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Vor dem ersten Schnee

Sito saß vor seinem Haus, das er schon einige Jahre zusammen mit Tanasi bewohnte.

Tanasi gehörte zu den Kriegern ihres Stammes, Sito selbst war Jäger, verantwortlich dafür, dass ihre Leute immer genug Nahrung bekamen, um zu überleben und gegen die Gefahren ihrer Welt bestehen zu können.

Vor Monaten war ihre Gemeinschaft angegriffen worden, einige Kinder wurden entführt, darunter auch ihr Sohn Niyo, den sie, nachdem Isara, Sitos beste Freundin, kurz nach seiner Geburt starb, an Kindes statt annahmen. Der Vater des Jungen war schon Monate zuvor während einer kriegerischen Auseinandersetzung gefallen.

Um ihre Kinder zurückzuholen, brach die Hälfte ihrer besten Kämpfer auf.

Das war im Frühling, nun begann der Herbst Einzug in ihr kleines Tal zu halten. Sito liebte den Herbst, der die Welt in so viele unterschiedliche Farben tauchte. Für ihn war diese Zeit die schönste des ganzen Jahres.

Ihr Schamane nannte es immer die Magie des Herbstes, deren Kraft alles zu durchdringen schien. Viele ihrer Zeremonien wurden in dieser Zeit abgehalten, da die Energien in diesen Monaten stärker waren als sonst.

Doch in diesem Jahr konnte er sich an nichts erfreuen, auch nicht an den Farben der Natur um ihn herum oder der reichen Ernte.

Im Gegensatz zu ihren dämonischen Feinden waren sie nicht im Stande, Eis und Schnee zu trotzen. Die entführten Kinder und ihre Retter mussten, um nach Hause zu gelangen, einen Pass überwinden, der in wenigen Wochen unpassierbar war. Jeder der sich in dieses Meer aus Schnee wagte, kam darin um.

Kamen sie nicht rechtzeitig zurück, mussten sie den Winter über auf der anderen Seite ausharren, was sie kaum überleben würden, da sie so für den Feind ein leichtes Ziel boten.

Je weiter das Jahr voranschritt, desto wahrscheinlicher war es, das Sito seinen Gefährten und ihr Kind nie wieder sehen würde, da sie entweder bei dem Versuch der Passüberquerung starben oder von den Dämonen niedergemetzelt wurden.

Natürlich kam ihm auch immer wieder der Gedanke, dass sie womöglich schon gar nicht mehr lebten. Vielen der zurückgelassenen Gefährten und Gefährtinnen erging es wie ihm. Die Stimmung im Dorf war angespannt.

Seufzend hob Sito den Blick und sah hinauf zu den Gipfeln der Berge, die ihr gesamtes Tal umgaben und ihnen meist den nötigen Schutz boten, da der Feind nur ungern die Anstrengungen auf sich nahm, zu ihnen zu gelangen.

Waren Tanasi und die anderen schon auf dem Weg zurück? Würde er seine große Liebe je wiedersehen?

Seine Hand verkrampfte sich um das Messer in seiner Hand, mit dem er gerade Küchenutensilien herstellte, um sich abzulenken.

Seit der letzten Jagd vor ein paar Tagen waren ihre Vorratskammern randvoll, so dass sie keine weiteren mehr durchführen mussten. Sito wäre lieber noch einmal aufgebrochen, denn das brachte ihn auf andere Gedanken. Seine Sorge um Tanasi und Niyo war dann nicht so allumfassend, fraß ihn nicht von innen heraus auf.

Ein stechender Schmerz brachte ihn dazu, die Klinge loszulassen. Seine Handfläche zierte nun ein tiefer Schnitt, der stark blutete.

»Mist, verdammter...«, fluchte er laut, griff nach einem Tuch und presste es auf die Verletzung.

