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Robins Wahrheit

Tief durchatmend stand Raik am Fenster, klammerte sich mit beiden Händen am Fensterbrett fest.

In seinen Augen brannten heiße Tränen, die er krampfhaft zu unterdrücken versuchte.

Verdammt, er wusste, dass er im Vergleich zu den meisten Jungs in seinem Alter, was das Aussehen betraf, nicht mithalten konnte. Trotz seiner Bemühungen erreichte er nie das Gewicht, das er wollte. Wahrscheinlich würde er immer etwas molliger bleiben.

Bei Robin dachte er eigentlich, dass es ihm nichts ausmachen würde, dass er ihn so mochte, wie er war. Doch da täuschte er sich wohl.

So oft versuchte er, Robin zu umgarnen, ihn zu mehr als nur Küssen und Kuscheln zu bewegen. Das unterband sein Freund jedoch immer, so auch vor wenigen Minuten.

In seinen Augen war etwas aufgeblitzt, das Raik nicht genau zuordnen konnte. Nachdem er ihn aber energisch von sich geschoben hatte, war er sich sicher, dass das, was er in Robins Augen sah, Abneigung war, vielleicht sogar Ekel.

Konnte er ihn nicht einfach abschießen, wenn er ihn doch nicht wollte? Musste er ihm immer wieder aufs neue Hoffnungen machen?

Jemand wie Robin, der so verdammt hübsch war, bei dem alles stimmte, konnte doch jeden haben. Wieso vergeudete er Zeit damit, Raik etwas vorzumachen? Konnte es sein, dass es ihm Freude bereitete, ihn zu verarschen? So nach dem Motto: Tun wir so, als würden wir etwas von diesem Fettsack wollen und dann servieren wir ihn ab, laben uns an seinem Schmerz.

Raik vergrub seine Fingerspitzen fast im Holz, das er umklammerte. Seine Knöchel traten weiß hervor.

Wieso ließ er sich damals nur von seiner besten Freundin dazu überreden, sich bei dieser beschissenen Datingapp anzumelden? Unzählige Kerle, die ihn ablehnten, oft sogar beleidigten. Und dann war Robin erschienen. Zumindest eine Nachricht von ihm in seinem Eingangsordner. Das, was er schrieb, war durchdacht und zeigte Niveau. Er lehnte ihn nicht sofort ab und versuchte nie, ihn mit dummen Sprüchen dazu zu bringen, sich zu verabreden, um einander das Hirn raus zu vögeln.

Tagelang redeten sie über die App miteinander, tauschten dann, nach einer guten Woche, ihre WhatsApp-Nummern aus und schrieben dort weiter.

In jedem wachen Moment wartete Raik darauf, endlich das Signal zu hören, das ankündigte, dass eine neue Mitteilung eingegangen war, nach dem Aufwachen sah er als Erstes nach, ob Robin geschrieben hatte.

Mit der Zeit wurde Raik lockerer, fühlte sich immer wohler und nach drei Wochen trafen sie sich dann zum ersten Mal. Von den Bildern, die ihm Robin schickte, wusste er, wie dieser aussah und als er ihn erblickte und ihm klar wurde, dass er in Natura noch anziehender wirkte, konnte Raik sein Glück kaum fassen.

Dass Robin nicht sofort in die Vollen ging, machte es ihm und seiner verdammten Schüchternheit leichter, er brauchte die Zeit, sich an all das zu gewöhnen.

Die Tage und Wochen vergingen, sie trafen sich regelmäßig, schrieben weiterhin viel miteinander, telefonierten, erzählten sich, was in ihren Leben so geschah, von den Menschen, die ihnen wichtig waren, von ihren Sehnsüchten und Träumen.

Stück für Stück verliebte sich Raik mehr in Robin. Auch dieser schien nicht abgeneigt zu sein.

An einem lauen Frühsommerabend saßen sie an einem nahegelegenen See, hielten einander an der Hand und sahen sich den Sonnenuntergang an.

Raiks Herz schlug so heftig in seiner Brust, dass er meinte, es müsste ihm gleich zerspringen.

Unendlich langsam rutschte Robin immer näher, seine freie Hand lag auf Raiks Oberschenkel, strich sanft darüber.

Und dann ließ er seine Hand los, legte seine Hände an Raiks Gesicht und küsste ihn so liebevoll, dass Raik für einen Moment nicht mehr wusste, wie man atmete. Zu schön war das Gefühl der weichen, vollen Lippen auf seinen. Er meinte, noch heute Robins Zunge zu spüren, wie sie hauchzart über seine Lippen glitt, sie teilte und ihn in einen zärtlichen Zungenkuss verwickelte.

