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von Vogelscheuchen



Über dem Rubinmeer, aus dem, an sonnigen Tagen, die gewaltigen Perserkröten ihre breiten Mäuler steckten um ihre kalten Zungen zu wärmen und ihr glänzendes Fell trocknen zu lassen, schwebte knapp unter den Wolken der mächtiger Kontinent Kuriosum. Er war mit dichten Wäldern und kargen Bergen überzogen; und genau in der Mitte breitete sich eine Wüste aus, die dadurch entstanden war, dass der Regenzwerg auf seiner Wolkeninsel just die Stelle stets zu gießen vergaß.
Auf diesem Kontinent, zwischen der Wüste und dem Gebirge im Norden, stand ein handgroßes Schild mit drei Zacken, die wie eine Krone auf der verblassten Schrift thronten »Willkommen in Smogstadt«. Dahinter puffte und paffte es zwischen schiefen Häusern und krummen Straßen, die zu krummen Kaminen mit schiefen Schornsteinen führten, aus denen den ganzen Tag dichter Rauch aufstieg. Wenn man genau hinsah, konnte man in diesem, winzige Schnipsel tanzen sehen, die einst jeweils zu einer Seite gehört hatten. Für jeden Erstbesucher bot sich die einmalige Gelegenheit herauszufinden, was auf den Seiten gestanden hatte. Dazu musste der Gast nur in der ersten Nacht ein hohes Gebäude finden und auf das Dach hinaussteigen. Spitzte man nun dort oben die Ohren und horchte über dem Trubel in den lauen Wind hinein, ertönten leise Stimmen. Es waren meist so viele, dass sie vorerst nur ein wirres Durcheinander sein konnten. Nahm man sich jedoch die Zeit und konzentrierte sich mit geschlossenen Augen genau, begannen sich die Stimmen voneinander zu lösen - und Zeile für Zeile die Geschichte vorzusingen, die sie einst gewesen waren. »Die gehörten Geschichten könnte ich nie wieder vergessen«, schrieb Dilli Wankadelli in ihrer Kolumne, die der schreiende Kurier regelmäßig abdruckte, »Es ist ein Jammer, dass sich das Ohr an die Lieder gewöhnt. Forscher im Osten sind jedoch bereits auf der Suche nach einer Methode die Ohrmuschel derart umzuformen, dass wir die Lieder ein ganzes Leben lang hören könnten. Die Schönheit des Erlebnisses liegt jedoch - so ehemalige Besucher - genau in seiner wortwörtlichen Einmaligkeit. Smogstädter machen sich indessen Sorgen über den eventuellen Interesserückfall, falls der Zauber verloren ginge«
Dieses Wunder nannte sich in Touristenführern »Die Nacht der tausend Stimmen« und war einer der zwei Gründe um Smogstadt mit seinen ungeraden Wegen und löchrigen Mauern aufzusuchen. Ronin hüpfte aus dem zweiten Grund auf seinem Stock zwischen hohen Schlangenbären und breiten Schildhörnern durch das rege Getümmel der Hauptstraße, wo Künstler, Bäcker und Schmiede ihre Waren laut anwarben.
»Das beste Graubrot in ganz Kuriosum! Die besten Steinbaguettes der Gegend!«
»Seht, seht! Kein Kiesel hat je so gefunkelt! Wie wäre es mit Felsenketten für die hübschen Damen?«, die Baumnymphen erröteten von ihren spitzen Ohren bis zu den Wurzelzehen, sodass sie wie hüfthohe, rosa Stöcke herumschwirrten.
