und ließ ihre Arme hängen.
„Nein“, antwortete er mit tiefer Stimme und legte seinen Kopf zur Seite.
„Wer bist du dann? Warum sind dir diese Bücher so wichtig?“, harkte sie weiter nach.
„Ich bin nicht mit ihm verwandt. Ich habe hier gelebt nachdem er gestorben ist. Mir sind Bücher nicht wichtig!“ Er funkelte sie an.
„Nur das eine Buch, richtig?“ Sie drehte sich um und zeigte auf das schöne Buch.
„Ja.“
„Warum?“ Sie schaute es sich genauer an, kein Autor und kein Titel auf dem Buchrücken.
„Es ist mein Buch.“
„Hast du es geschrieben?“, fragte sie als er nichts mehr sagte.
„Nein.“ Er schaute sie kurz an. „Verzeih mir, ich kann nicht bleiben.“ Er löste sich langsam auf bis nur noch eine rötliche Nebelschwade in der Luft hang.
Sie schüttelte den Kopf und drehte sich zu dem Eichenregal. Sie überlegte kurz dann schaute sie kurz zur Decke flüsterte: „Tut mir leid, aber ich muss es einfach wissen.“, und zog das rote Buch aus dem Regal. Ein starker Windhauch schoss durch das Zimmer und löschte alle Kerzen aus, Dunkelheit machte sich wieder im Raum breit und es wurde kühler.
„Ich bin vorsichtig, ich verspreche es dir.“ Sie fasste das Buch fester und zündete ein paar Kerzen an. Der Wind wurde stärker, aber die Kerzen gingen nicht aus, nicht mal die Flammen bewegten sich. Sie schlug die erste Seite auf und stutzte, als sie nichts sah. Die Seite war weiß wie die Seite eines alten Buches sein konnte. Sogar die nächsten Seiten waren unbefleckt, nicht ein Tropfen Tinte war in diesem roten Buch.
„Hey was soll das? Du machst so einen Wind um dieses Buch und da steht noch nicht einmal…“ Sie stockte. Der Wind ließ nach, und um so weniger die Luft um sie bewegt wurde umso mehr Buchstaben konnte sie erkennen. „Oh“, entfuhr es ihr als wunderschöne, in alter, geschwungener Schrift geschriebene, Worte sichtbar wurden. Sie waren in rötlicher Tinte geschrieben die im Kerzenlicht irgendwie bläulich schimmerte und allein der Anblick dieses Textes ließ ihr Herz schöner schlagen. Ohne ein einziges Wort gelesen zu haben wusste sie, dass es ein unglaublicher Text sein würde den sie nie wieder vergessen konnte. Doch als sie anfangen wollte mit ihren Augen den Inhalt aufzusaugen fing der Wind wieder an und die Schrift verschwand beim ersten Lüftchen.
„Hey! Findest du das etwas witzig?“, brüllte sie, ehrlich aufgebracht über diese gemeine Unverschämtheit die sich dieser Geist hier leistete. Er tauchte wieder auf und sie starrte ihn mit funkelnden Augen an.
„Ließ diesen Text nicht“, flüsterte er mit ruhiger Stimme und ohne wütende Aura um sich herum.
„Warum?“, fuhr sie ihn an und klappte das Buch laut zu. Er zuckte zusammen und verzog gequält das Gesicht als ob sie ihn mit dem Buch geschlagen hätte.
Er schüttelte seinen Kopf und schaute von dem roten Ledereinband zu ihr.
„Du gehst wenn ich dir die Geschichte dieses Werks verrate?“, fragte er leise, mit kaum vernehmbaren Worten.
Sie überlegte kurz. „Wenn ich keine Fragen mehr an dich habe bin ich hier verschwunden.“ Mit dem Buch im Handgepäck, fügte sie in Gedanken hinzu, aber sie freute sich zu früh.
„Ohne das Buch!“, sagte er bestimmt als hätte er ihre Gedanken gelesen. Ihr Mund klappte auf und schloss sich wieder, wie bei einer Regenforelle an Land.
Sie seufzte und nickte. „Deal. Aber du musst mir wirklich alles erzählen.“
Der Mann machte einen Schritt zur Seite und eine rote Nebelschade folgte ihm.
