Cover




Prolog: Jeder hat seine Macken, nicht wahr?




~Wisst ihr schon was ihr werden wollt?
Oder seid ihr zufrieden mit dem was ihr seid?
Ich, ich will der Tod werden.
Das ist mein Wunsch, das ist mein Traumberuf

.~

Das war schon immer das, was ich gerne erreichen wollte. Schon als ich im Kindergarten im Stuhlkreis darauf angesprochen wurde, habe ich das Gleiche geantwortet.
„Ich werde mal der Tod.“, und alle haben gelacht, oder mich ängstlich angestarrt.
Die Kindergärtnerin hat mich wegen meiner Wahl an Beruf, bestraft. Ich durfte nicht in den Garten gehen.
Schöner Mist, wenn ihr mich fragt. Da es für ein fünfjähriges Mädchen nichts schlimmeres gibt, als vor dem riesen, großen Fenster zu stehen, und nur zusehen zu dürfen wie die Anderen fröhlich auf der roten Schaukel schwingen.
Trotzdem, wie ich das kühle Glas unter meinen nackten Fingern spürte, fasste ich einen Entschluss.
Wisst ihr, ich gehöre zu den stillen, aber sturen Leuten. Ja, ich bin äußerst dickköpfig.
Ich schwor mir mein Ziel wirklich zu erreichen. Der Tod zu werden.
„Jetzt erst recht!“, dachte ich mir.

Die Frage aller Fragen, auf die ich steht’s die Antwort wusste, lief mir in meinem bisherigen Leben noch zwei Mal über den Weg.
Bei jeder Begegnung, also andere Menschen versus meinen Berufstraum, waren die Reaktionen ziemlich unterschiedlich. Manche rieten mir, mich vom Arzt untersuchen zu lassen, andere riefen gleich den Krankenwagen, oder sahen in mir den rettungslosen Fall einer Gehirnkranken. Recht bunte Meinungen, wenn ihr mich fragt.
So auch drei Jahre nach dem Kindergartenvorfall, in der zweiten Klasse der Grundschule.
„Was wollt ihr später mal werden?“
Ich behauptete konstant das Selbe.
„Ich werde mal der Tod.“
Die Folge ist nicht schwierig zu erraten. Formulieren wir es so:
Ich durfte die erste, mündliche Strafarbeit meines Lebens zusammenfassen, in der ich erklärte warum es unverschämt war mich über ernste Fragen des Lebens lustig zu machen.
Dass meine Absichten völlig ernst waren, schien der Lehrerin entgangen zu sein. Oder sie war einfach nur von Natur aus schon immer eine Sadistin gewesen.
Aber ich kassierte mir unter anderem auch gleich einen seltsamen Spitznamen:
„Toddi“
Dieser begleitete mich die ganze Grundschule über. Aber ich hasste ihn nicht, wie so viele es getan hätten. Ich machte den Namen mir lieber zum Partner, einem Symbol für das, was ich hoffe und repräsentiere. Ein Mädchen, das, egal was kommen mag, zu ihrem Traum steht.
Außerdem ist mein richtiger Name sowieso nicht viel schöner:
Julie December.
Ein schlechtes Wortspiel meiner Eltern? Fanatische Liebe zu Monatsnamen? Ein furchtbarer Scherz? Nein. Einfache kreativitätslosigkeit.
Ich wurde Ende Juli geboren. Somit bekam ich den Namen Julie in den Pass, und damit in mein Leben.
Und was den Nachnamen angeht, dafür kann niemand was. Es ist eben passiert, und jetzt heiß ich so.

Aber wenn ihr meint mein Name sei seltsam, oder mein Berufswunsch wäre kurios, so seht euch lieber meine Familie an.
Meine Mutter ist eine recht gewalttätige aber bildschöne Frau, mit einem enormen Blutdurst.
Und das war nicht metaphorisch gemeint.
Meine Eltern gehören zur einen Abzweigung des ältesten Vampirclan Europas.
Was so viel heißt, dass sie mit den revolutionären, „Neulingen“ nicht besonders gut auskommen. Immer die gleichen Streitgespräche:
„Menschen gibt es reichlich, warum dann Tierblut trinken?“
Manchmal machen mir meine Eltern wirklich Angst, wenn sie so reden. Ich will mir gar nicht vorstellen müssen wie bei ihnen ihr Wöchentliches Festmahl aussieht.
Das einzige, was mich tröstet, ist die Tatsache, dass sie meistens in Leichenhäusern nach ihr Abendessen suchen, mit der Hilfe von Tante Bess.
Eine lange, schlanke Frau, mit Gliedern einer Spinne und einer Brille, so groß wie Teller.
Aber sie ist ganz in Ordnung. Ich besuche sie öfters als es mir vielleicht gut tun würde. Außerdem ist sie neben meiner kleinen Schwester die Einzige aus meiner Familie, die von meinem Berufswunsch weiß.
Denn, so mutig ich auch manchmal seien mag: Der Drache in mir wird zum piepsenden Küken, sobald ich in die goldenen Augen meiner Eltern blicke.
Ausgewachsene Vampire besitzen nämlich einen strahlend, goldenen Blick.

Jetzt haben wir mein Problem im Leben erreicht. Nein, ich spreche nicht von meiner Gabe, mich auf Schritt und Tritt zu blamieren, und auch nicht von den vielen Verletzungen die ich innerhalb von wenigen Sekunden zuziehen kann.
Nein.
Meine Augen sind grau. So grau wie der Himmel an einem trüben Wintertag. So grau wie mein liebster grauer Pulli, oder die Maus unter meinem Bett.
Grau, grau, grau, grau.
Nicht strahlend gelb, vielleicht orange oder sogar rot, wie bei manchen Jungvampiren.
Und golden sind sie erst recht nicht!
Um die Sache auch noch weiter zu steigern:
Ich habe keine Lichtallergie, keine Scheu vor Wasser, und bei fremden Gebäuden muss ich nicht erst hinein gebeten werden. Ich gehe raus und rein, wie es mir passt.

Anmerkung

:
Kreuze haben bei Vampiren keine Wirkung.
Das ist nur eine Legende.

Mit starken Gerüchen, wie zum Beispiel Knoblauch, habe ich auch kein Problem. Mein Geruchsinn ist nicht einmal halb so gut ausgeprägt, wie der eines Vampires.
Alles in allem, bin ich ein Defekt in der Familie.
Um dies zu steigern, schippe ich noch einen Fakt auf die Karre meines Lebens:
Ich habe kein Blutdurst.
Ich weiß nicht so recht, ob ich mich freuen, oder schämen sollte.
Immerhin muss ich nicht einen Menschen aus egoistischen, und Nahrungsbedingten Gründen töten, und diese ekelige, unhygienische Prozedur mit den „Zahn in den Nacken – trinken – begraben“ durchziehen. Es ist garnichtmal so schlecht normal zu sein. Jedoch gibt es da noch meine Familie.
Meine Eltern wagen zu bezweifeln, ob man mich denn überhaupt als Vampir bezeichnen dürfte, und schimpfen sehr oft mit mir. Aber das ist noch Garnichts dagegen was meine restlichen Verwandten machen. Bei jeder Familienversammlung werden mir kalte Blicke zugeworfen, oder ich werde komplett ignoriert. Meinen Großvater darf ich nicht einmal besuchen, da er mich wahrscheinlich gleich in Stücke zerreißen würde. So ein missgeratener Vampirjüngling wäre eine Schande für eine solch alte, geschätzte Familie, hatte er nach meinem 13. Geburtstag behauptet.
Bis dahin hätte ich rein theoretisch mein erstes Mahl verzehren sollen.
Mein Blutdurst ist aber nicht erwacht, und das Mahl fiel aus.

Aber trotz meiner seltsamen Art, und trotz des hohen Drucks der Familie, behandeln mich meine Eltern nicht sehr anders wie meine Schwestern und meinen älteren Bruder.
Na, ja. Wir sehen uns auch nicht besonders oft, was daher kommt, dass sie meist schlafen, wenn ich wach bin, und umgekehrt.

Ich lebe mein Leben nämlich wie eine ganz normale 15 Jährige.
Außer der kleinen Tatsache, dass ich ein falscher Vampir,
und der heranwachsende Tod bin.
Aber jeder hat seine kleinen Macken.
Nicht wahr?



1. Tod macht glücklich; Ironisch, aber wahr!


Es war ein grauer Tag, genau wie dieser, als wir uns getroffen haben. Der Tod und ich.
Die Erinnerung lebt in mir noch immer sehr stark, und statt zu verblassen, um schließlich ganz zu verschwinden, wird das Bild immer klarer.
Meine Freundin Emillie lag damals mit einem gebrochenen Fuß im Krankenhaus. Es war teilweise meine Schuld gewesen. Hätte ich Thomas Bischopp nicht so stark getreten, wäre er bestimmt nicht ausgetickt. Und dann hätte sich Emillie nicht zwischen uns stellen müssen. Aber leider hatte ich nicht so weit gedacht, und der Bischopp hatte sie weggeschubst. Ja, und die Treppe war leider auch noch da. Den Rest könnt ihr euch bestimmt schon denken.
Ich besuchte sie also immer fleißig. Damals waren wir beide knapp fünf jahre.
Es war meine Tante gewesen die sich bereiterklärt hatte mich jeden einzelnen Nachmittag um vier ins Krankenhaus zu fahren. Dafür bin ich ihr bis zum heutigen Tag unendlich dankbar.
Denn sonst hätte ich vielleicht meinen Traumberuf nie gefunden.
Und vielleicht niemals den Tod kennengelernt.
Es ist traurig, dass ich so ein besonderes Erlebnis, zu einem traurigen Ereignis dazu knüpfen muss.
Frau Gärtner war an den Tag gestorben. An diesem grauen Freitagnachmittag.
Ich habe es gesehen. Die sonst so roten, fröhlichen Backen, weiß wie Kreide, und die Augen geschlossen, wie im Schlaf. Dieses friedliche Bild dauerte jedoch nur einen Augenschlag.
Schon wenige Sekunden später kamen Krankenschwestern und zwei Ärzte in das Zimmer hereingestürmt.
Ich wusste, dass sie sich um sonst bemühten. Denn eine Gestalt in Schwarz, hatte schon die alte Frau an der Hand. Und diese lächelte fröhlich, voller Kraft. Plötzlich schien sie viel jünger.
In diesen Augenblicken vergaß ich alles um mich herum.
Ich hörte weder die alarmierenden Töne der Maschinen, noch das Aufladen des Defibliergerätes. Auch schienen die Stimmen der Ärzte fern.
Es gab nur noch uns drei.
Frau Gärtner, die Gestalt in Schwarz und mich.
Es war diese komplette Ruhe und der Frieden aber auch gleichzeitig dieses unbeschreibliche Gefühl. Es war, als hätte dir Jemand auf einmal alle Wünsche erfüllt, und dir würde es an nichts mangeln. Kein Hunger, kein Durst, keine Sehnsucht. Nur diese endlose, wohlige Wärme.
Die Gestalt hob leicht den Kopf an, und nickte noch kurz in meine Richtung, bevor er schließlich die Frau an der Hand lieblich davon führte.