Ronin überhörte den Bäcker und konzentrierte sich auf die Techniker der Stadt. Unter ihnen befanden sich die talentiertesten des ganzen Kontinents. Er suchte nach denen, die nicht laut in die Menge schrien, dass ihre Zahnräder handgefertigt und ihre Materialien über Bücherrücken geschmiedet wurden. Er hielt aus den Tiefen seiner Kapuze, mit goldfunkelnden Augen Ausschau nach den Schweigenden und blieb nur stehen, wenn sie die Käufer ignorierten. In der hintersten Ecke der Stadt, rechts in einer verlorenen Gasse, entdeckte er schließlich ein schäbiges Schild, das an einer rostigen Kette über einem rostigen Nagel informierte: »Ur-Unkel Werkstadt«
Mit einer entschlossenen Bewegung und einem versteckten Grinsen stieß Ronin die schwere Ladentür auf. Ein Glöckchen bimmelte und der Staub wirbelte auf. Er hustete heiser unter seinem Mundschutz, während die Mottenelfen ihn aus den dreckigen Ecken des Ladens anfauchten. Einige schwirrten auf und verließen ihre Plätze auf den morschen Leitern, die an den Regalen lehnten. Im schmalen Licht der zwei dreieckigen Fenster erkannte Ronin links und rechts hohe Regale, auf denen sich Kästen mit Nägeln, Dübeln und verschiedengroßen Zahnrädern unterschiedlicher Größe häuften. Es lagen auch fertige Hände und Füße aus Aluminium, Kupferblech und Eisen dazwischen. Im kleinen Raum verteilt standen halbfertige Uhren, Teile von Fahrradkutschen und anderen Dingen, die Ronin nicht erkannte. Er blieb zwei Mal in den Löchern der Dielen hängen und stolperte schließlich über eine Kiste, auf der mit Druckbuchstaben »Effie« stand. Sein Stock ächzte und für einen Moment befürchtete er, er könnte unter ihm wegbrechen.
»Wolcher zworgvergossene Hintoarberglerlümmel schloacht do rum?«, knurrte es hinter der mächtigen Ladentheke. Ronin hielt inne und streckte sich, um den Herren der Stimme in der Dunkelheit zu erspähen. Es knirschte wieder und wieder, und da tauchte eine breite Glatze hinter der Theke auf. Zwei buschige Augenbrauen schoben sich hinterher, die wie Raupen über schwarze Knopfaugen saßen, die nun zum Vorschein kamen. Schließlich zeigte sich eine große Kartoffelnase und dann ein Mund, dessen Winkel sich missfällig nach unten bogen.
»Joa zogga mal! A stumme Vogelscheuche!«, sprach der Mund, während kurze Arme einen Hebel malträtierten, dass der Sitz des Stuhles quietschend weiter in die Höhe fuhr.
»Nicht stumm, nur etwas wortkarg«, berichtigte Ronin.
»Soga mal, ihr seid doch sonst so geschwätzig«, murrte der Alte und besah sich den Fremden nun etwas genauer, »Ah, do bisch aber a schäbige Junge«, daraufhin schnalzte er mit der Zunge, »Fälls joa schir ausnoander«
»Deswegen bin ich hier. Ich würde gerne Prothesen kaufen«.
Der Alte schüttelte den Kopf, »Nicht boai mir«
Ronin verengte die Augen, »Sind sie denn kein Techniker?«
»Doach«, brummte der Alte.
»Haben Sie denn kein Material?«
»Noain. Das i nich doas Problem«
Der kleine Mann wühlte in seiner großen Westentasche herum und zog einen harten Brocken Käse heraus. Prompt erschienen fünf der zahllosen Mottenelfen und griffen gierig nach dem Essen. »Diese lästgen Viecher! Nimmt´s! Hier ihr Biester!«, damit schmiss er den Käse in eine Ecke des Raumes, wo dieser eine Beinprothese umstieß, die laut scheppernd auf den Holzboden krachte. Ronins Herz zog sich sehnsuchtsvoll zusammen.
»Sie sind ein Unkel, nicht wahr?«, fragte er, während es in der Ecke fauchte und schmatzte.
»Joa und dua bis a Vogelscheuche, und?«
»Was machen Sie denn, wenn Sie nicht arbeiten?«
»Moain Leben sortieren«
»Und danach?«
»Weitersortieren. Is anstrengend. I hoab loang gelebt«, er hustete laut und seine schwarzen Knopfaugen wurden sehr matt.
