Missmutig.
Das war das einzige Wort, welches aus Samanthas Stimmung wirklich voll und ganz zutraf.
Wie viele Stunden hatte sie sich vergeblich mit den alten, vergilbten, und teilweise beinahe komplett zerrissenen Buchseiten abgemüht? Vollkommen umsonst noch dazu?
Sie wusste es nicht. Wirklich nicht. Es kam ihr so vor als habe sie ihre ganzen Ferien in der Bibliothek verbracht, nur diese ‚historisch wertvolle‘
Quelle vor sich. Und es waren Tage gewesen. Sie war jeden Tag wieder dorthin gegangen, kannte mittlerweile die Bibliothekarin beim Vornamen und duzte sie.
Und jetzt, endlich fertig mit dem teuflischen Dokument und der unglaublich schwierigen altdeutschen Sprache, bekam sie noch nicht mal 10 Punkte?
Die Enttäuschung war wohl sehr offensichtlich gewesen, denn Marie, ihre beste Freundin, war in der großen Pause sofort bei ihr und hatte versucht sie aufzumuntern.
Erfolglos.
Zwar war Samantha froh, dass Marie ihr jetzt mal etwas Aufmerksamkeit schenkte, die sie in den letzten Tagen nicht für Samantha hatte, dennoch wusste sie, dass ihre Freundin in Gedanken eigentlich bei ihrer nächsten Unterrichtsstunde war.
Samantha nahm ihr das allerdings nicht übel.
Von zuhause bekam Marie einfach eine Menge Druck, vor allem was die Noten betraf. Oder in dem Fall der beiden Elfklässerinnen, vor allem was die Notenpunkte betraf. Marie versuchte immer mindestens 13 zu kriegen. Samantha war da bescheidener. Mit 10 hatte man auch noch eine gute Leistung gebracht.
Trotzdem; mindestens 10 mussten schon drinne sein, ansonsten zerstörte das den Durchschnitt. Und diese 5 Punkte passten ihr da absolut nicht in den Kram. Besonders wo sie doch solange an dem Projekt gesessen hatte!
Samantha seufzte resignierend. Wirklich etwas ändern konnte sie da nicht mehr.
Sie entschied also, das Ganze erst mal zu vergessen- sie würde zuhause noch genug Zeit haben sich alles durch den Kopf gehen zulassen.
Leider.
Samantha biss sich auf die Unterlippe.
‚Denk positiv...‘
dachte sie nur, schaute Marie jetzt lächelnd an, und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was ihre Freundin sagte.
"...und dann meinte sie noch: 'Wehe du hast das nächste Woche nicht'
und ich musste mir die sarkastische Antwort so sehr verkneifen...."
Samantha nickte nur, tat so als wüsste sie wovon ihre Freundin da eigentlich redet.
Da es sich um nichts Wichtiges zu handeln schien, nickte Samantha nur dumpf weiter und 'ohhhte'
oder 'ahhhte'
an bestimmten Stellen, hoffte, dass es irgendwie zu dem passte, was ihre Freundin da sagte.
Samantha ließ ihren Blick über den Schulhof gleiten, betrachtete die vielen Schüler, von denen einige -trotz eingehenden Verboten und Belehrungen- ihre Mitschüler mit Schneebällen bewarfen, oder sich gegenseitig einseiften; die Lehrer kamen mit den Tadel-Androhungen kaum hinterher.
Die für deutsche Verhältnisse deutlich zu kalte Luft gab Samantha das Gefühl, dass ihre Atemwege bald gefrieren würden, und die Luft, die sie ausatmete, bildete kleine weiße Wölkchen.
Der Schnee selbst ging ihr bis knapp über die Knöchel, einem weißen Weihnachten würde bei diesem Wetter kaum etwas im Weg stehen- genau genommen haben sie angesagt, dass die Straßen bald gesperrt werden müssen, da ein Schneesturm aus Britannien innerhalb der nächsten Woche erwartet wurde.
Einige Arbeitsgemeinschaften der Schule, wie zum Beispiel 'Kleine Bastelfreunde'
oder auch 'Grüner Daumen'
gaben sich alle Mühe, eine vorweihnachtliche Stimmung in der Schule zu verbreiten; warum jemand freiwillig in so eine AG ging, war Samantha allerdings wirklich ein Rätsel.
Trotz der deutlich erkennbaren Bemühung, Samantha konnte einfach keine weihnachtliche Stimmung aufbringen.
