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Madame Schwarz, Lucifer, das Buch und ich

Nervös stand ich vor dem Haus und las die Beschriftung der alten Metallplatte.
Dr. Röder
Rechtsanwalt und Notar
Was dieser Notar wollte? Am Telefon sagte er nur, es handelt sich um Eleonore Schwarz.
Ich kannte die Frau kaum, manchmal hatte sie mich gebeten ihren Kater Lucifer während ihrer Reisen zu versorgen. In seiner Nähe fühlte ich mich unbehaglich und wenn er mich aus seinen grünen Augen anstarrte fühlte ich mich beobachtet. Minutenlang sah der Kater mich an und ich schaffte es nicht, den Blick abzuwenden.
Madame Schwarz, wie sie sich selber nannte, war mir ebenfalls unheimlich.
„Kindchen, Madame Schwarz erledigt das schon“, pflegte sie stets zu sagen. Ich fror immer in ihrer Nähe und wenn sie mir die Hand auf die Schulter legte oder mich am Arm berührte richteten sich meine Nackenhaare auf. Trotz meiner Abwehrreaktionen faszinierte mich die Alte irgendwie. Sie hatte diesen Blick, der bis in die Seele vordrang, dem man nicht ausweichen konnte.
Madame Schwarz, ihre Wohnung war wie ihr Name – düster. Ebenso ihre Kleidung, immer schwarz. Ich hatte sie nie in etwas anderem gesehen, als in hauchzarten Spitzenblusen zu bodenlangen Röcken. Das graue Haar adrett zu einem strengen Knoten frisiert. So gebeugt wie sie meistens ging, wirkte sie wie eine Hexe. Es hätte nur noch gefehlt, dass der Kater auf ihrer Schulter hockte.
Vor vierzehn Tagen war die Alte gestorben. Es gab nur einen entfernten Verwandten, der die Wohnung aufgelöst hatte, den Kater wollte er nicht. Irgendwo musste Lucifer bleiben, also zog er bei mir ein.
Ich verscheuchte die Gedanken und betrat die Kanzlei. Man erwartete mich bereits und geleitete mich in ein Büro.
Nach den üblichen Begrüßungsfloskeln kam Dr. Röder gleich zur Sache. Madame Schwarz hätte mir etwas hinterlassen, was er überreichen sollte. Einen Moment stutzte ich, dass selbst der Notar die Alte als Madame bezeichnete.
Als erstes teilte er mir mit, dass es der Wunsch der Verstorbenen war, dass ich ihren Kater zu mir nehme. Ich informierte ihn, dass Lucifer bereits seit zwei Wochen bei mir wohnte und ich nicht vor hatte ihn auf die Strasse zu setzen.
Dann überreichte er mir einen dicken versiegelten Umschlag, bat um eine Unterschrift, wünschte mir alles Gute und ich war entlassen.
Verwirrt verließ ich die Kanzlei und machte mich mit dem Kuvert in der Hand auf den Heimweg. Was es wohl enthalten mochte? Die ganze Situation war so suspekt wie Madame Schwarz selber es gewesen war.
Zuhause angekommen legte ich das Päckchen auf den Tisch und kochte mir einen Kaffee. Dann setzte ich mich und sah es eine Weile an. Vorsichtig schüttelte ich es – nichts. Mit der Fingerkuppe strich ich über das Siegel. Etwas Sternförmiges war in den Wachs gedrückt, entziffern konnte ich nichts.
Ich holte meinen Brieföffner und brach das Siegel. Schnell öffnete ich den Umschlag und sah hinein. Er enthielt eine Fotografie und ein Buch. Als erstes holte ich das Bild heraus. Es zeigte Madame Schwarz vor dem Eifelturm. Ich hätte ein Monatsgehalt verwettet, dass Madame niemals in Frankreich gewesen war, sondern das ihre Reisen höchstens bis ins Sauerland gingen. So kann man sich irren! Ich drehte das Foto um.
Kindchen, Madame Schwarz erledigt das schon, stand dort geschrieben, sonst nichts. Ein Brief war auch nicht dabei. Was sollte ich mit einem Bild meiner toten Nachbarin? Bekloppt. Der Kater huschte ins Wohnzimmer, fauchte einmal und rollte sich auf der Decke zusammen.
Ich nahm das mit Seide bespannte Buch heraus. Es war mit chinesischen Schriftzeichen bedruckt und erinnerte mich an meine Tagebücher aus der Schulzeit. Ehe ich es öffnete, nippte ich an meinem Kaffee. Die Seiten waren aus feinem Papier, sehr dünn, fast wie Pergament. Es sah alt und vergilbt aus. Ich durchblätterte die ersten Seiten und runzelte die Stirn. Schnell blätterte ich das ganze Buch durch. Nichts. Es war leer! Es enthielt nicht ein einziges Wort.
Wütend schlug ich es zu und legte es zurück auf den Tisch.
„Ich wusste doch, dass dein Frauchen nicht ganz dicht ist“, rief ich dem Kater zu, der noch immer neben mir auf dem Sofa lag. Träge hob er den Kopf und sah mich an. Ein merkwürdiger Blick, als wenn er mich fixiert.