»Dua vergäudest unsre Zoeit Junge. I hoab zua sortieren und dua hoast zu gehen«
Ronin wusste, dass nur einige Meter weiter entfernt andere Techniker auf ihn und sein Geld warteten. Er wusste auch, dass kaum einer so gut wäre, wie dieser hier.
»Was ist mit all den halbfertigen Prothesen?«
Der alte Unkel kreuzte grimmig seine kurzen Arme, antwortete jedoch nicht.
»Tun sie Ihnen denn nicht leid? So verstaubt und nutzlos wie sie herumliegen?«
Die Knopfaugen des Unkels glitzerten in der dünnen Sonne, während die Staubkörnchen wild in der schweren Luft tanzten.
»Raus«, knurrte er, »I will di nimma sehen. Und wenn dua Nochamal hier roain kommst, beiß I dia die Ohren ob!«
Ronin ballte die behandschuhten Hände und zögerte. Aber es tat nicht gut mit einem Unkel zu streiten - diese sturen Wesen konnten tatsächlich beißen, dass ihm Hören und Sehen verging. Er drehte sich also um und hüpfte mit hängenden Schultern Richtung Ausgang. Wieder stolperte er aber über die Kiste mit der »Effie« Aufschrift und da bog sich sein Stock mit einem hässlichen Geräusch. Ehe er sich versah, lag er mit dem Gesicht auf dem Boden. Das morsche Holz hatte nachgegeben und war nun bloß ein Stummel mit splitternden Enden. Er ließ sich davon jedoch nicht beirren. Mit den Händen zog er sich auf den rauen Dielen voran und stieß mit seinem Kopf die Tür auf. Es bimmelte, und er lag daraufhin unter dem alten Schild am rostigen Nagel. In seinem schwarzen Umhang hin der Dreck und Staub des Ladens, und sein Herz pochte schmerzverzerrt. Nicht selten brach ihm der Stock auf seiner Reise. Hier jedoch in Smogstadt, wo sie Bücher verbrannten, zählte Holz zu den unbezahlbaren Raritäten und einen Ersatz, den er sich anbinden konnte, würde er gewiss nicht finden. Ratlos saß er nun mit gesenkten Schultern neben dem Eingang zur »Ur-Unkel Werkstadt«.
Plötzlich öffnete sich eine schmale Tür links neben ihm mit solcher Wucht, dass sie ihn davon fegte.
»Du brauchst Prothesen?«
Ronin schielte missmutig in Richtung der quirligen Stimme, antwortete vorerst jedoch nicht. Als sich die Tür wieder schloss, stand ein seltsames Unkel vor ihm. Es war wesentlich größer, als die anderen und das eigentlich graue Haar strahlte weiß in der schmutzigen Luft. Ihren breiten Körper hatte sie in ein graues Hemd und einer schwarzen Weste gewickelt.
»Ist das dein erster Tag hier in Smogstadt?«
Ronin nickte, das Unkel schnippte einmal glücklich.
»Ich kann dir helfen«, meinte es daraufhin und stellte sich direkt vor ihm, »Ich heiße Quinta. Ich war Gesellin beim alten Fahrdunkel«, sie deutete mit einem ihrer kurzen Finger auf die Ladentür.
»Hast du einen Laden?«, fragte Ronin.
»Nein«, erwiderte Quinta, »Ich arbeite dort, wo und wann man mich braucht«, danach errötete sie etwas, »Was zugegeben selten ist«
Ronin sah nicht viele andere Möglichkeiten in seiner prekären Situation; dieses Unkel schien am nächsten an das, was er sich erhofft hatte.
»Also, wollen wir?«, fragte Quinta mit einem breiten Lächeln, dass ihre spitzen Zähne funkelten. Es herrschte kurzes Schweigen, woraufhin Ronin erwiderte:
»Ich kann nicht laufen«.
