»Wo hört das Leben auf und wo fängt der Tod dann an?«
Die Frage schwebte in den kleinen Wölkchen seines Atems, um sich im kalten Wohnzimmer einen Weg zu ihr zu suchen. Theon sagte häufig solch seltsam tiefsinnigen Sachen. Robin meinte, dass all das, was ihm an Schönheit fehlte, sein Verstand wieder wettmachte.
Zumindest glaubte sie, dass er schlau war; den Inhalt seiner Sätze verstand sie nämlich kaum - und wenn sie begriff, wovon er sprach, wollte sie nicht darüber nachdenken. Wie er im Halbdunkeln die kurzen Arme abwechselnd rubbelte, zog sie ihre Bettdecke weiter übers Kinn. Eine überflüssige Geste, denn ihre Haut war größten Teils taub.
»Ich habe das Gefühl fast tot zu sein«, grummelte Theon und wickelte seinen Schal noch einmal enger.
»Was weißt du schon vom Tod?«, fragte Robin bitter. Der kleine Mann zog eine Fratze.
»Ich weiß, dass er pubertierende Mädchen schnippisch werden lässt«
»Wer wäre denn in meiner Lage nicht schnippisch?«
Auf diese Frage folgte trächtiges Schweigen.
Als Theon nach einer Weile vom Esstischstuhl sprang und seinen Wintermantel zurechtzupfte, schmiss Robin die Decke von sich und stand ebenfalls auf.
»Es ist jetzt dunkel genug draußen. Wir können los«
Theon hatte ihr versprochen sie zu einem Ort zu bringen, wo sie lernen konnte mit ihrem seltsamen Zustand umzugehen. Robin hoffte insgeheim auch, dass ihr jemand dort verriet, wie sie ihren Alptraum abwimmelte, der, kaum dass sie den Kopf zur Ruhe legte, sie komplett auffraß.
Es waren Bilder von abgerissenen Körperteilen, die wie Würstchen im heißen Wasser köchelten. Sie sah auch einen ausgenommenen Hund - ihren Hund - der mit glasigen Augen in ihr neu dunkles Innere starrte. Als flehe er sie an; sein Herrchen, seinen Partner und Beschützer. Schweiß und angewidertes Schütteln in ihrem Traum überfielen sie dabei nur am Anfang; bis ein unstillbarer Hunger jeden Gedanken verdrängte. Ein Verlangen, so tief instinktiv, dass sie sich beim Versuch, ihn zu unterdrücken die Lippen wund biss. Anstatt des Blutes floss jedoch nur ihre Menschlichkeit. Befreit von allen Ketten schubste sie der Tod immer aufs Neuste in einen dichten Rausch, der sein beschämendes Ende fand. Wäre sie in der Lage gewesen, hätte sie bestimmt allein bei der Erinnerung an den Traum Tränen in den Augen gehabt. Die neue Robin konnte jedoch weder schwitzen noch weinen. Es blieb lediglich ein gurgelnder Ton - der gehörte noch ihr.
Als sie vor einem alten herabgekommenen Hochhaus stehen blieben, setzte sie wenig Hoffnung in das, was auch immer kommen mochte. Sie vertraute dem Zwerg jedoch genug, ihm trotz ihrer Skepsis zwischen den zwei schweren Feuertüren in das Gebäude zu folgen. Sie stiegen zusammen in den zweiten Stock, wo sie an einer Tür anklopften, von der der grüne Lack in großen Flächen splitterte.
Sie öffnete sich vorerst nur einen Spalt. Es lugte ein großes, wässrig blaues Auge hinter einem runden Brillenglas hervor.
»Ich bin´s nur«, murrte Theon.
»Oh! Wunderbar! Ihr seid gerade noch pünktlich!«, gackerte eine Frauenstimme dumpf hinter der Tür, um sie erst zu schließen und sie dann weit zu öffnen.
Der kleine Mann schob Robin entschlossen in den Flur der winzigen, überladenen Wohnung. Ihr Blick wurde prompt von den zahlreichen Fotos und Porträts gefesselt, welche die Wände den langen Gang entlang bedeckten.
»Es ist immer schön ein neues Gesicht dabei zu haben«, zwitscherte die Dame fröhlich und stellte sich mit breiten Hüften dem Mädchen in den Weg, um ihr die Hand zu schütteln.
»Hallo Liebes. Ich bin Luise«
Robin wusste nicht, wohin sie schauen sollte. An jeder Kante und Rundung der Frau fand sie etwas Faszinierendes. Von ihren Ohren baumelten Federbüsche und in ihren langen Rastazöpfen fanden sich eingeflochtene, bunte Perlen. Ihre tellergroßen Brillengläser zierten winzige Kieselsteinchen in den unterschiedlichsten Rottönen; von ihren Handgelenken baumelten derweil abertausend Armbänder. Sie flitzte gleich nach dem Händedruck wie ein Kolibri den Flur entlang und winkte sie zu einer angelehnten Tür hinüber:
»Hier hereinspaziert!«
Theon stapfte los; Robin zögerte.
»Mach dir keine Sorgen«, zwinkerte ihr die Frau zu, »Hier bist du unter Freunden«
Ob man einen fremden Zwerg und eine noch unbekanntere - und ehrlich seltsame Frau als Freund bezeichnen konnte?
»Warum auch nicht? Es sind schon abgefahrene Dinge die Tage passiert«, dachte sich das Mädchen zum Schluss. Sie versuchte dabei, nicht an ihre alten Freunde oder Schulkameraden zu denken; das waren Bilder für einsame Stunden, in denen sie ihr trockenes Gurgeln in ein Kissen drücken konnte.
Sie folgte also Theon durch die Tür und fand sich in einem freundlichen, gelbgestrichenen Zimmer wieder. Es standen Sofas und Stühle zu einem geschlossenen Kreis gerückt. Zu ihrer Überraschung waren sie fast bis auf den letzten Platz belegt.
