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Das Glück an meiner Seite

Wie immer in den letzten Tagen starre ich aus dem Fenster.

Was soll ich auch sonst tun?

Ich liege hier, kann meine Beine kaum bewegen, muss klingeln damit mich jemand auf die Toilette begleitet.

Mein Blick fällt auf die Uhr an der Wand. 11 Uhr…vor einer halben Stunde hat der Wettkampf begonnen. Ich sollte dort sein. Aber das ist nun vorbei…für immer.

Unwirsch wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht.

Scheiße, nun bin ich nicht nur ein Krüppel, sondern auch noch ein verfluchtes Weichei, das den ganzen Tag nur am herum heulen ist.

Wieso muss das mir passieren? Ich habe in den letzten Jahren nichts anderes getan als mich auf diesen Tag heute vorzubereiten. Dieser Wettkampf wird seit Ewigkeiten von Talentscouts der unterschiedlichsten Universitäten dafür genutzt, neue Talente zu entdecken und anzuwerben.

Und ich bin gut…war gut. Ich war der Beste im ganzen Umkreis. Heute hätte meine Zukunft beginnen sollen…stattdessen endet sie heute.

Meine Eltern haben nicht das Geld mich auf die Universität zu schicken. Ich werde in diesem kleinen Kaff versauern. Wenn ich Glück habe finde ich einen Job…wer will schon einen Krüppel einstellen.

Mein Blick bleibt am Rollator in der Ecke hängen…ohne den komme ich im Moment keine zehn Meter weit. So sieht meine Zukunft nun aus…Gehhilfe oder Rollstuhl…mit viel Glück schwanke ich ohne beides wie ein Betrunkener durch die Gegend.

Warum habe ich mir bei dem Sturz nicht den Hals gebrochen…dann wäre jetzt alles vorbei? Das wäre für alle das Beste…ich bin doch nun für alle nur eine Last.

Einige Tage vor dem Sturz fühlten sich meine Beine seltsam an, taten nicht immer das, was ich von ihnen wollte und hin und wieder knickten sie einfach weg. Ich tat es einfach als Reaktion auf das anstrengende Training ab, kümmerte mich nicht weiter darum. Doch dann kam der Nachmittag vor ein paar Tagen. Wie immer lief ich die Treppe zum Haupteingang der Schule hinunter, als mein linkes Bein wieder einmal wegknickte. Das ließ mich straucheln und schon segelte ich die Treppe hinunter, schlug hart auf und blutete am Kopf. Ich verlor das Bewusstsein und wachte im Krankenhaus wieder auf.

Seit zwei Tagen wissen meine Eltern und ich was ich habe. MS...Multiple Sklerose… .

Es war echt ein ziemlicher Schock….ist es immer noch.

Ich habe es sonst noch niemanden erzählt.

Mein Handy habe ich ausgeschaltet und den Krankenschwestern gesagt, dass ich niemanden sehen will. Bis jetzt haben sie sich daran gehalten.

Ich greife nach dem Schalter und drücke ihn, damit das Rückenteil nach unten fährt. Genervt drehe ich mich zur Seite und zieh mir die Decke über den Kopf.

Schon wieder kommen mir die Tränen, aber diesmal ist es mir egal. Wer sieht mich hier schon? Ich habe zum Glück keinen nervigen Zimmernachbarn. Ich lass die Tränen einfach laufen.

Plötzlich höre ich neben mir ein lautes Geräusch.

Verdammt, wieso lassen die mich nicht alle einfach in Ruhe? Die Cortison Infusion habe ich schon heute Morgen bekommen.

Wütend schlage ich die Bettdecke weg und will schon anfangen herum zu schimpfen, als ich sehe wer da auf einem der unbequemen Besucherstühle sitzt.

Es ist Jamie… .

Oh nein…nicht er. Ihn will ich am wenigsten hier haben. Er soll mich nicht so sehen.

»Was willst du hier?«, schleudere ich ihm wütend entgegen.

»Dir auch einen schönen Tag Andrew.« Er lächelt mich an, ist kein bisschen beeindruckt von meinem aggressiven Ton.

»Ich will niemanden sehen verdammt…und dich schon gar nicht! Und es ist mit Sicherheit kein schöner Tag.«

Ich will mich wieder aufs Bett werfen und mir die Decke über den Kopf ziehen, aber Jamie hält die Decke fest.