Es roch nach Morgentau



Jemand packte mich an der Schulter, und ich blinzelte nur verdutzt.
„Oh nein! Julie! Was passiert mit Frau Gärtner?!“
Es war Emillie, die inzwischen auf das laute Fiasko aufgewacht war.
Ihre Augen waren weit aufgerissen, vor Entsetzen, und ihr Mund bebte.
Ich wusste, ich sollte ihr was Beruhigendes sagen. Nur was?
„Ich weiß es nicht. Aber es geht ihr gut, Emmi.“
Und ich hatte nicht gelogen.
Denn der Tod hatte sie vorsichtig und liebevoll mit sich genommen, während sie fröhlich gelächelt hatte.

***



„Der Tod ist allgegenwärtig.“, das stand einmal als Überschrift in der Totenanzeige im Salem-Aktuell. Ich hatte nur die Nase gerümpft.
„Das konnte nicht sein.“, immerhin hatte der Tod immer irgendwo und gleichzeitig anderswo was zu tun. Niemand kann sich teilen!
Wenn auf der Welt überall Bomben fallen, wehrend dessen eine Zunamiwelle mehrere Seelen entlädt, und ein Terrorist tausenden Augenpaaren das Leuchten raubt, wie konnte der Tod dann gleichzeitig an allen Orten sein?
Die Frage schien mir aber damals zu schwer, um sie beantworten zu können. Heute weiß ich es besser. Jetzt, wo ich über den Häusern gleiten darf, und in das Leben aller Leute blicken kann.
Der Tod ist nicht Niemand. Er ist Jemand.
Und irgendwann werde ich es auch können.
Hier sein, und doch nicht.
Deine Hand halten, und doch nicht.
Dich auf die Stirn küssen, dich begleiten und doch nicht.
Sehen und doch nicht.
Das sind alles Privilegien des Todes.
Meine Zukunft.
Vorausgesetzt, ich schaffe es.

***



Nach dem Vorfall im Krankenhaus, hatte ich endlich ein Ziel im Leben, und meine Lebensfreude hob sich.
Ein wenig ironisch, wenn ihr mich fragt. Der Tod ist nicht gerade eines der lebendigsten Themen, aber allein schon der Gedanke daran verursachte in mir ein besonderes Kribbeln.
Emillie verstand nur Bahnhof.
Frau Gert war gestorben. Eine endlos nette Frau, mit einem endlosen Lächeln. Und ich grinste. Breit und fröhlich, von einem Ohr zum Anderen.
Aber was Emillie nicht wusste, war das Bild von Frau Gert was ich im Kopf hatte.
Glücklich und befreiht.
Wie konnte ich weinen und traurig sein, wenn diese liebe Frau, ein letztes Geschenk vom Leben erhalten hat, und sich darüber vollen Herzens gefreut hatte?
Ich wollte es auch.
Andere glücklich machen.
An dem Nachmittag hatte ich es entschieden.
Ich werde der Tod.

~Das letzte Geschenk~
Erlösung des Alters,
des Älterwerdens,
der Pflichten, und der Verantwortung.
Der Besuch vom Tod.




2. Darf ich mich vorstellen? Postbote und Maskotchenfan!



Ich mag zwar ein bisschen deprimierend klingen, aber das bin ich überhaupt nicht. Um ehrlich zu sein, bin ich ein äußerst fröhlicher Mensch…ich meine Vampir….oder wie auch immer.
Ich habe mich nur in eine recht düstere Angelegenheit verwickelt. Aber dafür kann ich nichts.
Wie man sagt, die Wege der Zukunft sind unberechenbar.
Ich sehe sie, Menschen ihre letzten Atemzug erhaschen.
Ich vernehme vielleicht noch ein wages Flüstern, ein letztes Wort.
Und danach kommt wieder dieser Duft.
Er ist immer anders.
Am liebsten habe ich den vom Frühling, eine kühle Prise.
Aber manchmal ist er ganz stickig, und erinnert mich an einen tropischen Wald.
Oder an ein brennendes Haus.
Es gab mal einen Fall, kurz nachdem ich Micha kennengelernt hatte.
Da habe ich sogar das schmorrende Holz gerochen.
Wie gesagt:
Ich hätte nie gedacht, dass es soweit kommen wird.

***



Ich wohne in Salem.
Es ist ein kleines Dorf in Süden Deutschlands, im heiligen Baden-Württemberg, am Bodensee.
Nach einer Großstadt wie Bielefeld, war es für mich erst unerträglich, diese riesige Stille um mich zu haben. Aber allmählich gewöhnt man sich ja an alles, so auch an den beißenden Geruch des Düngers von den Feldern, und an die geräuschlosen Sonnabende.
Ich würde für nichts in der Welt von hier wegziehen wollen.
Am liebsten habe ich dieses Gefühl zu Hause zu sein, das mir in der Großstadt gefehlt hatte.
Das lag vielleicht daran, dass dieses Gefühl sich erst im höheren Alter entwickelt. Immerhin war ich erst sieben als wir von der Stadt aus an den Bodensee zogen.
Oder vielleicht ganz einfach an der Tatsache, dass es hier wirklich schöner ist.
Nur Emillie fehlt mir sehr. Sie hat vor einigen Jahren aufgehört zu schreiben. Ich weiß nicht warum. Hoffentlich geht es ihr gut.
Meine Eltern fühlen sich hier ein bisschen eingeengt. Es gilt hier im Ort nämlich, wie in vielen Dörfern und kleineren Gemeinden: Jeder kennt Jeden.
Oder zumindest, fast Jeder, fast Jeden.
Mama und Papa haben aber damit ein kleines Problem:
Sie sind anders.
Und das fällt natürlich sofort auf.
Sie gehen nicht auf Elternabende in meiner Schule, gehen nie zur Arbeit, treten nicht mal vor die Haustür um die Post durchzuchecken.
Garnichts.
Unsere Nachbarn, die Möwers, haben mich am Anfang des Öfteren darauf angesprochen:
„Sind deine Eltern krank?“, hatte Frau Möwer gemeint, und an ihren blonden Locken gezupft. Natürlich wusste sie meine Antwort, ohne dass ich auch nur meinen Mund öffnete.
Nein. Egal was, es war relativ unwahrscheinlich, dass beide Elternpaare, zufällig auf einmal ein halbes Jahr lang krank waren.
„Nein Frau Möwer.“, meinte ich lächelnd. Aber mein Kopf rauchte. Was soll ich ihr bloß sagen?
„Sie arbeiten nur hart.“
Immerhin. Aus todeskranken, Tablettenabhängigen, habe ich in Nullkommanichts aus meinen Eltern zwei Workaholics gemacht.
Ein Vorschritt, immerhin.
Frau Möwer hatte ihre süße Stupsnase gerümpft, und schief gelächelt. Sie konnte es nicht glauben, jedoch hatte sie keine andere Wahl. Wetten sie konnte sich sonst keine logische Erklärung zusammenbasteln? Und das war mein Glück.
Ein weiteres, himmlisches Geschenk war, dass weder die Möwers mit ihren vier Kindern, noch die Engels mit ihren zwei Wachhunden, sich weiter um uns Kümmerten.
Manchmal grüßten wir uns und tauschten ein paar Worte aus, aber sie löcherten mich nicht mit Fragen.
Hand ins Feuer, dass sie hinter meinen Rücken über uns diskutieren!
Aber das ist mir so ziemlich Egal, solange sie mich nicht in die Verzweiflung treiben, mit den vielen schwierigen Fragen, auf die ich erst mal eine Lüge erfinden muss.

Was, oder bessergesagt, wer mir noch riesige Kopfschmerzen bereitet, ist mein älterer Bruder Sebi. Er ist fast achtzehn, stolziert aber am Abend schon mit Frauen über 20 durch die Gegend. Zum Glück nimmt er sie nie mit nach Hause, aber es stört mich trotzdem wenn ich von meinen Mitschülern zurückhören muss, was für ein Weiberheld er doch sei.
(Was er zugegeben, durchaus ist.)
Er ist groß, muskulös und hat einen (angeblich) fesselnden Blick. Wobei ich das persönlich nicht besonders einschätzen kann. Ich betrachte ihn meistens als großen, verwöhnten Angeber.
Früher waren wir zusammen in einer Schule. Damals war ich als der kleine Postbote bekannt, weil ich immer die Liebesbriefe der Mädchen, in diesen rosaroten, glitzer Umschlägen überliefern durfte. Was wenige wussten: Sebi schmiss alle weg.
Er sah sie nicht einmal an.
„Alles Kindergartengören.“, meinte er nur gelangweilt, und schritt aus dem Haus um nach älteren Frauen seine Angel auszurichten.
„Mistkerl.“, konnte ich nur tatenlos murmeln.
Später fischte ich dann aus Mitleid die Briefe aus dem Mülleimer wieder hervor und schrieb an die Meisten eine kurze und knappe Antwort.
Ich musste merken:
Es machte keinen Unterschied.
Ob ich nun antwortete oder nicht, die Mädchen weinten so oder so.

~Wenn eine Antwort kam, dann wegen der Absage. Wenn keine kam, dann wegen der Unsicherheit.~



Langsam verloren die Mädchen die Hoffnung, und sobald Sebi mit sechzehn von der Schule ging, auch das Interesse.
Der Einzige, der Sebi noch besuchen kommt, ist Steve – das Maskottchen.
Eigentlich heißt er Steffan Schimmler. Aber Marelle und ich finden, dass Steve cooler klingt.
Daher hatten wir ihn schon beim ersten Kennenlernen kurzerhand umgetauft.
Marelle ist meine kleinste Schwester. Sie ist zwei Jahre jünger als ich und die Zwillingsschwester von Veronie, die zwei Minuten älter ist als sie.
Beide waren eine Zeit lang in Steve verliebt, weil sie sein Maskottchenkostüm (ein Zebra) total lustig fanden.
Je älter sie aber wurden, desto klarer schien es ihnen, wie uncool es galt Maskottchen zu sein.
Schade eigentlich.
Manchmal denke ich, dass einfach alle so denken sollten wie kleine Kinder, die den Wert eines Menschen deutlicher erkennen, als es ein Erwachsener es je tun wird.