»Also Leute, die Anonymen Untoten haben heute neuen Zuwachs bekommen«, trällerte Luise.
»Nun, stell dich doch bitte einmal vor Mädchen«
Robin schwieg. Wie ein Zug auf Höchstgeschwindigkeit überfuhren sie die regen Eindrücke im Raum. Es saßen Männer und Frauen aus den unterschiedlichsten Altersgruppen zusammen. Allesamt hatten sie fahle Haut, tiefe Augenringe und eingefallene Wangen. Dazu im Kontrast wirkten sie jedoch äußerst gepflegt; die meisten trugen saubere, hochwertige Kleidung - Kostüm, Rock, Anzug oder polierte, schwarze Schuhe.
Luise legte Robin zur Ermutigung eine Hand auf die Schulter, was sie einige Worte stammeln ließ:
»Ich – ich heiße Robin Gräber und bin – ehm – war....«
War sie nun, oder ist sie noch? Wäre sie in der Lage gewesen, hätte ihr Gesicht rot geleuchtet vor Verlegenheit. Der Tod hatte sie inmitten der Pubertät erwischt; ein schlechter Zeitpunkt, um vor Fremden selbstsicher über eine pickierende Lage zu sprechen.
»Ich war auch verwirrt«, ergriff eine junge, hübsche Frau das Wort. Sie saß mit überschlagenen Beinen, im schwarzen Kostüm auf einem einfachen Holzstuhl, tat dies jedoch so grazil als sei sie die Königin von England höchst persönlich.
»Du denkst, also bist du«, meinte ein schlaksiger Junge im ACDC-Pulli.
»Das klingt wirklich schlau, Anton«, meldete sich ein kleines Mädchen mit großen Augen zu Wort, während sie fröhlich auf dem Stuhl wippte. Ihre zwei blonden Zöpfe schaukelten dabei vor und zurück.
Anton nickte.
»Descartes war ein Genie«
»So, wollen wir dann mal anfangen«, unterbrach Luise den Austausch und schob Robin zu einem noch leeren Stuhl.
»Sagen wir jetzt den Spruch auf?«, fragte das kleine Mädchen. Die Gesellschaft fing im Chor an:
»Ich bin nicht tot, ich bin nicht lebendig, ich bin anders. Aber anders heißt nicht schlechter. Ich gelobe mich selbst zu lieben - und mich niemals aufzugeben«
Während die letzten Worte verhallten, nahm das Treffen der „Anonymen Untoten“ seinen Lauf. Vorerst erzählte jeder nacheinander, wie es ihm die Woche ergangen war, und welche körperlichen sowie geistigen Veränderungen sie an sich selbst bemerkt hatten. Robin stellte schnell fest, dass die Meisten noch nicht allzu lang der Gruppe angehörten. Der älteste von ihnen war ein Straßenmusiker namens Thomas, der offiziell seit knapp zwei Monaten nicht existierte.
»Ich merke, dass sich meine Blackouts häufen«, erzählte eine Frau mittleren Alters. Sie hatte krauses Haar und einen nervösen Blick.
»In einem Moment sitze ich noch vor dem Fernseher und schaue mir eine Serie an, und im nächsten finde ich mich vor dem Haus meiner Familie«, sie fuhr sich entnervt durch die Haare.
»Ich habe furchtbare Angst«, gab sie mit zitternden Lippen zu, »Was, wenn ich es irgendwann in das Haus hinein schaffe? Ich habe Angst, dass ich meinen Kindern etwas antun könnte«
Thomas bemerkte Robins verwirrten Blick und ergriff gleich das Wort, um sie aufzuklären:
»Eva hatte vergessen zu erwähnen, dass sie Hunger hat. Stimmt´s Eva?«
Die einstige Mutter nickte verlegen, ihre Hände flochten sich ineinander.
»Dafür braucht man sich nicht zu schämen«, meinte Thomas mit ruhiger, rauer Stimme. »Wir alle haben Hunger. Und jeder erfährt früher oder später die ersten Blackouts. Das ist leider nun mal, wie es sein muss«
Über das Zimmer legte sich eine kurze, betroffene Stille, in der Robin spürte, wie die ersten Anfänge einer unausweichlichen Panik wurzeln schlugen. Thomas brach bald wieder entschlossen das Schweigen:
»Jeder von euch kann aber gegen sich selbst vorgehen. Sobald ich zum Beispiel merke, dass ich die Kontrolle über mich verliere, spiele ich einige Takte auf meinem Saxophon. Das weckt den Mensch in mir«
Robin schaute sich noch einmal jeden einzelnen im Raum an. Die gesenkten Blicke, das halbherzige Grinsen. Sie trauerten jetzt schon um das, was auf sie zukam, während Robin selbst noch um das trauerte, was hinter ihr lag. Sie war jung, und würde nie mehr älter werden. Die Frau im Kostüm erhaschte die Angst in ihren Augen.
»Je mehr du in Panik verfällst, desto weniger kannst du dich halten. Du tätest also gut daran Ruhe zu bewahren«
Ihre strengen Worte wirkten. Robin fasste sich wieder. Die Frau grinste daraufhin charmant und strahlend weit, fast als sei sie lebendig.
»So ging es uns allen anfangs. Hätte uns der gute Zwerg dort drüben nicht eingesammelt, wären wir alle hohle Zombies, die nachts an Kinderfüßen knabbern und an Schädeldecken nuckeln«
Robin verzog das Gesicht bei dem Bild und krallte sich an die Seiten ihres Stuhles.
»Theon und Luise haben viel für uns getan«, ergriff ein junger, schwarzer Mann das Wort. Seine braunen Augen strahlten voll Dankbarkeit.
»Und für die, die vor uns da waren«, fügte das junge Mädchen hinzu. Ihr Kommentar brachte alle zum Schweigen.