»Bruder, auch wenn wir Bären schneller heilen als andere Rassen, solltest du es nicht übertreiben und dich selbst verstümmeln«, sagte Chay, sein kleiner Bruder und setzte sich neben ihn. »Lass mal sehen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm er Sitos Hand vorsichtig in seine und sah sich die Handfläche genau an. Dann legte er seine Hand auf die offene Stelle. Nach nur wenigen Sekunden spürte Sito eine angenehme Wärme, die sich in ihm ausbreitete. Manchmal war es nicht schlecht, wenn der eigene Bruder der nächste Schamane des Stammes war und darum die Fähigkeit des Heilens besaß. Als er die Hand wieder freigab, war die Wunde verschwunden, nur das Blut zeugte davon, dass etwas geschehen war.

»Danke, Chay«, stieß er hervor und wischte die letzten Spuren mit dem Tuch weg.

»Das habe ich gern getan. Aber ich bin gekommen, weil ich mir Sorgen um dich mache. Du bist nicht mehr du selbst, seid dein Gefährte und Niyo weg sind. Manchmal stehst du vollkommen neben dir, achtest nicht mehr auf deine Umwelt, so wie jetzt gerade mit dem Schnitzmesser. Du weißt, das du dich mir jederzeit anvertrauen kannst, oder?«

»Selbstverständlich weiß ich das, aber das alles ist nicht einfach für mich. Du weißt so gut wie ich, dass ich die beiden wahrscheinlich nicht mehr wiedersehen werde, wenn sie bis zum ersten Schnee nicht zurück sind. Tanasi und ich sind schon so lange zusammen, waren schon davor wie eine Einheit, das ich mir ein Leben ohne ihn an meiner Seite nicht mehr vorstellen kann. Jede Nacht träume ich von ihm, leider sind es meistens keine schönen Träume. Mein Herz hofft noch, wo mein Verstand schon erahnt, das es für meinen Mann und mich kein glückliches Ende geben wird.«

»Noch besteht Hoffnung für deinen Gefährten, deinen Sohn und all die anderen. Wir dürfen sie nicht aufgeben, müssen ihnen und ihrem Können vertrauen.«

Sito ließ die Schultern hängen, woraufhin Chay ihn in eine feste Umarmung zog.

»Dein Tanasi ist der stärkste und beste Kämpfer, den wir haben und verdammt, er liebt dich so sehr, wird sich durch nichts und niemanden davon abhalten lassen, einen Weg zu dir zurück zu finden. Vertrau auf den großen Geist der Natur, der uns hervorbringt, uns beschützt und zu sich holt, wenn unsere Zeit gekommen ist. Er wird den Kämpfern beistehen. Daran glaube ich.«

Schief grinsend sah er seinen Bruder an.

»Er wusste schon als wir noch Kinder waren, dass wir einander gehören und fragte unseren Vater noch am Tag, als wir in die Reihen der Männer aufgenommen wurden, ob er mich zum Mann nehmen dürfe. Ich kann mich noch an Vaters entgeistertes Gesicht erinnern und an das helle Lachen meiner Mutter, als sie ihn fragte, ob er denn blind sei, weil er nicht verstand, das Tanasi und mich viel mehr verband als nur Freundschaft. Nur wenige Tage danach verband uns der Schamane. Selbst er schien zu spüren, wie groß unsere Liebe schon damals war. In den Jahren seitdem wurde sie nur noch stärker. Die Bären in uns sind in ihrer Liebe noch leidenschaftlicher, was mich gerade jetzt vollkommen überwältigt, denn mein Bär vermisst seinen Gefährten, versteht nicht, wieso wir nicht zusammen sind.«

»Genau diese Leidenschaft wird ihn zu dir führen, ihr könnt nicht ohne einander.«

Zugern wollte er seinem Bruder glauben, sich dem guten Gefühl der Hoffnung in sich hingeben, aber es gelang ihm nicht, denn es schoben sich Zweifel und Ängste davor, die ihm das Herz schwer machten.

»Ich werde versuchen, den Glauben daran nicht zu verlieren«, stieß er trotzdem hervor, wollte nicht, das sich sein kleiner Bruder noch mehr um ihn sorgte.

Bald schon verabschiedete sich dieser, den ihn erwartete eine Lehrstunde bei ihrem Schamanen und Chay nahm seine Ausbildung sehr ernst.