Wie auf Wolken fühlte er sich, als könne er fliegen. Nur Robin hielt ihn im Hier und Jetzt.

Damals flüsterte Raik, als sich Robin etwas von ihm löste, dass er ihn liebte. Zu hören, wie Robin es erwiderte, brachte ihn fast dazu, aufzuspringen und wie ein Vollidiot im Viereck zu springen.

Seit diesem Abend waren sie zusammen und verbrachten noch mehr Zeit zusammen als zuvor schon. Nur während der Schulstunden waren sie getrennt.

Doch selbst dann waren Raiks Gedanken immerzu bei Robin. Zu der Zeit dachte er noch, diesem ginge es ebenso. Zu blöd, dass Raik gut darin war, sich selbst Luftschlösser zu bauen. Zerplatzten diese, kam man unsanft auf dem Boden der Tatsachen auf, wie er aus leidvoller Erfahrung wusste.

Zu lange redete er sich ein, sein Freund bräuchte lediglich noch mehr Zeit. Schließlich konnten auch gutaussehende Typen schüchtern sein und Ängste haben.

Wochenlang sagte er sich, dass alles schon werden würde. Egal wie oft Robin ihm auswich, sich zurückzog, er wollte die rosarote Brille nicht ablegen, nicht erkennen, dass dies wohl der Anfang vom Ende der Beziehung war.

Ihn direkt darauf anzusprechen traute er sich nicht, schließlich wollte er nicht hören, dass es aus war. Es zu ahnen war eine Sache, es aber aus dem Mund des Menschen zu hören, den man liebte, eine vollkommen andere.

Nun stand er hier, in Robins Zimmer, das so verflucht intensiv nach ihm roch und starrte aus dem Fenster, vor dem die Sonne langsam unterging. Hinter ihm auf dem Bett saß Robin und wirkte angespannt. Die Luft im Raum war aufgeladen, als müsse bald etwas geschehen. Davor fürchtete sich Raik und doch wäre es für ihn zumindest ein endgültiger Cut, ein Ende. Dann könnte er sich verkriechen und den Verlust bedauern. Denn von seiner Seite aus waren die Gefühle noch immer gleich stark, er liebte Robin mehr als sonst jemanden in seinem Leben. Aber das schien nicht von Bedeutung zu sein.

Wann würde Robin den Mund aufmachen und sagen, was Raik schon wusste?

Also ob es einen Unterschied machte, ob er ihn dabei jetzt ansah oder nicht, wehtun würde es in jedem Fall.

Er liebte diesen Kerl so sehr und egal wie viele ihm sagten, dass in seinem Alter alles schnelllebig und vergänglich war, Raik glaubte an die Liebe und daran, dass man, wenn es einem bestimmt war, auch sehr lange glücklich sein konnte. Dafür müsste er aber den Richtigen finden. Denn so wie sich Robin verhielt, war er nicht derjenige, mit dem er es versuchen konnte.

Weil seine Hände anfingen zu schmerzen, ließ er das Holz los, ballte immer wieder die Hände zu Fäusten. Sein ganzer Körper war zum Zerreißen gespannt. So sehr er auch versuchte, sich zusammenzunehmen, es nicht so nahe an sich heranzulassen, es klappte nicht. Sein Magen zog sich immer mehr zusammen. Gut, dass er heute noch nichts gegessen hatte, bestimmt müsste er sich ansonsten übergeben.

»Hast du mir nichts zu sagen? Oder schweigst du dich aus, hoffst, dass ich einfach abhaue?«, fragte er leise in das Raik langsam mürbe machende Schweigen hinein.

Das Bett knarrte kurz, ansonsten blieb es still.

Na toll, er war ihm nicht mal eine kurze Erklärung wert.

Noch einmal wischte er sich über die Augen, ehe er sich umdrehte. Eigentlich sollte Robin nicht sehen, wie sehr es ihn traf, aber sein Körper, seine Seele verrieten ihn. Er war am Boden zerstört und so sah er sicherlich auch aus.

»Wieso das alles? Aus welchem Grund bist du überhaupt mit mir zusammen?«

Weiterhin rührte sich sein Freund nicht, hob nicht einmal den Blick, saß dort wie eine Statue.

Unsicherheit kroch in ihm hoch, die alt bekannten Ängste machten sich in ihm breit.

