Zögernd schritt sie voran. Den Blick auf den staubigen Boden gesenkt, sah sie weder rechts noch links. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Der Weg war uneben, voller Risse, wie ausgedörrt.
Stille umgab sie. Totenstille. Trotz der vielen Bäume war nicht ein einziges Lied eines Vogels zu hören. Ihr Gang wurde noch schleppender. Gebeugt von einer unsichtbaren Last betrat sie den Rasen und ließ sich unter einer großen Trauerweide ins Gras fallen.
Sie spürte die raue Baumrinde durch den dünnen Stoff ihres Kleides und ihre Hand fuhr unruhig über die starken Wurzeln.
Ihr Blick glitt über den Weg und fiel auf die andere Seite des Rasens. Aus der Ferne sah es aus wie ein Steinmosaik. Eingestürzte Miniruinen.
Sie schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Obwohl sie von frischem Grün umgeben war, lag in der Luft ein modriger Geruch. Sie schmeckte Fäulnis.
Schauer rannen über ihren Rücken und sie rieb sich fröstelnd die Arme.
„Weiter“, drängte eine innere Stimme.
Seufzend stand sie auf und ging zurück auf den Weg. Jetzt musterte sie das Feld neben sich etwas genauer. Hier und da blieb sie stehen und riskierte einen Blick.
Kleine Steine waren zu Kreisen gelegt. Verwittert und mit Moos überzogen. Die Kreise waren leer nur ab und an sah man noch etwas verbranntes oder fauliges Papier. Manchmal meinte sie, verrostete Schmuckstücke zu sehen.
Ihre Kehle war so staubtrocken wie die Luft und sie versuchte ihre spröden Lippen mit der Zunge zu befeuchten. Der kleine Weg gabelte auf einen großen Hauptweg.
Hier war sie nicht mehr alleine. Männer und Frauen liefen über den Weg. Manche tief gebeugt, den Kopf gesenkt, andere stolz den Blick geradeaus.
Eine Frau hastete an ihr vorbei, stieß sie unsacht zur Seite. In der Hand hielt sie ein dickes Buch und eine Art Pralinenschachtel.
Erst jetzt bemerkte sie, dass mehrere Leute einige Dinge bei sich trugen. Schmuckkästchen, Schachteln, Bücher, selbst alte Schallplatten und CDs. Ein Mann hielt einen riesigen Stoffbär an seine Brust gedrückt und murmelte ununterbrochen in sein Fell.
Zumindest sah es so aus, als würde er reden, denn er bewegte seine Lippen. Aber trotz der vielen Menschen war es noch immer totenstill. Weder Stimmen noch Schritte, nichts.
Langsam ging sie Weiter. Der Weg wurde immer voller und enger. Alle Menschen strömten in die gleiche Richtung, wie aufgezogene Marionetten. Manche schlichen langsam voran, so als würden sie am liebsten niemals ankommen, andere erkämpfen sich den Weg mit ihren Ellenbogen und stolperten voran.
Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht und drängten durch ein enges Tor auf einen kargen Acker. Links und rechts lagen bergeweise kleine Steine auf die sich die Leute sofort stürzten. Sie schnappten sich so viele Steine wie sie tragen konnten, ließen sich irgendwo nieder und begannen ihren Kreis zu legen.
Auch sie griff sich einige Steine und zog sich an den Rand zurück. Neben ihr kniete ein junges Mädchen, das ihren Kreis bereits gelegt hatte. Sie hockte da und schrieb etwas in ein Buch. Ihre Hand flog nur so über das Papier und füllte Seite um Seite. Kurze Zeit später schloss sie das Buch und legte es zur Seite. Mit bloßen Händen grub sie eine Mulde in ihren Steinkreis und legte das Buch hinein. Sie holte ein Feuerzeug aus ihrer Tasche und zündete es an allen vier Seiten an. Dicke Tränen liefen über ihre Wangen, als sie sah, wie sich die Flammen in das Papier fraßen.
Stumm saß das Mädchen da und wartete, bis nur noch ein kleines Häufchen Asche übrig war. Fast trotzig warf sie die Erde zurück in die Mulde, klopfte sie fest, stand auf und verließ den Platz ohne einen einzigen Blick zurück zu werfen.