»Holly, das war nicht wirklich -«, murrte der schlaksige Junge, Luise unterbrach ihn jedoch: »Du hast Recht Holly. Warum sollten wir nicht darüber sprechen können? Die anderen waren ein Teil dieser Gruppe, und werden es auch bleiben«
Allerdings schien das Thema viele zu tief zu treffen. Vielleicht, weil die Namen, die Robin nie hören würde, ihre aller Zukunft waren. Vielleicht aber auch, weil sie auch geliebt und geschätzt wurden. Die drückende Stille durchzuckte plötzlich ein tief gurgelndes Geräusch. Robin meinte, es höre sich fast wie ein Schluchzen an. Es wurde jedoch tiefer und lauter, ein Knurren, ein Jaulen, ein Wimmern aus der Hölle, das ihr unter die Haut ging.
Luise sprang nach kurzer Starre auf die Beine; Theon rannte derweil zu einem massiven Kleiderschrank mit robusten Holztüren. Gekonnt drehte er den Schlüssel und griff etwas großes und längliches heraus. Bis Robin verstand, was es war, hielt Luise das Gewehr schon in den Händen. Sie machte einen weiten Schritt nach vorn und zog genau einmal ab. Das Fiepen des vorbeirauschenden Geschosses würde Robin genauso wenig vergessen, wie das Keuchen, das so schmerzhaft die Stille schnitt. Es kam ihr erst nach einem Augenblick in den Sinn, sich überhaupt nach dem Opfer umzusehen. Thomas saß mit hängenden Schultern, verdrehten Augen und herausfallender Zunge auf seinem Stuhl. Zwischen seinen Augen ragte ein tiefes Loch, aus dem vereinzelte Tropfen quollen. Sie perlten rot. Wer hätte es gedacht? Die Runde schien mitgenommen, jedoch nur mäßig entsetzt.
»Darf ich sein Foto an die Wand pinnen?«, fragte Holly vorsichtig und machte Anstalten auf zu stehen.
»Ja, natürlich darfst du das mein Schatz«, antwortete Luise leicht verschwitzt und legte das Gewehr mit einem dezenten Nicken Theon wieder in die Hand.
»Ich würde sagen, damit ist die Sitzung für heute beendet«, meinte die hübsche Frau im Anzug und stand auf.
Robin konnte sich immer noch nicht rühren. Ihre Beine und Hände zitterten, wie ihr langsam klar wurde, dass Thomas nie wieder sein Saxophon spielen würde. Während Holly nach dem Foto in einer Schublade suchte, kam Luise zu dem verstörten Mädchen und meinte mit einem Lächeln: »Bleib nachher noch etwas da, ja? Ich möchte dich fotografieren«
Fotografien?
»Ja, gut«, antwortete Robin mit einem mächtigen Stein im Magen.
Der Stein, der sie festhielt, wobei ihre Beine sehnsüchtig rennen wollten. Weit, weit weg von hier, bis sie ihrem Schicksal entkamen.
Ich sog die feuchte Seeluft ein, während die Lungen versuchten, mit dem neu sausenden Herzen einen gemeinsamen Rhythmus zu finden.
»Also doch, man kann das Atmen verlernen«, lachte ich laut, die Hände an der stechend kalten Luft. Das Spüren funktionierte ebenfalls wieder; wer hätte gedacht, dass es für den Tod eine Heilung gab?
»Wir haben es etwas eilig«, bellte der Pudel neben mir. Mein Blick glitt in die Ferne, zu den Segelboten. Eile, dachte ich, ist ein Luxus des Lebens. Nach dem letzten Atemzug in zuzüglicher Ruhe, verwandelte sich der Begriff in etwas Fremdes. Eile, das wusste ich, musste man genießen. Der Hund knurrte neben mir weiter.
»Hast du nicht etwas Besseres zu tun, als mich zu beaufsichtigen?«, rollten die Worte ohne Gedanken über meine Lippen, »Einige Hydranten anpinkeln oder so?«
»Undankbarer Bengel«, zwickte mich der schwarze Pudel in die Wade, »Schau auf die Uhr und reiß dich zusammen!«
Der Biss schmerzte kaum, riss mich aber von den Booten und rettete mich auf eine Insel der Konzentration. Besagte Armbanduhr hing in einem schäbigen Zustand von meinem dünnen Handgelenk. Das einst braune Leder dicht verletzt, ganz ausgeleiert, das Glas zerkratzt und angebrochen. Einmal standen die Zeiger still; seit meinem ersten Atemzug aber, rotierten sie wieder. Nur für mich liefen sie zuverlässig rückwärts.
»Ist das wirklich, wie du deinen Tag verbringen möchtest?«, bellte der Pudel nach einer Weile. Er hatte ja recht. Ich sollte meine Zeit nutzen. Im Moment stand die Uhr auf halb drei; sobald die Zeiger die zwölf erreichten, wäre mein Tag vorbei. Eine halbe Stunde hatte ich eilig den Segelbooten zugesehen und noch eiliger genossen, wie das Blut in meinen Ohren rauschte.
Nun klappte ich meinen Mantelkragen hoch und versuchte, einen breiten Schritt nach dem nächsten die lebhaften Szenen an der Promenade in mein Gedächtnis zu brennen. Die Nachwelt war einsam und langweilig. Erinnerungen entwickelten sich dort zu Schätzen, die wertvoller waren, als das Leben selbst.
»Was machen andere, wenn sie wieder lebendig sind?«, fragte ich den schwarzen Pudel. Er überlegte eine Weile und entgegnete dann: »Ich habe keine Ahnung. Du bist der Erste meiner Schützlinge, dem Zeit geschenkt wurde«
Ich hatte die Zeit nicht geschenkt bekommen.