Da er keine Lust verspürte, noch weiter mit dem Holz zu arbeiten, räumte er die fertigen Teile ins Haus, um sie später noch zu versiegeln, damit sie Feuchtigkeitsbeständig wurden. Den Rest brachte er in den Schuppen.

Zurück im Haus sah er sich um, entdeckte in jeder Ecke eine Erinnerung, die ihn schmerzhaft an Tanasi erinnerte. Vor dem Kamin blieb er stehen und betrachtete das Bild, das dort hing und sie beide zeigte. Sein Gefährte war nicht nur ein begnadeter Krieger, sondern auch ein Künstler. Sein Lieblingsobjekt war, neben Niyo, Sito. In ihrem Schlafzimmer hingen Dutzende, auf denen er mal mehr, mal weniger bekleidet zu sehen war.

Oft saß er neben Sito im Bett, hielt eine der handgeschöpften Papierbögen, die auf einem Holzbrett befestigt war, in der Hand und malte ihn.

Man sah jedem einzelnen Gemälde an, wie viel Herzblut hineinfloss.

Der Gedanke daran, dass er nun nie wieder neben Tanasi liegen, nie wieder diesen verliebten Gesichtsausdruck sehen würde, den er ihm immer schenkte, wenn er Sito ansah, schnürte ihm fast die Luft ab. In seinen Augen schwammen Tränen.

Nein, das durfte er nicht, er konnte nicht aufgeben, musste stark sein.

Sein Bär schlug von innen die Krallen in ihn, wollte heraus.

Kurzentschlossen öffnete er die Hintertür, stürmte nach draußen und verwandelte sich im Sprung. Seine Kleidung löste sich auf, rieselte als feiner Staub zu Boden.

Schwer setzten die Tatzen auf dem Gras auf, die Krallen gruben sich tief in die Erde, während er immer schneller rannte.

Die Ansiedlung ließ er bald hinter sich.

Die Wachen, die ihm begegneten, ignorierte er. Auf reden hatte er keine Lust, wollte sich ganz dem Tier hingeben. Nur wenn er seine Verzweiflung herausließ, war es ihm möglich, sich für eine Weile zusammenzureißen, ein produktives und wertvolles Mitglied ihrer Gemeinschaft zu sein, auch wenn ihm mit jedem Tag, der verstrich und den Winter so unaufhaltsam näher brachte, das Herz ein Stück mehr zerbrach.

Sein Weg führte ihn, ohne dass er ihn bewusst wählte, mitten in die Wälder. Vor den riesigen und Jahrtausende alten Bäumen blieb er stehen.

Mit einem Brüllen, das man wahrscheinlich überall im Tal hören würde, stürzte er sich auf einen der mächtigen Stämme und begann, mit seinen Tatzen dagegen zu schlagen. Nach einer Weile ließ er sich an Ort und Stelle auf den Boden sinken. Ein Wimmern entrang sich seiner Kehle, das so gar nicht zu einem Bären passen wollte. Tief in seinem Innersten war er aber Mensch, verspürte all die vielen differenzierten Gefühle, die er so gern verdrängt hätte.

Doch er musste der Tatsache ins Auge blicken, das nichts diese wild aufflammenden Gefühle verschwinden lassen konnte. Sie waren Teil von ihm und würden es bleiben. Nur die Rückkehr seiner Liebsten würde sie beseitigen.

Schwerfällig erhob er sich und trottete langsam zurück. Erst in der Abenddämmerung erreichte er sein Zuhause.

Ohne mit jemanden zu sprechen zog er sich zurück, legte sich ins Bett und versuchte zu schlafen.

Die folgenden Tage überstand Sito einigermaßen gut, versuchte sich nicht herunterziehen zu lassen, vor allem auch als gutes Vorbild für all die anderen, die jemanden vermissten. Er gehörte schließlich als Jäger auch zu den starken Mitgliedern des Rudels, wenn er Schwäche zeigte, würde er damit anderen verdeutlichen, wie aussichtslos alles war. Aber sie alle mussten für die, die auf sie zählten, stark sein.

Sito half den Müttern des Dorfes, ihre Gärten und die Häuser winterfest zu machen. Die körperliche Arbeit lenkte ihn ab.

