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Die Mütze tief in die Stirn gezogen, kämpfte Pietje gegen den Sturm. Sein Blick wanderte den Pier entlang und blieb an seinem alten Kahn hängen. Wie die sprichwörtliche Nussschale tanzte das Boot auf den Wellen. Die Planken waren an einigen Stellen schon ziemlich marode und er hoffte, dass das Holz der Gewalt des Wassers standhalten konnte.
Mit der Schulter drückte Pietje die morsche Holztür auf und betrat die verräucherte Hafenkneipe. Eigentlich konnte er sich nicht mal mehr einen Schnaps leisten, aber er wollte trotz des Wetters auslaufen und konnte einen Klaren gut vertragen.
Es war der schiere Wahnsinn, heute noch rauszufahren, doch Pietje hatte keine Zeit, auf einen Wetterwechsel zu warten. Seine Frau erwartete das fünfte Kind und die Nahrung war knapp. Er brauchte unbedingt einen dicken Fang, sonst musste er noch die letzte Milchkuh verkaufen.
Pietje zog die Mütze vom Kopf und warf die Öljacke neben sich auf den Hocker.
„Moin Marten, bring mir einen Korn und schreib`s bitte auf.“
„Lass gut sein Pietje, der geht auf mich. Bei dem Sauwetter schickt man nicht mal einen Hund vor die Tür.“
Der Fischer starrte hinaus auf die raue See. Unablässig zupfte er seinen grauen Bart und die Pfeife hing ihm im Mundwinkel. In Gedanken rechnete er immer wieder durch, wie er das Material zur Reparatur des Scheunendaches bezahlen könnte. Egal wie er es drehte, er bekam das Geld nicht zusammen. Aber mit dem kaputten Dach würden ihm Heu und Stroh verschimmeln. Während er seinen trüben Gedanken nachhing, schnappte er ein paar Gesprächsfetzen vom Ecktisch auf.
"Etwas weiter ... nördlich ... Bänke ... Austernperlen ... garantiert ..." Pietje schaute unauffällig zur Seite und musterte die beiden Männer neugierig. Er hatte sie noch nie hier gesehen. Sie hielten den Kopf über eine Karte gebeugt und redeten wieder leise, dass er nichts mehr verstehen konnte. Pietje dachte über das Gehörte nach und plötzlich setzten sich die Wortfetzen wie ein Puzzle zusammen. Schon mehrmals hatten Fischer von den Austernbänken im Norden berichtet, wo in fast jeder Auster eine Perle stecken sollte. Von den Einheimischen hatte sich bisher niemand so weit vorgewagt, da es sich um das Revier der alten Oerdhexe Rixt handelte. Angeblich lockte sie die Fischer in eine Falle, raubte sie aus und ermordete sie. Die Seeleute waren abergläubisch und zweifelten nicht an den überlieferten Erzählungen, deshalb mieden sie das Gebiet.
Der Fischer kippte seinen Schnaps runter und spielte mit dem Gedanken, es zu riskieren. Auch er fürchtete die Hexe, aber er wäre mit einem Schlag all seine Sorgen los. Sollte es dort wirklich die begehrten Austern geben, dann würde er sie holen – noch heute Nacht. Eisiger Wind schlug ihm entgegen, als er die Pinte verließ und nach Hause ging.
„Olga, ich fahr raus, jetzt gleich.“
„Bei dem Wetter, bist du verrückt? Der Fisch muss warten!“ Seine Frau schüttelte den Kopf.
„Ich will keinen Fisch, ich fahr nach Norden und hole mir Austern.“
„Seit wann erntest du Austern? Noch dazu um diese Zeit? Der Mond steht nicht richtig und Ebbe haben wir auch nicht. Pietje, lass das Saufen sein, ich weiß schon so nicht mehr wie ich die Rechnungen bezahlen soll.“ Ihre Stimme schwankte zwischen Belustigung und Verärgerung.
„Ich habe nicht getrunken, ich meine es ernst, ich fahre raus und tauche nach den wilden Austernbänken. Du hast selbst gesagt, wir brauchen das Geld.“ Liebevoll strich er mit der Hand über den gewölbten Leib seiner Frau.
„Nach Norden hast du gesagt? Denk an die Hexe, die Sagen lügen nicht. Außerdem bist du seit Jahren nicht getaucht. Bitte geh nicht.“ Ihre Augen schimmerten feucht.
„Hab keine Angst, morgen früh bin ich zurück und wir sind um einige Sorgen ärmer.“ Pietje gab ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange ehe er zum Schuppen lief, um seine Ausrüstung zu holen.
Er hatte die besagte Stelle gefunden und in mehreren Tauchgängen reichlich Austern gepflückt. Seine Kisten waren voll und wie er erfreut festgestellt hatte - die Schalen voller Perlen. Pietje kannte sich nicht gut aus, aber er schätzte, dass die Ausbeute ihn über den ganzen Winter bringen würde. Sorgfältig verstaute er seine Sachen, stopfte sich eine Pfeife und drehte langsam bei. Er hatte gerade das kleine Riff umschifft, als ihn der Sturm mit voller Wucht erwischte. Dicke Gewitterwolken verdunkelten die aufsteigende Morgendämmerung. Der Fischer wusste, dass hier keine Felsen aus dem Wasser ragten und machte sich somit wegen der schlechten Sicht keine Gedanken. Er vertäute die wertvolle Fracht mit Seilen, damit sie nicht über Bord gespült wurde. Pietje war vollauf damit beschäftigt, den kleinen Kutter auf Kurs zu halten.
