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Das durfte nicht wahr sein. So etwas konnte auch nur mir passieren. Das war ja so typisch. Oh, ich elender Unglücksrabe, ich. Wieso konnte nicht ein einziger Tag ohne solche Vorkommnisse auskommen? Nein, ich schien wahrlich verflucht zu sein. Ausgerechnet heute, zu dem wichtigsten Termin meines Lebens, hatte eine unbekannte Krankheit mein schnellstes Pferd dahin gerafft. Und mit den anderen Pferden waren meine Männer ausgeritten. Wir waren Kuriere der königlichen Garde und normalerweise hätte auch ich heute Dienst gehabt, aber man hatte mir freigegeben, da ich heute noch heiraten würde. Zumindest war es so geplant gewesen. Doch so wie es aussah, würde es mit der Hochzeit schwierig werden. Jetzt konnte ich nur noch alles auf eine Karte setzten und beim Hofschmied nachfragen, ob er mir seine Stute leihen würde. Sie war zwar bei weitem nicht so schnell wie mein eigenes Pferd, aber es müsste eben reichen. Also machte ich mich auf den Weg. Ich hatte bereits mein Festgewand angezogen und im Grunde genommen bereute ich es schon, denn die Hitze an diesem Tag ließ mich in Schweiß ausbrechen. Aber um mich noch einmal neu einzukleiden fehlte schlicht und ergreifend die Zeit. Also musste es eben so gehen. Ich war schon fast bei der Schmiede angelangt, als mir siedendheiß einfiel, dass ich die Ringe vergessen hatte. Das war wirklich langsam zu viel des Pechs. Nun machte ich mich also auf den Weg zurück, um die besagten Kleinode zu holen. Langsam musste ich mich wirklich sputen, Sonst könnten wir unsere Hochzeit heute wirklich absagen.
In meinen Gemächern angelangt, stellte ich alles auf den Kopf, aber die Ringe waren unauffindbar. Ich suchte bestimmt schon zwanzig Minuten, als ich es in dem Taschenbeutel an meiner Hose klirren hörte. Ich griff hinein ... und fand die beiden Ringe. Ich hatte sie also schon die ganze Zeit über bei mir getragen. Wütend über meine eigene Schusseligkeit machte ich mich wieder auf den Weg zum Schmied. Und dort erwartete mich schon die nächste unerfreuliche Nachricht. Die Stute des Schmiedes war inzwischen trächtig und somit konnte er sie mir natürlich nicht zur Verfügung stellen. Aber er schickte mich weiter zum Müller, welcher mir höchstwahrscheinlich seinen Maulesel leihen würde. Damit würde ich zwar nie im Leben rechtzeitig ankommen, aber immerhin hatte ich so eine reelle Chance, überhaupt anzukommen. In der Zwischenzeit hatte es nun auch noch begonnen, zu regnen und mich überkam immer mehr das Gefühl, dass, wenn es so weiterging, die Hochzeit noch ins Wasser fallen würde, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber nun galt es zu handeln, nicht zu denken. Die Zeit drängte. Der Maulesel des Müllers erwies sich glücklicherweise nicht als sturer Muli, sonder legte sogar ein recht ordentliches Tempo an den Tag. Ich ritt also so schnell es eben ging und entgegen allen Befürchtungen wurden mir keine weiteren Hindernisse in den Weg gelegt. Ich rechnete damit, die Kirche mit höchstens einer halben Stunde Verspätung zu erreichen. Der Wolkenbruch wandelte sich auch langsam in Nieselregen und nach weiteren fünf Minuten ließ er ganz nach. Das konnte ich nur als gutes Zeichen deuten, das erste an diesem Tage. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, unsere Hochzeit auf einen Freitag den dreizehnten zu legen. Aber wir waren eigentlich beide nicht abergläubisch und hatten uns daher nichts weiter dabei gedacht. Und noch war ja auch nichts verloren. Ich ließ meine Gedanken schweifen und erinnerte mich an den Tag, als ich meine zukünftige Braut kennen lernte.