Bemerkung:


Tiere und Kinder blicken hinter die Facade des Menschen.

Aber eigentlich wollte ich gar nicht so genau auf mein Familienleben eingehen.
Das, was wichtig ist, ist mein Traumberuf.
Und irgendwie hatte das Schicksal es gut mit mir gemeint, und mich mit Michael Mordan bekannt gemacht.


3. Leichenkreiser haben auch ihre schlechten Tage


.Es war ein verregneter Morgen. Die grauen Wolken bildeten eine einzige Decke am Himmel, und ließen die Sonne nur schwach die Straße erhellen. Und genau deswegen bin ich mit meiner Kamera losgezogen. Schöne Bilder bei Sonnenschein, das war keine Herausforderung.
Aber schöne Bilder bei Regenwetter, war eine Anerkennung.
Meine ganze Familie schlief noch, als ich an dem Samstag in die Küche schlich und mir ein Brot mit Erdbeermarmerlade schmierte. Dann kippte ich noch schnell meinen kaltgewordenen Tee hinunter, und warf einen Blick in die Zeitung.
Ich ging zuerst die Todesanzeige durch
Ich weiß nicht wie es dazu kam, aber es erwies sich als meine Aufgabe besonders vielversprechende Tote herauszusuchen, dessen Blut noch gutschmecken könnte.

Ich muss jedes Mal würgen, wenn ich mir die Leichen zu den Namen vorstelle,
und diese Anzeigen dann mit einem roten Stift umkreise.

Da es ein dunkler Morgen war, musste ich darauf achten, dass ich auch ja überall die Lichter ausmachte, bevor ich aus dem riesigen Haus trat.
Meine Eltern könnten sonst erlblinden, wenn sie plötzlich in das Licht einer herumstehenden Wohnzimmerlampe blickten. Und das wollte ich nicht. Ich mochte sie wirklich sehr.
Noch ein letzter Blick in den Esssaal. Gut. Ich hatte meinen Geschwistern das Frühstück hergerichtet. Nichts fehlte. Perfekt.
Also, konnte ich gehen.
Wie ich so den ellenlangen Flur entlang trottete, überlegte ich, warum wir eigentlich so ein riesiges Haus gekauft hatten.
Ich meine, ich war so gut wie die Einzige, die wirklich jeden Raum nutzte.
Ein Regenschirm, meine Regenjacke, die Busfahrkarte und meine Kamera.
Alles dabei, überlegte ich und schritt aus dem Haus.
Sorgfältig schloss ich hinter mir die Tür.
Die kühle Frühlingsluft umstrich sofort mein Gesicht, und als ich mich vom Haus wegdrehte, erblickte ich ganz Neufrach. Von hier Oben, sah man wirklich jeden Winkel.
Die Apfelplantagen, dazwischen den schmalen Weg ins Dorf.
Die Grundschule, und mitten im Gewimmel von verschiedenen Dächern die dreieckige Spitze der Evangelischen Kirche.
Ein Fahrradfahrer fuhr gemächlich Bergab, und ein älteres Ehepaar, genoss an der Seite der Plantage die Aussicht.
Ich atmete tief ein und aus. Ja, so lässt´s sich leben, war mein erster Gedanke. Der zweite war wie folgt,
Wo ist mein Fahrrad?
Ich fand ihn in einem nahen Gebüsch. Wahrscheinlich vom starken Wind gestern Abend davongetragen.
Mit viel Mühe und Not schaffte ich es endlich das alte Ding von den vielen Ästen zu befreien.
Es wird wohl kein leichter Tag werden, überlegte ich laut.
Und wie Recht ich auch gehabt hatte.

~ Ein anstrengender Tag zeichnet sich dadurch aus,
dass er schwierig beginnt

~



Voller Zuversicht raste ich den kleinen Berg abwärts, an den Plantagen vorbei, direkt in das Dorf hinein.
Ich hatte vor den Zug um 10 Uhr zu kriegen, und dann nach Überlingen zu fahren. An der Promenade konnte man die Besten Schnappschüsse erhaschen, wenn man nur genau aufpasste.
Wie der Nebel an solchen Tagen die Straßenlaternen umspielte, oder wie die Möwen als weiße Flecken umherflogen.
Wanda und ich haben vor ungefähr zwei Jahren mit dem Hobby angefangen. Sie hat nach einem halben Jahr aufgehört, um sich ganz der Rhythmischen Sportgymnastik zu widmen. Aber wie gesagt. Ich bin persistent, wenn es um Sachen geht, die mir Spaß machen.
Außerdem hat Florian bei einer Ausstellung in der Schule eins meiner Bilder gelobt.
Ich spürte, wie ich schon bei dem Gedanken Rot wurde.
Ehm, Ja. Das mit Florian ist so eine Geschichte bei mir.
Ich habe ihn kennengelernt, als ich hier neu war. Wir waren beide im Kinderchor in der Musikschule in Uhldingen-Mühlhofen, die Nachbarsgemeinde. Eigentlich hatten wir uns gar nicht kennengelernt. Es ist eher, dass ich ihn hinterher spioniert bin. Also nicht dass ich ein Stalker wäre!
Ihr kennt das bestimmt auch, wenn euch Jemand interessiert, dann hört ihr bei jedem Gespräch hin, bei dem sein oder ihr Name erwähnt wird. Auch ungewollt.
So sah es auch bei mir aus. Das Problem bei der ganzen Angelegenheit ist, dass ich mein Mund in seiner Gegenwart nicht aufkriege. Bitte nicht lachen, das ist wirklich ernst! Ich weiß nicht, ob das eine Krankheit ist, oder ich Genetisch darauf programmiert bin, bei Menschen abzublocken.
Um eine lange Geschichte kurz zu fassen: Ich kenne ihn jetzt schon seit knapp acht Jahren, und ich konnte ihm noch immer nicht sagen, dass ich mich in ihn verliebt habe.
Behaltet eure Kommentare bitte.
In der Zwischenzeit sind wir beide im Orchester, in der gleichen Musikschule. Der Chor hat sich aufgelöst.
Und ich bin gerade drauf und dran, auch aus dem Orchester auszusteigen.
Na, ja. Das ist leichter gesagt, als getan. Immerhin hieße das: Ich würde Flo so gut wie nie mehr sehen.
Wir sind an verschiedenen Schulen, er und ich haben einen unterschiedlichen Freundeskreis. Außerdem ist er zwei Jahre und zehn Tage älter als ich.
Aber gut. Ich sollte darüber nicht so viel nachdenken.
Daher konzentrierte ich mich lieber auf die blühenden Maiglöckchen am Wegrand, und genieße den frischen Fahrtwind.
Ich biege nach links ab, und fahre dann noch eine Weile gerade aus, an verschiedenen Läden und Häusern vorbei. Fast alle ausschließlich alte Bauten, mit krummen Dächern und aus altem Holz. Endlich komme ich an der Hauptstraße an. Zwar heißt sie Hauptstraße, aber heute fährt nur manchmal ein Auto an mir vorbei. Die Tankstelle hat auch noch nicht offen, als ich an ihr vorbeisause.
Ich lächelte.
Ja, hier war die Ruhe der Wochenenden heilig. Und das gefiel mir irgendwie.
Der Kreisverkehr kam immer näher. Ich verließ das kleine Dorf Neufrach und bog beim Kreisverkehr links ab.
Ich hob meinen Blick von der Straße und betrachtete den Himmel. Endlich hatte es die Sonne geschafft einen kleinen, wolkenfreihen Fleck zu finden. Wie ich die Strahlen verfolgte, fielen diese direkt auf einen kleinen Jungen vor mir.
Einen Momentmal!
Ich bremste mit vollem Körpereinsatz.
Der Junge sah mich nur ausdruckslos an. Er war nicht einmal einen Meter von mir entfernt.
-Bist du eigentlich noch ganz bei Trost!?, schimpfte ich laut.
-Ich hätte dich überfahren können! Geht´s dir gut?
Er sagte nichts. Was machte er eigentlich hier am Straßenrand?
- Sag mal, ich stieg vom Fahrrad, was meinst du wozu es ein Bordstein gibt?
Der Schreck wollte sich nicht so schnell legen.
Der kleine Junge schien um die zehn Jahre. Er hatte pechschwarzes Haar, und feine Gesichtszüge. Was mir aber besonders auffiel, waren seine grünen Augen, mit denen er mich musterte.
Dann ließ er von mir ab, und drehte sich in die andere Richtung der Straße. Somit blickten wir beide einem kommenden, braunen Volvo entgegen.
- Geh´ bitte auf den Bordstein, meinte der Junge.
Er war ganz ernst, und ich hatte dieses Gefühl, dass ich nicht viel fragen sollte.
Deshalb tat ich wie befohlen.
Gleichzeitig hörte ich, wie von der anderen Seite ebenfalls ein Auto kam.
Es war ein feuerroter Sportwagen.
Ihr könnt mir glauben, es ist eigentlich ganz normal, dass zwei Autos sich entgegenkommen.
Ich war bis zu diesem Zeitpunkt bestimmt schon tausend Mal an der besagten Hauptstraße nach dem Kreisverkehr entlanggefahren. Mir gegenüber stand die Obstfabrik, der über den ganzen Bodenseebereich Äpfel und derartiges auslieferte.
Genau an diesem Fleck hatte ich schon hundert Mal gestanden.
Alles war wie gewohnt, und trotzdem wallte in mir Unbehagen auf.
Es ist, als würdest du ein bestimmtes Stück immer und immer wieder üben. Und eigentlich dürfte am Tag der Vorstellung nichts mehr falsch laufen, weil du jede Note auswendig kannst. Alles Routine, denkst du dir. Aber dann hast die dieses Ziehen im Magen, und die schlechte Vorahnung, dass jetzt, genau zu diesem wichtigen Zeitpunkt, trotzdem was falsch läuft.
Und genau so fühlte ich mich.
Als hätte ich es vorrausahnen können.
Dieser Junge stand da, am Wegrand, und als sich die Autos sich schon gegenseitig sehen mussten, lief er dazwischen.
Mein Herz rutschte mir in die Hosentasche.
Ich starrte ungläubig auf die Straße.
-Was…?, war alles was ich an Äußerung zustande brachte.
Vielleicht hätte ich noch mehr gesagt, wäre nicht auf einmal dieses hässliche Geräusch eines bremsenden Autos gewesen. Der Braune Volvo hatte reagiert, der rote Sportwagen aber nicht.
Was mir erst später auffiel: Beide Autos fuhren auf der Selben Fahrbahn.
Die Bremsgeräusche wurden von einem schlimmeren Ton gefolgt.
Vom Ton der letzten Atemzüge.