In weiter Ferne sah er die schwachen Lichtkegel des Leuchtturms und hielt darauf zu. Seine Füße schlitterten auf den nassen Planken und immer wieder legte sich das Boot gefährlich auf die Seite. Längst hatte er die Segel eingeholt und trieb mit dem Wind dahin. Plötzlich stutzte er, da war ein Licht. Direkt vor ihm am Ufer leuchtete ein Licht. Außer dem Leuchtturm gab es aber hier nichts - und der war weit entfernt.
Pietje dachte an die Oerdhexe. "Quatsch, das sind nur Schauergeschichten!", schrie er laut gegen den Wind. Doch das Licht leuchtete unbeirrt weiter. Der Fischer überlegte kurz. Lange würde sein kleiner Kahn dem Sturm nicht mehr standhalten. Das Ufer war seine Rettung. Er beschloss, dem Spuk auf den Grund zu gehen.
Vorsichtig steuerte er auf die Landzunge zu und behielt das Licht im Auge. Spitze Felsen durchzogen das Wasser und nur mit Mühe gelang es Pietje nicht aufzulaufen.
Der Fischer sprang von Bord, verankerte den Kahn und sah sich am Strand um. Überall lagen verwitterte Holzkisten, Truhen und Körbe. Ihm stockte der Atem, als sein Blick auf einen kahlen Schädel fiel. Langsam ging er auf das Licht zu. Der Wind trug gespenstisches Heulen und Wimmern zu ihm herüber. Pietje kniff die Augen zusammen und sah eine Gestalt in dunklen Röcken und wehenden Haaren. Es war ein altes Weib, das eine Laterne in ihrer knochigen Hand schwenkte. Dabei stampfte sie wütend mit den Füßen und fluchte mit dem Wind. Ihre Worte waren rau wie das Gekrächze eines Raben.
"Die Oerdhexe!", schoss es ihm durch den Kopf. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er machte auf dem Absatz kehrt.
„Bleib stehn, Feigling“, rief sie ihm hinterher. Der Ton ihrer Stimme hatte sich plötzlich verändert und passte so gar nicht zu der Alten, sondern klang trotz der Aufforderung warm und schmeichelnd.
Unwillkürlich blieb er stehen und drehte sich um. Eine junge Frau mit einem schimmernden Kleid und samtschwarzen Haaren kam auf ihn zu. Direkt vor ihm blieb sie stehen und lächelte ihn an. Ihre Schönheit ließ ihn sprachlos den Mund aufreißen.
„Ich bin Rixt“, sagte sie und strich mit der Hand zart über seine Wange.
Noch immer stand Pietje reglos da. „Du, du bist die Hexe?“, stotterte er schließlich.
Anmutig wie eine Königin nickte sie.
„Aber die Alte …“
„Vergiss sie und hör mir zu“, unterbrach sie ihn. „Du bist ein mutiger Mann, sonst wärst du nicht hier.“ Spielerisch glitt sie mit ihren Fingerkuppen über seine Brust. Das Blut rauschte ihm in den Ohren. Er blickte gebannt in ihre Augen.
„Die Fischer reden zu viel“, fuhr sie fort. „Kaum einer traut sich noch hierher und das ist verdammt langweilig. Niemand bringt mir noch Perlen, mit denen ich mich schmücken kann.“ Traurig sah Rixt ihn an. Sie wirkte auf Pietje wie ein trotziges Kind, aber nicht wie eine Furchterregende Hexe. „Ich habe Hunger. Ich kann keinen Fisch mehr sehen. Ich brauche Fleisch, welches ich direkt von den Knochen reißen kann“, fuhr sie fort. Noch immer war ihre Stimme seidenweich und ließ ihm eisige Schauer über den Rücken laufen.
„Hilf mir“, bat sie leise.
„Was soll ich tun?“ Seine Stimme klang fremd.
„Ich lass dich gehen. Erzähl den Fischern von deinem Fund. Schick sie her. Ich will endlich wieder spielen.“
Wie hypnotisiert nickte Pietje. „Aber was wirst du dann tun?“
Ein grausames Lachen erklang und vor seinen Augen verwandelte sich die Schöne in das alte Weib.
„Frag nicht, lauf um dein Leben, und vergiss niemals unseren Pakt!“
Stolpernd rannte Pietje zu seinem Schiff und löste die Leinen. Wie von Gotteshand geleitet, umschiffte er die Felsen und erreichte ohne Schaden zu nehmen das offene Meer. Der Sturm hatte sich gelegt und der Fischer nahm Kurs auf den heimischen Hafen. Während er sich eine neue Pfeife stopfte, schwor er sich, egal wie wertvoll die Perlen sein mögen, nie mehr das nördliche Gewässer zu befahren.
Er hielt seinen Schwur und mied den Norden wie die Pest, doch gegen den Fluch kam Pietje nicht an. Wie eine Marionette lud er alle paar Wochen fremde Fischer auf einen Schnaps ein. Sie steckten die Köpfe über einer Karte zusammen und murmelten leise. Es war von großen Austernbänken und lukrativen Geschäften die Rede. Keiner der Fischer wurde je wieder gesehen.
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Anmerkung: Rixt, die Oerdhexe hieß sie. Sie verdiente sich ihren Unterhalt, indem sie die Schiffe absichtlich stranden ließ. Laut Überlieferung führte sie die Schiffe dadurch in die Irre, dass sie mit Lichtern durch die Dünen lief. Die Statuette von Rixt ist im Dorfzentrum von Buren auf Ameland zu finden.
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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.05.2008

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