»Ich habe sie gewonnen«, entgegnete ich. An uns rannte ein Mann in Anzug vorbei. Ein Handy am Ohr, die Aktentasche wippend in der Hand. Der Schweiß ran ihm die Schläfen hinab. Meine Finger berührten meine Stirn. Sie waren feucht.
»Gewonnen also«, kommentierte der Hund, »Es ist eine Seltenheit, dass jemand gegen den Tod gewinnt«
Wir bogen in eine kleine Seitenstraße. Alles hier roch nach dem Leben, das die dunklen, ewigen Stunden meines toten Daseins weniger ewig hatten erscheinen lassen. Die Bilder dazu besaßen jedoch eine kurze Halbwertszeit; verschwommene Flecken, mehr waren sie kaum. Ich atmete tief durch.
»Ich musste einfach gewinnen. Ich habe die Zeit ganz dringend gebraucht«, antwortete ich ehrlich.
»Gebrauchen kann sie jeder, ob tot oder nicht«, rollte der Pudel die Augen, »Was macht dich so besonders?«
»Nichts«, gab ich zu. Das Wort lag mir, so ausgesprochen, schwer im Magen.
»Ich möchte ein Eis«, meinte ich schließlich. Süßigkeiten hatten mich früher aufgemuntert. Welche Wirkung hätten sie also in einer ohnehin glücklichen Situation?
»Bei dem Wetter?«, sprach der Pudel überrascht.
»An einer Lungenentzündung werde ich wohl kaum sterben«
Er gab mir Recht. Nach einigem Herumsuchen fanden wir eine versteckte Konditorei, die noch Eis ausgab, obwohl es inzwischen schon schneite.
»Als ob der Winter wüsste, dass wir an Minuten gebunden sind«, grinste ich zufrieden. Etwas sagte mir, dass ich gut im Iglubau gewesen wäre und Talent für die Gestaltung jegliche Art von Schneemännern besaß. Mit zwei Kugeln Schokolade in einer Waffel, verabschiedeten wir uns vom Verkäufer, der einsam mit dem Eisportionierer von der Theke aus winkte.
»Durchhalten«, dachte ich beim letzten Blick, den wir wechselten, »Der Sommer ist schon auf den Weg«
Es war ein Gebet, doch an wen ich es sandte, wusste ich selbst nicht recht; Gott war schließlich tot - oder so sagte man. In der Nachwelt hatte ich im Strudel des Verlorengehens vergessen zu suchen. Ein tiefes Seufzen folgte auf den ersten Bissen in die oberste Kugel und danach futterte ich, bis ich hustete.
»Du musst ja auch immer das Essen hinunterschlingen«
Lachte eine warme Stimme, so nah an meinem Herzen, dass ich meinte, sie stünde neben mir. Wie hatte es nochmal ausgesehen, das Gesicht?
Für einen Moment nur schloss ich die Augen.
»Wenn ich dir schon etwas koche, möchte ich es gewürdigt haben«
»Ich stopfe es doch, weil es mir so gut schmeckt!«, entgegnete ich in dem Bild, das wieder an Farbe gewann. Und da wusste ich, warum ich die Zeit gewonnen hatte.
»Niemand wird dir etwas vom Teller klauen«, entgegnete sie und lachte wieder. Weinte ich? Lachte ich? Hustete ich etwa erneut? Es zog an mir vorbei, weil ich so auf ihre schimmernden, braunen Augen konzentriert war. Dort, in ihrem Wohnzimmer am winzigen Esstisch war alles, was ich mir je hätte wünschen können, eine Armlänge entfernt. Und das hatte ich noch einmal sehen wollen.
»Ich weiß wo sie wohnt!«, überrollte es mich, »Ich könnte sie besuchen!«
Doch da wurden meine Knie weich, dass ich mich an einer Straßenlaterne stützen musste.
»Geht es dir gut?«, musterte mich der Pudel von der Seite. Es kam keine Antwort aus meinem Hals, meine Lungen kratzten zu sehr.
»Nun sag schon was!«
»Gleich«, röchelte ich und zitterte, wie ich erneut zu husten begann. In meiner rechten Hand schimmerte danach frisches Blut, aus meiner linken rutschte das Eis hinaus und fiel vergessen auf den Gehweg.
»Isst du das noch?«, hörte ich den Pudel fragen.
Es grüßte das lang vergessene Gefühl der schwarzen, zähen Angst. Es kroch aus seinem Versteck hervor, griff mich an den Knöcheln und nistete sich wieder in meinem Magen ein. Der Hund schnappte sich mein Hosenbein und zerrte mich dann an den paar Passanten vorbei, die auf ihrer Flucht aus der Kälte durch die Fenster von Cafés spähten, um sich für eines zu entscheiden.
»Ich habe gar nicht daran gedacht, was auf mich zukommt«, murmelte ich, während wir mit dem Pudel auf einer Bank neben dem leeren Kino Platz fanden.
Er legte mir eine Pfote in den Schoß, aus seinen Augen las ich Sorge und Ernst. Meine Nase kribbelte, meine Brust zog sich zusammen und schlussendlich wallten Tränen auf. Ich kämpfte nicht gegen sie an, das wären vergeudete Atemzüge. Als sie mir die Wangen hinunterflossen, dachte ich wieder an sie und mich, daran wie sehr mir das alles gefehlt hatte.
»Der Tod ist tatsächlich ein Sadist! Er lässt dich denken, du hättest gewonnen und wartet dann, bis du merkst, wie falsch du lagst; dass du eigentlich der Verlierer bist«, die Fäuste geballt sah ich es nun, »Weil dieser Mistkerl mich jetzt zwei Mal holt!«
In der drückenden Stille hörten wir nur das Gurren der Tauben. Ich hatte mich über diese drei Stunden so gefreut - und jetzt würde ich wieder sterben müssen.
»Ja«, erwiderte der Pudel stumm.