Es entstand ein Wirrwarr von brauner und roter Farbe.
Kurze Zeit später entfachten Flammen, und ich war wie gelähmt.
Ich wusste, ich sollte irgendwas machen, aber ich hatte vergessen was die richtige Handlung wäre.
- Junge?, flüsterte ich ängstlich.
Kleine Lackteilchen der Autos sprangen von der Wärme umher, als wären sie Teile eines Feuerwerks, und erschrockene Autofahrer hielten mitten auf der Straße an.
So auch eine Kleinfamilie die wahrscheinlich mitten auf den Weg einer ausgelassenen Fahrradtour gewesen war. Die zwei kleinen Mädchen weinten vor dem überraschenden Anblick. Die ältere Tochter reagierte sofort und zückte ihr Handy.
Ich sah sie aus dem Augenwinkel. Sie war ebenfalls unter Schock. Kreide bleich und mit geweiteten Augen starrte sie auf das Feuer und den zwei brenneden, zerknirschten Autos.
So musste ich wohl auch ausgesehen haben.
Die Sonne war wieder verschwunden. Ich weiß, recht absurd auf so etwas in der Zeit zu achten, aber irgendwie doch gut dass ich es mir angewöhnt hatte. Manchmal kennt der Himmel unseren Schicksahl nämlich besser, als wir träumen würden.
Endlich konnte ich dieses lähmende Gefühl von mir rütteln.
Ich würde nicht tatenlos zusehen!
Da waren zwei Menschen die bald dem Tod entgegenstehen würden. Und ein kleiner Junge der mit hoher Wahrscheinlichkeit ihnen helfen wollte.

~ Sich zu irren ist ein menschlicher Fehler und jedem gegönnt

.~
Meine Randnotiz:

Man sollte es bloß nicht zu offt tuen.



Wer hat gesagt, dass Regen kühl ist? Der Regen war heiß, und brannte mir überall an der Haut, durch mein Sweatshirt, durch mein T-Shirt und sogar durch meine Jeans.
Erst, als ich meinen schützenden Arm etwas vom meinem Gesicht wagte zu senken, merkte ich, dass der Regen aus Metall bestand.
Die Hitze sprengte kleinere Teile von den Metallgestellen weg, denn Autos konnte man diese nicht mehr nennen.
Ob ich Angst hatte? Und ob! Ich meine: Wage sich Jemand zwischen zwei brennenden Autos, und sage mir dann, dass es das wohlste Gefühl der Welt sei. Ist es nämlich nicht!
Aber ich wusste, dass ich irgendwie helfen musste.
Ich drehte mich zu meiner Rechten, wünschte doch gleich, ich hätte es nicht getan.
Eine junge Frau, oder zumindest erahnte ich in der Person eine Frau, lag in Blut gebadet auf den Überresten der Motorhaube.
Ich wich einige Schritte erschrocken zurück, konnte meinen Blick aber nicht von ihr abwenden. Ihr einst blondes Haar, schien jetzt bordeaux, und wenn das verlorene Blut eines Menschen ausreichte, um ihre ganze, Tailenlage Haarpracht zu färben, so sollte der Tod auch nicht weit sein.
Ich hob meinen Blick, und versuchte durch die dichte Luft was zu erkennen.
Die Flammen tänzelten im Weg, und ich sah ihn trotzdem.
Alles um mich schwand. Die besorgten Rufe der herumstehenden Menschen, die beinahe unerträgliche Hitze, und auch vergaß ich, was ich eigentlich machen wollte.

~Und doch, war es diesmal anders.~


Überrascht weiteten sich meine Augen.
Er hielt sie an der Hand, und sie lächelte ihn an.
- Du, bist nicht der Tod, konnte ich nur verblüfft flüstern.
Es war ein junger Mann mit silbernen Haar und himmelblauen Augen. Er trug auch nicht ein schwarzes Gewandt, wie ich es von Früher in Erinnerung hatte, sondern ein weißes.
Der Junge hatte mich anscheinend nicht bemerkt, und begleitete die junge, bildhübsche Frau noch zum anderen Auto, zum ehemaligen Volvo, wo sie beide mit einem Lächeln einem Mann mittleren Alters hinaus halfen, der ein kleines Mädchen auf den Arm trug.
Dann gingen sie alle davon. Wohin? Das blieb an dem Tag ein Geheimnis.
Ich war auch nicht ganz sicher, ob ich es wissen wollte.
Ich meine: Habt ihr schonmal vom Fegefeuer gehört? Nicht dass ich solchen Kirchengeschichten groß Glauben schenke…aber würde sich herausstellen, dass es nach diesem Leben ein Fegefeuer gibt, so würde ich meine restliche Zeit als lebendiger Mensch mit Angst und Schrecken verbringen.
Denn ich hatte so auch meine Leichen im Keller.
Zum Beispiel habe ich des Öfteren vom Nachtisch meiner Schwerstern stibitzt, oder meinem Bruder Knochblauchwurst ins Pausenbrot getan. Ich will gar nicht an die Zeiten denken, in denen ich Veronie absichtlich Schauergeschichten erzählt habe, nur um sie zu ärgern.
Die arme Marelle, die die mutigere von den beiden war, hatte es dann ausbaden müssen.
Als kleine Randnotiz: Sie durfte sie jedes Mal zum Klo begleiten.
Also stand ich da, verwunder zwischen zwei brennenden Autos.
Und sobald der falsche Tod, mit den drei Seelen verschwunden war, merkte ich, dass es langsam unangenehm heiß um mich herum wurde.
- So müssen sich wohl die Fischstäbchen im Ofen fühlen, kam mir der Gedanke, und ich verspürte kurzes Mitleid, was aber nach kurzer Zeit von Panik überwältigt wurde.
Die Zeit drängte, die Autos brannten, und ich hatte den Jungen noch immer nicht gefunden.
Ich entschloss auf die Knie zu gehen, um mich nicht weiterhin den fliegenden Metallteilchen auszusetzten.
Somit kroch ich auf den heißen Asphalt voran, und kam mir wirklich blöd vor, wie ich die ganze Zeit nach dem Jungen rief.
Er war nirgendwo zu finden, obwohl ich in der Zwischenzeit schon jeweils um beide Autos eine Runde gedreht hatte.
Oder vielleicht lag es auch nur daran, dass ich durch die Hitzewellen und dem Feuer nichts sehen konnte.
Ich spürte wie meine Hände langsam unerträglich schmerzten.
Plötzlich hörte ich gefährliche, knackende Geräusche, und ich konnte davon ausgehen, dass das Schlimmste noch bevorstand.
- Oh nein, konnte ich noch flüstern, und kurz danach vernahm ich ein gewaltiges Drücken gegen mein Rücken.
Danach wurde alles schwarz.

Noch ein kurzer Gedanke:
~ Kann der Tod eigentlich sterben? ~



Betty hatte also nicht gescherzt, als sie mir mal gesagt hatte, das Leben stecke voller Ironie.
Ich musste es einsehen.
Und gerade vorhin hatte ich gedacht, ich wollte nicht wissen wohin die Toten wandern.
Aber da das Schicksal bekanntlich gerne Streiche spielte, sah es so aus, es bliebe mir nichts anderes übrig.
„Wenn dein Schicksal deinen Hintern versohlt, nimm es einfach mit Gelassenheit und lächel dabei.“
Ich glaubte manchmal, Betty wisse besser über das Leben bescheid, als man es ihrer kleinen Gestalt zutrauen würde.
Sie war gerade mal eins fünfzig groß und war die Ironie in Person, das hatte ich nach unserem ersten Zusammentreffen entschieden, denn:
1. Sie hatte auf alles Mögliche eine Allergie. Schon allein vor die Haustür zu gehen bedeutete ihr schwerste Atemnot. Und dennoch war Frühling ihre liebste Jahreszeit, (Hochsaison der Pollen, die ihr die Tage besonders schwer zu schaffen machten), und sie wünschte sich immer Blumen zu ihrem Geburtstag in Juni.
Und genau an diesem besonderen Juni tag, hatte sie vor einem Jahr ihre Künstliche Ader entdeckt, die sich aber die falsche Weise zum Ausdruck ausgesucht hatte.
2. Betty beherrschte nämlich die Deutsche Grammatik so gut wie gar nicht, und in ihren Texten lasen sich Fehler, so viele wie Kaugummis unter meiner Schulbank klebten.
Und glaubt mir, davon gab es reichlich.
Sie wollte dennoch Autorin werden.
Na, ja. Eigentlich hatte sie erst Journalistin werden wollen. Aber nachdem wir in Deutsch unsere ersten, echten Erörterungen zurückbekamen, verkündete sie, dass dieser Beruf wirklich eine Einschränkung aller jugendlicher Kreativität sei, und sie lieber auf freizügige Literatur umstieg.
Seit dem verschlang sie ein Buch nach dem Anderem, um ihr Vokabular zu erweitern, und ihre Sprache aufzubessern. Der Witz bei der ganzen Sache: Es half kaum was.
Jetzt bin ich wirklich ehrlich: Sie hatte innerhalb dieses vollen Jahres kaum Fortschritte gemacht, und war noch immer so schlecht wie zuvor. Natürlich traute ich mir nicht es ihr zu gestehen, wenn sie ganz stolz mit ihrer zichtausendsten Kurzgeschichte auf mich zugerannt kam, und ihre Augen so gierig funkelten. Gierig nach meiner Meinung, an der sie sich aber ganz leicht die Fingerverbrennen könnte.
Aber manchmal tut die Wahrheit weh, und ich schlucke die herauf quellenden Wörter wieder runter, und sperre meine Ehrlichkeit in irgendeine hinterste Schublade in meinem Kopf.
-Gut, lächele ich immer wieder begeistert, Sehr gut!

Warum ich so etwas lüge, war mir erst nicht bewusst. Es wissen bestimmt viele nicht, warum sie einen guten Freund nicht die Wahrheit beichten können, und einfach sagen:
-Schrecklich! Du hast dich kein bisschen verbessert im Vergleich zur letzten Geschichte!
Aber ich glaube ich weiß es irgendwo.
Jetzt, wo ich nur noch die Dunkelheit um mich herum sehe, und Garnichts mehr spürte.
Bin ich tot? Ich weiß es nicht. Immerhin kann ich noch denken.
Ich habe sogar herausgefunden, warum ich Betty ihren Traum nicht rauben will.
Weil sie genauso ist wie ich.
Ich möchte der Tod werden, und wäre ich jetzt vielleicht ihm nicht so nahe, hätte ich diese deprimierende Erkenntnis gar nicht erlangt.
Was, wenn ich es nicht erreichen kann?
Ich bin genauso wie Betty, während ich einem Traum hinterher eifere, der mir vielleicht gar nicht gegönnt ist.
Wenn ich nicht sterbe, muss ich ihr die Wahrheit sagen, und sie fragen warum.
Warum sie noch immer ihrem Traum hinterherjagt, während ihr dämmern könnte, dass sie gar nicht ihr Ziel erreichen kann.