Quinta lachte laut. Mit nur einer Bewegung hatte sie Ronin in den Armen und sie schritten los. Sie trug ihn die schmale Gasse hinab, die in einer Garage mündete.
»So, hier werkel ich herum«, sprach Quinta, als sie Ronin vorsichtig auf einen Stuhl setzte. Sie schob seinen Umhang etwas beiseite, und besah sich den übrigen Stummel genauer.
»Ach, der wurde mit einer Prothesenschnalle befestigt«, klatschte sie aufgeregt in die Hände, »Aus Leder sogar! Sowas habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen!«
Ihre Knopfaugen funkelten vor Begeisterung, und sie vermaß Ronin sogleich mit einem langen, grauen Band. Die kurzen Finger arbeiteten genau und schnell. Sie schrieb Zahlen auf und hielt probeweise verschiedene, fertige Prothesen an Ronins Unterleib.
»Zu deiner Schulterbreite und Oberkörperlänge, würden vielleicht die hier am besten passen«, damit legte sie zwei rostige Beine aus einer großen Metallkiste an die Lederhalterung.
»Natürlich nur so lange ich die Richtigen anfertige«, sie tastete vorsichtig seinen Becken unter dem dichten, schwarzen Stoff ab.
»Du hast keine Nervenzugänge?«
Es herrschte kurze Stille, in der Ronin seine Stimme suchte, die ihm vor knapp einer Stunde abhandengekommen war.
»Ich bin bis jetzt auf Stöcken herumgehüpft«, erwiderte er schließlich.
Quinta nickte und murmelte dann etwas von »schmerzhaft«, »kein Arzt« und meinte dann: »Das wird schon«.
Ronin war Unruhe fremd; er ahnte allerdings, dass sie ihm heute einen Besuch abstatten würde. Die Garage roch inzwischen nach Öl und Fett, wie Quinta anfing die Übergangsprothesen vor zu bereiten.
»Warum hilfst du mir?«, fragte Ronin nach langem Schweigen. Das Unkel antwortete von ihrem mächtigen Werktisch aus:
»Weil ich auch Hilfe brauche«
Ehrlichkeit enttarnte sich selten so deutlich wie in der Stimme Quintas und die Vogelscheuche konnte nicht umhin sich an das Herz zu greifen. Das Unkel hob eine Prothese in die Höhe und wandte sie prüfend hin und her.
»Wenn ich dir Beine gebe, wie weit wirst du für mich dann gehen?«
Ronin runzelte erst die Stirn, grinste bald aber unter seinem Mundschutz.
»So weit sie mich tragen«
Quinta lachte schallend und zufrieden.
»Dann sehe ich zu, dass es weit genug ist«.
Nach einer weiteren Stunde waren beide Übergangsprothesen fertig.
»Ich fange nachher mit den Richtigen an, aber jetzt müssen wir uns beeilen«
Sie legte die Prothesen parallel auf einen zweiten Stuhl neben Ronin. Dann eilte sie zu einem unordentlichen Schreibtisch, der versteckt zwischen Drahträdern und weiteren Metallkisten stand. Sie wandte sich anschließend um, und trat mit einer runden Flasche in der Hand an Ronin heran.
»Das ist Wundbaum Nektar«
Ronin ahnte Böses. Er selbst trug für Notfälle ein Gläschen davon in einer der zahlreichen Taschen seines Umhangs. Einmal hatte er mit nur drei Tropfen einen Rubinpiraten vor dem Verbluten gerettet, als diesem ein Arm abgeschnitten wurde.
»Trink das«, befahl Quinta. Ronins Magen sackte in die Tiefe und er starte das Unkel mit weiten Augen an.