Ein Schauer kräuselte mir die Haut und stach bis in meine Knochen. Das Sterben war eine erbarmungslose Sache. Von Außen sah es furchtbar einfach aus. Die Augen schlossen sich, die Lungen weiteten sich nicht mehr, das Herz lag still. Aber hinter dem Vorhang geschahen viele Dinge gleichzeitig, Weile um Weile fortsetzend, bis man im Kopf anfing durchzuzählen, was nicht mehr funktionierte; bis man gar nicht mehr wusste, wo das Leben aufhörte und wo der Tod anfing.
»Ich will nicht sterben«, flüsterte ich. Der Hund leckte mir übers Gesicht und ich weinte weiter, laut und heftig.
»Du solltest die übrige Stunde genießen«, jaulte der Pudel schließlich. Inzwischen hatte sich der Schnee verdichtet und meine Füße sahen wie Eiszapfen aus.
»Ich will mich nicht mehr bewegen«, erwiderte ich nach kurzem Überlegen, »Hör mir lieber zu; ich will dir mein Leben erzählen, dass mich wenigstens jemand am Sterbebett kennt«
Es war eine Geschichte, die ich aus Erinnerungen spann - oder viel mehr aus Überbleibseln von verschwommenen Bildern, die ich neu aufpolierte. Sie war da, ich war da und wir aßen gut und tranken etwas. Ich log und erfand die Jahre davor, dazwischen, die ich bald aufgeben müsste. Jedes Wort war eine weitere Sekunde. Jede Sekunde eine Minute. Und auf einmal stand die letzte vor uns. Ich schloss die Augen und glitt mit der Hand in das Fell des Hundes. Hier und jetzt wäre es vielleicht anders wie beim ersten Mal. Der Pudel atmete flach im Takt der dumpfen Glockenschläge in der Ferne. Es überrollte mich die Müdigkeit. Ich kämpfte nicht, sondern floh auf den langwierigen Weg des Sterbens mit gewisser Eile. Sie hüpfte in mir, wie Murmeln beim Schütteln eines sonst leeren Behälters, gut verwahrt, bis ich sie am Tod vorbeischmuggelte.
»Nein, verdammt! Das ist zu mager - nicht beeindruckend genug!«, fluchte es in der sonst tiefsten Finsternis der dunkelsten Stunde, dort, wo irgendwann das Schicksal der Welt entschieden werden sollte; heute jedoch, brannte dort lediglich ein Licht.
»Aber Meister, wenn ich bitte anmerken darf - viel mehr steht doch von ihrem Plan kaum noch fest«
Der arme Knecht, voll Schuppen in denen sich Reste zerrissener Manuskripte verfangen hatten, konnte vor Zittern kaum sprechen. Der Meister, Mortiver Dichschrecktoth - mit bürgerlichen Namen Hans-Ulrich Müller - wollte von seinen Einwänden jedoch gar nichts wissen.
»Dann sei kreativ; dafür zahle ich dich schließlich!«
Die arme Seele, seine Feder in der Hand, sprach mit klappernden Zähnen.
»Aber Herr und Meister, wenn ich wieder anmerken dürfte, Sie bezahlen mich doch gar nicht«
Der Herr und Meister, verehrte Inhaber dieser schaurig feuchten Höhle, hielt in seinem sinnlichen, dennoch beeindruckenden Gang inne und warf dem armen Wesen einen seiner berühmt berüchtigten Seitenblicke zu.
»Ist dir dein Leben denn nicht kostbar genug?«
»Herr, ach Herr, wieder ein Gedanke, wenn Sie erlauben; wie soll ich mein Leben denn bitte versteuern lassen? Wenn der Staat mich findet, werde ich wegen Steuerhinterziehung dazu verdonnert die Welt für die nächsten Jahre durch schwäbische Gardinen zu betrachten«
»WENN der Staat dich findet«
»Der finden einen immer, geehrter Herr - oh Meister«
Herr - oh Meister Mortiver kratzte sich am Kinn und zwirbelte dann seinen zu knappen Bart.
»Nun, wir könnten eine Summe eintragen - als Alibi sozusagen«
»Und ich müsste auf mein Werk draufzahlen, mein Herr und Meister?«
»Dann melde diesen Job einfach nicht an«, zuckte der Herr Dichschrecktoth die Schultern, »Du bist doch »Ghostwriter«, du armer Wurm! Ist deine Aufgabe denn nicht, ungesehen zu bleiben? Geist - steckt dir im Namen, verdammt!«
Eine Welle der Ehrfurcht erfasste erneut den bemitleidenswerten Schreiberling. Gefroren sah er ganz hilflos dabei zu, wie die Tinte von der Spitze des Federkiels seine abgetragene Lederhose befleckte.
»Meine Texte - meine Texte kann ich wunderbar tarnen Herr«, meinte er stotternd, »Aber bitte vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen sagen muss, dass ich hierhin vermittelt wurde. Die wissen bei der Zentrale bescheid, mein Meister«
»Vermittelt?«
»Ja, Herr«
»Die haben dich gut vor die Hunde geworfen! Durch den Kakao gezogen wurdest du, du armer Wicht«
Besagter Wicht seufzte tief aus dem Magen, wo jahrzehntealte Sorgen sich fleißig stauten, dass die Kerze drohte auszugehen.
»Das werden Autoren häufiger, als Sie denken - durch den Kakao gezogen, meine ich. Nicht umsonst nennt sich das Schreiben `brotlose Kunst´, mein Herr«
Der mächtige Herr der Dunkelheit zog die Stirn in mächtig tiefe Falten. Sein Umhang flog in die Höhe, wie er sich überrascht direkt seinem Ghostwriter zuwandte.
»Ja, aber wovon lebst du dann, du armer Schlucker?«
»Photosynthese, mein Herr«, erwiderte dieser.
»Sowas gibts?«
»Wie wäre ich sonst noch am Leben?«
Mortiver Dichschrecktoth musste sich erst einmal in seinen Sessel setzen.
