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Auge

Von Martina Bartels


Ich stehe am Fenster und beobachte die Möbelpacker beim Entladen des Wagens. Bis gestern wurde im Haus gegenüber gebohrt und gehämmert, nun scheint alles bereit für den neuen Mieter.
Ein netter Herr, um die vierzig, selbstständig, erzählte meine Nachbarin.
„Der wäre was für Sie, Frau Staupe!“ Danke nein.
Die Frau konnte nicht ahnen, warum ich vor drei Wochen von Bielefeld nach Dortmund umsiedelte. Der Auslöser war ein Mann. Zum Glück ist dieses Kapitel abgeschlossen.
Mein Blick wandert zum Fenster gegenüber, an dem gerade die weißen Vorhänge aufgezogen werden. Ich erstarre. Blinzelte mehrmals – das Bild bleibt gleich. In der gegenüberliegenden Wohnung steht er und lächelt zu mir herüber.
Das Auge!

Unscheinbares Äußeres, bis auf seine Augen. Schwarz wie Kohle, ein Blick, der mit jeder Rasierklinge konkurrieren kann. Ich taufte ihn Auge. Er wohnte in der gleichen Straße. Anfangs redeten wir ein paar Worte miteinander, unter Nachbarn. Dann sah ich ihn häufiger. Wo ich war, war er! Ich traf ihn beim Einkaufen, was durchaus Zufall sein konnte, aber ich traf ihn ebenfalls in meinem Freundeskreis, im Fitnessstudio, auf Feiern. Wo ich war, war er!
Auge kam mir nicht zu nah, er sah mich einfach an. Wie er mich ansah! Sein Blick zog mich nicht nur aus, er fraß mir das Fleisch von den Knochen.
Ich versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, es gelang nicht. Schließlich stellte ich ihn zur Rede. Er lächelte.
„Du gefällst mir. Ich werde dich bekommen.“
„Du bist verrückt!“, erwiderte ich und ließ ihn stehen.
Auge legte mir Blumen vor die Tür. Dunkelrote Rosen.
Gedankenfetzen zogen an mir vorbei: Ich lag gefesselt auf einem Bett. Auge saß neben mir und streichelte mit den Blüten über meinen nackten Körper. Schweigend lächelte er mich an.
Ich würgte und warf die Blumen in die Tonne. Er stand auf der anderen Straßenseite und beobachtete mich dabei.
Auge schrieb mir keine Briefe, ich erhielt keine Anrufe, er war einfach nur da. Ich wurde aggressiv und schrie ihn an. Er blieb ruhig und lächelte.
„Du gefällst mir. Ich werde dich bekommen.“
Mir lief es eiskalt über den Rücken.

Ich ging zur Polizei und schilderte meine Situation.
„Sie haben keine Beweise? Keine Briefe, keine Anrufe? Er droht Ihnen nicht? Tut uns leid, solange nichts Konkretes vorliegt …“
Die Beamten konnten mir nicht helfen. Ich sagte immer öfters Einladungen ab, zum Einkaufen fuhr ich in andere Stadtteile. Ich traf ihn trotzdem. Meine Gefühle fuhren Achterbahn. Schweißausbrüche wechselten mit Panikattacken.
Die Polizei hatte Recht, er tat nichts. Er sah mich nur an, mit diesem Blick bis auf die Knochen. Er tat nichts, aber er trieb mich in den Wahnsinn. Ich war unkonzentriert und konnte nicht mehr schlafen. Mein Chef drohte mit Kündigung. Ich ging zum Arzt.
„Ignorieren Sie den Kerl“, empfahl er mir und verschrieb ein paar Pillen für mein Nervenkostüm. „Wenn der Verfolgungswahn länger anhält, sollten Sie dringend einen Psychotherapeuten aufsuchen!“
Verfolgungswahn? Der Typ hatte keine Ahnung! Auge war real und da. Durch die Pillen wirkte er nicht so bedrohlich und bekam einen rosa Schimmer.