Es war ebenfalls ein Freitag gewesen, allerdings nicht der dreizehnte. Ich hatte den Auftrag bekommen, eine äußerst wichtige Botschaft an ein benachbartes Königreich zu überbringen und ritt gerade meiner Wege, als dieses blonde Wesen vor mir auf der Straße auftauchte. Ihre Haare waren zerzaust und auch ihre Kleider sahen etwas mitgenommen aus. Dennoch war sie mit Abstand das schönste Wesen, das mir je unter die Augen gekommen war. Ich konnte nicht anders, ich musste anhalten und sie fragen, wohin sie unterwegs war. Zuerst nahm sie mich gar nicht wahr und wirkte allgemein regelrecht verstört. Erst nach erneutem Fragen drehte sie sich gänzlich zu mir um und mir verschlug es die Sprache. Noch nie hatte ich einen Menschen erblickt, der gleichzeitig so verängstigt und doch so unsagbar schön aussehen konnte. In diesem Moment hatte sie mein Herz erobert und ich wusste, dass ich nicht mehr ohne sie leben könnte. Sie stand da wie paralysiert und rührte sich keinen Zentimeter. Schockgeweitete, braune Augen sahen mich ängstlich und furchtsam an. Sie murmelte einige Worte und ich verstand nur etwas wie 'bin verloren', dann brach sie in Tränen aus. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, also stieg ich von meinem Pferd und ging auf sie zu. Beruhigend sprach ich auf sie ein und als ich ihr versicherte, dass ich ihr kein Leid zufügen wolle, ließ sie sich in meine Arme sinken und weinte sich an meiner Schulter aus. Ich strich ihr tröstend über die Haare und langsam, nach und nach, beruhigte sie sich. Als ihr Schluchzen dann allmählich nachließ, fragte ich sie behutsam, wovor sie denn solche Angst hätte. Zuerst verfiel sie erneut in ein leichtes Schluchzen, doch dann erklärte sie mir, dass man sie der Hexerei angeklagt hätte und sie eigentlich schon längst auf dem Scheiterhaufen brennen sollte. Nur durch eine List und vor allem sehr viel Glück konnte sie noch rechtzeitig entfliehen und entkam so ihrem grausigen Schicksal. Und daher hatte sie Angst gehabt, ich wäre einer ihrer Häscher und man hätte sie letztendlich doch aufgespürt. Ich spürte ihr Zittern und beruhigte sie erneut. Ich bot ihr an, mich auf meinem Kurierritt zu begleiten und ihr anschließend Unterschlupf bei mir zu gewähren. Ich sah Skepsis sowie Argwohn und auch ein wenig Furcht in ihren Augen und versicherte ihr, dass ich keine bösen Absichten hatte. Erleichterung breitete sich in ihrem Gesicht aus und auch ich war erleichtert, als sie zustimmte. Denn somit würde ich sie in Sicherheit und vor allem in meiner Nähe wissen. Was könnte es Schöneres geben?
So lernten wir uns also kennen und mit der Zeit auch lieben. Ich hielt sie versteckt und wir warteten, bis Gras über die Sache gewachsen war. Dann hatten wir uns eine abgelegene Kirche gesucht, in einem Dorf in dem uns niemand kannte, und hatten einen Termin für unsere Hochzeit festgelegt. Den heutigen Tag. Und ich würde zu spät kommen. Aber noch lag ich gut in der Zeit. Der Weg war nicht mehr allzu lang und auch mein Muli legte immer noch ein gutes Tempo vor.