»LASS DIE DECKE LOS! UND DANN HAU AB! HÖRST DU…HAU EINFACH AB!«

»Denkst du dass du mich los wirst, nur weil du hier wie ein Vollidiot herumbrüllst?« Jamie starrt mich an, bleibt aber ruhig.

»Bitte Jamie…geh einfach. Ich will dich nicht bei mir haben…nie wieder! Akzeptiere das…bitte!« Fast schon flehend sehe ich ihn an. Sein Blick durchbohrt mich, so eindringlich ist er.

Dann schüttelt er den Kopf.

»Andrew, ich werde nicht gehen, egal was du mir noch an den Kopf werfen wirst.«

Er greift nach meiner Hand und drückt sie fest.

»Wir beide sind seit dem Kindergarten befreundet. Du hast mir immer geholfen, hast andere, die mich geärgert haben, verhauen. Und auch in der Schule warst du immer da. Keiner hat sich getraut mir etwas zu tun…weil sie wussten, du bist da und wirst ihnen zeigen wo der Hammer hängt, wenn sie etwas versuchen. Du warst und bist mein bester Freund. Und seit zwei Jahren bist du sogar mehr als das…du bist meine große Liebe. Wir haben in den letzten beiden Jahren so viel zusammen durchgemacht, haben so viel erreicht. Das werde ich sicherlich nicht aufgeben…vor allem nicht wegen dieser Krankheit.«

Verblüfft sehe ich ihn an. Woher weiß er das? Nur meine Eltern und ich wissen bis jetzt von der Diagnose.

»Schau nicht so…ich war bei deinen Eltern, weil du das Handy aus hast und die mich hier nicht reingelassen haben. Ich wollte wissen was los ist. Verflucht nochmal Andrew, ich habe mir unglaubliche Sorgen um dich gemacht. Hast du vergessen das ich derjenige war der dich gefunden hat? Im ersten Moment dachte ich das du tot bist…die Platzwunde an deinem Kopf sah schlimm aus und das ganze Blut.«

Ich sehe ihn immer noch an. Er hält meine Hand fest in seiner. Ich merke dass er zittert. Das Ganze hat ihn wohl echt mitgenommen…meinen kleinen Jamie. Wegen dem ganzen Selbstmitleid kam mir bis jetzt nicht mal der Gedanke, dass es für Jamie schlimm sein könnte, das ich ihn von mir weg schiebe.

»Deine Eltern haben mir erzählt was du hast…das deine Beine wohl versagt haben und du deshalb die Treppe heruntergefallen bist. Und sie haben mir auch gesagt, dass du niemanden sehen willst, nicht mal deine Eltern. Sie sind wirklich verzweifelt Andrew. Weißt du was dein Dad zu mir gesagt hat?«

Ich schüttle den Kopf. Ich habe keine Ahnung über was die beiden miteinander gesprochen haben.

»Dein Dad hat gesagt, dass ich dir helfen soll. Das ich wohl der einzige bin, der zu dir durchdringen kann. Und weißt du wieso er und deine Mum das denken? Weil sie wissen wie viel wir einander bedeuten. Dein Dad hat mir die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt, dass er weiß, dass wir beide ein Paar sind. Und das es ihm egal ist, solange du glücklich bist. Sie fürchten dass du eine Depression entwickeln könntest. Und davor habe ich auch Angst. Ich möchte dich nicht verlieren.«

Ich starre ihn einige Augenblicke an, bevor ich etwas sagen kann.

»Meine Eltern wissen dass ich schwul bin? Und das du mein Freund bist? Aber wieso haben sie das nie gesagt?«

Jamies Daumen streichelt sanft über meinen Handrücken.

»Weil sie dich nicht bedrängen wollten. Sie wollten es dir überlassen. Du solltest es ihnen sagen, wenn du dazu bereit bist. Sie lieben dich über alles Andrew…so wie ich.«

Ich bin gerade total verwirrt. Das waren jetzt echt mal heftige Neuigkeiten.

Meine Eltern wissen dass ich schwul bin und sie kommen damit klar. Wow, ich dachte immer das zumindest mein Dad damit Probleme haben wird, er ist auf einer Farm aufgewachsen und mein Großvater war ein Pastor.