»Okay, ich habe es verstanden. Wieso sollte ein Typ, der so gut aussieht wie du, auch ernsthaftes Interesse an einem wie mir haben. Ich sollte wahrscheinlich froh sein, dass du dich überhaupt mit mir abgegeben hast. Aber es ist einfach nur gemein von dir, mir nicht einmal zu sagen, was das Problem ist! Ich meine, das kann ich mir denken, aber wieso dann das alles? Du hast mich damals angeschrieben, du hast mich geküsst und du hast gesagt, dass du mich liebst. War das alles eine Lüge?«

Nun endlich blickte Robin ihn an. Sein Gesicht sah aus, als habe er Schmerzen.

»Das...so ist das nicht. Es liegt nicht an dir, sondern an mir«, brachte er erstickt hervor. Seine Stimme hörte sich merkwürdig belegt an.

Obwohl er am liebsten losschreien wollte, blieb er ruhig.

»Klar, ist es nicht immer so? Habe ich deiner Ansicht nach nicht mehr verdient als diesen dämlichen Spruch?«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen verächtlich hervor. »Sag doch einfach, dass du nicht auf fette Kerle stehst. Ich kann dich sogar verstehen, so irre sich das auch anhört. Ich würde auch lieber jemand sein, der schlank und durchtrainiert ist. Aber so bin ich nun mal nicht. Du hast das gewusst, hast Bilder von mir gesehen und doch wolltest du mich kennenlernen.«

»Aber es ist so, Raik, es liegt an mir, nur an mir. Du bist...einfach super.«

Schnaubend erwiderte er Robins Blick. Dann ging ein Ruck durch ihn und er setzte sich in Bewegung. Er nahm seinen Rucksack und räumte die wenigen Dinge hinein, die er hier hatte.

»Oh ja, ist klar und weil ich so super bin, widert es dich an, mit mir weiterzugehen. Leugne es nicht, ich habe vorhin deine Augen gesehen. Aber keine Angst, ich werde dir nicht mehr zu nahe kommen.«

Mit zitternden Fingern versuchte er, den Reißverschluss zu schließen. Immer wieder rutschte er ab, fluchte leise und versuchte es nochmal.

Mittlerweile liefen ihm die Tränen über die Wangen, was seine Sicht verschleierte.

Diese Zurückweisung tat so weh, ebenso sein Entschluss, zu gehen, doch er musste sich schützen.

»Du musst nicht gehen. Lass uns reden«, sagte Robin, der zwischenzeitlich am Rand des Bettes saß.

»Worüber sollten wir noch reden? Willst du mir mein kleines dummes Herz vollständig zerquetschen, dich über mich lustig machen?«

Heftig schüttelte Robin den Kopf. Nun kehrte augenscheinlich das Leben in ihn zurück.

»Niemals...das würde ich niemals tun. Aber das alles ist nicht so leicht zu erklären. Doch was ich ganz klar sagen kann ist, dass es nicht an dir liegt. Du weißt, dass ich dich liebe. Als ich es zum ersten Mal sagte und auch jedes weitere Mal danach war es die reine Wahrheit.«

Wütend warf Raik seinen Rucksack von sich.

»Man, dann mach deinen Mund auf und sag mir, wieso du mich immer abblockst? Wir küssen und streicheln uns, aber wenn ich versuche, dir dein T-Shirt auszuziehen oder die Hose, dann stößt du mich von dir. Mach’ ich irgendetwas falsch? Wenn ja, dann sag es. Liegt es doch an meinem Körper? Du weißt, dass ich versuche, abzunehmen. Ich will doch schön sein für dich... .«

Geräuschvoll zog er die Nase hoch und wischte sich über die Augen. Wieso ging er nicht einfach, schloss die Tür und mit ihr dieses Kapitel ein für alle Mal ab? Seine Füße waren wie festgewachsen, ließen nicht zu, dass er die Flucht ergriff.

Langsam stand Robin auf und kam zu ihm hinüber. Die Hände in den Hosentaschen, den Blick gesenkt.

»Du machst gar nichts falsch. Und höre auf, deinen Körper schlecht zu machen. Du bist schön für mich, ganz genauso wie du bist«, erklärte er mit bebender Stimme. »Wie ich schon mehrmals gesagt habe, es liegt nicht an dir, an etwas, das du tust oder an deinem Aussehen. Es ist...man...ich...es gibt da etwas, das ich dir sagen muss. Das hätte ich schon lange tun sollen, aber es war nie der richtige Moment.«

Stirnrunzelnd sah Raik sein Gegenüber an. Alles in ihm schrie danach, diesen Kerl in den Arm zu nehmen, da er wie ein Häufchen Elend vor ihm stand. Doch er hielt sich zurück, musste erst einmal wissen, was los war, ehe er sich zu etwas hinreißen ließ.