„Dann setz dich, es ist eine lange Geschichte“, murmelte er, sichtlich betrübt und sie ging zu einem der Sessel. Sie nahm das weiße Tuch von dem Möbelstück und ließ sich dann mit ihrem Notizbuch darauf nieder. Sie wollte alles aufschreiben, alles was der Fremde ihr berichtet und das Ganze in eine fesselnde Story, wenn nicht sogar in ein gutes Buch verpackten.
Der Geist ließ seinen Kopf hängen und atmete lange aus. Nebel strömte aus ihm heraus und legte sich auf den Boden. Die Möbel in dem Zimmer warfen lange Schatten, denn das Kerzenlicht war zu dunkel um den ganzen Raum zu erfüllen. Der Wind hatte nun komplett aufgehört die schweren Vorhänge und den Staub zu bewegen, nicht ein Lüftchen, nicht ein Geräusch war in dem Zimmer. Sie schaute ihn erwartungsvoll an und zückte den Füller.
„Es ist schon sehr lange her, dass dieses Buch gebunden wurde“, fing der Geist an und seine Stimme wurde mit jedem Wort, jeder Silbe trauriger.
„Das Leder für den Einband wurde von dem Buchmacher persönlich angefertigt. Er musste viele Tiere töten, viel Blut vergießen um das perfekte Leder hergestellt zu haben. Für das Bisschen verbrauchte er viele Pfeile und opferte viele seiner jungen Jahre, sein Ziel immer im Auge. Das perfekte Buch.“
„Und aus welchem Tier wurde das Leder schließlich gemacht?“, fragte sie und unterbrach ihn somit. Er schaute sie lange an, antwortete aber ruhig.
„Dieses Leder ist von einem Wolf. Einem großen Wolf, den er eines Nachts bei Vollmond gesehen und getötet hatte, nach einem langen Kampf. Drei lange Narben zeichneten seit dem Tag seine Brust, da wo das Tier seine Pranke hin eingerammt hatte im Kampf um sein Leben. Der Buchmacher nahm aber nicht nur die Haut, er nahm alles. Das Blut goss er in einen Lederbeutel, die Knochen säuberte er und legte sie in ein Leinentuch. Nur das Fleisch ließ er dort liegen.“ Er schloss seine Augen und legte seine Hand auf die Brust. „Doch er hatte dem Leben dieses Wolfes ein schlechtes Gewissen gegenüber und kehrte nach wenigen Stunden zurück. Er grub mit seinen bloßen Händen ein Loch und legte die Überreste dort hinein. Der Buchmacher legte aber noch eine Eichel hinein. Er wollte, dass man sich immer an diesen Wolf erinnern würde, wenn eine große Eiche dort an seinem Opferplatz wachsen würde.“
Er schwieg und sah sie an.
„Und was machte er mit dem Blut und den Knochen?“, fragte sie ganz langsam und schrieb langsam in ihrem Notizbuch weiter ohne den Blick von dem Geist zu wenden.
„Das Blut wollte er für die Tinte benutzen mit dem er die Geschichte in das fertige Buch schreiben wollte. Und aus den Knochen fertigte er Werkzeuge und ein Schreibutensiel. Er wollte keine normale Feder verwenden, auch wenn er die kostbarsten und schönsten Federn zur Wahl hatte. Von Falken, Adlern und ganz exotischen Vögeln. Aber dann wäre dieses Buch wie jedes andere, mit einer Feder geschriebene, nur mit einem kostbaren Einband.“ Seine Augen wanderten von dem Boden zu dem Regal und fixierten das rote Buch. Er sagte nichts mehr, seine Lippen waren nur aufeinander gepresst und sein Blick blieb starr auf das Buch gerichtet. Er sah aus als müsste er nachdenken, deshalb schwieg sie und wartete, aber nichts geschah.
„Und wie ging es weiter?“, flüsterte sie nach einer Weile und der Geist schien aus einem Traum zu erwachen, denn er schaute sie erstaunt an, als wunderte er sich, dass sie immer noch auf dem Sessel saß.