»Das ist ja eine Sache!«
»Sie hören sich beeindruckt an, Herr«, kratzte sich der schuppige Wicht mit dem Federkiel hinter dem kleinen, linken Ohr.
»Ich habe noch nie jemanden gesehen, der von der Photosynthese lebt«
»Alles Grünzeug mein Herr, Bäume, Büsche und derart«, klang es ehrfürchtig vom Schreiberling. Der mächtige Meister aller Dunkelheit besah sich aus seinem Sessel aus seinen Diener auf Zeit etwas gründlicher.
»Jetzt wo du es sagst - du bist ja ganz grün, in diesem Licht«
»Es ist der Neid, mein Herr und Meister«, erklärte das Schuppenwesen, »eine Pflanze bin ich nicht«
Dem Herr der Höhle erschien das eine interessante Idee.
»Der Neid?«, fragte er, »Welch innovatives, fremdes Konzept! Was und wen beneidest du denn?«
Der Ghostwriter der Stunde wollte ehrlich sein in diesem Abgrund des Bösen; wie sollte man schon sein Gesicht verlieren, wenn es niemand kannte?
»Ich beneide Leute, die besser schreiben; Leute, die glücklicher sind, mein Herr«
»Das ist gut!«, klatschte der Meister begeistert in die behandschuhten Hände, »Schreib das in meinen diabolischen Monolog!«
»Wie Sie wünschen, mein Meister«, nickte der schuppige Schriftsteller ehrfürchtig, »Was dürfte es noch sein?«
»Ja, das überlege ich doch. Du bist der kreative Part, ich will sehen, was du noch dazu zu sagen hast!«
Es herrschte eine gute Weile leeres Schweigen, in der lediglich das Klatschen einer blinden Fledermaus, gegen einen der zahlreichen Stalaktiten widerhallte.
»Sie könnten das einfache Leben der tapferen Helden beneiden und verhöhnen, die sie bekämpfen versuchen«, ergriff der Autor plötzlich das Wort, »ich könnte hier und dort eine Leerstelle lassen, dass Sie die Namen beliebig einfüllen können«
»Oh, das ist gut! Sehr gut! So machen wir das!«, sprang der Meister und Herr jeglicher dunklen Schatten und Gedanken dieser Welt auf seine zwei hoheitlichen Füße.
»Haben Sie denn ein schweres Leben hier in der Tiefe der Höhle, mein Herr?«,
»Nein, mein Leben ist ziemlich einfach«, erwiderte Dichschrecktoth, ohne zu überlegen.
»Gut, nun«, räusperte sich der Schreiberling, »dann sollten wir schwere Umstände erfinden, mein Meister. Wie wäre es mit der Qual des Dunklen?«
»Ich habe hier Kerzen, die ich zünden kann«, deutete der Herr auf die Kerzenständer, »wann ich will, wenn ich will - was ich aber selten will, ich BIN schließlich die Dunkelheit!«
»Wurden Sie vielleicht verbannt, mein Herr?«, warf der Autor eine neue Idee in die Runde.
»Nein«, schüttelte der Meister langsam den Kopf, »die Menschheit ging mir lediglich auf die Nerven. Hier stört mich kein hirnamputiertes Wesen mit seinen neuen Parolen für Frieden, Freude und jegliche Eierkuchen«
»Sie klingen ganz zufrieden, mein Herr«, nichts womit der Ghostwriter hätte arbeiten können. Dem mächtigen Meister schwoll allerdings nichtsahnend die Brust.
»Ja, das bin ich«
Der Autor wollte verzweifelt seufzen, traute sich jedoch in dieser still dunklen Zweisamkeit mit dem neuen Anwärter der Weltherrschaft keine derartig ehrliche Kundgabe über seinen eigenen Nervenzustand. Daher starrte er das lediglich halbleere Blatt auf seinem kippelnden Schreibpult an und tat beschäftigt, während er sprach.
»Warum dann der noch zu erfindende, aber höchst makabere, diabolische Plan, Herr und Meister?«
»Langeweile, denke ich«, erwiderte der Meister nach kurzem Nachdenken. Der Schreiberling wollte seine Feder fressen.
»Sie sind sich nicht sicher?«
»Ist man sich denn je in irgendetwas sicher, du armer Wicht?«
»Da haben Sie Recht Herr«, gab der Autor auf. Sein Herr und Meister dagegen nickte zufrieden.
»Natürlich habe ich Recht«
»Nun, dann trage ich ein, dass Ihre Aufgaben Sie hier quälen«, mit irgendetwas musste der schuppige Ghostwriter die Seiten ja füllen, »Was machen Sie denn den Tag über?«
»Hauptsächlich stricken«, erwiderte die Dunkelheit in Person ganz ungeniert.
»Stricken Herr?«
»Ich habe weiter hinten in der Höhle einen ganzen Schrank voll guter Wolle. Jedes Jahr bringt mir meine Mutter mehrere Tonnen und ich muss sie verbrauchen, bevor die feuchte Luft sie zerstört«
Der Schreiberling hielt inne. Er wagte nun wieder einen knappen Blick über seine Feder.
»Was stricken Sie denn, wenn ich denn fragen darf?«
»Pullover, Socken, Mützen - einen Teppich hatte ich auch einmal angefertigt«
»Und was machen Sie mit ihren gestrickten Sachen?«
Die Neugier kroch aus einem Punkt im Körper des Autors, der keine Angst zu kennen schien.
»Verbrennen hauptsächlich. Aber die wirklich gelungenen Dinge trage ich dann«, erwiderte der Meister.
»Das ist ehrlich beeindruckend, mein Herr!«
Der Herr winkte ab.
