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Als sie die Treppen hinunter stolperte fiel ihr das Handy aus der Hand. Sie hatte schon die Nummer gewählt und hätte nur noch auf den grünen Hörer drücken müssen, aber jetzt lag das Handy vor ihr auf dem Boden und sie musste sich nach dem Mobilen Telefon bücken.
Sie streckte ihre langen Finger nach dem Plastikklotz aus und hob ihn an. Sie streckte sich wieder und schaute auf das dreckige Display. Es war gesprungen und die eingetippte Nummer war verschwunden. Es war nur noch eine schwarze, rechteckige Fläche zu erkennen mit langen Splittern.
Sie schüttelte wütend ihren Kopf und steckte das kaputte Handy in ihre hellbraune Umhängetasche.
„Jay“, rief eine helle, freundliche Stimme hinter ihr und sie drehte sich langsam um. Sofort wurde sie von zwei dünnen, weichen Armen umarmt und sie erwiderte die zärtliche Umarmung leicht. Sie fühlte sich nicht wohl in dieser Umarmung, aber sie erwiderte sie aus Höflichkeit. Sie durfte sie nicht einfach wegschieben. „Hast du heute Zeit?“ Jay schüttelte langsam ihren Kopf und verschränkte verkrampft ihre Arme. Sie atmete tief ein und aus und schaute sie von unten aus an. Sie wollte nicht oder konnte sie nicht?! Sie wusste es nicht, aber bei diesem Gesichtsausdruck schluckte sie schwer und kaute auf ihrer Zunge rum.
„Ich muss… arbeiten“, murmelte sie langsam, leise. Sehr leise.
„Wieso musst du immer arbeiten? Immer wenn ich mich mit dir treffen will, dann musst du arbeiten, lernen oder deine blitzblanke Wohnung putzen“, keuchte sie leicht genervt - vielleicht auch enttäuscht? - und Jay biss sich auf die Lippe.
„Ich kann heute einfach nicht. Mein Handy ist kaputt und ich bin abhängig von diesem Mobilen Gerät. Wir sehen uns ja nächstes Mal.“
Jay drehte sich langsam um und lief die Straße entlang zu ihrem schwarz glänzenden Auto. Sie öffnete die Tür und stieg schnell ein, setzte sich auf den hellen, weichen Ledersitz. Ihr Herz raste und sie musste ein paar Mal tief durch atmen um sich konzentrieren zu können. Sie blickte auf ihre zitternden Finger und legte sie langsam auf ihr Lenkrad. Sie spannte ihre Finger kontrolliert an und umklammerte das Lenkrad.
„Scheiße“; knurrte sie und drehte den Zündschüssel im Schloss. Der Motor heulte laut auf und sie drehte sich nach hinten um, um aus der Parklücke zu fahren.
Sekunden später fuhr sie schon auf der Landstraße und kurbelte das Fenster runter. Sie fühlte sich nicht wohl. Schon sehr lange nicht mehr. Seit sie sie gesehen hatte konnte sie sich nicht mehr konzentrieren. Sie wollte nicht so fühlen, nicht ihr gegenüber. Sie drückte das Gaspedal durch und das Auto machte einen Satz nach vorne und flog über die graue, asphaltierte Straße. Sie konnte nicht denken. Sie konnte nicht richtig fühlen, nein, sie wusste nicht was sie fühlte. Sie wollte es auch nicht wissen, nicht unter diesen Umständen. Sie fuhr weiter ohne zu sehen wohin sie fuhr, aber dann erkannte sie die Strecke und presste ihren Fuß ohne nachzudenken auf die Bremse. Die Reifen blockierten und der Wagen begann zu schleudern. Er drehte sich einmal um die eigene Achse und blieb schlitternd stehen.
Ihre Augen traten aus den Höhlen, Schweiß lief an ihrem Gesicht hinunter, Adrenalin schoss durch ihre dünnen Adern und ihr Atem hallte aus dem sonst stillen Auto wider.
Sie sah nicht die Straße vor sich. Nein. Sie sah eine andere Scene aus einer vergangen Zeit. Diese Frau hatte sie umarmt wie vor ein paar Minuten. Sie war für sie da gewesen, als es passierte. Sie hatte ihr geholfen den Schmerz zu vergessen. Aber den Schmerz der Vergangenheit kann man nicht mit ein paar Berührungen wegwischen.
Die Berührungen ihrer Hände, ihrer Lippen… Sie schloss ihre Augen und stieg sofort aus dem Auto.
Sie saß am Straßenrand und starrte einen Kieselstein an, als trüge er die Antwort auf seiner Oberfläche. Aber eine Stunde später hatte sie immer noch keine Antwort. Sie fasste einen Entschluss und holte ihr Handy aus dem Auto. Sie wollte gerade wieder die Nummer eingeben, als ihr schlagartig bewusst wurde, dass sie nirgendwo eine Nummer eingeben konnte.
Also fasste sie den nächsten Entschluss, setzte sich ins Auto und fuhr los. Sie wusste nicht genau, warum sie das jetzt tat, aber als sie angekommen war schaute sie auf die Uhr. Es war eigentlich zu früh für ihn aber sie klingelte trotzdem an seiner Haustür. Sein grob geschnittenes Gesicht tauchte im Türrahmen auf und seine dunklen Augen starrten sie überrascht, grimmig an.
„Was gibt’s?“, fragte er brummig und sie zuckte die Schultern.
„Hab grad ein Unfall gebaut und dachte ich komm mal vorbei“, antwortete sie und die Reaktion die sie erwartete hatte kam sofort.
„Aha. Ist was mit dem Auto?“, fragte er teilnahmslos und lehnte sich an den hölzernen Türrahmen.
„Nein, aber mit mir!“ Sie schob ihn durch die große Tür und küsste ihn ohne Vorwarnung. Sie hielt sich an seinem starken Nacken fest und versuchte seine festen Berührungen zu genießen, aber sie konnte einfach nicht. Seine großen, rauen Arme waren um ihren zierlichen Körper geschlungen und hielten sie fest. Wie immer! Er erwiderte ihren Kuss mit purer Gleichgültigkeit. Wie immer! Alles war wie immer…
„Nein“, rief sie aus und schob sich weg. Er starrte sie verwirrt an.
„Was? Du hast mich geküsst!“, knurrte er und kam ihr näher. Er hatte etwas bedrohliches, seit er sich die Haare bis auf einen Millimeter runter geschnitten hatte. Und das breite Kreuz machte ihr auf einmal Angst.
„Ja, ich weiß. Das…“ Sie drehte sich um und ging. Lies ihn zurück in der kleinen, vollgestopften Wohnung. Der Geruch von seiner Haut war immer noch in ihrem Kopf, als sie wieder auf der Landstraße fuhr. Was hatte sie da gewollt? Sie gab Gas, denn sie war nun sich sicher.
Sie fuhr schneller, denn sie war sich sicher welche Zukunft sie wählen würde…


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Tag der Veröffentlichung: 24.04.2012

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