Ich werde aus der ruhigen Schwärze plötzlich herausgerissen, und ich habe das Gefühl in einen kalten See zu fallen. Erst zucke ich nur zusammen, weil es mir so kalt ist. Danach sinke ich einfach zu Grund. Schwebe dahin und höre nichts mehr.
Dann greift Jemand nach mir, und packt mich an meiner Schulter…

Ich japste nach Luft. Hier im Wasser konnte ich nicht atmen, und ich versuchte so gut wie möglich dem Ziehen nachzugeben und mit an die Oberfläche zu schwimmen.
Es wurde heiß um mich herum, und ich hörte eine wage Stimme aus der Ferne.
Nein, es waren doch mehrere, Ich konnte aber nicht hören was sie sagten, als hätte man die Metall-Musik auf dem Radio plötzlich leise gedreht.
Ich hatte das Gefühl verrückt zu werden, und als sich dann eine kühle, beruhigende Hand auf meine Stirn legte, entschied ich wieder in die Stille zurückzufallen.

Hattet ihr schonmal das Gefühl, dass euch euer Kopf gleich den Nacken runterspringen könnte, und davonliefe? Ich schon, und ich kann euch sagen: Es ist unangenehm.
In der endlosen Dunkelheit stellte ich mir vor, wie ich mit einem Fischernetze meinem Kopf hinterherjagte, der aber rebbelierend immer aufs neue ein Zahn zulegte. Als er vom Bordsteinsprang, und sich auf die Straße stellte, starrten mich meine eigenen zwei Augen an. Plötzlich aber sah ich nicht in den gewohnten, grauen Blick, sondern erkannte zwei smaragdrüne, funkelnde Steine. Erschrocken wich ich zurück, und im nächsten Augenblick rasten zwei Autos aufeinander zu. Ich wollte mich dazwischen werfen, Jemand aber hielt mich zurück.
Dann wachte ich auf.
Im Dämmerlicht erkannte ich eine weiße Wand über mir, und eine Infusionsflasche, die zu meiner linken Hand führte. Außerdem roch es stark nach Desinfektionsmittel, und Lavendell. Unverkennbar. Ich lag in einem Zimmer im Krankenhaus. Mein Magen krampfte sich.
Ich hasse Krankenhäuser. So seltsam es auch klingen mag, aber nach dem Altersheim, war es für mich einer der unerträglichsten Orte.
Ein leises Niesen unterbrach meine Gedanken, und als ich mich nach Rechst drehte, erblickte ich zwei kleine Gestallten, die zu zweit auf einem Stuhl kauerten. Die eine hatte ein Buch offen auf den Knien liegen, und war darin versunken. Die Andere tippte wie wild auf ihrem hochmodernen Handy rum.
„Was ist passiert?“, krächzte ich mit einer kraftlosen Stimme.
Erschrocken und überrascht schnellten, die fast identischen Köpfe meiner Zwillingsschwestern in die höhe. Ihre Blicke forschten mein Gesicht fragend, als wollten sie feststellen ob sie träumten, oder ob ich wirklich redete. Wehrend dessen schimmerten ihre bleichen Gesichter im leichten Sonnenlicht, das sich mühselig einen Weg durch die zugezogenen Gardienen bahnen konnte.
Marelle, meine jüngere Schwester reagierte als erste. Sie klappte prommt das Buch zu und setzte sich zu mir aufs Bett.
Sofort umschlang sie mein Hals und und ihr weiches Gesicht schmiegte sich an meins.
„Du hast mir auch gefehlt.“, meinte ich lächelnd, und drückte sie fest an mich.
Plötzlich fühlte ich wie mir Jemand eine Kopfnuss verpasste.
„Du Idiot! Wir dachten du wärst tot, und dann wachst du auf!“
Veronies rote Augen blitzten mir aus ihrem finsteren Gesicht entgegen.
Ihr kurzes, welliges, pechschwarzes Haar war verwuschelt, und dadurch wirkte sie wie ein wildgewordener Löwe.
„T-tot?“, fragte ich verblüfft zurück.
„Du wurdest von einem explodierenden Auto mitgerissen. Da ist es doch eindeutig, dass wir dachten du wärst abgegkrazt.“, erwiederte sie gleichgültig, und fing an im Zimmer auf und ab zu laufen.
„Marelle hat es von Veronika gehört, die gestern Morgen mit ihren Eltern vorbeigefahren ist. Darauf sind wir gleich hierher gekommen, wo sie uns sagten, dass du nur leichte Brüche erlitten hättest.“, damit deutete Veronie auf mein linkes Handgelenk.
„Das war etwas ernster. Aber Dr. Werlcher sagt, dass es innerhalb von wenigen Wochen verheilt ist.“
Ich schaute mir den Verband an, der von einer blauen Halterung überzogen war.
„Wann darf ich wieder gehen?“, fragte ich neugierig.
„Der Dr. hat gemeint, sobald du wach bist, und er dich noch einmal untersucht hat.“
Damit ging Veronie zum Stuhl rüber, auf dem sie zusammen mit Lele gesessen sind, und legte sich ihre Seitentasche rum.
„Marelle, es wird Zeit, dass wir gehen.“
Sofort schaute ich zum kleinen Fenster, mit den weißen Gardienen davor.
Die Sonne stand wahrscheinlich schon sehr tief, aus den letzten roten und orangenen Strahlen zu urteilen, die versuchten die Fensterbank zu berühren. Sonst hatte sich die kommende Dunkelheit schon fast das ganze Zimmer geschnappt.
Somit küsste ich meine kleine Schwester noch einmal auf den Kopf, und schob sie anschließend vorsichtig von mir:
„Es wird wirklich Zeit.“
„Also, bis später. Leide noch ein bischen.“, meinte Veronie, mit ihrer gewöhnlichen, ausdruckslosen Miene.
Ich zwang mir ein Grinsen auf.
„Aber sicher doch.“
Lele winkte mir zu und deutete auf ein dickes Buch, das sie auf mein kleines, weißes Nachttisch gelegt hatte.
„Falls dir langweilig wird, wehrend du leidest.“, sagten ihre Augen.
„Passt auf euch auf!“, winkte ich noch. Dann waren sie auch schon drausen auf den Gang verschwunden.

~ Lehre : Vampire müssen sich nicht nur vor natürlichen Gefahren fürchten, sondern auch vor ihren Instinkten und ihren Jägern. Wenn es dunkel wird ist manchmal der Wunsch nach Blut so groß, dass ein Vampir zubeißt ohne auf seine Umgebung zu achten. Das passiert besonders bei Jugendlichen.~

Kurze Zeit später kam noch eine Schwester zu mir ins Zimmer, um mich von der Infusion zu befreihen. Danach besuchte mich niemand mehr. Zumindest nicht bis spät in die Nacht.


4. Der Geist und Apfelsaft



Ich weiß nicht was mich weckte, denn eigentlich hatte ich kein Geräusch gehört. Als ich mich aufsetzte blinzelte ich in völlige Dunkelheit hinein. Die zugezogenen Gardienen waren noch immer so, dass nichtmal der Mond ins Zimmer scheinen konnte. Das sonst silbrige licht wurde gedämpft, und somit streckten sich die Schatten aus den Ecken, bis hinüber zu meinem Bett. Jedoch bewegte sich nichts. Alles war still, und doch fragte ich in diese Leere hinein:
„Ist da Jemand?“
Es kam keine Antwort. Aber das Gefühl, dass Jemand um mich herumschlich wurde stärker.
„Sie-sie machen mir Angst.“, flüsterte ich nervös, und zog meine Decke bis ans Kin.
Längere Zeit wartete ich gespannt auf eine Antwort. Niemand reagierte. Schließlich drehte ich mich auf die Seite, und starrte auf die Tür.
„Vielleicht leide ich auch nur einfach an Verfolgungswahn…“, versuchte ich die Sache zu beschwichtigen.
„Oder es ist noch immer der Schock vom Unfall, oder die Kopfschmerzen…“
Plötzlich beschlich mich ein Geruch von frischen Äpfeln. So intensiv, als würde ich auf einer Plantage stehen, oder als würde ich gerade einen Apfelsaft trinken. Prompt schnellte ich hoch, und ich wusste endlich was mich geweckt hatte. Es war der selbe, starke Duft gewesen, der mich aus meinen Träumen gerissen haben musste.
Als ich meinen Blick im Zimmer herumriss, erstarrte ich sofort.
Dort, mitten im Raum, ging eine Frau auf und ab. Sie hatte eine seltsame Ausstrahlung, die ich beim besten Willen nicht beschreiben könnte, und ich hatte das Gefühl, dass ich diese Ausstrahlung kannte.
Im ersten Augenblick überlegte ich auf den roten Hilfeknopf zu drücken, durch den eine Krankenschwester gekommen wäre. Danach entschied ich mich aber, dass ich lieber noch beobachtete.
Selbst im Dunklen erkannte ich an der Haltung und an den langsamen, zweifelnden Bewegungen der Frau, dass sie trostlos traurig war. Ihr Kummer war so tief, dass sie im ganzen Raum umging, und eine eisige Kälte verteilte. Mir wurde richtig zum Frösteln zu Mute, und die ganze Angelegenheit gab mir den Anschein zu Träumen.
Und wenn es nur ein Traum war, dann konnte man ja ein bisschen mutiger an die Sache rangehen:
„Brauchen sie Hilfe?“, startete ich meinen ersten Versuch, von einem sicheren Abstand aus. Man konnte ja nie wissen.
Die Frau jedoch reagierte nicht.
„Suchen sie etwas? Wenn sie etwas verloren haben, kann ich ihnen gerne helfen…“
Mein Angebot perlte von ihr ab, wie vom Regenmantel der Regen.
Daher stand ich auf, und ging behutsam auf sie zu.
„Ehm… ich heiße Julie, und wer sind sie?“
Darauf hielt die Frau kurz vor der Tür inne, drehte sich um, und schaute mich mit einem betroffenen Gesichtsausdruck an.
Als ich schon dachte, dass sie gar nicht antworten würde, sagte sie immerhin einen Namen:
„Anya.“
Kurz danach war sie verschwunden. Um genau zu sein, ist sie durch die Tür gegangen. Und ich meine Wort wörtlich, ohne sie zu öffnen.
Einen Sekunden stand ich wie versteinert vor Überraschung, danach riss ich die Tür auf, und eilte voller Aufregung auf Zehenspitzen der Frau hinterher.
„Ein Geist.“, rief ich mir immer wieder die Erkenntnis ins Gedächtnis, und jedesmal hatte dieses Wort einen anderen Nachgeschmack.
Ich war erschrocken, weil ich Geistern noch nie alleine begegnet bin. Immer war noch Jemand dabei. Andererseits wallte in mir diese überschüttende Hoffnung auf, den Tod wieder zu sehen.
Als ich am Ende des Ganges angekommen war, dachte ich, ich hätte den Geist verloren. Danach sah ich aber, dass die Frau sich neben einem kleinen zusammen gekrümmten Häufchen auf einem der Wartestühle gestellt hatte. Durch das Licht des Saftautomaten, erkannte ich ein kleines Kind.
„Hallo.“, grüßte ich mit einem Lächeln.
Als das Häufchen sein Blick auf mich richtete, fielen mir zuerst die wunderschönen, großen, blauen Augen auf.
Sie stachen selbst in dieser schwachen Beleuchtung wie zwei Neonteller hervor.
Das zarte, traurige Gesicht war mit goldenen Locken umrandet, die ihr bis zu den Schultern gingen. Es trug ein rosanes Strickjäckchen, und einen sehr stark mitgenommenen, und zerknitterten Kordrock. Sie beachtete meinen Gruß nicht, sondern hob nur ansatzweise den Kopf, um mich unter ihrem Pony durch mit einer gewissen Skepsis zu mustern.
Darauf konnte ich das Gefühl nicht loswerden, mich rechtfertigen zu müssen:
„Ich – ich –„, verdammt. Ich konnte ihr schlecht sagen, dass ich einem Geist hinterher gejagt bin… der in der Zwischenzeit auch schon verschwunden war…
Mein Blick fiel auf den Getränkeautomaten.
„Ich hatte nur ein bisschen durst.“, lächelte ich, und stellte mich vor den Automaten, um die verschiedenen Getränkesorten durch zu gehen.