»Ich…ich liebe dich auch Jamie. Aber ich weiß dass du jemand besseren findest. Ich bin nichts mehr wert. Alles was ich immer wollte, meine Träume, sind den Bach runter gegangen. Ich werde nicht zur Uni gehen und hier versauern. Du hingegen wirst Jura studieren und ein erfolgreicher Anwalt werden. Du hast jemanden verdient der da mithalten kann. Jemanden der gesund ist und nicht ein Behinderter…ein Krüppel…wie ich. Lieber beenden wir es jetzt, bevor du in ein oder zwei Jahren merkst, das ich dich nur bremse…ich will nicht dein Klotz am Bein sein. Und ich will vor allem nicht dass du nur aus Mitleid mit mir zusammen bleibst…denn darauf wird es hinauslaufen.«

Ich entziehe ihm meine Hand und wende mich zum Fenster, drehe Jamie so den Rücken zu.

»Bitte Jamie…tu uns beiden einen Gefallen und geh… .«

Plötzlich werde ich gepackt und ziemlich grob herumgedreht.

Jamie sieht mich wütend an…so habe ich ihn noch nie zuvor gesehen.

»Was denkst du eigentlich wer du bist du Arsch?! Wie kommst du darauf mir zu sagen was ich will, was ich verdiene oder wie mein Leben sein wird? Ich entscheide selbst, wen ich liebe. Ich entscheide selbst darüber, wer gut und richtig für mich ist! Und wage es nicht dich noch einmal selbst so runter zu machen! Hörst du?! Dein Leben ist vielleicht etwas komplizierter geworden, aber das ändert nichts an unseren Plänen. Ich liebe dich immer noch, genauso wie vor der Diagnose. Für mich verändert sich nichts. Und ich bleibe mit Sicherheit nicht aus Mitleid mit dir zusammen. Ich bin und bleibe mit dir zusammen, weil ich dich über alles liebe, ohne Wenn und Aber. Gemeinsam finden wir einen Weg, gemeinsam sind wir stark. Du wirst mich nicht mehr los Andrew.«

Jamie setzt sich zu mir aufs Bett und sieht mich an.

Ich kann kaum glauben, dass er trotz allem noch hier ist, das er bei mir bleiben will.

Ich merke wie mir die Tränen in die Augen steigen und mir dann über die Wangen laufen.

Langsam beuge ich mich nach vorn und lege meinen Kopf an Jamies Schulter.

Er schlingt seine Arme fest um mich, drückt mich an sich und tröstet mich.

Ich weine und weine, kann kaum noch aufhören.

In den letzten Tagen hat sich so viel angestaut, das sich nun seinen Weg nach draußen bahnt.

Ich bin so froh das Jamie bei mir ist.

Nach einer Ewigkeit, wie mir scheint, schaffe ich es mich zu beruhigen.

Jamie sieht mich liebevoll an und lächelt sein süßes, einzigartiges Lächeln, das ich an ihm so liebe.

Sanft streiche ich ihm eine seiner lockigen schwarzen Haarsträhnen hinters Ohr.

»Danke Jamie…diese Standpauke habe ich glaube ich gebraucht. Keiner hätte sich getraut so mit mir zu reden…nur du. Ich liebe dich so sehr…und ich brauche dich in meinem Leben.«

Jamie drückt mich immer noch an sich.

Zart haucht er mir einen Kuss auf die Wange.

»Andrew, du bist manchmal ein solcher Sturkopf, das man dich am liebsten schlagen will. Aber wenn man dir den Kopf wieder gerade rückt hat, ist es ertragbar.« Ich höre das grinsen in seiner Stimme.

»Weißt du, das wollte ich eigentlich erst in ein paar Wochen machen…auf der Abschlussfeier. Aber ich denke jetzt ist der bessere Zeitpunkt dafür.«

Ich setze mich im Bett auf und sehe ihn verständnislos an, während er in seinem Rucksack herumkramt. Was hat er vor?

Endlich scheint er gefunden zu haben nach was er gesucht hat.

Er hält mir ein kleines Geschenk hin…edles rotes Geschenkpapier mit einer Schleife aus noch edlerem Stoffband darum herum.

Ich nehme es und halte es einfach nur in der Hand.

»Mach es auf Andrew.« Er sieht mich erwartungsvoll an.

»O…okay.« Verwirrt öffne ich langsam die Schleife und entferne das Geschenkpapier.

Zum Vorschein kommt eine kleine schwarze Samt Box. Auch diese öffne ich…mittlerweile aber mit zitternden Händen. Diese Boxen kenne ich…Dad hat Mum vor zwei Jahren so eine zu Weihnachten geschenkt, darin war ein Diamantring.