Es war nicht so als würde sie Weihnachten hassen- im Gegenteil, sie verbrachte ihn immer mit Marie und ihrer Familie. Es wurden Geschenke herum gereicht, der Duft von Weihnachtsplätzchen und Zimt hing in der Luft, jeder trug eine dieser lächerlichen, aber absolut traditionellen Weihnachtsmann-Mützen und der große grüne, unglaublich schön mit roten und silbernem Dekor behängte Weihnachtsbaum bildete den Mittelpunkt des großen, hell eingerichtetem Wohnzimmer. Es wurde gesungen, gelacht, es wurde in die Kirche gegangen.
Aber Samanthas eigene Familie hatte nie Zeit für das Fest.
Samantha setzte sich jetzt nicht in eine Ecke und heulte sich deswegen die Augen aus dem Kopf; diese Zeiten waren schon lange vorbei.
Dennoch wollte sie nur einmal mit ihren Eltern feiern und nicht nur die wahrscheinlich sauteuren Geschenke kriegen mit der Post kriegen… Nicht das Samantha sich über die teuren Sachen beschweren würde.
Yay, teure Geschenke- denkt man die ersten zwei, drei Jahre.
Und der Wunsch, mit ihrer leiblichen Familie an einem Tisch zu sitzen- seit Jahren schon, war dieser Wunsch alles andere als präsent. Selbst wenn sie 'nur'
mit Maries ärmlicher Familie aß, so war es doch eine Familie, die Samantha akzeptierte, die Samantha aufnahm, rannte sie mal wieder weg und wusste nicht wohin mit sich.
Es war so viel mehr eine Familie als ihre Leibliche. Und das war in Samanthas Augen doch recht erbärmlich. Ihre eigenen Eltern waren in ihren Augen verdammt erbärmlich. Denn Maries Eltern waren zwar streng; das typische ‚Zuckerbrot und Peitsche‘;
dennoch hatten sie unglaublich viel Liebe, die sie an Samantha und Marie verteilten. Wie es schien, konnten Samanthas Eltern das -aus welchen Gründen auch immer- nicht. Was dann doch sehr viel über den Charakter ihrer Erzeuger preisgab.
Sie selbst drückte das durch eine unglaubliche Gleichgültigkeit aus. Und jene wiederum zeigte, wie viel 'Mühe'
sich ihre Eltern mit ihr gegeben hatten.
Soweit Samantha informiert war, befanden sich ihre Eltern über Weihnachten irgendwo in Italien- ob es Venedig war oder Florenz gewesen war, hatte Samantha vergessen, es hörte sich beides relativ ähnlich an und letzten Endes konnte es ihr ja total egal sein, nicht wahr?
Ob man Samantha mitnehmen wolle- das stand gar nicht erst zur Debatte.
Sie sei noch zu jung, hieß es von ihrer Mutter.
‚Erde an Mutter- ich bin verdammt nochmal siebzehn!‘
, Hatte sie schreien wollen, hatte aber den Mund gehalten.
Sie müsse erst ihr Abitur machen, meinte der Vater.
‚Entschuldige mal, Vater, aber ist das deine Entschuldigung, eine Minderjährige zuhause /alleine/ zu lassen?‘,
hatte sie knurren wollen, hatte es aber nicht getan.
Es wäre eh nur wegen der Arbeit, stimmte ihr großer Bruder zu.
‚Ach, zum Familienbusiness gehöre ich also auch nicht, kleiner Bruder?!‘
, hatte sie zischen wollen, doch getan hatte sie es nicht.
Es war ja wohl die Höhe, dass ihre Eltern solche Argumente benutzten, wenn der Fünfzehnjährige mit durfte, oder etwa nicht?!
Sie kämen sobald es ginge wieder, sie solle es nicht so persönlich nehmen, sie alle hätten sie ja so
lieb.
'Natürlich'
, hatte Samantha bissig gedacht, 'Deswegen fahrt ihr auch alle drei weg. Über Weihnachten. Einen Monat lang Ohne euch Gedanken zu machen, wo ich hingehe.'
Am liebsten hätte sie ihnen vorgeworfen, die schlechtesten Eltern der Welt zu sein. Aber dafür hätte es Samantha interessieren müssen. Und es interessierte sie schon sehr, sehr lange nicht mehr so sehr wie es sie interessieren sollte.
Traurig, aber wahr.
Und-zumindest aus Samanthas Sicht- nicht mehr zu ändern.
Aber okay, Samantha kam klar.
Sie brauchte niemanden außer ihrer ‚wahren‘
Familie. Besonders in Samanthas Fall war Wasser nun mal dicker als Blut.
Nach so vielen Jahren immer noch zu Trauer wäre einfach nur lächerlich.
Demonstrativ wandte Samantha nun die Augen von der Dekoration ab, ließ ihren Blick abermals über die Schüler schweifen- und starrte einen ganz bestimmten Schüler an.