Ich konnte inzwischen schon den Kirchturm in der Ferne erblicken und trieb den Maulesel ein letztes Mal zu vollem Tempo an. Rechtzeitig konnte ich es zwar nicht mehr schaffen, aber die Verspätung würde nicht allzu groß werden. Innerlich verfluchte ich die Tatsache, dass Judith, meine zukünftige Braut darauf bestanden hatte, allein zu der Kirche zu kommen, aber sie hatte Wert darauf gelegt, dass ich sie nicht vor der Hochzeit in ihrem Brautkleid sehen sollte. Da war sie dann doch abergläubisch gewesen. Wäre sie mit mir gekommen, hätten wir uns wenigstens gemeinsam verspätet. So wartete sie nun also allein mit dem Pfarrer an der Kirche und wusste nicht, wo ich blieb. Ich konnte nur hoffen, dass sie aus meiner Verspätung nicht die falschen Schlüsse ziehen würde. Ich denke zwar, dass ich ihr nie einen Grund gegeben habe, ihr Vertrauen in mich in Frage zu stellen, aber sie hatte schon so viel in ihrem Leben mitmachen müssen, dass ich es ihr nicht einmal hätte verübeln können. Aber ich verwarf diesen Gedanken. Schließlich hatten wir diesen Tag schon so lange geplant, da würden wir diese kleine Unannehmlichkeit schon verkraften. Eine letzte Biegung noch, dann würde ich direkt auf die Kirche zureiten. Ich sah zwar niemanden vor dem Gebäude warten, aber sicherlich hatten sie sich ins Innere begeben, denn inzwischen hatte auch der Nieselregen wieder eingesetzt und drohte, noch stärker zu werden. Vor der Kapelle stieg ich von dem Muli und band in an einem nahe stehenden Baum fest. Mit einem undefinierbar flauem Gefühl im Magen betrat ich die Kirche. Doch auch hier konnte ich niemanden sehen. Weder Judith noch den Pfarrer. Ich rief ein zögerliches und zaghaftes „hallo?“ in den Raum, doch ich erhielt keine Antwort. Alles war ruhig. Viel zu ruhig, meiner Meinung nach. Irgendetwas stimmte hier nicht. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Ich schritt durch den langen Gang zwischen den Bänken, direkt auf den Altar zu. Schräg dahinter führte eine Tür in die hinteren Räume, und diese war nur angelehnt. Ich überlegte, ob es erlaubt war, diese Räumlichkeiten zu betreten, oder ob das einer Art Entweihung gleichkam, aber dann besann ich mich, dass es in Anbetracht der Situation durchaus vertretbar war. Ich öffnete die Tür also vollends und trat in den dahinter liegenden Raum. Zuerst dachte ich, der Raum wäre ebenfalls leer, es befand sich nur wenig Mobiliar darin, doch dann entdeckte ich den Pfarrer zusammengesunken auf einem Stuhl im hinteren Teil des Raumes sitzen. Ich wusste nicht, wie ich ihn ansprechen sollte, deshalb räusperte ich mich einfach kurz. Seine Reaktion verwunderte mich allerdings. Er zuckte zusammen, als hätte er den Teufel persönlich gesehen. Ich ahnte nichts Gutes. Als er mich erkannte, sackte er wieder in sich zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. Vorsichtig schritt ich auf ihn zu und ließ mich auf einem Stuhl ihm gegenüber nieder. Eine Weile saßen wir so schweigend beieinander und keiner sagte ein Wort. Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte, auch wenn mir natürlich eine Frage deutlich unter den Nägeln brannte. Aber ich hatte -ehrlich gesagt- Angst vor der Antwort. Die Reaktion dieses Mannes hatte mir deutlich gezeigt, dass hier etwas Schlimmes passiert war. Doch nach einer Weile konnte ich einfach nicht mehr Schweigen. Die Ungewissheit und auch die bedrückende Stille weckte in mir ein beklemmendes Gefühl. Und so fragte ich, was geschehen war und wo sich Judith befand. Der Pfarrer sah mich abwesend an und schwieg weiterhin. Ich dachte schon, er würde nicht mehr antworten, als er doch den Mund öffnete und mir erzählte, was vorgefallen war.

~*~

Während er mit Judith auf mich gewartet hatte, waren plötzlich ein halbes Dutzend Reiter aufgetaucht und hielten direkt vor den beiden. Einer von ihnen gab zwei anderen ein Zeichen und sie stiegen von ihren Pferden und ergriffen Judith. Der Vorreiter verkündete, Judith wäre der verschiedensten Verbrechen angeklagt, unter anderem der Hexerei, und sie würde unverzüglich aufs Schafott gebracht werden. Der Pfarrer versuchte noch, Judith zumindest mit Worten aus den Händen dieser Meute zu befreien, doch sie lachten nur über ihn und ehe er sich versah, hatten ihn zwei der Reiter in die Kapelle gedrängt, während die anderen vier Reiter mit Judith davon ritten. Die beiden Reiter machten dem Pfarrer noch einmal deutlich, dass er sich in diese Angelegenheit nicht einzumischen hätte, wenn er nicht den Zorn von König George auf sich ziehen wolle, und dann waren auch sie davon geritten. Der Pfarrer hatte sich dann in seine Räumlichkeiten zurückgezogen und dort verdrossen auf mich gewartet.