»Ich scherze nicht. Entweder du trinkst das, oder du wirst vor Schmerzen gleich sterben«
Ronin nahm ihr mit einem zögerlichen Griff die Flasche aus der Hand und leerte sie mit einem Zug. Die neue Welt, die sich dehnte und bog, nahm er dank Quintas mächtiger Pranke auf seiner Schulter ohne Zweitgedanken an. Bald schon driftete er in einen wirren Traum aus Wiesen, Wäldern und einem Leben, das er lange vergessen hatte. Nur einmal donnerte und blitzte es kurz. Sein Köper schüttelte und zuckte jedoch nicht lange. Als er wieder zur Besinnung kam, tanzten die Mottenelfen ausgelassen um eine Nachtlampe zu seinen Füßen. Die Garagentür war zur Hälfte geschlossen, sodass er lediglich die Schatten der Leute sah, die ab und zu in den benachbarten Häusern ein und aus gingen.
Er spürte eine angenehme Brise an seinen Wimpern. Zufrieden atmete er in dieser tiefen Ruhe auf.
»Schön, dass du wieder wach bist«, flüsterte jemand neben ihm. Die Stimme erinnerte Ronin daran, was passiert war, woraufhin er sich geschwind aufrichtete, um seine Beine zu suchen. Dort, am Fuße des Bettes, lugten Zehen aus Metall unter der Decke hervor. Sein Magen hüpfte vor Aufregung, wie er sie probeweise bewegte. Kaum wackelten sie jedoch, schüttelte ihn prompt ein Schmerz.
»Die Nerven reagieren noch etwas sensibel. Das sollte nach einigen Bewegungen besser werden«, erklärte Quinta und erhob sich von ihrem Stuhl, um sich zu strecken.
Ihre Klamotten waren rundum mit Öl befleckt und auf ihrer Stirn stand noch der kalte Schweiß.
»Du hattest kein leichtes Leben, nicht wahr?«, fragte sie unter der großen Nase, während Ronin die Bettdecke beiseite schmiss und vorsichtig die Beine anwinkelte.
»Niemand hat es leicht«, antwortete die Vogelscheuche zwischen zusammengebissenen Zähnen. Dann hielt er kurz inne und warf Quinta einen Seitenblick zu.
»Warum denkst du denn, dass ich ein schweres Leben hatte?«
Quinta kreuzte die Arme hinter dem Rücken.
»Das Ankoppeln der Prothesen beißt und brennt, dass man dabei schreit wie am Spieß. Wenn jemand nicht schreien, dann nur, weil er Schmerzen schon gewohnt ist«
Inmitten schweren Schweigens klang bald nur noch das Gackern und Jauchzen der Mottenelfen im Raum. Ronin wollte nicht über sein Leben reden und Quinta wollte nicht  weiter fragen. Wie sie peinlich versuchten, an etwas anderes zu denken, schoss Ronin wieder ein Zwicken aus den Beinen in den Rücken hinauf und er fragte:
»Wohin soll ich zuerst gehen?«
Quinta grinste im Halbschatten und deutete mit dem Daumen in die Höhe.
»Auf das Dach«.
Draußen herrschte inzwischen tiefe Nacht, die Sterne und den Mond vermutete selbst das geübte Auge über dem Rauch nur schwer. Ronin setzte vorsichtig einen Fuß nach dem anderen, während ihn Quinta unter dem rechten Arm stützte.
Sie stiegen langsam aber sicher die Schneckentreppe hinter einer knarrenden Tür in der Garage hinauf. Die Wände schimmerten feucht und die Luft stank abgestanden, nach Rauch und Staub.
»Kennst du die Nacht der tausend Stimmen?«, fragte Quinta auf ihren Weg.
»Nur aus dem Artikel von Wankadelli«, erwiderte Ronin, »Was ist damit?«
»Ich möchte, dass du heute Nacht nach einer Geschichte suchst«
Das klang einfach. So einfach, dass Ronin skeptisch zu Quinta hinüber schielte.
»Das ist alles?«
»Das ist alles«
Er hätte gerne gefragt, warum sie sich gerade das als Gegenleistung ausgesucht hatte. Jedoch wollte er so fair bleiben, wie sie es in der Garage vorhin gewesen war. Daher schluckte er die Fragezeichen hinunter.