Familie habe ich keine. Meine Freunde ließ ich links liegen, indem ich mich über Monate von allen zurückzog. Das Haus verließ ich nur, um den Arzt aufzusuchen und mir eine neue Krankmeldung abzuholen. Der rosa Schimmer reichte bald nicht mehr, ich brauchte eine höhere Dosis. Ich flehte den Arzt an, doch er sagte, mein Tablettenkonsum sei am Limit, mehr könne er nicht verantworten.
„Frau Staupe, bitte besorgen Sie sich einen Termin bei einem Therapeuten.“
Auge gehörte in die Klapse, nicht ich!
Ich war alleine.
Der Arzt schrieb mir kein Rezept. Kontakte zu Dealern hatte ich nicht, am Bahnhof jemanden fragen, traute ich mir nicht zu.
„Ich muss hier raus, weg von diesem Kerl!“ In wachen Momenten und ohne Pillennachschub fand dieser Gedanke langsam den Weg in mein rosa umnebeltes Hirn. Ich ging zu meinem Chef, bat um die Versetzung in eine Dortmunder Filiale – als letzte Chance.
Ich klammerte mich an die Hoffnung und startete neu durch. Über einen Makler besorgte ich mir telefonisch in Dortmund eine Wohnung. Ich nahm sie ungesehen. Auge beobachtete mich, das wusste ich.
Bei Nacht und Nebel packte ich ein paar Koffer. Den Rest ließ ich zurück, eine Spedition würde alles entsorgen. Ich wollte einen Neuanfang ohne Ballast. Es war mir gelungen. Bis jetzt.

Jetzt ist Auge da und lächelt mir zu. Mein Herz stockt. Ein paar Pillen habe ich in der alten Schachtel. Ich nehme sie, alle. Ich will nicht nachdenken.
Irgendwann schlafe ich ein. Am nächsten Morgen ist mir speiübel. Ich brauche frische Luft und schleiche zum Fenster. Auge wartet auf mich. Er lächelt mir zu.
Ich habe begriffen. Ich kann nicht fliehen.
Zur Polizei, einmal will ich es noch versuchen. Ich verlasse das Haus, Auge folgt mir. Ich betrete die Wache, während er sich auf eine Parkbank setzt und Zeitung liest. Er lächelt mir zu.

„Guten Morgen, ich werde verfolgt.“
„Guten Morgen, Frau?“
„Staupe, Karin Staupe, ich bin extra aus Bielefeld hierher gezogen und nun wohnt dieser Kerl direkt bei mir gegenüber.“
„Kommen Sie mal mit, Frau Staupe.“ Der Beamte führt mich in ein Büro und ich schildere seinem Kollegen den Fall.
„Er verfolgt Sie, aber er droht Ihnen nicht?“
„Wenn Sie meinen, ob er mir etwas androht, nein, dennoch fühle ich mich bedroht!“
„Es tut mir leid, Frau Staupe, wir können dem Herrn, ebenso wenig wie Ihnen, verbieten umzuziehen. Solange nichts Konkretes vorliegt …“
Ich verlasse das Revier. Auge sitzt noch da und lächelt.
Dieser Blick, dieses Lächeln. Ich ertrage es nicht mehr. Langsam gehe ich nach Hause und steige die Treppen hinauf. An meiner Wohnung vorbei, bis auf den Dachboden. Ich öffne die Luke, klettere hinaus und rutsche bis zur Dachrinne. Dann stehe ich auf und sehe hinunter.
Auge steht dort und lächelt zu mir hinauf.
Ich springe.

„Ich habe dir gesagt, du wirst mir gehören“, höre ich seine Stimme dicht an meinem Ohr. Finger streichen über meine Wange. Ich möchte würgen, doch es geht nicht. Der Notarzt trifft ein. „Keine Chance, sie ist weg.“ Es klingt wie durch Watte.
„Sie heißt Karin Staupe, hat keine Angehörigen, ich werde mich um alles kümmern. Ich kenne Frau Staupe von früher.“
Auge lächelt mich an, dann wird alles rosa.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.06.2008

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