»Was musst du mir sagen? Bist du krank?« Ein beängstigender Gedanke schoss ihm urplötzlich durch den Kopf. »Bist du HIV-positiv?« Die Frage brachte er kaum heraus. Würde er damit klarkommen, wenn die Antwort ja lautete?

Als Robin den Kopf schüttelte, fiel ihm ein Stein vom Herzen.

»Dann sag schon, was ist es?«

Robin zog seine Hände aus den Taschen seiner Hose, nur um sie nervös zu kneten.

Was war so dramatisch, dass es Robin so schwer fiel, es zu sagen?

Mit dem Schlimmsten rechnend sah er ihn an und wartete darauf, dass sein Freund mit der Sprache herausrückte.

Robins Unterlippe bebte.

»Fuck...es ist nicht leicht, das zu sagen. Ich habe so Angst, dich zu verlieren. Aber ich weiß auch, dass ich dich nicht länger außen vor lassen kann. Du bist mir wichtig, auch wenn ich in letzter Zeit wohl oft einen anderen Eindruck bei dir hinterlassen habe. Weißt du, es ist so, die meisten werden als Männer geboren oder als Frauen, fühlen sich vollständig und sind damit glücklich. Aber das ist nicht immer so. Manche werden als Frauen geboren, sind aber in ihrem Inneren, ihrem Herzen und ihrer Seele, männlich. So war es bei mir. Raik, ich wurde im Körper einer Frau geboren.«

Fast hätte Raik laut losgelacht, wenn es ihn nicht gleichzeitig so treffen würde. Lügen über Lügen. Das konnte doch nicht stimmen. Sein Blick wanderte über Robins Körper. Sein Haar trug er in einer modisch kurzen Frisur wie viele andere im Moment, am markanten Kinn und oberhalb des Mundes prangte ein gut getrimmter Bart. Seine Schultern waren breit, er hatte einen Adamsapfel, sein Körper entsprach nicht im Geringsten dem, was er mit einer Frau assoziierte. Einem schöneren Mann war er noch nie begegnet.

»Du willst mir doch jetzt nicht ernsthaft erzählen, dass du Transgender bist? Alles an dir ist männlicher als bei mir oder den meisten anderen Männern, die ich kenne. Scheiße, du kannst mir nicht einmal jetzt die Wahrheit sagen... .« Resigniert drehte er sich um und beugte sich vor, um sich seinen Rucksack zu schnappen.

Eine kräftige Hand packte ihn am Oberarm und drehte ihn herum. Mit großen Augen sah Robin ihn an.

»Ich lüge dich nicht an! Bis vor einigen Jahren lebte ich als Mädchen, bis zu meiner Vornamensänderung besaß ich einen weiblichen Namen, auch wenn mich meine Familie und die engsten Freunde, von denen es leider nicht viele gab, schon davor immer mit meinem neuen Namen ansprachen. Weil meine Eltern mich unterstützten und mir keine Steine in den Weg legten, bekam ich Hormonblocker, die die weibliche Pubertät unterdrückten. Ich tat alles, um männlicher zu werden, trainiere schon eine halbe Ewigkeit. Niemals wollte ich einen weiblich wirkenden Körper. Ich ging zum Psychologen, tat alles, damit ich endlich die Erlaubnis erhielt, mit der Hormontherapie zu beginnen. Seitdem spritze ich mir Testosteron.« Mit hochroten Wangen stand Robin vor ihm, hielt ihn immer noch fest, als brauchte er den Halt. Er strahlte tiefe Verzweiflung aus. »Der Termin für meine Mastektomie, das ist die Brustentfernung, war schon. Gleichzeitig hat man mir da auch im Zuge einer Hysterektomie die Gebärmutter und die Eierstöcke entfernt. Nun fehlt nur noch der Penoidaufbau. Dann bin ich endlich ganz Mann. Na zumindest fast... .« Zum Ende hin wurde er immer leiser.

So verstört, wie Robin wirkte, konnte es keine Lüge sein.

Raik wusste nicht, wie er reagieren, was er sagen sollte. Erschöpft wirkend, ließ sich Robin auf dem Schreibtischstuhl in ihrer Nähe nieder.

Jetzt sah er so aus, wie sich Raik zu Beginn des Gesprächs fühlte. In seinen Augen glänzten Tränen.

