Eines Morgens, ich saß gerade im Zug zur Arbeit, sollte ich noch nicht wissen, wie sich mein Leben ändern sollte.
Ich schaute im Zug umher. Die meisten Fahrgäste schliefen. Andere hatte Kopfhörer von ihren MP3-Playern im Ohr und einige lasen in der aktuellen Tageszeitung. Zwei weitere Fahrgäste hatten ihr Laptop auf dem schoß. Der Eine surfte im Internet und der Andere schrieb in einem Textprogramm.
Dann fiel mir eine junge Frau auf, die etwas verträumt mit ihrem Handy spielte. Sie hatte langes, braunes Haar und war gertenschlank. Ich schätze sie etwa zwei bis drei Jahre jünger als ich.
Zwischenzeitlich war der Zug am nächsten Bahnhof, wo eine Gruppe Schüler zustieg. Sie fanden keinen Sitzplatz und standen somit im Mittelgang. Die Lautstärke schwoll rapide an, wodurch sich einige Fahrgäste gestört fühlten. Auch die junge Frau war durch die jauchzende Truppe schnell hellwach und packte genervt ihr Handy in die Tasche. Sie schaute zu den Schülern und verzog den Mund zu einem schmalen Strich. Dann schaute sie sich im Zug um und ihr Blick gelangte in meine Richtung. Ich zog die Schultern mit zusammengepressten Lippen und hochgezogenen Augenbrauen nach oben, um ihr zu signalisieren: „ Nicht aufregen, die sind ja noch jung.“
Am nächsten Bahnhof stiegen die Schüler dann zum Glück wieder aus und viele der Fahrgäste atmeten tief durch.
Ich fragte mich, weit die junge Frau wohl fahren wollte.
Sie kramte in ihrer Tasche und ging dann zur Zugtoilette. Nach einer weiteren Bahnstation, wo eine Vielzahl von Fahrgästen ausstieg, kehrte die junge Frau von der Zugtoilette zurück und setzte sich auf den Sitzplatz neben mir. „Bis wohin fahren Sie denn?“ fragte sie. Ich antwortete: „Ich muß am übernächsten Bahnhof raus.“ – „Fahren Sie jeden Morgen mit der Bahn?“ – „Ja. Und Sie?“ – „Wenn es klappt. Ich bin auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch.“ – „Na, dann wünsche ich Ihnen Viel Glück.“ Dann war der Zug auch schon an meinem Zielbahnhof angekommen. Aber auch die junge Frau stieg hier aus. Sie fragte mich: „Sagen Sie, ich habe noch eine Stunde Zeit. Gibt es hier irgendwo in der Nähe ein Café?“ – „Ja, gleich hier um die Ecke.“ Sie bedankte sich und unsere Wege trennten sich.
Ich ging zu meiner Arbeit. Am Eingang begrüßte ich den Pförtner und drückte meine Stempelkarte. Meine Assistentin begrüßte mich, als ich zu meinem Büro kam mit den Worten. „Guten Morgen. Hier ist Ihre Post.“ – „Was liegt denn heute an?“ – „Nur einen Termin in einer Stunde.“ Dann ging ich in mein Büro.
Wie ich so an meinem PC arbeitete, bemerkte ich nicht, wie die Zeit verging und über die Sprechanlage meldete sich meine Assistentin: „Ihr Termin ist jetzt da.“ – „Ja OK, kann rein kommen.“ Die Tür ging auf und ich traute meinen Augen nicht. In mein Büro trat sozusagen eine ´Alte Bekannte´ ein. Es war die junge Frau aus dem Zug. „Na, das ist ja eine Überraschung.“ Auch die junge Frau erschrak, als sie mich sah. Ich fuhr fort: „Setzen Sie sich. Eigentlich können wir uns das Gespräch ja schon fast ersparen.“ Dann fügte ich hinzu: „Nein, nein, keine Angst. Ich meine damit, ich bin jetzt eigentlich etwas voreingenommen. Bei unserem Zusammentreffen kamen Sie mir schon sympatisch vor.“ Ein paar kurze Fragen später erlöste ich die junge Frau von dem Gedanken gescheitert zu sein. „Ich denke, ich kann Ihnen den Job geben.“ Sie bedankte sich und strahlte. Ich sagte: „Dann werden wir uns ja weiterhin im Zug sehen, wie?“ – „Ich denke ja.“ Sie war völlig außer Rand und Band.
Am nächsten Morgen fuhr ich wieder mit dem Zug zur Arbeit. Aber die junge war nicht drin. Auch am Zielbahnhof sah ich sie nicht. Sollte sie sich etwa an ihrem ersten Arbeitstag schon verspäten? Sollte ich mich vielleicht doch in ihr getäuscht haben?
Ich ging noch zu der Bäckerei, um mir ein belegtes Brötchen zu holen. Von einem der Tische rufte plötzlich jemand. Ich drehte mich um und sah die junge Frau. Sie sagte: „Haben Sie noch etwas Zeit?“ Ich war etwas erstaunt. Die junge Frau hatte ein komplettes Frühstück vor sich und meinte: „Ich wollte mich gerne revanchieren, daß ich den Job bekommen habe und da das gestern etwas kurious abgelaufen war, wollte ich mir auch etwas kuriouses einfallen lassen.“ Das gefiel mir und ich setzte mich zu ihr: „Ich denke, dann können wir ruhig ´ne halbe Stunde später in die Firma geh´n.“ Sagte ich.
Aber aus der halben Stunde wurden dann jedoch zwei Stunden.
Das ganze war vor fünfundzwanzig Jahren. Und jetzt feiere ich mit genau dieser jungen Frau meine Silberne Hochzeit.
Tag der Veröffentlichung: 22.01.2011
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