„Er kehrte in die Werkstatt zurück und vorbereitet alles. Dann schrieb er das Buch und versteckte es in dieser Burg, diesem Turm.“
Sie starrte ihn verwirrt an. „Das ist jetzt nicht dein ernst oder? Wie er das Leder gefunden hat erzählst du ganz genau und wenn es um den eigentlich spannendsten Teil geht kriege ich zwei Sätze?“ Eine Künstlerpause. „Nein. Ich will wissen wie er das Buch gemacht hat, wie er das Blut als Tinte verwendet hat, was für eine Geschichte in dem Buch steht und warum er es ausgerechnet hier versteckt hat!“ Er schwieg und seine Haut schien durchsichtig zu werden, als wollte er gleich wieder verschwinden. „Du bleibst gefälligst hier und beantwortest mir die Fragen. Wir beide haben eine Abmachung, wenn du sie brichst nehme ich das Buch mit mir und kehre nie wieder zurück!“
Er zuckte zusammen und etwas seiner Farbe kehrte wieder zurück. „Ja, das stimmt schon. Wir haben eine Abmachung, aber verstehe mich doch. Ich kann es dir nicht sagen, nicht jetzt. Ich kann nicht immer in dieser Gestallt bleiben. Es kostet mich so viel Kraft die ich nicht mehr habe.“ Seine Stimme war brüchig und klang nicht nach einem jungen Mann sondern einem der uralt war und kurz davor seinen letzten Atemzug zu tun.
„Aber ich muss die Geschichte hören.“ Ich atmete tief durch und steckte den Füller zusammen. „Steht sie in dem Buch?“ Er nickte. „Dann kann ich sie mir doch einfach selbst durchlesen.“ Er schüttelte seinen Kopf. „Aber wie soll ich sie denn kriegen? Du sagst, du bist zu schwach. Das akzeptiere ich. Aber gleichzeitig darf ich das Buch nicht lesen.“ Er nickte schwach. „Ach das kann doch nicht dein Ernst sein!“ Sie wurde wieder wütender und verschränkte aufgebracht die Arme.
„Wenn du es ließ schwindet meine Kraft nur um so schneller“, flüsterte er und sie hob ihre Augenbrauen. „Dieses Buch birgt meine Kraft, mein Leben. Das vorherige und das jetzige.“ Sie vergas mitzuschreiben. „Dieses Buch wurde geschrieben um mein Leben einzufangen, das perfekte Leben. Der Buchmacher, Ich, habe das Buch angefertigt um mein Leben vorher zu bestimmen. Ich habe meine eigene Geschichte geschrieben und sie gelebt, und wie ich sie gelebt habe. Aber für dieses Leben musste ich einen hohen Preis zahlen!“ Er schloss müde seine Augen. „Meine Geschichte, die Geschichte die in dem Buch ist, ist keine schöne Geschichte. Nicht gut zu lesen und auch nicht sehr gut geschrieben. Kurze Sätze und schlecht ausgeschmückte Handlungen.“
„Erzähl sie mir“, flechte sie und schaute ihn sehnsuchtsvoll an.
„Ich hatte in einem Buch gelesen, dass mir ein Zauberer gegeben hatte, dass es die Möglichkeit gibt sein Leben selbst zu schreiben. Aber es seinen Preis hatte, nur dieser Preis wurde nicht erwähnt. Ich hatte bis dahin nicht sehr viel erlebt und auch nicht viel Glück gehabt. Ich war ein einfacher Buchmacher! Doch als ich das gelesen hatte wurde es zu meinem Traum, zu meinem Lebensziel dieses Buch zu erschaffen. Was ich dazu brauchte stand in dem Buch.“ Er atmete tief ein. „Leder des Tieres, das sowohl dein Feind als auch dein Freund ist. Mit dessen Blut die Geschichte geschrieben, mit dessen Blut deine Hände benetzt. Doch das Blut durfte nicht nur die Tinte ausmachen, denn Blut hielt sich nicht lange genug, das war mir bewusst, denn damals schrieben sehr viele Adlige ihre Biografien mit ihrem eigenen Blut.“ Sie schluckte. „Deshalb durchsuchte ich die Bücher der Alchimisten und Magier, der Hexen und Heilerinnen, doch nirgends fand ich eine Lösung, bis zu dem Tag andem ein Stern vom Himmel fiel. Ich hatte über die magischen Fähigkeiten der Sterne gelesen und machte mich somit auf den Stern zu finden. Ich nahm ihn und zerstieß ihn. Als ich das Wolfsblut in die Schale gab leuchtete die Flüssigkeit. Heller als alles was ich jemals gesehen hatte und bis ich die Tinte auf das Papier brachte leuchtete sie.“ Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich kaufte die teuersten Blätter, aus dem edelsten Materialien und band das Buch. Ich schmückte den Einband mit fremden Zeichen und Symbolen. Es war wunderschön. An dem Abend als ich meine Geschichte schrieb wehte ein starker Wind, meine Werkstatt war schon alt, ich hatte sie von meinem Vater geerbt, und löchrig. Der Wind drang durch die Ritzen und wehte alles durcheinander. Doch ich schrieb. Schrieb meine Geschichte so gut ich konnte. Es lag nicht daran, dass ich keine gute Schrift hatte, aber ich konnte keine guten Geschichten schreiben. Ich hatte sie immer nur abgeschrieben. Aber ich schrieb, die ganze Nacht. Umso mehr Tinte in das Buch floss umso schwächer fühlte ich mich, aber ich schrieb weiter.“ Er zuckte zusammen. „Als das Buch fertig war, als meine Geschichte geschrieben war…“, flüsterte er und schaute sie direkt an. „Als sie fertig war, war mein Körper tot.“ Sie zuckte ebenfalls zusammen, denn ein kurzer eisiger Windhauch schoss durch das Zimmer.