Je höher sie stiegen, desto heller und größer wurde ein Punkt in der Ferne, bis Ronin die Dachluke erkannte.
»Wir sind da«, meinte Quinta, wie sie durch die Luke ins Freie schlüpften. Um das Dach sammelte sich der Rauch in Wolken, die flüssig hin und wieder über das Geländer schwappten, dass den Zweien der Rauch bis zu den Knöcheln stand.
»Hörst du es schon?«, fragte Quinta aufgeregt. Ronin spitzte die Ohren, konnte jedoch nichts vernehmen. Er schüttelte den Kopf.
»Warte ein wenig«, erwiderte Quinta und entzog sich ihm sachte, bis er von selbst auf seinen neuen Füßen stand.
Da! Er hörte leises Säuseln. Verschwommene Stimmen, die nach und nach zu einem Zug an Geschichten wurden. Erst erhaschte er nur einzelne Worte, die nichts miteinander zu tun hatten. Wie er ihn jedoch der Rauch einbettete und die Zipfel von Seiten, die Geister der Bücher beriefen, hörte er komplette Lieder nacheinander.
»In diesem Lied geht es um die Freundschaft von zwei Libellenreitern«, fasste er zusammen, bevor schon das nächste Lied in seinen Ohren klang, »In diesem geht es um eine Reise durch die Sonnenberge«
»Ich suche Farben«, sprach Quinta plötzlich, »Hörst du eine Geschichte, in der es um die Entdeckung von Farben geht?«
Die Verwirrung ließ Ronin den Faden verlieren, nach einem kurzen Augenblick hatte er sich jedoch wieder gefangen und er suchte gezielt zwischen tausenden von Stimmen, nach der einzig einen. In den Tiefen des Liederstrudels glitzerte die Erinnerung an ein Buch, das ihm bestimmend entgegenflog; es streckte die Arme aus, griff nach seinen Ohren, um hinein zu flüstern.
»In weiten Höhen das Azurblau schimmert - und in den Tiefen die Rubine glitzern im Meer - dass ich unter der gelben Sonne atmete, ist für mich zu lange her«, hallte es klar, »Das grüne Gras sich rege wog und tiefbraun duftete die Erde; aus singenden Bäumen man mich wob, damit zu Rauch ich werde«
Das Lied verblasste, als die Geschichte sich schloss. Quinta legte ihm eine große Hand auf die rechte Schulter.
»Dankeschön. Du hast mein Buch gefunden«
Ihre Stimme war heiser, und ihr Griff stark vor Aufregung. Er stand noch zwei Atemzüge verwirrt auf der Stelle, mit dem Versuch sich die Geschichte einzuprägen. Warum zwar, wusste er nicht, aber es erschlich ihn die Vermutung, dass sie wichtig werden könnte.
Den Rest der Nacht arbeiteten sowohl Ronin wie auch Quinta still in der Garage. Quinta schraubte und verkabelte Metallteile miteinander, während Ronin fleißig das Gehen übte. Als die ersten Lichtstrahlen ihre faden Gesichter streichelten, stieß das Unkel ein zufriedenes »Fertig!« von sich.
»Diesmal sollte das Andocken nur etwas ziehen. Deine Nerven sind ja noch taub von der letzten Verbindung«
Ronin nickte und ließ seine Übergangsprothesen abschnallen. Als Quinta seine neuen Beine ansetzte, biss er die Zähne zusammen. Das Unkel holte tief Luft und zählte hinunter:
»Eins, zwei -«, auf »Drei« schlossen sich die neuen Glieder an ihre Plätze. Ronin seufzte auf, als die Knie problemlos arbeiteten. Das Metall schimmerte liebevoll und neu im Tageslicht.