„Warum hat mir die alte Schachtel ein leeres Buch vermacht? Reicht es nicht, dass sie mir das Katzenvieh aufs Auge gedrückt hat?“, murmelte ich vor mich hin. Lucifer fauchte.
„Halt die Klappe!“ Ich warf ein Kissen nach ihm.
Der Kater erhob sich und revanchierte sich, indem er mit dem Schwanz das Buch vom Tisch fegte. Ich bückte mich und hielt mitten in der Bewegung überrascht inne. Das Buch lag geöffnet am Boden und ich sah mich!
Behutsam nahm ich es zur Hand. Auf der Seite waren Filmsequenzen wie auf eine Leinwand projiziert. Ich sah mich als Säugling im Bettchen liegen, mein Gesicht war blau, ich schien keine Luft zu bekommen. Entsetzt starrte ich auf das Bild. Meine Mutter betrat das Zimmer, riss mich aus dem Bett, schüttelte mich und klopfte mir heftig den Rücken. Ich begann zu husten. Das war Rettung in letzter Sekunde, schoss es mir durch den Kopf. Mutter hatte mir nie davon erzählt.
Ein anderer Ausschnitt zeigte mich mit meiner Freundin auf den Bahngleisen. Wir spielten fangen, sprangen über die Gleise und rannten auf das Feld. Nur einen Augenblick später donnerte der Zug vorbei. Niemals war ich mir dieser Gefahr bewusst gewesen.
Dann sah ich meine Mutter. Auf ihrem Sterbebett. Krebs im Endstadium. Sie litt und hatte sich aufgegeben. Mein Vater betrat das Schlafzimmer, holte ein Fläschchen aus seiner Tasche und träufelte ihr mit der Pipette von der Flüssigkeit in den Mund. Mutter lächelte ihn an. Mein Gott, ich hatte sie die letzten Monate während ihrer Krankheit niemals lächeln sehen. Ich wollte sie erlösen, doch mir fehlte der Mut und ich verschob es von Tag zu Tag. Mutter schloss die Augen, er hielt ihre Hand und dann schlief sie ein. Er hatte sie erlöst, er hatte es wirklich getan! Er hatte mir die Entscheidung abgenommen.
Tränen stiegen mir in die Augen, tropften auf das Papier. Leere! Nichts als leere Seiten!
Immer wieder blätterte ich die Seiten um - nichts.
Lucifer saß unter dem Tisch und leckte sich gelangweilt die Pfoten.
Ich arbeitete zu viel, das wusste ich, aber dass ich schon halluzinierte? Unglaublich!
Ich brauchte dringend einen klaren Kopf. Obwohl es bereits dämmerte, beschloss ich joggen zu gehen. Ich lief die Treppe hoch ins Schlafzimmer und stieg in meine Sportklamotten.
Wieder unten holte ich meine Laufschuhe aus dem Schrank, zog sie an und stütze den Fuß auf der Treppenstufe ab. Als ich mich vorbeugte, um die Schleife zu binden sprang mir der Kater in den Nacken und krallte sich fest.
„Verfluchtes Mistvieh! Aua, lass los.“ Wütend griff ich ihm ins Fell und packte ihn. Seine Krallen waren noch immer tief in meine Haut gebohrt. Endlich hatte ich mich befreit und befühlte meinen Nacken. Warm und feucht – Blut. Es brannte höllisch.
Ich schleuderte die Schuhe von den Füßen und ging hinauf ins Bad. Das Vieh hatte mir tiefe Kratzer zugefügt. Ich reinigte die Wunde und schmierte Salbe darauf.
Die Lust am Joggen war mir vergangen.
Ich ging hinunter und ließ mich auf das Sofa fallen, als mein Blick erneut auf das Buch fiel. Zögernd nahm ich es wieder zur Hand, schlug es auf. Ein Schrei drang über meine Lippen. Ich sah mich, im Park beim Joggen. Es dämmerte. Hinter mir ein dunkler Schatten, riesengroß, setzte zum Sprung an und war über mir. Spitze Fangzähne gruben sich in mein Fleisch.
Ich schloss die Augen, riss sie wieder auf.
Leere. Nichts, als weiße Seiten.
Zitternd schloss ich das Buch. Was war das? Eine weitere Einbildung? War ich reif für die Klapse?
Die Stille machte mich wahnsinnig. Ich sprang auf und schaltete das Radio an.
„Wegen einer aktuellen Meldung unterbrechen wir das Programm. Der vor zwei Stunden aus dem Zirkus entlaufene Bär wurde im Stadtpark gesichtet. Bitte meiden sie den Park, dass Tier muss sich bei seiner Flucht eine tiefe Wunde zugezogen haben und könnte sehr aggressiv reagieren.“
Meine Beine zitterten. Wie eine Marionette ging ich zum Sofa, setzte mich. Mein Gott, wenn der Kater nicht gewesen wäre …
Als hätte Lucifer meine Gedanken verstanden kam er aus dem Flur und kuschelte sich auf meinen Schoss. Ich streichelte sein pechschwarzes Fell und murmelte leise Danke. Mein Blick fiel auf den Tisch, dort lag noch das Foto.
„Kindchen, Madame Schwarz erledigt das schon!“ Sie zwinkerte mir zu. Irgendwie beängstigend.

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Tag der Veröffentlichung: 20.05.2008

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