»Nun ja, ich stricke, du betreibst Photosynthese, wir alle haben unsere Talente«
»Gut, dann schreibe ich »mühselige Arbeit mit Schafsprodukten für den privaten Gebrauch« und füge hinzu »deren Großteil aber in Nutzlosigkeit verkommt««
»Stop!«, hielt der Meister in einem Ton den Schreiberling an, dass die immer noch kreisende Fledermaus vor Schreck sich an der Decke festhielt,« das Wort »Nutzlosigkeit« klingt nach furchtbarer Inkompetenz!«
»Aber nein, mein Herr. Das schürt Dramatik und weckt Mitleid«
»Wozu brauche ich bitte denn Mitleid?«
»Damit die Zuhörer sie sympathisch finden, Herr«
Der Meister jeglichen Monsters in der schwärzesten aller schwarzen Nächte hob leicht irritiert eine fein gezupfte Augenbraue.
»Warum sollte ich wollen, dass die Leute, die ich umbringen werde, mich sympathisch finden?«
Das war ein Leichtes für den Schriftsteller. Aufgeregt sein Handwerk dem Herren näher zu bringen, sprach er:
»Ihre Opfer sterben dann mit Verständnis in den Augen!«
Der Meister schüttelte den schmalen Kopf.
»Wieder frage ich dich: Wozu ist das gut?«
Die Knopfaugen des Ghostwriters glitzerten und die Manuskriptseiten zwischen seinen gepanzerten Schuppen tanzten vor aufkommender Freude:
»Das ist poetisch«
Der Herr gab sich schwer unbeeindruckt und zuckte die breiten, spitzen Schultern.
»Ich verstehe dein Autorengebrabbel nicht. Mach, was du für richtig hältst. Dafür bezahle ich dich schließlich«
»Wieder, wenn ich bitte anmerken darf mein Herr«, sprach der Schreiberling mit dünner Stimme, »Sie bezahlen mich nicht«
»Dieses Gespräch dreht sich bald im Kreis, du verdammter Wicht«
»Gestatten Herr, da Sie mich als Wicht bezeichnen: Ich bin ein Gekkolister, mein Herr und Meister - aus der Familie der Schuppentiere, die unter den Felsen am Papierwald leben. Ich bin Autor, der hundertdreißigsten Generation, Herr - «
»Und ich bin nicht daran interessiert«, rümpfte der Herr die Nase. Der Autor zuckte zusammen und nahm sein schweres Los hin, auch in dieser Höhle nicht geschätzt zu werden. Der Herr und Meister von alldem herzlich unbeeindruckt, klatschte in die Hände:
»Nun? Sind wir bald fertig? Ich will mit meinen Plänen bald vorankommen!«
Wieder unterdrückte der Gekkolister, Autor seit dem ersten Atemzug und verzweifelter Arbeitssuchende seit dem zweiten, ein tiefes Seufzen.
»Ihr diabolischer Monolog sieht immer noch etwas mager aus, Herr. Vielleicht sollten wir ihre Vergangenheit einfließen lassen«
Die Augen des Bösen auf zwei Beinen funkelten im sterbenden Kerzenlicht.
»Oh ja, das ist gut. Ich hatte eine wunderbar faszinierende Jugend! Wir könnten meine Jahre in Oxford ansprechen«
»Oxford, Herr? Ich habe nie davon gehört«
Der Autor befürchtete eine Geschichte, die seine bisherige Arbeit komplett auf den Kopf stellen könnte.
»Das ist eine schrecklich renommierte Schule und ich war einer der besten Studenten dort«
»Sie haben studiert Herr?«, fragte der Schriftsteller, überrascht, einen Gleichgesinnten in seinem Meister zu entdecken.
»In einem fernen Land, in einer weit entfernten Zeit«, erwiderte dieser.
»In was haben Sie denn Ihren Abschluss gemacht?«
»Ich bin ohne Diplom gegangen«
»Oh«, sagte der Autor enttäuscht, »Wieso das, wenn ich bitte fragen darf, werter Herr und Meister?«
Der allübergreifende Beinahe-Uniabsolvent kreuzte die dürren Arme vor der Brust.
»Nach langem und gründlichen überlegen musste ich mir eingestehen, dass mir die Schule einfach nichts mehr zu bieten hatte - ich war einfach zu intelligent für die Einrichtung«
Der Ghostwriter witterte neues Potential für die zweite Hälfte des Monologs. Seine Federspitze zitterte und er beugte sich eifrig wieder über das Papier.
»Gerieten Sie daraufhin auf die Straße und entdeckten bald in ihrer neuen Freiheit diese Dunkelheit in Ihrer Seele, Herr?«
»Nein«, erwiderte sein Meister, »ich habe in Aktien investiert und bin daraufhin steinreich geworden. So eine Höhle fällt einem immerhin nicht in den Schoß!«
»Gut«, meinte der Autor, sein Kopf vor Eifer rauchend, »ich schreibe einmal »Fehlentscheidung beim Kauf des neuen Eigenheimes stürzte mich in tiefe Depressionen« - das sollte passen«
»Warum muss ich denn zum Morden depressiv sein?«
»Ja, wie fühlen Sie sich denn sonst, Herr und Meister?«, fragte der Autor, während er die Feder zum Ruhen beiseitelegte.
»Ziemlich zufrieden, muss ich ehrlich sagen«
Die Kerze flackerte ein letztes Mal und gab schlussendlich den Kampf gegen die Macht der schwarzen Farbe auf. Der Schreiberling kratzte sich ratlos am Arm, dass die Schuppen unter seinen Krallen tanzten.
»Wieder, wenn ich bitte eine scheinbar sinnlose Frage stellen darf, warum führen sie dann einen noch zu erfindenden, aber bald ehrlich jeden zerstörenden Plan aus, wenn nicht aus tiefem Schmerz oder Rache?«
»Nun, mir war, wie gesagt, langweilig - und da habe ich ein Buch gelesen«
Der Autor kräuselte die spitzen Lippen. Eine sehr gefährliche Angelegenheit, das Bücherlesen. Der Herr Mortiver Dichschrecktoth verkörperte den lebendigen Beweis - ein Musterprodukt der falschen Rückschlüsse, denn kein Schriftsteller konnte wollen, durch seine Geschichten solch eine spontanböse Macht zu schaffen.