Auf den Feldern ging er den Arbeitern zur Hand, half bei der Ernte der letzten Feldfrüchte.

Am meisten Zeit verbrachte er aber im Wald, wo sie die Bäume fällten, die den Winter nicht überstehen würden, um für alle genug Feuerholz zu bekommen. Wie ein Wahnsinniger bearbeitete er das Holz, ließ daran alles aus, was ihm zusetzte.

Die Erschöpfung sorgte Nachts Gott sei Dank dafür, dass er ohne Schwierigkeiten einschlief und erst am nächsten Morgen erwachte.

Doch obwohl ihn all das ablenkte, vergaß er nicht, wie wenig Zeit noch blieb, bevor der erste heftige Schneefall den Weg über den Pass unpassierbar machte. Der Duft der Natur veränderte sich schon, brachte den Geruch nach Kälte und Schnee mit sich. Die Temperaturen fielen schon deutlich ab und an manchen Tagen bedeckte Raureif die Wiesen, wenn er zur Arbeit aufbrach.

Oft sah er in diesen Tagen Frauen und Männer, die wie er sehnsüchtig den Horizont nach einem Anzeichen dafür absuchten, das ihre Krieger mit den Kindern heimkehrten.

Ihnen allen schwand die Hoffnung immer mehr. Selbst ihr Schamane konnte die Maske der Zuversicht, die er seit Wochen zur Schau trug, nicht mehr länger aufrechterhalten. Von Chay erfuhr er, das der Schamane sich, mit der Hilfe seines Bruders, darauf vorbereitete, eine große Trauerzeremonie abzuhalten. Gleichzeitig wollte er aber nicht vollkommen aufgeben, weswegen sie parallel auch ein Fest zur Feier der Heimkehr organisierten.

Der Nebel, der mit jedem Tag dichter wurde, spiegelte ihre düstere Stimmung perfekt wieder, ebenso wie die Herbststürme, die übers Land fegten und noch mehr Kälte mit sich zu brachten.

Sito verspürte eine innere Unruhe, die immer mehr anwuchs.

Keiner kam mehr an ihn heran, auch seine Eltern und Chay nicht. Er wollte nicht hören, dass er positiv denken musste und den Glauben an das Schicksal und den großen Geist nicht verlieren durfte, konnte nicht ruhig bleiben, wenn alles in ihm danach schrie, irgendetwas kurz und klein zu schlagen. Sie wussten nicht, wie er sich fühlte. Chays Frau war bei ihm, so wie Sitos Mutter an der Seite seines Vaters war. Keiner von ihnen fühlte diese Leere in sich. Sie würden ebenfalls Familienmitglieder verlieren, sollten es Tanasi und ihr Sohn nicht schaffen, aber das war etwas anderes. Für Sito wäre es das Ende der Welt, denn sein Gefährte war ein Teil von ihm. Die Tierseele in ihm würde vor Trauer eingehen und er mit ihr.

Wäre er doch nur mitgegangen, dann könnte er mit seinem Mann zusammen dem Ende entgegen gehen, sie wären als Familie vereint. So hätten sie noch einen wundervollen Herbst miteinander erlebt, würden dessen Magie spüren, die er so liebte, nicht ohne Grund war es für ihn die schönste Zeit des Jahres.

So war er jedoch dazu verdammt, abzuwarten.

Sito kam seinen Verpflichtungen dem Stamm gegenüber nach, half dort, wo er gebraucht wurde, war aber nur ein Schatten seiner selbst.

Zumindest war er damit nicht allein, denn es gab einige, die zurück geblieben waren, die nun wie er Angst verspürten, für immer alleine zu bleiben. Manchmal saßen sie zusammen und schwiegen gemeinsam. In diesen Augenblicken war es Sito auf merkwürdige Weise etwas leichter ums Herz, da sie ihren Schmerz teilen konnten, wussten, das die anderen auch ohne Worte verstanden, wie schwer es war, trotz des großen Schmerzes in sich zu funktionieren.

Der Tag, an dem sich alles entscheiden würde, rückte immer näher. Viele Bäume waren schon kahl, die Sonne verlor langsam aber sicher ihre Kraft.