»Sie werden dir gute Dienste erweisen«, lachte Quinta erfreut und klopfte auf sein rechtes Schienbein. Von seiner Euphorie ermutigt, rutschte Ronin die Frage heraus, die ihm seit letzter Nacht beschäftigte:
»Warum hast du das Buch gesucht?«
»Es hat einer Freundin gehört, und ich hatte es gestern verloren. Bücher sind hier wie ein Stückchen Kohle, drum befürchtete ich, dass es wohl in der Verbrennungsanlage oder bei einem Schmied im Feuer gelandet war«
Sie stand auf und wandte Ronin den breiten Rücken zu, um sich dann zu strecken.
»Scheint, als hätte ich wohl Recht behalten. Ich werde die Geschichte wohl nie zu Ende lesen können«
Die Vogelscheuche wollte etwas sagen, besann sich jedoch eines Besseren, bevor er wieder den Mund öffnete:
»Warum suchst du nicht einfach eine andere Kopie des Buches?«
Quinta wandte sich ihm zu, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Du meinst, ich soll hier weg?«
»Warum nicht?«
Sie lachte schallend.
»Ich kann doch den alten Fahrunkel nicht hier lassen. Und wer hilft den armen Geiern, die sonst keine Techniker finden?«
Ronin zuckte mit den Schultern, wobei er seine aufkeimande Enttäuschung gut kaschierte.
»Nun, du musst es wissen. Aber eins kann ich dir sagen: Dort draußen gibt es mehr als genug Leute, die Hilfe gebrauchen könnten«
Quinta nickte, beließ es jedoch dabei.

Gegen Mittag brach Ronin schließlich auf. Quinta begleitete ihn bis zu dem Schild mit den drei Zacken vor der Stadt.
»Nun, dann mach es gut«, sprach die Vogelscheuche und wandte sich zum Gehen. Seine Beine funktionierten zu seinem Glück einwandfrei. Er würde so viel schneller vorankommen als auf dem alten Holzstock.
»Einen Moment noch!«, rief ihm Quinta hinterher, »Wie heißt du eigentlich?«
Ronin hielt inne, und war über seine schlechten Manieren für einen Moment ehrlich erstaunt. Alte Gewohnheiten ließen sich wohl selbst nach zweihundert Jahren nicht ablegen.
»Ich heiße Ronin«, rief er laut unter seinem Mundschutz. Er winkte kurz zum Abschied und wandte sich schnell von der Stadt ab. Keinen Moment länger wollte er Quinta ansehen, sonst würde er es sich anders überlegen und einige Tage noch bleibe. Dafür blieb ihm aber keine Zeit. Nicht jetzt, wo seine Beine ihn trugen, wie der Wind.
Quinta sah ihm eine Weile nach, bis sie sich entschloss, die seltsam wortkarge Vogelscheuche zu vergessen.
»Do hasch ihn aber leicht gehen loassen«, sprach der alte Fuhrunkel grimmig auf seinem Stuhl, als Quinta in seinen Laden trat.
»Nun, ich hatte keinen Grund ihn nicht gehen zu lassen«
»Doas seh I aber anders«, kaum hatte er den Satz beendet, hob er eine kleine Schraube in die Luft.
»Moainsch ohn des Ding kommt der Junge woait?«
Quinta stand mit zwei Sätzen an der Theke und hielt entgeistert die Luft an. So schnell sie konnte, schnappte sie die Schraube aus der Hand des alten Fuhrunkels, und stürzte aus dem Laden.
»Ronin!«, rief sie auf den vollen Straßen Smogstadts, »Ronin! Pass auf deine Beine auf!«, sie schrie und rannte, bis sie die Tore der Stadt verließ. Sie rannte und rannte, bis sie einen kleinen, schwarzen Flecken auf dem Weg zwischen weit gestreckten, grau-braunen Dünen erblickte.
Während dessen aß Fuhrunkel mit seinen Mottenelfen zu Mittag.
»I hoff, die schreibt uns ab und zua a Poschkarte, Effie«

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.03.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Babysitter-Kinder

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