~ Frage: Wie viel muss man über eine Person wissen, um sie zu mögen? ~



„Ich trinke immer am liebsten Orangensaft… oder Citronenlimonade…. aber Kirschsaft ist auch nicht schlecht… nur schmeckt der meistens irgendwie künstlich. Manchmal kauft man sich dann was und merkt, dass der Saftinhalt vielleicht 5 Prozent beträgt. Da fragt man sich doch was die restlichen 95 Prozent sind!“, ich lachte leicht, da man immer sagt: Wenn du nicht weißt was du machen sollst, dann so lach einfach.
Das Mädchen jedoch, schwieg darauf weiterhin unbetroffen.
„Es tut mir leid, dass ich so viel rede…“, kratzte ich mich verlegen am Hinterkopf,“ es ist nur, ich habe schon seit zwei Tagen kaum Jemanden zum Reden gehabt. Na, ja. Die meiste Zeit habe ich eigentlich geschlafen. Ich hatte einen Autounfall. Es war wirklich angsteinflößend. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung. Oder… zumindest sagt mir der Arzt und die Krankenschwester das. Aber wenn du mich fragst, war noch nie alles in Ordnung mit mir. Meine Persönlichkeit ist schrecklich. Manchmal frage ich mich, wie mich meine Freunde ertragen können.“, hier hielt ich kurz inne, um mich mental zu Kicken. Was laber ich denn da? Ich sollte mich wirklich zusammenreißen, und vor diesen armen Kind, wie eine schlaue Erwachsene wirken.
Da ich sowieso kein Kleingeld hatte, drehte ich mich vom Automaten weg, und richtete meine Aufmerksamkeit auf meine nackten Füßen.
„Ehm.. warum sitzt du eigentlich hier so alleine rum?“
Wieder nur das eiserne Schweigen.
Das machte mich noch verlegenen, und irgendwie fühlte ich mich auch leicht angesäuert.
„Musst du nicht in dein Zimmer zurück?“, ich schielte zum Mädchen rüber, um nach einer Reaktion zu suchen. Nichts. Sie sah mal da hin, mal hier hin, aber sagen, das wollte sie gar nichts.
Ich seufzte, und stand noch eine Weile unschlüssig da. Danach entschied ich mich, die Geisterjagt, und dieses unproduktive Gespräch auf ein Andermal zu verschieben.
„Ich glaube, ich gehe jetzt besser. Am Ende erwischt mich noch die Krankenschwester, und dann…. Dann gibt’s ärger.“, ich schenkte dem Mädchen noch ein Lächeln, und machte mich auf meinen Weg, als das Kind plötzlich sich entschied doch was zu sagen:
„Apfelsaft. Ich trinke am Liebsten Apfelsaft.“

~ Antwort: Manchmal reicht ein einziges Detail. ~



„Apfelsaft, also…“, meinte ich, als ich mich mit einer Orangen- und einer Apfelsaftdose wieder neben sie setzte.
(Ich hatte noch irgendwo in meiner Jeanshose im Zimmer einige Euro auftreiben können.)
Mich durchzuckte plötzlich ein Geistesblitz: „Sag mal, heißt du vielleicht Anya?“, damit übergab ich ihr den Apfelsaft.
Sie öffnete die Dose, und meinte überrascht:
„Nein, wieso?“
„Ach, nur so.“
Schade. Ich hatte gedacht, dass der Geist mich vielleicht zu ihr gebracht hatte, aber anscheinend nicht. Apropo…
Forschend blickte ich mich um. Nirgendwo ein Geist zu sehen.
„Ist irgendwas?“, sprach mich das kleine Mädchen an, „Du seufzt so oft, und siehst aus, als hättest du Verfolgungswahn…“
Ich lächelte betroffen. Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
„Danke für den Apfelsaft.“, meinte sie und hörte sich viel fröhlicher an, als vorhin.
„Übrigens heiße ich Alma.“, fügte sie noch hinzu.
Ich streckte ihr meine Hand entgegen: „Ich bin Julie.“
Die kleine schüttelte sie.
„Julie, wie der Monat Julie?“
„Ja. Kreativ, oder?“
„Ich find den Namen schön. Du etwa nicht?“
Ich öffnete und nahm aus meiner Dose einen tiefen Schluck.
„Es geht. Ich find ihn nur irgendwie… na, ja. Wie die meisten Leute, bin ich mit meinen Namen nicht so sehr zufrieden…“
Alma sah mich mit einem Ausdruck an, den nur meistens Herchen benutzten, wenn sie ihre Hunde zurechtwiesen:
„Du solltest deinen Namen wertschetzen! Es ist etwas, was dir deine Eltern geschenkt haben. Für manche vielleicht die letzte Erinnerung an ihre Mama…“
Als ich überrascht in ihre Richtung schielte, fügte sie hastig errötet hinzu: „Oder Papa.“
Da ich nicht wirklich wusste, was ich sagen könnte, nickte ich einfach.
„Hat dir deine Mama also deinen Namen gegeben?“
Sie nickte, und umschloss die Dose stark mit beiden Händen.
„Mein Name ist also ein Monat. Weißt du, was deiner bedeutet?“, eigentlich hatte ich die Situation etwas auflockern wollen, aber schon im nächsten Augenblick schien Alma, wie unter einen Krampf.
„Es heißt Apfel.“
„Apfel also… in welcher Sprache?“
„Ungarisch.“
Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie ein bisschen zu beruhigen, und grinste sie an:
„Meine Tante kommt aus Ungarn! Ich weiß noch, ich musste sie immer néni nennen, wenn sie uns besuchen kam. Eine sehr…starke Frau.“, und blutrünstig, und angsteinflößend. Aber das gestand ich jetzt wohl lieber nicht.
„Und sie nennt unsere Oma immer Onnjo.“, hier hielt ich kurz inne, um noch einen Versuch mit der Aussprache zu starten, versagte aber kläglich: „Na, ja. Richtig ausgesprochen klingt das irgendwie besser…“
„Anya.“, meinte Alma bescheiden, und trank die letzten Tropfen ihres Saftes, „Richtig ausgesprochen heißt es Anya. Nur nicht das deutsche A sondern eher ein OA…“
Es traf mich gegen die Stirn, als hätte mir jemand mit einer Pfanne eine drübergezogen.
„Das ist es!“, sofort sprang ich auf, wobei ich ein bisschen was von meinem Orangensaft verschüttete:
„Anya, wo bist du?!“, rief ich leise in die Dunkelheit hinein. Wahrscheinlich dachte Alma jetzt, dass ich ein Volltrottel wär, aber egal! Ich hatte hier etwas wichtiges zu erledigen.
Der Geist erschien kurz nach meinem Ruf.
Mit hängenden Schultern, einem alten, braunen Pulli, und verwaschenen Jeans. Ihr Haar war zwar verstrubbelt, aber genau so blond, wie die ihrer Tochter, und ihre Augen hätten bestimmt genau so herausgestochen, hätte sie bloß ab und wann ihr Gesicht gehoben.
„Julie, was machst du da?“
„Ich rufe gerade – „, stopp. Konnte ich ihr das sagen? Würde es sie erschrecken? Ich entschloss dem Geist mit einer Geste anzudeuten sich auf den letzten vorhandenen Stuhl neben Alma zu setzten, und still zu sein. Danach kniete ich mich vor das Mädchen:
„Warum bist du noch immer hier?“, ich versuchte sanft zu sprechen, was mir meiner Meinung eigentlich gut gelang. Alma wurde dennoch abwehrend:
„Ich, ich sitze hier eben so. Darf man denn das nicht?“, natürlich wussten wir beide, dass man das nicht durfte, soweit man kein Kranker war.
„Ich kenne die Besuchszeiten zwar nicht…“, gab ich ehrlich zu, „…aber sie sind bestimmt schon vorbei.“
Alma starrte eine kurze weile auf ihre leere Dose, danach seufzte sie und wandte sich ab.
Das würde so nicht funktionieren. Ich durfte sie nicht so bedrängen.
„Gut.“ Entschloss ich mich.
„Du musst mir nichts genaueres erzählen, wenn du nicht willst.“, gab ich auf, „Aber sag mir wenigstens, wie ich dir helfen könnte.“
Das Mädchen schielte zu mir rüber, und ich erkannte einige Tränen in ihren Augenwinkeln.
„Kannst du mir meine Mama zurückbringen?“

~ Was tun wenn dir ein unmöglicher Wunsch gestellt wird?
Das Unmögliche, möglich machen! ~