Jeden Morgen, wenn er erwachte, trat er zu allererst ans Fenster und sah hinauf zu den schroffen Gipfeln und konnte erst befreiter Atmen, wenn er sah, das sie noch nicht unter einer weißen Schneedecke verborgen waren.

So auch diesen Morgen. Jedoch hielt sein Glück nicht an.

Das Herz setzte in seiner Brust aus, als er den schneebedeckten Gebirgskamm sah.

Seine Beine gaben nach. Einen Aufschrei unterdrückend sank er zu Boden. Stumme Tränen liefen über seine Wangen.

Nun war es Realität, es gab keine Hoffnung mehr, nicht die geringste. Sein Mann war, ebenso wie sein Sohn, all die anderen Kämpfer und die entführten Kinder, verloren. Wahrscheinlich würde er nie erfahren, was wirklich mit ihnen geschah oder einen Ort haben, an dem er um das, was er verlor, trauern konnte.

Sein Verstand fühlte sich an wie betäubt, als er sich umzog und schließlich vor das Haus trat.

Ohne Hast lief er los, wollte zum See, an dem Tanasi und er so viele schöne gemeinsame Stunden erlebten.

Dort angekommen, ließ er sich auf einem der Felsen am See nieder und starrte auf die Wasseroberfläche, die vom Wind bewegt wurde, so dass die Wellen immer kräftiger ans Ufer brandeten.

»Früher glaubte ich immer, das der große Geist wütend sei, wenn der Sturm übers Land fegte, die Bäume wie wild bewegte und das Wasser nicht zur Ruhe kam«, hörte er Tanasis Stimme in seinen Erinnerungen. Das erzählte er ihm, als sie vor einigen Jahren um diese Jahreszeit hierher kamen. Nach einem langen Spaziergang durch den Wald, dessen Boden von buntem Laub bedeckt war, kamen sie genau an dieser Stelle an. Obwohl er nicht wirklich fror genoss er, dass sein Gefährte ihm seine Jacke um die Schultern legte. Gerade war ihm, als könne er den intensiven Geruch nach seinem Mann wahrnehmen, der ihm damals in die Nase gestiegen war.

»Ich vermisse dich so sehr«, raunte er dem Sturm zu, in der Hoffnung, dass der Wind Tanasi erreichte und dieser erfuhr, wie zerrissen Sito sich ohne seinen Gefährten fühlte.

Seine Arme fest um sich selbst geschlossen saß er lange nur da, starrte in die Ferne und erkannte doch nichts.

Stimmen, ganz in seiner Nähe, ließen ihn erschrocken herumfahren. War er so weggetreten, dass er nicht mitbekam, wie sich Fremde näherten?

Waren es wieder die Dämonen, die kamen, um sich neue Opfer zu holen?

Knurrend sprang er auf. Obwohl er unglücklich war und sein Ende herbeisehnte, würde er niemals zulassen, dass noch jemand aus dem Stamm dasselbe durchmachen musste.

In menschlicher Gestalt, da er in ihr wendiger war als als Bär, pirschte er sich an, kam der Geräuschquelle immer näher.

Wieso waren sie so unvorsichtig? Sie mussten doch wissen, dass man sie hören konnte.

Stirnrunzelnd verharrte er hinter einem breiten Baumstamm, des ihn gänzlich verbarg, lauschte auf das, was sie zueinander sagten.

»Sind wir bald zuhause, Papa?«, fragte eine zarte Stimme, die eindeutig zu einem Kind gehörte.

»Sehr bald, meine Kleine, nur noch ein paar Kilometer, dann sind wir schon im Dorf.«

Die zweite Stimme war männlich und ihm vertraut.

Konnte es sein?

Ohne weiter darüber nachzudenken trat Sito aus seinem Versteck, erblickte sogleich die beiden, die zuvor miteinander sprachen. Hinter ihnen tauchten noch mehr auf.

Sein Herz machte einen Satz, als er ihre Krieger, seine Freunde und die vermissten Kinder erkannte.