Einige Minuten schwiegen sie. Bevor er etwas sagte, musste Raik erst einmal seine Gedanken ordnen, die gerade wie Gewehrkugeln in seinem Verstand hin und her schossen. Änderte sich für ihn jetzt etwas? Veränderte diese neue Information seine Gefühle für Robin?

Er sah zu seinem Freund, betrachtete ihn und spürte sofort die tiefen Emotionen, die er für diesen empfand. So konnte er sich diese Fragen eindeutig mit Nein beantworten. Aber reden mussten sie trotzdem noch, denn es stand aufgrund der Lügen zu viel zwischen ihnen.

»Wieso warst du nicht ehrlich zu mir?«, fragte er deshalb, wollte beginnen, alles zu klären.

»Weil ich dich nicht gleich wieder verlieren wollte. In der Stadt, in der ich zuvor lebte, haben sie mir das Leben zur Hölle gemacht, nachdem sie erfahren hatten, dass ich trans bin. Der Junge, in den ich damals verliebt war, hat es allen erzählt. Er kam damit überhaupt nicht klar und beschimpfte mich. Das Mobbing war heftig, überall war ich dem ausgesetzt. Eine Weile ging es mir psychisch so schlecht, dass ich sogar Selbstmord in Erwägung zog, nur um endlich keine Angst mehr haben zu müssen. In meiner alten Schule interessierte es die Lehrer nicht, keiner half mir. Im Gegenteil, sie nannten mich bewusst bei meinem Geburtsnamen, obwohl sie wussten, dass ich das nicht wollte. Deshalb zogen wir hierher. So konnte ich neu anfangen. Hier weiß kaum jemand, dass ich trans bin.«

»Als ob ich so sein könnte«, stieß Raik aus. Es traf ihn, dass Robin ihm so etwas zutraute. »Anstatt mir zu vertrauen, belügst du mich lieber«, sagte er und konnte die Enttäuschung darüber nicht aus seiner Stimme heraushalten.

»Es gab so viele Momente, in denen ich es dir sagen wollte. So starke Gefühle, wie ich sie für dich habe, hatte ich zuvor nie. Deshalb zögerte ich es hinaus, wollte nicht, dass du aus meinem Leben verschwindest.« Traurig sah er Raik an. »Ich bin doch erst ein wirklicher Mann, wenn ich alle Operationen hinter mir habe. Wie könntest du mich immer noch lieben, wenn du weißt, dass unter den Klamotten versteckt, noch immer so viel Weibliches verborgen ist.«

»Halt die Klappe! Ich entscheide immer noch selbst, was ich will. Und ja, die Info, dass du trans bist, ist erstmal eine heftige Ansage, aber...aber ich habe mich in dich verliebt, in dein Lächeln, deinen Verstand, diese Augen, die mich so oft so ansehen, als wäre ich etwas Besonderes und nicht in deine Genitalien. Bei dir fühlte ich mich zum ersten Mal angenommen, so wie ich bin.«

»Und was heißt das nun für uns?«, fragte Robin und wirkte, vollkommen untypisch für ihn, total unsicher und verletzlich.

»Für mich heißt es, dass wir weiterhin zusammen sind. Und dass du in Zukunft ehrlich mit mir bist.« Schritt für Schritt ging er auf seinen Freund zu, strich ihm eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du solltest wissen, dass ich dir so viel Zeit lasse, wie du brauchst, aber auch, dass ich dich so gerne berühren würde. Denn für mich bist du so, wie du bist, mit oder ohne OP, vollkommen. Du bist du, daran kann niemand etwas ändern, auch kein Chirurg.«

Ohne etwas zu erwidern, erhob sich Robin und schmiegte sich an ihn. Sofort nahm Raik ihn in den Arm.

»Also, liebst du mich immer noch?«, fragte er leise.

»Ja, du Idiot, ich liebe dich noch immer. Meine Gefühle für dich kann so schnell nichts zerstören, sonst hätte ich das alles nicht so lange durchgehalten, obwohl du so komisch zu mir warst. Aber etwas Zeit werde ich wohl brauchen, um das alles vollständig zu verstehen.«

»Die bekommst du. Ich habe ja auch lange gebraucht, um das benennen zu können, was mit mir los ist.«

Sanft fuhr Raik Robin durchs Haar, drückte den trainierten Körper fest an sich.