Bei dem was ich dann sehe, muss ich richtig schlucken.

In der Box sind zwei identische Ringe. Beide mit einem kleinen Diamanten.

Schon wieder den Tränen nahe, sehe ich Jamie an, der sich vom Bett erhebt und vor mir niederkniet.

Er nimmt meine freie Hand fest in seine.

»Andrew Johnson, mein wunderschöner, wundervoller und unglaublich sturer Freund…mein Geliebter, mein Ein und Alles. Natürlich weiß ich, das wir beide noch sehr jung sind, doch dich wollte ich schon mein Leben lang an meiner Seite haben, wieso sollte sich das jemals ändern. Ich kenne dich schon mein ganzes Leben, du warst immer bei mir, warst da, egal was auch geschah. Du warst da als mein Dad starb. Du warst bei mir als ich zusammengebrochen bin, du hast mich wieder aufgebaut. Du hast mir die Hoffnung gegeben, dass es im Leben noch viele schöne Zeiten geben wird. Ohne dich hätte ich diese Zeit niemals überstanden. Und als du mir vor zwei Jahren gesagt hast dass du mich auch liebst, da hast du mich so unglaublich glücklich gemacht. Und so glücklich bin ich bis heute…nein stimmt nicht…denn ich werde jeden Tag, den ich mit mir verbringen kann, noch ein wenig glücklicher. Und das möchte ich bis in alle Ewigkeit sein. Deshalb möchte ich dich fragen: Willst du mich heiraten? „

In diesem Moment kann ich ihn nur anstarren, hab verlernt zu reden.

Ich kann nur nicken.

»Ist das ein Ja?!« Jamie sieht mich unsicher an.

Endlich fange ich mich wieder und es fällt mir auch wieder ein, wie man spricht.

»Ja…ja ich will dich heiraten!« , bringe ich ziemlich atemlos hervor. Jetzt erst merke ich, dass ich die Luft angehalten habe.

Er springt auf, nimmt einen der Ringe und steckt ihn mir an.

Ich tue es ihm gleich, nehmen den anderen Ring und stecke ihn an seinen Finger.

Überglücklich ziehe ich Jamie in eine feste Umarmung.

Er erwidert sie und so sitzen wir eine Weile nur da und halten uns.

Unglaublich, ich bin verlobt! Jamie will mich heiraten, obwohl er weiß was auf ihn zukommt. Er ist einfach der unglaublichste Mann den ich kenne.

Da öffnet sich die Türe und meine Eltern stecken die Köpfe herein.

»Na, wie es aussieht hat mein Herr Sohn die richtige Antwort gegeben. Sonst hätte ich ihn wohl übers Knie legen müssen.«, sagt mein Dad, als er grinsend mit Mum hereinkommt.

Wieder einmal sehe ich verwirrt aus der Wäsche.

»Jamie kam gestern zu uns und hat deinen Dad um deine Hand gebeten. Ein Kavalier der alten Schule.« Mum grinst mich an und umarmt mich dann stürmisch.

»Ich freue mich so für dich…für euch. Wir haben Jamie so gern und du sollst wissen, dass für deinen Dad und mich nur wichtig ist, das du glücklich bist. Und das bist du mit Jamie. Ihr seid ein tolles Paar. Zusammen werdet ihr alles was ihr euch wünscht erreichen.«

Ich drücke mich fest an Mum.

Dad steht neben Jamie und klopft ihm auf die Schulter.

Ich habe echt tolle Eltern.

Mit ihnen und vor allem mit Jamie an meiner Seite kann und werde ich alles schaffen und jede Hürde überwinden die noch kommen wird.

Ich weiß, dass es nicht immer einfach sein wird, das es dunkle Tage geben wird, an denen ich verzweifeln werde…aber Jamie hat mir gezeigt das Tränen trocknen und das es immer Hoffnung gibt. Hoffnung auf ein Leben Seite an Seite mit dem Mann den ich über alles liebe.

Impressum

Texte: © Ann Salomon
Bildmaterialien: pixabay
Cover: Harpyie_Sandwina
Tag der Veröffentlichung: 18.06.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Kurzgeschichte widme ich Lea Phoenix, einer Freundin, auf die ich mich immer verlassen kann, dich mich motiviert, unterstützt und antreibt. Danke für deine Freundschaft!

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