‚Dieses Arschloch!‘
schoss es ihr nur durch den Kopf. Er hatte kaum zwei Wochen zuvor mit der bildhübschen Lina schlussgemacht, um jetzt mit ihrer besten Freundin seit dem Kindergarten rumzumachen?
Arme Lina…Sie hatte sich tagelang in ihrem Zimmer eingeschlossen, hatte sich geweigert rauszukommen. Nach vier Tagen kam sie dann wider in die Schule; bleich, mit Augenringen und diesem Gesichtsausdruck, der nahezu schrie, wie widerlich der Kerl zu ihr gewesen sein musste.
Samantha schüttelte nur energisch den Kopf; das er nach wenigen Tagen eine neue holen würde war irgendwo klar gewesen, aber das Lizzie sich darauf einließ?
Die nette, zuvorkommende Lizzie, mit den rötlich-braunen Korkenzieherlocken, den großen, himmelblauen Augen, und diesem unschuldigen Engelsgesicht? Die wirklich eine treue und ehrliche Person war?
Was trieb jemanden, der vermutlich den letzten Bus nach Hause verpassen würde, um einer alten Dame über die Straße zu helfen, dazu, eine so enge Freundin so zu hintergehen?
Das ganze widerte Samantha einfach nur an. Glaubte er tatsächlich, so jede zu kriegen?
Samantha wandte den Blick ab, schaute auf ihre Uhr. Noch fünf Minuten.
Sie seufzte, versuchte Maries Worten nun aufmerksamer zu folgen- scheiterte allerdings.
Sie fühlte sich irgendwie sehr…unwohl? Nein, nicht unwohl, eher…beobachtet
? Sie wandte ihren Blick wieder von ihrer Freundin ab und zischte wütend.
Oh, also versuchte er ihr auch noch schöne Augen zu machen? Reichte ihm Lizzie den nicht? Mistkerl!
Stur hielt Samantha dem Blick stand.
Wie er sie anschaute…Das war kein Gucken mehr, sondern viel mehr ein Starren, und es sorgte dafür, das Samantha schlagartig noch kälter wurde.
Selbst aus der recht großen Entfernung bohrten sich die auffällig, fast schon unnatürlich, intensiv blauen Augen in die ihren. Samantha schluckte hart.
Es war als würde sich eine eiskalte Hand um ihr Herz legen und ihr Herz zerquetschen wollen.
Sie spürte Spannung in der Luft, konnte sie beinahe schmecken, anfassen. Das war nicht normal!
Sie spürte ihr Herz intensiver als ihr lieb war; es schlug von Sekunde zu Sekunde schneller, lauter, kraftvoller. Als wäre sie ein verängstigtes Reh, dass in die Augen seines Jägers schaute. Ihre Augen weiteten sich, ihr Mund war trocken…War das wirklich ein animalischer Ausdruck in seinen Augen, oder spielte ihre Einbildung ihr schon Streiche?
Die Spannung war unglaublich; vor allem unglaublich unangenehm und Samantha hatte das Gefühl zu hyperventilieren.
Etwas in seinen Zügen veränderte sich, die Magie, die Spannung brach in sich zusammen. Er lächelte spöttisch, winkte kurz, ehe er seine Tasche nahm und in das Schulgebäude ging. Warum wirkte er so amüsiert?
Im nächsten Moment war sie auch schon verdammt wütend. Sie war drauf und dran ihm hinterher zu gehen und ihm mal gehörig die Leviten zu lesen, da hielt eine zarte Hand sie fest. Marie.
„Noch fünf Minuten bis zum Klingeln. Außerdem geht man nicht einfach wenn ein anderer redet!“
Wirklich? Noch fünf Minuten?
Samantha war sich doch eigentlich sicher, dass ihr Blickwechsel länger gedauert hatte. Aber es schien Marie noch nicht mal aufgefallen zu sein, dass es Samantha so seltsam ging.
Samantha blinzelte verwirrt. Sie war sicher gewesen, dass sie hyperventilieren würde; das musste doch aufgefallen sein, besonders da Marie so dicht neben ihr stand!
„Sorry.“ Murmelte Samantha dumpf, und war genauso betreten wie sie nach außen wirkte. Etwas stimmte hier nicht. Etwas war seltsam.
Und dieser Mistkerl hatte damit zu tun…
Texte: http://fc03.deviantart.net/fs44/f/2009/087/9/2/Piercing_blue_eyes_by_captainbaker.jpg
..der Einband :)
Tag der Veröffentlichung: 20.12.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
für Lisa, weil sie mich auf den Charakter unseres allseits beliebten 'Mistkerles' gebracht hat :D