»Seit wann weißt du es?«

»Eigentlich schon immer. Da war etwas, das sich irgendwie falsch angefühlt hat. Es ist seltsam, wenn man sich immer fremd fühlt im eigenen Körper. Als Kind wusste ich nicht, was das ist, konnte es nicht in Worte fassen, ich war mir nur sicher, dass ich eigentlich ein besserer Junge wäre und kein Mädchen. Deshalb wollte ich immer eine Kurzhaarfrisur und Klamotten, die für Jungs waren. Mit Rosa, Glitzer und dergleichen brauchte man mir nicht kommen, nicht mal, als ich noch ganz klein war. Als ich älter wurde, habe ich irgendwann im Internet recherchiert, nach den Dingen gesucht, die ich mir nicht erklären konnte. Da stieß ich dann auf Seiten, auf denen es viele gab, denen es ähnlich ging wie mir. Nun verfügte ich endlich über einen Begriff, der zeigte, was ich war. Sobald ich das wusste, ging ich zu meinen Eltern. Für die war es erstmal ein Schock, sie dachten, ich sei eben ein burschikoses Mädchen, aber sie standen voll und ganz hinter mir.«

Wie gebannt hörte Raik zu.

»Und wie lange nimmst du schon Testosteron?«

»Schon eine Weile. Du glaubst gar nicht, wie gut ich mich fühlte, als ich die erste Spritze erhielt.«

»Ich kann es mir vorstellen. Deine Stimme überschlägt sich fast vor Glück.«

In Robins Gesicht erschien ein strahlendes Lächeln.

»Aber das Gefühl, das ich gerade habe, übertrifft das bei weitem. In all den Monaten habe ich mich verrückt gemacht, aus Angst, du könntest so reagieren, wie die anderen damals, mich verlassen.«

»In Zukunft redest du hoffentlich erst mit mir, bevor du wieder so einen Mist machst. Du hast mich dazu gebracht, an allem zu zweifeln, an mir, an uns, auch an deiner Liebe.«

»Das werde ich, ich will dich nicht verlieren.«

Später lagen sie aneinander gekuschelt nebeneinander im Bett. Draußen war es mittlerweile stockdunkel.

»Du weißt, dass du für mich nichts machen lassen musst. So wie du bist, ist es vollkommen in Ordnung«, sagte Raik leise. Ihre Hände waren miteinander verschränkt, Raiks Daumen streichelte über Robins Handrücken. Sie hatten über die noch ausstehenden Eingriffe gesprochen und daran zu denken, dass sich sein Freund diesen aussetzte, machte Raik Angst. Deshalb wollte er, dass Robin es nicht nur tat, weil er dachte, Raik oder jemand anders würde das von ihm erwarten.

»Das ist gut zu wissen, aber ich möchte diese letzten geschlechtsangleichenden Operationen. Ich brauche sie für mich, damit ich mich in diesem Körper angekommen fühlen kann.«

»Okay, dann werde ich für dich da sein.« Seine Hand schloss sich fester um Robins.

Seine Lippen fanden ihren Weg, legten sich auf die des Mannes neben ihm. Seinen Freund zu küssen, war das Schönste überhaupt.

In ihm beruhigte sich etwas. Nun wusste er, was der Grund war, dass sich Robin so seltsam benahm.

Selbstverständlich würde es nicht immer einfach sein und sicher würde er noch viel fragen und lernen müssen, aber damit kamen sie auf jeden Fall klar. Sie liebten einander, das war, was zählte.

Raik verstand jetzt, dass man sich zwar in eine Person verliebte, aber nicht in deren Geschlecht. Für ihn war Robin voll und ganz Mann, daran änderte auch die Offenbarung, dass er trans war, nichts. Denn es gab so vieles, was einen Mann ausmachte, nicht nur dessen Geschlechtsteile.

Robin würde den Weg, der jetzt noch vor ihm lag, nicht allein durchstehen müssen, er wäre bei ihm, würde ihn unterstützen und sich mit ihm freuen.

Die Müdigkeit übermannte ihn. Das Angespannt sein der letzten Tage forderte ihren Tribut. Gähnend kuschelte er sich noch mehr an Robin, der seine Arme enger um ihn legte. Raik fühlte sich wohl, geborgen, endlich dort angekommen, wo er sein musste.

»Ich liebe dich so sehr«, raunte er Raik ins Ohr.

»Ich liebe...dich auch«, erwiderte dieser, fast schon schlafend.

Mit einem Lächeln verabschiedete er sich vollkommen ins Reich der Träume.

 

Impressum

Texte: © Ann Salomon
Bildmaterialien: Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 17.05.2019

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