Sie wollte etwas sagen, wollte fragen was passiert ist, aber sie konnte nicht. Ihr Mund blieb stumm, aber ihre Augen umso wacher. „Doch, ich vermochte es noch eine Tat zu tun, bevor mein Herz endgültig aufhörte zu schlagen. Ich hatte mir das Buch geschnappt und war losgerannt. Zu diesem Turm. Kaum hatte ich das Buch in das Regal geschoben hörte es auf in meiner Brust zu schlagen und ich fiel zusammen. Hier starb ich und hier lebe ich.“ Er deutete vor das Regal und schloss wieder eine Augen.
„Aber wie…?“, fing sie an, mehr konnte sie nicht sagen.
„Der Preis war, dass man die Geschichte zwar leben durfte, aber nicht in der realen Welt sondern nur in dem Buch. Der Körper musste verlassen werden um seine eigene Geschichte zu leben.“ Er seufzte tief. „Ich habe meine Geschichte zwar gelebt, aber nur so bruchstückhaft wie ich sie beschrieben hatte. Nichts war genauer beschrieben, ich lebte in einer Welt die nicht richtig existierte mit Menschen die nicht richtig lebten. Nur die Details die beschrieben waren sah ich, nur die Dinge die mit Tinte festgehalten wurden hatten bestand. Als ich an mein Ende kam…“ Er presste seine Hände aneinander. „Mein Ende war das einzige was genau beschrieben war. Also das erste, dass ich nach Jahren klar und deutlich sehen konnte. Damals hatte ich Angst vor dem Tod, deshalb wollte ich mich unsterblich machen. Auf ewig wandelte ich auf Erden.“ Eine Träne rollte aus seinem Auge. „Mein letzter Satz besiegelte mein Schicksal. Ich kann nicht sterben, mein Geist kann nicht sterben er ist auf ewig an das Buch gefesselt. Und es altert, es geht langsam kaputt und zerfällt. Das Papier ist auf manchen Seiten eingerissen und durchlöchert, es ist gelblich von dem Rauch und die Tinte verblasst auch schon langsam.“ Er schluckte schwer. „Ich kann nur als Lichtwesen aus dem Buch heraustreten, nicht als Mensch. Ich vertreibe die Menschen von diesem Ort, denn sie würden es mitnehmen. Sie würden es stehlen, ausstellen oder zerstören. Auch wenn ich sterben will, ich habe Angst vor den Schmerzen. Angst davor, dass - wenn das Buch erst einmal weg ist - , ich vielleicht doch nicht meinen Frieden finden kann, sondern weiter als Lichtwesen in diesem Zimmer gefangen bin.“
Sie schaute das Buch an und konnte nicht glauben was sie da hörte. Ein Leben fangen zwischen Papier und Leder. Sie stand langsam auf und legte das Notizbuch weg. Sie lief zu dem Regal und nahm sanft das Buch aus dem Regal. Sie hielt es in ihren Händen und spürte wie es um sie herum kälter wurde. Sie schaute auf, der Geist stand vor ihr.
„Was tust du? Wir hatten ein Geschäft!“, knurrte er und streckte seine Hand aus.
„Du willst nicht mehr in diesem Dasein sein, oder?“ Er schüttelte seinen Kopf. „Ich kann es vielleicht beenden. Ich könnte deine Geschichte abschreiben, und mit mehr Details füllen. Deine Geschichte ausschmücken. Dann kannst du sie vielleicht noch einmal erleben!“
„Wie sehr ich mir dies wünsche, es geht nicht. Dieses Buch ist vollgeschrieben, jede Zeile ausgefüllt.“ Seine Stimme war betrübt und düster.