Suchend wanderte sein Blick über die Gruppe hinweg, die ihn ebenfalls sahen und erkannten.

Es fehlten drei Männer, Tanasi gehörte zu ihnen.

Die Freude, die sich gerade in ihm auszubreiten begann, verschwand schlagartig und machte einer Eiseskälte Platz, die nicht mit den herbstlichen Temperaturen in Verbindung stand.

Unfähig sich noch länger aufrecht zu halten, sank er in sich zusammen. Am Boden zerstört starrte er vor sich auf das feuchte Erdreich.

Die anderen kamen näher, sprachen mit ihm, doch er hörte nicht zu, sein Geist schaltete ab. Sollten sie ins Dorf gehen, man würde ihre Rückkehr feiern. Er blieb einfach hier, wartete darauf, dass es auch mit ihm zu Ende ging, den er ertrug die Gewissheit nicht, seinen Mann nie mehr in die Arme schließen zu können.

»PAPA!« Ein überglücklicher Ausruf ließ ihn zusammenzucken. War das Niyo?

Innerlich und äußerlich bebend hob er den Kopf. Da sah er seinen kleinen Jungen auf ihn zu rennen Seine Kleidung war zerrissen, an einigen Stellen notdürftig geflickt, aber er lebte, schien wohlauf zu sein.

Schwungvoll warf er sich in Sitos Arme, umschlang ihn so fest, dass es ihm fast den Atem nahm. Sito kippte nach hinten, ließ sein Kind jedoch nicht los. Zumindest ihn bekam er zurück. Niemals wieder würde er ihn aus den Augen lassen.

Er versuchte verzweifelt, nicht zu weinen, doch die Tränen bahnten sich unaufhaltsam ihren Weg. Sito fühlte sich so zerrissen zwischen Glück und tiefster Traurigkeit.

»Nicht weinen. Freust du dich denn nicht, das wir wieder da sind?«, fragte Niyo seinen Vater, lächelte ihn unsicher an. »Wir haben uns so beeilt, aber schneller ging es nicht.«

»Natürlich freue ich mich, das du und die anderen wieder heimgekehrt seid, aber ich vermisse deinen Vater.«

Nun sah ihn der Kleine Kopfschüttelnd an.

»Ihr Großen seid echt komisch. Wieso vermisst ihr wen, der gar nicht weg ist? Da ist er doch, er muss doch nur Onkel Mojak helfen, weil Onkel Nigan verletzt ist«, rief Niyo aus und zeigte auf die Bäume hinter ihm.

Abrupt setzte sich Sito auf, seinen Sohn immer noch an sich gedrückt. Was er nun sah, ließ ihn fast durchdrehen vor Freude. Tanasi erschien mit Mojak, die eine Trage transportierten, auf der Nigan lag.

So schnell er konnte rappelte Sito sich auf und rannte stolpernd auf seinen Gefährten zu, Niyo folgte ihm lachend.

Die beiden Männer konnten gerade noch den Verletzten absetzen, als sich Sito seinem Mann an den Hals warf, ihn mit Armen und Beinen fest umklammerte.

In seinem Kopf stieß sein Bär freudiges Gebrüll aus.

»Oh Tan, du bist wieder hier! Ich dachte schon, ich hätte euch verloren«, schluchzte er laut, schämte sich kein bisschen, vor den anderen seine Gefühle auf diese Weise zu zeigen.

Raue Hände berührten Sitos Gesicht, glitten durch sein Haar.

»Es war auch sehr knapp, der Feind hätte uns fast erwischt. Doch wie aus dem Nichts ging eine Gerölllawine ab, begrub die Mistkerle unter sich. So gelang es uns, den Pass zu überqueren, bevor es zu schneien begann. Nur Nigan wurde verletzt, aber ich bin mir sicher, er wird sich wieder vollständig erholen.«

»Der große Geist hielt seine Hand schützend über euch. Dafür bin ich ihm auf ewig dankbar.«

Niyo schmiegte sich an sie beide, freute sich sichtlich, wieder Zuhause und bei seinem Papa zu sein.