Nun, zumindest wusste ich, wer diese Männer auf meine Judith gehetzt hatte. König George. Ausgerechnet König George! Ich kannte ihn und sein Königreich von einigen meiner Besuche als Kurier und es war mir immer unangenehm gewesen, in dieses Land zu reisen. Die Menschen dort schienen ständig irgendwelche Hinrichtungen zu haben, anscheinend wimmelte es dort von Verbrechern und angeblichen Hexen. Schlimm genug, dass sich die Leute im eigenen Land so gegeneinander aufhetzen ließen, aber dass nun schon unschuldige Menschen aus anderen Nachbarländern darunter zu leider hatten, das ging eindeutig zu weit. Ganz zu schweigen davon, dass es sich natürlich auch noch ausgerechnet um meine Judith handelte! Ich musste etwas unternehmen, das stand fest. Nur was? Mit dem Muli würde ich die Reiter niemals einholen können und bis ich König Georges Königreich erreicht hätte, käme für Judith wahrscheinlich jegliche Rettung zu spät. Das konnte ich nicht zulassen. Doch dieses Mal kam mir das Schicksal zu Hilfe. Oder vielleicht auch göttliche Fügung, denn der Pfarrer überließ mir sein Pferd, damit ich die Verfolgung aufnehmen konnte. Ich versprach ihm noch, gut auf das Tier aufzupassen und dann machte ich mich auf den Weg.

~*~

Nach einem halbstündigen Ritt erreichte ich den Marktplatz in König George's Reich. Der Platz wimmelte nur so von Menschen, sämtliche Schichten und Altersgruppen waren vertreten und sie alle bewegten sich auf das Zentrum zu. Ich band die Stute an einem Pfosten fest und mischte mich unter das Volk. Unauffällig bahnte ich mir meinen Weg durch die Menge, um einen besseren Blick auf das zentrale Geschehen zu erhaschen. Ich hatte das ungute Gefühl, dass es etwas mit meiner Judith zu tun haben könnte. Und ich wollte mir erst gar nicht ausmalen, was sie mit ihr vorhatten. Judith hatte mir damals nie erzählt, in welchem Königreich sie der Hexerei beschuldigt worden war und ich hatte sie auch nie danach gefragt, aber inzwischen hatte ich eine ziemlich klare Vorstellung davon. Sogleich sollte sich meine Befürchtung bestätigen. In der Mitte des Marktplatzes war ein großer Scheiterhaufen aufgebahrt worden und an diesen hatte man meine Judith gefesselt. Sie ließ den Kopf hängen und ihre blonden Locken verdeckten ihr hübsches Gesicht. Ich wusste nicht, ob sie aus Verzweiflung den Kopf hängen ließ, oder ob sie gar bewusstlos war, aber so oder so hatte sie alleine keine Chance zu entkommen. Ich musste mir also etwas einfallen lassen. Und zwar schnell. Denn ich sah schon den Scharfrichter näher kommen, die Fackel bedrohlich in der linken Hand schwingend. Ein Kreis von Wachmännern hatte sich um den Scheiterhaufen gebildet und mir war klar, dass ich allein sie nicht überrumpeln konnte. Aber es gab hier niemanden, der mir helfen würde. Und die Zeit drängte. Ich kämpfte mich weiter nach vorne, als sich plötzlich eine Gasse in der Menschenmenge mir gegenüber bildete. Und dort schritt er, erhobenen Hauptes: König George. Als er das Schafott erreichte, räusperte er sich und sprach mit kräftiger und bedrohlicher Stimme Judith's Todesurteil. Sie hätte sich mit verdächtigen Dingen, Gebärden, Worten und Wesen der Hexerei und Zauberei schuldig gemacht und sollte daher den Tod im Feuer finden, um ihr somit die Dämonen für immer auszutreiben. Dann gab er dem Scharfrichter ein Zeichen und dieser senkte die Fackel an den Scheiterhaufen, welcher auf der Stelle Feuer fing. Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten und lief auf den nun brennenden Holzhaufen zu, doch die Wachmänner hielten mich zurück. Und obwohl ich verbissen kämpfte, hatte ich keine Chance gegen sie. Sie waren in der Überzahl. Sie hielten mich fest und ich war gezwungen mit anzusehen, wie meine geliebte Judith vor meinen Augen bei lebendigem Leibe verbrannte. Anfangs hielt sie den Blick weiterhin gesenkt, doch als das Feuer ihre Füße und ihren Rocksaum erreichte, hob sie den Kopf und sah mich mit angstgeweiteten und dennoch irgendwie verklärten Augen an. Tränen rannen über ihre Wangen, doch keine Tränen der Welt hätten dieses Feuer noch löschen können. Es umschlang inzwischen ihren gesamten Körper wie ein gieriger Liebhaber und ließ sie in Höllenqualen aufschreien. Als sie mich das nächste Mal ansah, war nur noch die Gewissheit um ihren schmerzhaften Tod in ihren Augen zu sehen und allein das gab mir einen erneuten Kraftschub, den ich nicht erwartet hätte und ich versuchte erneut, mich loszureißen. Und dieses Mal mit Erfolg. Ich weiß nicht, ob ich tatsächlich stärker geworden war oder ob ich sie einfach überrascht hatte, aber das war einerlei. Ich war frei und rannte zu dem brennenden Inferno. Ich zog meinen Dolch und kämpfte mich durch die Flammen zu Judith's Fesseln. Die sengende Hitze und das Feuer um mich ignorierte ich dabei so gut wie möglich und schnitt die Seile entzwei. Da alle Kraft aus Judith's Körper gewichen war, fiel sie sofort vorn über, doch ich fing sie rechtzeitig auf und nahm sie in meine Arme. Noch war sie am Leben, aber ich war realistisch genug zu erkennen, dass sie keinerlei Überlebenschancen mehr hatte. Dennoch wollte ich sie wenigstens in ihren letzten Minuten im Arm halten und für sie da sein. Mit erstickter Stimme versuchte sie, mir etwas mitzuteilen, doch ich gebar ihr, ruhig zu sein. Doch sie schüttelte mit letzter Kraft ihren Kopf und legte ihre Hand an meine Wange. Und dann sprach sie die letzten Worte ihres Lebens, nicht mehr als ein Wispern im Abendwind.
„Ich werde zu dir zurückkommen, Geliebter! Zusammen mit unserem Kind. Ich... liebe...“
Dann verließ sie der letzte Funke Leben für immer.
Was hatte sie mit diesen letzten Worten gemeint? 'Zusammen mit unserem Kind'? Schlagartig war es mir klar. Meine Liebste war schwanger gewesen. Und man hatte nicht nur sie, sondern auch das Kind umgebracht. Unser Kind! Mein Fleisch und Blut! Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, die sich ihren Weg bahnten und es war mir auch egal. Man hatte mir das Liebste genommen, alles was mir wichtig war und mir war klar, was das für mich bedeutete. Jemand musste dafür büßen. Jemand würde dafür bluten!
Mit einem lauten Kampfschrei erhob ich mich blitzschnell, zog mein Schwert und lief schnurstracks auf König George zu. Er schien die Wurzel allen Übels zu sein und musste beseitigt werden. Er allein war an allem Schuld. Er allein! Ohne nachzudenken, sprang ich nach vorn und rammte ihm die Klinge in den Leib. Verdutzt und erschrocken sah er erst mich und dann das Schwert in seinem Körper an, bevor er auf die Knie sank. Er hob wieder den Kopf und sah mir voller Unverständnis in die Augen. Und dann sprach er die Worte, die mich stutzen ließen:
„Aber ich wollte dir doch nur helfen...“
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Wollte er mich noch im Sterben verspotten? Das konnte ich mir nicht denken. Also fragte ich nach und hoffte, dass er noch lange genug am Leben bleiben würde, um mir eine Erklärung zu liefern. Das tat er auch. Judith's Mutter solle angeblich damals seinen Vater verführt haben um ihn dann hinterrücks zu ermorden und von daher hätte es nahe gelegen, dass Judith dasselbe versucht hätte, denn der ehemalige König wäre nicht nur sein Vater gewesen, sondern auch meiner. Er eröffnete mir, dass wir Brüder wären und er mich nur schützen wollte. Ich wäre sein jüngerer Bruder und da meine Mutter damals bei meiner Geburt verstorben war, hatte unser Vater meinen Anblick nicht ertragen und mich weggegeben. Doch George hatte es herausgefunden, mich ausfindig gemacht und immer über mich gewacht. Hatte immer nur das Beste für mich gewollt. Hatte mit Judith's Tod nur mein Leben schützen wollen, weil er dachte, die Geschichte würde sich wiederholen.