„Dann schreibe ich in ein neues Buch. Deine neue Geschichte. Du würdest weiter leben, in diesem neuen Buch.“ Sie nickte schnell. „Und wenn es veröffentlicht wird lebst du in mehreren Büchern weiter.“
„Versteh doch, es kann kein normales Buch sein, es muss mit speziellem Leder und…“
„Ich habe dir schon zugehört“, fuhr sie im dazwischen. „Du wirst verschwinden wenn dieses Buch zu Staub zerfällt. Aber deine Geschichte kann weiter leben. Es werden Menschen deine Geschichte lesen und an dich denken. Sie werden dein Leben in ihren Köpfen haben. Dein ausgeschmücktes und detailliertes Leben.“ Sie stockte als es noch kälter wurde. „Du würdest schriftlich weiterleben, wie es bei einem normalen Buch ist. Du würdest weiter Leben in den Köpfen der Leser, in jedem Satz der vorgelesen wird würdest du sein und in jedem Buchstabe wäre deine Seele mit drin.“
„Aber ich wäre nicht da.“
„Irgendwie schon. Du würdest niemals vergessen werden, weil es immer Leuten geben würde die deine Geschichte lesen würden.“ Ihr Herz schlug vor Aufregung schneller, sie wollte diese Story haben!
„Was würdest du mit dem Buch tun?“, fragte er nach einer Weile. Seine Haut war wieder durchsichtiger.
„Wenn ich deine ganze Geschichte habe werde ich es zerstören“, sagte ich trocken und er zuckte zusammen. „Du solltest dich mal im Spiegel sehen. Meinst du wirklich es ist besser wenn du Jahre lang zerfällst als wenn es einmal kurz wehtut?“
Er überlegte. „Du hast Recht.“ Er legte seinen Kopf in den Nacken und fing an zu lachen. Es war ein so helles, erfreutes Lachen, dass sie zusammenzuckte und selber lächeln musste. Es war frei von Sorgen und frei von dem bedrückten Gefühl. Sofort wurde es wieder wärmer in dem Zimmer. „In Ordnung, nimm das Buch. Aber du muss mir eins versprechen!“
Sie schaute ihn überrascht an. „Kommt drauf an was.“
„Du sagtest, du willst meine Geschichte in ein normales Buch schreiben.“ Sie nickte. „Schreibe diese Begegnung ans Ende, schreibe wie ich meinen Frieden finde und endlich Ruhr habe.“
„Natürlich“, versprach sie und holte eine Leinentasche aus ihrem Rucksack. Sie legte das Buch sanft hinein und verstaute es vorsichtig. „Gut, das wäre dann alles.“ Sie atmete tief durch. „Aber du musst mir noch deinen Namen nennen!“ Sie blickte auf um den Mann anzusehen.
Der Geist war kaum noch mehr da. „Cedric Grey.“ Es war nur noch ein heller Umriss da der sie anlächelte. „Lebe wohl und danke.“
Und er verschwand völlig. Sie nahm den Rucksack und ging, bevor sie das von der Morgensonne erleuchtete Zimmer verließ blickte sie sich noch einmal um und prägte sich die Details des Raumes ein. Dann ging sie die Treppen herunter und aus dem Turm heraus. Sie atmete die kühle Morgenluft ein und machte sich auf den Rückweg, als sie plötzlich stockte.
„Grey?“, flüsterte sie und überlegte wo sie den Namen schon einmal gehört hatte, dann ging ihr ein Licht auf. „Das Bildnis des Dorian Grey“, murmelte sie vor sich hin und dachte an den Geist von Oscar Wilde. Ein Mann der nicht altert, dennoch sein Bildnis. Ein Mann der nicht alter, dennoch sein Leben in einem Buch ist. Hatte Wilde sie vielleicht extra zu der alten Frau geschickt? Stand Cedric Grey vielleicht Pate für die Geschichte von Dorian Grey? Hatte Wilde seine Idee von diesem Geist bekommen, war er etwa selbst schon mal hier gewesen?
Sie zuckte mit den Schultern und ging weiter. Sie nahm sich vor ihn das nächste Mal zu fragen, wenn er wieder in ihre Reaktion geflogen kam.


Ende

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Tag der Veröffentlichung: 24.01.2013

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