Ohne es bewusst zu merken, hatte sie das Mädchen die ganze Zeit beobachtet und auch ihr standen Tränen in den Augen.
Sie legte ihre Steine ebenfalls zu einem Kreis und grub ein Loch in die Mitte. Hartnäckig buddelte sie tiefer und tiefer, bis ihr halber Arm in dem Loch verschwand. Wütend wischte sie mit den schmutzigen Händen über ihr tränennasses Gesicht.
Sie stand auf und starte in das Loch. Gelenkig hob sie ein Bein und zog das zarte Ballettschläppchen vom Fuß. Ebenso den anderen. Sorgfältig band sie das rosa Seidenband um die Schuhe und warf sie in die Kuhle. Hastig schob sie die Erde zurück und klopfte sie fest. Dann rannte sie barfuss davon, als sei der Teufel persönlich hinter ihr her.
Erst als sie das Tor weit hinter sich gelassen hatte blieb sie stehen. Keuchend lehnte sie sich an einen alten Baum. Nun befand sie sich wieder auf dem alten Teil des Friedhofs, den sie auf dem Hinweg schon gesehen hatte.
Noch immer war totenstill, doch nun war sie auch hier nicht mehr alleine. Überall an den Gräbern kauerten verhärmte Gestalten. Sie sahen aus, wie Skelette in schwarze Tücher gehüllt. Lautlos saßen sie da und wiegten ihre Körper hin und her wie zu einer unhörbaren Melodie.
Entsetzt hielt sie die Luft an und sah auf diese Körper.
„Zombies“, dachte sie voller Panik.
„Sieh sie dir ruhig an“, sagte plötzlich eine Stimme neben ihr.
Da stand ein Mann. Groß, schlank, ein schönes Gesicht. Makellos, wie gemalt, doch so wirkte er auch. Keine Regung war in seinem Gesicht zu erkennen, selbst als er sprach, war sein Gesicht eine starre Maske.
Seine Stimme war wohlklingend und schmeichelnd. Sie unterstrich sein perfektes äußeres. Der schwarze Anzug war maßgeschneidert, selbst die Schuhe aus teurem Leder handgenäht. Sie erkannte das sofort, denn auch sie hatte ihre Ballettschuhe immer selber genäht.
In der Hand hielt er eine Schaufel und eine Spitzhacke.
„Sieh sie dir an“, sagte er noch einmal. „Sie alle haben ihre Träume beerdigt und konnten doch nicht los lassen. Jetzt sind sie jämmerliche Kreaturen die leben und doch nicht sind!“
„Geh, geh weg“, erklang es von den Gräbern, „hör nicht auf ihn, lauf so schnell du kannst.“
Doch wie gelähmt stand sie da, sah auf den Mann und hörte die Stimmen.
„Sie wollten nicht auf mich hören“, sagte er verächtlich. „Ich wollte ihnen helfen, auch dir kann ich helfen!“
„Ich brauche keine Hilfe“, erwiderte sie mit dünner Stimme.
Lautes Lachen durchschnitt die Stille.
„Du hast es nicht mal geschafft deine Träume zu verbrennen, du hast sie nur in der Erde versenkt. Ich grabe sie aus und bringe sie dir zurück!“
„Nein, nein!“, stammelte sie. „Ich will sie nicht, sie sind tot!“
Aufmerksam sah er sie an.
„Deine Träume sind nicht tot, aber ich kann dir helfen.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem Lachen. Durch die starre Mimik sah es aus wie eine grausame Fratze.
„Wie?“, fragte sie leise.
„Ich lösche sie aus und du musst nicht viel dafür tun.“
„Was muss ich tun?“, wollte sie wissen.
Noch immer ruhte sein Blick fest auf ihrem Gesicht.
„Gib mir deine Seele und deine Träume werden von dir gehen. Nur seelenlose Menschen werden nie mehr träumen. Keine Seele. Keine Träume. Keine Hoffnung.“
Triumphierendes Lachen durchschnitt die Stille und war weit bis hinter die Mauern des Tores zu hören.
© Martina Bartels
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Tag der Veröffentlichung: 01.07.2008
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