Ich wusste nicht mehr, was ich noch denken sollte, doch ich sah in seinen Augen, dass er die Wahrheit sprach. Ich sank neben ihm auf die Knie und schloss ihn in meine Arme. Ich konnte einfach nicht anders. Zwar hatte er mir meine Liebste genommen, aber nur in bester Absicht. Natürlich machte das ihren Tod nicht ungeschehen und es linderte auch meine Schmerzen nicht, aber ich verstand nun wenigstens sein Motiv. Und dafür, dass er mich schützen wollte, hatte ich ihm mein Schwert in den Körper gestoßen. Er starb in meinen Armen und mit ihm starb auch etwas in mir. Ich wusste nicht, ob ich mit dieser Schande, mit diesem Schmerz jemals leben könnte, aber wahrscheinlich bräuchte ich mir darüber eh keine Gedanken mehr zu machen. Für diesen Mord würde man mich sicherlich hinrichten. Ich hatte ihren König umgebracht.
Doch so sollte es nicht kommen. Denn George hatte in seinem Testament veranlasst, dass ich sein Nachfolger werden würde, egal, auf welche Weise er ums Leben kommen würde. Als ob er so etwas geahnt hatte. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob ich diesem Amt gewachsen war und bat um etwas Bedenkzeit.
Ich wanderte durch einen der angrenzenden Wälder und versuchte, Klarheit in meine verworrenen Gedanken zu bringen. Doch das war leichter gesagt als getan. Ich ließ mich auf einem Stein nieder und stützte den Kopf in meine Hände. Ich weiß nicht, wie lange ich dort so saß, doch plötzlich hörte ich, wie sich etwas in meiner Nähe bewegte. Es knackte im Unterholz. Erschrocken setzte ich mich auf und blickte mich um. Zuerst konnte ich nichts weiter sehen, doch dann sah ich einen Schemen zu meiner linken Seite und drehte den Kopf in diese Richtung. Dort stand, keine drei Meter von mir entfernt, eine blassgraue Wölfin. Sie hielt den Kopf leicht gesenkt und schien mich anzulächeln. Ja, so dumm das auch klingen mag, aber genau so sah es aus. Mir war nicht klar, wie ich mich verhalten sollte, auf so etwas war ich nicht vorbereitet gewesen. Doch die Wölfin schien mir nicht feindselig gestimmt zu sein. Stattdessen kam sie noch näher und plötzlich erkannte ich, dass sie trächtig war. Das verwunderte mich nur noch mehr, denn im trächtigen Zustand würde sich doch jede vernünftige Wölfin ganz weit von den Menschen fernhalten. Ich überlegte, ob sie vielleicht an Tollwut litt, doch verwarf diesen Gedanken sogleich. In ihren Augen war nicht die kleinste Spur Wahnsinn zu sehen, stattdessen schienen sie mich eher wissend anzublicken. Tiefblaue Augen. Judith hatte dieselbe Augenfarbe gehabt. Jetzt stand die Wölfin direkt vor mir, sah mich kurz an und legte dann ihren Kopf auf meinen Schoss. Zuerst schreckte ich zurück, aber dann wurde mir bewusst, dass sie mir nichts tun würde. Sonst hätte sie es schon längst getan. Ich fragte mich, ob ich es hier mit einem Wunder der Natur zu tun hätte, oder was die Wölfin sonst veranlassen könnte, sich mir so sehr zu nähern, als mir Judith's letzte Worte einfielen.
„Ich werde zu dir zurückkommen, Geliebter! Zusammen mit unserem Kind.“
Als mir diese Worte wieder einfielen, nahm ein sehr seltsamer Gedanke in meinen Kopf Gestalt an. Es klang verrückt, aber diese Augen. Und sie war trächtig. Konnte es tatsächlich möglich sein? Wie, um diesen Gedanken zu bekräftigen, hob die Wölfin den Kopf und leckte mir die Hand. Dann sah sich mich wieder so wissend an und mir war bewusst, das kein Tier der Welt jemals einen Menschen so ansehen könnte. Vorsichtig strich ich der Wölfin über den Kopf und sie schloss die Augen und schien erneut zu lächeln. Und da wusste ich es. Diese Wölfin war keine normale Wölfin. Sie war die Wiedergeburt oder die Reinkarnation -oder wie immer man es nennen will- meiner geliebten Judith. Ich spürte einen Strom aus Glück durch meinen Körper fließen und plötzlich wusste ich auch, dass ich den Aufgaben eines Königs gewachsen sein würde, solange Judith an meiner Seite sein würde. Und sei es eben in Wolfsgestalt. Ich würde ein guter König sein. Und Judith dachte genauso, dass konnte ich in ihren Augen sehen. In ihren tiefblauen, liebenden Augen.

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Tag der Veröffentlichung: 19.12.2008

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