»Wir sollten ins Dorf, Nigan braucht den Schamanen und wir anderen könnten etwas zu essen vertragen.«

Sito lief dicht neben seinem Gefährten her, hielt dabei Niyos Hand.

Als sie die Ansiedlung erreichten, brach sich die Freude aller Bahn, denn alle Kinder und Krieger waren noch am Leben, auch wenn sie Spuren der Ereignisse zurückbehalten würden.

Alle wurden begrüßt, es wurde essen aufgetischt und die Krieger berichteten, was alles geschah, nachdem sie aufbrachen.

Selbstverständlich interessierte es Sito sehr, aber noch mehr wollte er Tanasi endlich für sich allein haben.

Die Nacht war schon weit fortgeschritten, als sie endlich ihr Haus betraten.

Gemeinsam brachten sie Niyo ins Bett, der schon auf Tanasis Armen tief und fest eingeschlafen war.

Anschließend machte sich sein Mann daran, sich zu säubern.

Nackt betrat er späte ihr Schlafzimmer.

Immer noch total überwältigt von all den Gefühlen, saß Sito auf dem Bett und betrachtete seinen Gefährten ausgiebig.

»Dachtest du wirklich, ich würde dich einfach so alleine zurücklassen?«, fragte er leise, als er direkt vor Sito zum Stehen kam.

»Ich hoffte die ganze Zeit, das ich dich wiedersehen würde, doch der Herbst kam und mit ihm die Erkenntnis, dass die Chancen immer geringer wurden, dass sich meine Hoffnung erfüllen würde. Es tut mir leid, ich hätte dir vertrauen sollen, aber ich konnte nur noch den Schmerz wahrnehmen. Verzeihst du mir?«, fragte er leise, während er mit zitternden Fingern über Tanasis Brust und Bauch strich.

»Es gibt nichts zu verzeihen. Du warst hier, ohne Informationen, musstest mit dem schlimmsten rechnen, dich darauf vorbereiten. Doch nun bin ich wieder bei dir und eines weiß ich schon jetzt, nämlich das ich dich nie wieder zurücklassen werde.«

Er beugte sich herunter und hauchte Sito einen sanften Kuss auf die Lippen, vertiefte ihn aber schnell.

Übermütig zog Sito seinen Mann auf sich, küsste ihn verzehrend, als wolle er all die verlorenen Monate in diesen einen Augenblick packen.

Schnell büßte auch Sito seine Kleidung ein. Ihre Körper rieben aneinander, während sie sich küssten und streichelten. Beide sehnten sich so sehr nach dieser Nähe, dass sie nicht für eine Sekunde voneinander abließen.

Selbst als Tanasi begann, Sito auf sich vorzubereiten, klammerten sie sich aneinander fest.

Als er schließlich in ihn eindrang, war es um Sito geschehen. Jeder Stoß trieb ihn unaufhaltsam auf einen unglaublichen Höhepunkt zu, der sie beide gleichzeitig erfasste und mit sich riss. Ihre Lustschreie wurden durch ihre Küsse gedämpft.

In dieser Nacht schlief Sito zum ersten Mal seit Monaten durch und erwachte am nächsten Morgen erholt.

Sein erster Blick galt Tanasi, der neben ihm lag und ihn eng umschlungen hielt.

Vor dem Fenster schien die Sonne, die Bäume vor ihrem Haus, die noch den Großteil ihres Laubes trugen, erstrahlten in den schönsten Farben, kein Nebel trübte die Sicht.

Er nahm sich vor, diesen Tag mit Niyo und seinem Mann draußen zu verbringen.

Nach all den Sorgen, war nun wieder alles in Ordnung. Der Herbst mit all seiner Pracht, erfüllt ihn nun wieder und machte diese Zeit von neuem zur schönsten Zeit des Jahres. Nun konnte der Winter kommen, denn er war nun mit denen wiedervereint, die er so sehr liebte.

Strahlend schmiegte er sich noch enger an Tanasi.

Sein Bruder behielt Recht, der große Geist war für sie da und er würde ihm in Zukunft vertrauen und sich nicht gleich wieder das Schlimmste ausmalen.

Impressum

Texte: © Ann Salomon
Bildmaterialien: Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2019

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