Schon wieder hatte ich das Gefühl, nicht antworten zu können. Dieses Mädchen sagte einfach zu oft Sachen, auf die hin mir meine Hände gebunden vorkamen.
Alma starrte jetzt ganz offen in meine Augen, worauf hin ich mich in ihren bodenlosen, traurigen Blick ertränkt vorkam. Mich ergriff die Sprachlosigkeit, und die Panik.
„Ich, nun …“, stotterte ich ungeschickt vor mich hin.
Das Mädchen rümpfte die Nase, als wollte sie damit ihre Begierde zu weinen überspielen.
„Lass mich einfach in Ruhe.“, murmelte sie anschließend, und ich war mir sicher Enttäuschung in ihrer Stimme wahrzunehmen.
Verdammt.
Plötzlich regte sich der Geist, der Frau neben dem Kind. Sie stand nun auf, und eher ich mich versah, stand sie über uns. Jetzt erkannte ich ihren Gesichtsausdruck eindeutig.
Überrascht stellte ich fest, dass ich nicht ganz recht gehabt hatte: Sie war wirklich niedergeschlagen, ja. Aber auch gleichzeitig hoffnungsvoll, und liebend zu gleich. Man sah es eindeutig an ihren Lippen, die zu einem wehemütigen Lächeln verzogen waren.
Als ich aufstehen wollte, um ihr entgegenzutreten, legte sie mir die Hand auf den Kopf.
„Alma, liebes.“, was war mit mir passiert?
„Weine bitte nicht.“, unerwartet erpackte mich das Bedürfniss Alma zu umarmen, und zwar sah ich die Handlung gerechtfertigt, machte sie mir gleichzeitig auch Angst.
„Ich habe dich nicht verlassen. Ich werde immer hier sein.“
Mit Schreck merkte ich, dass diese fremden Worte, die sich sicher nicht in meinen Kopf formten, aus meinen Mund kamen. Jemand bewegte meine Lippen nach Lust und Laune, aber es war nicht ich.
„Anya?“, Alma starrte mich zwar noch immer an, aber mit einem viel weicheren Ausdruck. Ihr Blick schien mich zu streicheln, und bedachte mich lieb.
Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass tatsächlich ihre Mama zu ihr sprach.
„Schatz, ich habe dich immer geliebt, und werde es auch weiterhin tun. Aber jetzt musst du nach Hause gehen…“
Alma entriss sich plötzlich meiner Umarmung, und sprang auf die Füße, um vor Entsetzen aufzustampfen:
„Du kannst mich nicht zu ihm zurückschicken! Ich werde nicht zurückgehen!“
Zum Glück gab mir Jemand anderes die Sätze in den Mund, die ich sprechen musste, denn hier hatte ich komplett den Faden verloren.
„Du musst nicht mehr lange bei Papa bleiben, mein Liebling. Sei bitte stark, und warte, bis dich Tante Lora abholt. Dann kannst du mit ihr zusammen an der Apfelplantage wohnen. Weißt du noch? Die schönen Sommer dort?“
Das kleine Mädchen weinte jetzt, und versuchte garnicht dies zu überspielen. Ich glaube der einzige Grund, warum sie nicht laut aufschlurchtzte, war der, dass dann die Krankenschwester gekommen wäre.
„Aber sie will mich nicht, du wolltest mich auch nicht. Niemand braucht mich mehr.“
Mein Herz zuckte in sich zusammen. Plötzlich bekam ich ein unwohles Bauchgefühl, und ein schlechtes Gewissen, das nicht meines war. Es war wirklich seltsam.
„Alma, weißt du noch, wie sehr Anya die Äpfel geliebt hat? Sie waren mir vor deiner Geburt das Liebste auf der Welt.“
Sie nickte unsicher: „Jaaa.“
„Und als du da warst, gab ich dir den Namen Alma, weil von da an, du das aller Wichtigste für mich wurdest. Das Liebste, vom Liebsten.“
Zum Glück ließ sich jetzt Alma wieder von mir in die Arme nehmen, woraufhin ich eine bisher nur selten verspührte Wärme in mir ausbreiten fühlte. Und als sich das Mädchen dann ebenfalls an mich schmiegte, dachte ich, die vollkommene Zufriedenheit gefunden zu haben.
„Ich werde dich immer beschützen und lieben.“
Das murmelte der fremde Mund noch, bevor der Geist mir noch ein Danke im Kopf formte, und daraufhin verschwand. Als hätte nur Alma gespürt, dass ihre Mama nun wirklich gegangen war, brach sie in lautes Weinen, Geschluchze und Geschniefe aus. Vergeblich versuchte ich sie mit leisen Worten, ihr monoton durch das Haar fahrend, sie zu beruhigen. Nach einer Zeit schließlich machte ich mir auch nicht mehr die Mühe, denn ich erkannte, dass sie ihre ganze Frust einfach aus sich herausweinen sollte. Noch eine weile saßen das Mädchen, und ich umschlungen auf unseren Plätzen. Sie klammerte sich an mich, wie ein kleiner Affe sich an einen rettenden Zweig in der Strömung. Als würde sie der Verlust ihrer Mama mit sich mitreißen, wenn sie nicht aufpasste. Aber nichts geschah, und mit der Zeit schlief sie in der großen Stille, und durch ihr Weinen völlig entkräftet, ein.

Ich erfuhr später von der Tante des Mädchens, eine nette Kindergärtnerin, dass ihre Mutter von ihrem Vater geflohen war, da dieser sie immer wieder geschlagen hatte. Aber sie konnte ihre Tochter nicht mitnehmen. Denn ihr Mann hatte ihr angedroht, das Kind zu finden, und umzubringen, wäre sie eines Tages nicht mehr da. Deswegen entschloss die Mutter, ganz rechtlich vorzugehen, und die Angelegenheit durch einen Anwalt zu klären. Zum Schluss, wurde das Kind ihr zugesprochen, doch sie starb hier im Krankenhaus an einer starken Grippeninfektion, noch bevor sie es ihrer Tochter hatte sagen können.
„Sie wollte ihre Mama so sehr sehen.“, sagte mir Lora, mit der schlafenden Alma auf den Armen, „Aber als sie hier ankam, war es schon zu spät.“
Ich musterte das Mädchen noch eine weile. Ihre langen Wimpern, ihre goldenen Locken. Für einen Moment hatte sie, wie ein friedlicher Engel gewirkt, aber ich kannte auch ihre andere Seite.
„Es hat ihr immer wehgetan, dass meine Schwester sie alleine zurückgelassen hat. Sie dachte, sie wäre von niemanden geliebt.“, setzte Lora ihre Erzählung fort, „Und selbst nachdem ich ihr erzählt habe, dass sie ihrer Mama am Wichtigsten war… sie hätte es von Barbara selbst hören müssen.“
Die Erinnerung an gestern Nacht zuckte wieder durch mich hindurch, und ich lächelte ungewollt:
„Ich glaube Alma hat keine Bedenken mehr.“, meinte ich und fühlte als wäre dieses Geheimnis eine Art Geschenk.
„Danke.“, drückte mir Lora freundlich die linke Schulter.
Damit winkte sie, und meinte, dass ich Alma ruhig ab und wann besuchen könnte. Die Adresse ließ sie mir an der Rezeption von einer Schwester aufschreiben, die mich sofort in mein Zimmer zurückscheuchte, als sie merkte, dass ich eigentlich die Verletzte vom Autounfall war.


5. Gänseblümchen zu Valentinstag



Der Tag war wirklich, wie er sein sollte. Verschleiert, dunkel und trostlos. Genau wie ich mich gerade fühlte. Es drückte so stark auf meine Brust, dass ich drohte selber gleich zu sterben.

„Christus spricht: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis bleiben, sondern wird das Licht des Lebens haben. Johannes 8, 12.“

Zitierte der Pfarrer mit seiner tiefen Baritonstimme und ohne, dass die Anwesenden es merkten, fingen die ersten Tropfen schon an zu fallen. Jedoch die des Himmels, nicht die der zahlreichen Gäste. Ihre Augen waren schon längst rot, angeschwollen und führten keine Tränen mehr. Nur die Mutter schüttelte sich immer wieder, wie sie die neuen Krämpfe der Verzweiflung einholten. Kraftlos lehnte sie schon die ganze Beerdingung an der Schulter ihres Mannes.
Dieser tat mir am meisten leid, da er stark sein musste.
Mit gemischten Gefühlen beobachtete ich die ganze Zeremonie und hatte Gewissensbisse.
Unbeschreibliche Gewissensbisse.
Plötzlich tauchte Mordan neben mir auf und sah mich aus seinen stechend grünen Augen an, mit einem Ausdruck von Verständnis, aber auch Ungeduld:
„Wenn du Jedem Toten nachtrauerst, wirst du bald nicht mehr aufrecht gehen können.“
Ich richtete mich aus meiner krummen Haltung abrupt auf, wandte meinen Blick allerdings nicht von der schwarzen Versammlung vor uns.
„Ich weiß.“, antwortete ich ohne groß nach zu denken, „aber sie war … ich habe sie gekannt.“
Eine schlechte Ausrede, ich weiß.
„Du solltest alle Tote gleich behandeln.“, fügte Mordan nur kühl hinzu, und ich schämte mich.
Wer hätte gedacht, dass der Tod zu sein, so schwer werden würde?

Anmerkung

: Ich hatte es vermutet und gleich verdrängt. Bis es schließlich so weit war und ich eine Seele genommen habe. Ich, als des Todes Helfer….

Ich weiß, das haben wir schon hinter uns, aber lasst mich bitte nochmal eine Vorstellung machen:
Mein Name ist Julie December, Schülerrin der 10. Klasse und seit ungefähr einem Monat der Angestellte von Mordan, mit anderen Namen, dem Tod.
Das Geschah folgendermaßen: Ich wurde in einen seltsamen Unfall verwickelt, beidem ich ausversehen den Tod sah, was er dann auch merkte. Daraufhin dachte er irgendwie wohl es sei das Beste, mich unter seine Obhut zu nehmen, bevor ich irgendwelchen Blödsinn mache (oder, das ist zumindest, was ich vermute, da Mordan recht still ist…. besser gesagt, so gut wie stumm…).
Und nun stand ich da, nach dem ich das erste Mal geholfen hatte, eine Seele davonzubringen. Undzwar wirklich niedergeschlagen. Denn irgendwie drückte diese Last und Verantwortung doch schwerer auf meine Schultern, als ich es vermutet hätte, was mich wiederrum lehrte, nie wieder auch nur eine einzige Sache zu unterschätzen!