»Und, mein Herr, was stand in diesem Buch denn geschrieben?«, fragte der Schreiberling mit gewisser Vorahnung.
»Hauptsächlich eine menge Blödsinn«, erwiderte sein Herr und Meister in der düsteren Finsternis, »Lauter schwachsinnige Charaktere, kamen da zum Zug! Aber einer stach doch brillant aus der Menge hervor«, die Stimme des Herren knickte ehrfürchtig, als er hauchte: »Der große Meister«
Der Ghostwriter gähnte verstohlen und ganz unbeeindruckt. Diese Entwicklung roch jeder ordentliche Schriftsteller zehn Kilometer gegen den Wind. Sie stand sogar auf einer der zahlreichen Manuskriptseiten, die zwischen seinen gepanzerten Schuppen steckten.
»Gut, und ihm wollen Sie nun nacheifern?«
Der große Herr und Meister der tiefschwarzen Höhle hielt eine Kunstpause, bevor er mit tief dröhnendem Organ deklarierte:
»Ich werde ihn übertrumpfen!«
Die stolzen Worte hallten ohne Dämpfer wider, dass die Ohren des armen Schreiberlings davon rangen. Er wollte nicht fragen, wie der hoch heilige Herr denn diese dolle Tat zu vollbringen bedachte, allerdings provozierte das gespannte Schweigen just genau das. Er hätte sich gerne in den eigenen Schwanz gebissen, als er sich höflich erkundigte:
»Wie werden Sie das denn anstellen?«
»Hervorragende Frage mein guter Wicht!«, rief der Meister erfreut, »Zuerst werde ich den perfekten Monolog verfassen, denn der - so wurde es mir deutlich - ist das Wichtigste am dunklen Meisterdasein«
Dem Autor kam der Augenblick ganz ungünstig vor dem werten Herren und tiefverehrtem Meister mitzuteilen, dass gerade dieser Monolog wohl wahrscheinlich zu seinem Untergang führen würde, hielte er sich nicht kürzer als seine Idole vor ihm. Der Ghostwriter war jedoch, wie seine Vorfahren, ein weiser Gekkolister und folgte dem altbewährten Rezept sich dümmer zu stellen, als man tatsächlich meinte zu sein.
»Und der Rest, mein Herr?«
»Der Rest ergibt sich ganz von selbst«, erwiderte der große Meister. Der Schreiberling versuchte zu retten, was sich denn noch retten ließ:
»Gut, ich schreibe später in den Schluss »vom Strudel des Wahnsinns ergriffen«, das sollte Ihren Zustand doch treffen, meinen Sie nicht?«
Der Autor hörte wie sein Herr und Meister sich mehr als zufrieden aus seinem Sessel erhob.
»Sehr gut! Der Wahnsinn scheint ein gängiges Thema unter Meistern der Dunkelheit. Ich werde jedoch der wahnsinnigste Wahnsinnige unter allen sein«
Daran wollte der Schreiberling keinen Moment zweifeln.
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort«
»So, das scheint auf jeden Fall eine ordentliche Menge an Stoff«, räusperte sich der ahnungslose Herr jener Dunkelheit, die bald jeden in Angst und Schrecken versetzen sollte, und fuhr anschließend fort: »Gebe mir vom Manuskript, was du bis jetzt zusammengeschribbelt hast. Ich treffe mich tiefer in der Höhle mit dem hochverehrten Nachbarn. Der soll das mit dem einen Auge, das er besitzt noch einmal frisch durchgehen«
Dem erschöpften Autor war es ganz und gar zuwider, ein halbes Werk aus der Hand zu geben, damit es ein Laie, von seiner eigenen Kompetenz so hoch überzeugt, unbarmherzig zerpflücken konnte.
»Versteht ihr Nachbar denn etwas von Literatur, mein Meister?«, fragte er vorsichtig in der dichten Dunkelheit.
»Das will ich schwer hoffen«, erwiderte der Meister mit platzender Zufriedenheit in der Stimme, »der gute Herr ist Lektor«
Die eiserne, anderweltliche Kälte, die auf diese Worte hin durch die Höhle fegte, fraß sich bis auf die Knochen des armen Schreiberlings, dass sein heftiges Zittern die Manuskriptseiten aus dem guten Griff seiner Schuppen hinaus schüttelte.
»Ich sehe schon, mein Herr«, hauchte der nun manuskriptlose Autor mit klappernden Zähnen, »Bösewichte unter sich«
Der Herr und Meister seiner Zeit, fuhr sich durch das fein gekämmte Haar, bevor er mit einer fließenden Bewegung seinen Kragen hochstülpte um, in seinem Aussehen zumindest, seinen Ur-Ur-Ur-Großvater, den hochgepriesenen Herrn Grafen von Dracula zu ehren.
»Was willst du mir damit sagen, du armer Schlucker?«, fragte er, mit halbem Stiefel schon aus dem Haus.
Der Autor befand sich in Gedanken bereits auf der Flucht vor dieser Höhle, in deren Tiefen ein Lektor hausen sollte; sah sich vorerst jedoch, seinem Herren und Meister einer Antwort schuldig.
»Ich wollte lediglich zum Ausdruck bringen, dass Sie als der große Meister der unnachgiebigen Zerstörungskraft, der baldige Mörder jeglicher Ritter, ein Vorbild aller mutiger Antihelden, wohl gleich in bester Gesellschaft sein werden. Das ist alles, mein Herr und Meister«
Texte: Brigitta Buzinszki
Bildmaterialien: Verena Maier
Tag der Veröffentlichung: 23.02.2017
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
An Barbara und Ronja