Während der Sarg in die Erde hinuntergelassen wurde, versuchte ich mich daran zu erinnern, wie die Seelen immer lächeln, sobald der Tod sie holen kam.
„Sie hat sich gut gefühlt.“, wiederholte ich bestimmt zum tausendsten Mal in meinem Kopf, dass die Wörter nur so hallten… aber trotzdem krümmte sich mein Mund und ich war heilfroh, dass es nieselte. So würde Mordan vielleicht nicht so schnell merken, dass ich weinte.

Gleich nach dem der letzte Schaufelwurf voll Erde verhallen war, kam ihre ältere Schwester auf mich zu. Ihr hell Blondes, sonst so glänzendes Haar wirkte seltsam Matt, trotzdem strahlte sie noch immer diese Autorität aus, die man nur bewundern konnte.
„Schön, dass du gekommen bist Julie.“, ergriff sie das Wort, bevor ich etwas sagen konnte.
Sie schien ruhig und ausgewogen. Viel professioneller als ich, obwohl sie es eigentlich gar nicht nötig gehabt hätte ihre Trauer zu unterdrücken. Immerhin war ihre liebste, kleine Schwester gestorben. Alle Welt wusste, wie nah sie sich gestanden waren.
Zumindest jeder aus unserer Schule.
„Ja…ich freue mich auch dich zu sehen.“, erwiederte ich nach kurzer Verspätung kraftlos, und zwang ein fades Lächeln auf.
Julie du blödes Weib! Reiß dich zusammen!
Mit einem mal zog sie ein kleines Büchlein aus ihrer Designer Jacke heraus (Sie lernte gerade als Modedesignerin irgendwo in Berlin, wenn ich mich recht erinnerte).
„Ich glaube diese Geschichte ist etwas, was nur du verstehst. So habe ich es nach Veronikas Worten empfunden.“
Damit hielt sie mir das kleine Buch hin. Ich nahm es leicht verwirrt, dann aber ging mir ein Licht auf. Es war dieses bestimmte Buch mit dem dunkellilanen Einband, das ich in letzter Zeit so oft in Veronikas Hand gesehen habe. Sie hatte es jedes Mal dabei, wenn sie Lele besuchen kam.
„Es ist ihr Tagebuch. Du kannst natürlich das ganze lesen, wenn du willst… aber ich habe ein Lesezeichen an die Stelle gelegt, wo es interessant wird.“
Damit lächelte sie wie nur eine echte, starke Frau lächeln konnte, steckte ihre Hände in die Taschen und schritt anmutig zu ihrer Familie zurück.
„Die zwei Geschwister waren sich wirklich ähnlich.“, meinte Mordan, der jetzt im Schatten eines Baumes stand. Er mochte Menschen nicht wirklich. Zumindest hatte ich den Verdacht.
„Meinst du? Veronika war aber ganz anders als Lisa. Schüchtern, viel kleiner…“
„Ich glaube, du wirst es verstehen, wenn du ihr Tagebuch gelesen hast.“, antwortete mein Vorgesetzter darauf nur, „Solltest du jetzt aber nicht nach Hause gehen?“
„Eh?“, als ich die nahe Turmuhr Sechs Uhr schlagen hörte und nochmal zum dunklen Himmel hinaufschaute, begriff ich endlich was er gemeint hatte. Meine Familie würde bald aufwachen.
„Stimmt! Bis Morgen Mordan!“, daraufhin rannte ich los, an den Gräbern vorbei, raus aus dem kleinen Friedhof, zu den Fahrradständern.

Meine Befürchtung

: Sebi wacht auf und hat kein Essen auf dem Tisch liegen.
Das fürchterlichste Szenario, da er ein verwöhnter Bengel ist.

Ich war geradelt wie ein Weltmeister und hoffte jetzt, dass ich pünktlich mit dem Konservenblut zu Hause war, das ich gleich nach der Schule vor der Beerdigung vom Schlachthof geholt hatte.
(Besser als gar nichts. Zu wenig Tote diese Woche.)
„Ju-Lie!“, kaum hatte ich die Tür geöffnet, schon stand ein kräftiger, hoch gewachsener, junger Mann vor mir. Mit seinen goldenen, gefährlichen Augen blinzelte er ein Mal, bevor ich Kopf über am Rechten Bein gehoben wurde.
„Sebi! Lass mich runter! Mein Rock rutscht! Lass mich los!“
„Du bist zu spät!“, zischte er bedrohlich. Seine ganze Aura strahlte Gefahr aus und hätte ich ihn nicht besser gekannt, so hätte ich ganz stark vermutet, dass er mich umbringen würde.
„Es tut mir ja leid, aber ich musste heute auf eine Beerdigung…“
„Ich hoffe, du hast mir ein Souvenir mitgebracht. Etwas Blut vielleicht…?“
Damit lief er los, mich noch immer am Bein hoch gehoben, direkt in unseren Speisesal.
„Nein, das nicht. Aber ich habe frisches Rindblut dabei.“
„Bitte was?!“, damit schmiss er mich empört auf den Tisch, so, dass ich mich stark zusammenrollen musste, damit nur einige meiner Knochen brachen. Zur aller Überraschung überlebte der Tisch meine unsafte Landung.
„Du weißt genau, dass ich Tierblut nicht ausstehen kann!“
„Sei nicht so wählerrisch! Iss was du haben kaaaaawaaaa!“, mein Satz endete in einen piepsiegen Kreisch, weil er sich, wie ein wilder Löwe auf mich stürzte.
„Was ist denn hier los! Ich kriege von euch Migräne, Kinder!“, schlürfte Mama in den Esssaal, ein Kühlpad auf ihrer Stirn. Ihr rabenschwarzes, langes Haar ganz verwuschelt, und ihre goldenen Augen nur einen spalt geöffnet, lehnte sie sich kraflos an die Spülmaschiene.
„Abend Mama, kannst du mir vielleicht…“, keuchte ich, während ich versuchte Sebi stärker in den Magen zu treten als bisher, weil ihn das nicht wirklich davon abhielt mir meinen Pulli weiterhin auszuziehen.
„Ich kann nicht. Diese Kopfschmerzen bringen mich um.“, damit stieß sie sich vom Pult weg, und drehte sich zum Kühlschrank, „Hast du Blut mitgebracht, Liebes?“
„Das ist gerade das Problem, Mama – Sebi! Hör auf!“
Er hatte es geschaft den Pulli über meinen Kopf zu zerren und tastete nun meine Pulsschlagader an meinem Nacken aus.
„Wenn du mir kein Abendessen mirbringst, wirst du mein Abendessen.“
„Mama, wer macht schon wieder so ein Lärm?“, kam Veronie in die Küche, dicht gefolgt von Marelle, die sich den letzten Schlaf gähnend aus den Augen rieb.
„Hallo ihr Süßen!“, grüßte ich kurz lächelnd über die Schulter Sebis hinweg, richtete daraufhin jedoch meine Volle Aufmerksamkeit auf meine letzte Rettung.
„Papa!“, schrieh ich wie am Spieß, und ignorierte Mamas Gefluche. Immerhin ging es hier gerade um mein Blut!
„Hat Jemand nach mir gerufen!?“, kam er gleich aus dem Wohnzimmer, mit der Zeitung hereinspaziert. Seine ganze, kraftvolle Präsens schüttete in mir ein Gefühl voll Glück und Freude aus.
„Julie! Du bist wieder da!“, damit ergriff er ohne große Mühe Sebis Hals, und zog den ganzen Jungen von mir runter.
„Wie oft muss ich dir noch sagen, dass Julie deine respektvolle Schwester ist!? Benimm dich!“
„Tch. Von wegen, respektvoll. Sie ist ja nichtmal ein Vampir.“, grummelte Sebi. Und es tat mir weh, dass er recht hatte.
„Tut mir leid, dass ich nicht voller Übereifer mich in das Nachtleben stürtzen kann, um nach einigen Leckerbissen zu suchen, die ich Parasitenartig auslauge!“, schrieh ich innerlich, während ich Sebi mit solcher Wut anfunkelte, dass dieser sich gut denken konnte, was für Monologe ich führte.
„Na na na.“, damit legte mir Papa einen Arm um die Schulter, und drückte mich.
Voller Liebe schaute ich zum einmaligsten Mann auf der Welt auf, „Danke, Papa.“
„Ich glaube er ist wieder dahingeschmolzen.“, bemerkte Veronie, und Lele nickte stumm lachend.
„Erich, du verwöhnst deine Tochter zu sehr! Wie soll sie so auf eigenen Beinen durch die harte Welt der dunklen Geschöpfe gehen?“
„Aber Maida, bis dahin ist doch noch soooo lange Zeit.“, schwärmte Papa, woraufhin Mama ihn mit dem Kühlpad eine überbriet.
„Ich meine manchmal nicht vier sondern fünf Kinder im Haus zu haben.“, seuftzte sie mürrisch.
Anschließend wandte sie sich an mich, und mein Magen sackte mir ungewollt in die Beine.
Ich hatte schon seit ich wusste, immer dieses einschüchternde Gefühl, wenn ich Mama entgegenstand. Sie war kühl, herrscherisch, wunderschön und einfach nur dominant. Wie eine überirdische Persönlichkeit.
„Kannst du bitte das Konservenblut holen?“
„Ja, sofort.“, damit riss ich meinen Blick von ihr los, und rannte zu meiner Tasche am Eingang.

Während die Familie unten im Esszimmer, wahlweise auch im Wohnzimmer ihr Abendessen genossen (obwohl Marelle und Veronie noch kein Blut tranken), zog ich mich in mein Zimmer zurück.

Anmerkung

: Das Zusehen beim Verzehren von Blut war nicht so wirlklich meins, und weckte einen Würgreiz in mir.

Viel mehr beschäftigte mich das Tagebuch, das mir Lisa heute gegeben hat.
Neugierig zog ich es aus der Tasche, knipste meine Nachttischlampe auf dem Boden neben meinem großen Bett an und schmiss mich auf mein Kissen.
Ich kam mir eigentlich hier Oben ab und wann leicht eingequetscht vor, vielleicht weil es der kleinste Raum im Haus war. Er war mal gerade groß genug für ein Bett, einem Doppelschrank, und einem Schreibtisch.
In dieser Geborgenheit schlug ich das Buch an der Stelle auf, an der das Lesezeichen lag. Es war mit einem Muster versehen, das sehr prezise, von Hand ausgearbeitet schien. Wahrscheinlich von Veronika selbst einmal gemalt wurde.
Behutsam legte ich es neben mich, und fing schließlich an zu lesen. Ich bemerkte gleich am Anfang, was Mordan damit gemeint hatte, als er meinte, die zwei Geschwister seien sich ähnlich….


Vorsetzung folgt...

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.04.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Barbara

Nächste Seite
Seite 1 /