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Schon seit fünf Monaten ging es nun so. Tagein, tagaus. Immer dasselbe. Langsam hatte ich es satt. Ja, ich liebte sie. Allein aus diesem Grund habe ich es überhaupt fünf Monate ausgehalten. Sonst wäre ich schon längst weg. Aber sie bedeutet mir einfach zu viel und ich hatte mir immer wieder vorgemacht, ich würde damit klar kommen. Aber dem war nicht so, das merkte ich jetzt. Mir wuchs das alles über den Kopf.
Ziemlich genau vor fünf Monaten hatte ich sie kennen gelernt. Dieses bezaubernde Wesen mit den blonden Haaren und den unergründlichen Augen. Sie saß alleine am Tresen einer Bar ganz in der Nähe meiner Wohnung und ich setzte mich zu ihr. Anfangs beobachtete ich sie nur aus dem Augenwinkel heraus. Sie schien kaum von ihrer Umwelt Notiz zu nehmen. Stattdessen hatte sie einen Schreibblock auf dem Schoß liegen und schrieb darin. Gedichte oder ähnliches, wie es den Anschein machte. Hin und wieder nahm sie einen Schluck von ihrer Cola oder ließ ihren Blick gedankenverloren aus dem Fenster schweifen, aber meistens widmete sie sich voll und ganz ihrer Schreiberei. Als sie ihre Cola fast ausgetrunken hatte, nahm ich all meinen Mut zusammen und sprach sie an. Ich fragte sie, ob ich ihr eine weitere Cola ausgeben dürfte. Und zu meiner Freude lächelte sie und nahm mein Angebot dankend an. So kamen wir also ins Gespräch und im Laufe des Abends merkte ich, dass ich mich höchstwahrscheinlich in sie verlieben würde. Ich hatte zwar nie an Liebe auf den ersten Blick oder etwas ähnliches geglaubt, aber dieses Mädchen hatte es mir durchaus angetan. Sie war für ihr Alter schon regelrecht weise und wir unterhielten uns wirklich gut. Als wir uns dann später am Abend verabschiedeten, war mir klar, dass ich sie unbedingt wiedersehen musste. Also tauschten wir unsere Nummern aus und schon am nächsten Tag verabredeten wir uns wieder. Das Treffen verlief wieder wunderbar und wir sahen uns seit dem immer öfter. Obwohl sie am Abend unserer ersten Begegnung einen sehr introvertierten Eindruck gemacht hatte, war sie doch ein sehr lebhaftes und aufgewecktes junges Ding. Wir lachten viel miteinander, hatten Spaß und die Zeit wurde uns nie lang.
Doch eines Abends kam ich etwas später als verabredet zum Treffpunkt und fand mein Mädchen still und in sich gekehrt in einer Ecke sitzen. Ich ging zu ihr und erst, als ich direkt vor ihr stand, hob sie den Kopf und sah mich an. Für einen Moment dachte ich, ich hätte Tränen in ihren Augen gesehen -heute bin ich mir fast sicher- aber damals senkte sie nur kurz den Blick und als sie mich erneut ansah, entdeckte ich nichts von dem verräterischen Glanz in ihren Augen. Ich setzte mich zu ihr und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie bejahte meine Frage, aber ich war nicht wirklich überzeugt. Also bohrte ich weiter nach. Immer noch schien ihr eine gewisse Traurigkeit anzuhaften. Anfangs zögerte sie noch, aber dann meinte sie, ich würde sie sicher nur auslachen. Ich versicherte ihr, dass ich nie über sie lachen würde und nach weiterem Zaudern beichtete sie mir dann, dass sie Angst gehabt hätte, ich würde gar nicht mehr erscheinen. Ich war nur eine Viertelstunde zu spät gewesen und dennoch hatte sie Angst gehabt, ich hätte sie versetzt oder gar verlassen. Das war das erste Mal, dass ich sie wirklich niedergeschlagen und deprimiert erlebt habe, und es sollte nicht das einzige Mal bleiben.
Wir unterhielten uns an dem Abend noch sehr lange und vor allem sehr tiefgründig und vieles, was mein Mädchen mir erzählte, machte mir Angst. Nicht im Üblichen Sinne, aber ich fing an, mir große Sorgen um sie zu machen. Sie erzählte mir, dass sie schon fest damit gerechnet hätte, dass es nun zwischen uns aus wäre und ich sie verlassen wollte. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass sie verlassen werden würde und außerdem könne sie es ja auch verstehen. Schließlich würde es niemand allzu lange mit ihr aushalten. Das wäre schon immer so gewesen. Ich schluckte heftig. Ich konnte einfach nicht fassen, dass dieses sonst so lebensfrohe und strahlende Mädchen so von Selbstzweifeln zerfressen war und ich es bis jetzt nicht bemerkt hatte. Und es tat mir weh, dass sie so von sich dachte. Und es machte mich auch wütend. Wütend auf die Menschen, die ihr das eingeredet hatten. Oder sie zumindest dazu gebracht hatten, sich das selber einzureden. Ich tat also mein bestes, um ihr zu versichern, dass ich sie nicht verlassen würde und das ich zu ihr stehen würde, egal was passiert und ich sah so viel schmerzerfüllte Dankbarkeit in ihren Augen, dass es mir regelrecht das Herz zerriss. Was hatte man diesem armen Geschöpf nur angetan, dachte ich damals. Später sollte ich es noch herausfinden. Und eigentlich sollte mich das von meiner Entscheidung abhalten, aber andererseits...
Jedenfalls wurde es ab diesem Tage immer schwieriger. Mein Mädchen klammerte zwar nicht, aber ich sah die Enttäuschung in ihren Augen oder hörte sie in ihrer Stimme, wenn ich einmal keine Zeit für sie hatte. Und jedes mal dachte ich an den Abend in dem Café und ihr tränenüberströmtes Gesicht, als sie mir von ihrer Angst erzählte, dass ich sie verlassen könnte. Und es versetzte mir jedes mal einen Stich ins Herz. Aber ich hatte nun mal noch andere Verpflichtungen und konnte beim besten Willen nicht vierundzwanzig Stunden am Tag bei ihr sein. Ich wusste ja auch, dass sie nichts für ihre Angst konnte und dass sie ihr bestes tat, sie zu unterdrücken oder zumindest vor mir zu verbergen, aber es gelang ihr einfach nicht immer. Eigentlich fast nie. Und ich wusste einfach nicht, wie ich ihr dabei helfen konnte. Mehr, als ihr immer wieder meine Liebe zu beteuern, konnte ich einfach nicht tun.
Hin und wieder schien es, als würden zwei Seelen in ihr wohnen. Die eine lebenslustig und fröhlich, eben durch und durch optimistisch. Und dann diese andere, alles hinterfragende Seite, für die alles grau erschien und die in nichts einen Sinn sah. Die Seite, die ihren Selbstzweifeln ein Zuhause bot, die ihr diese düsteren Gedanken in ihren Kopf pflanzte und die anscheinend immer weiter ihr Netz um sie spann. Wie eine gefährliche Spinne, die ihre Beute erst einmal einwickelt, bevor sie sie sich einverleibt.
Wenn wir unter Menschen waren, kam fast nur die heitere Seite an ihr zum Vorschein. Niemand hätte in ihr diese zerstörte Seele vermutet, die ich in letzter Zeit immer öfter zu Gesicht bekommen hatte. In Gesellschaft konnte sie diese wunderbar verstecken, überspielen oder was weiß ich was. Sie lachte, machte Späße, tanzte ausgelassen und hatte für jeden ihr bezauberndes Lächeln übrig. Aber sobald sie sich unbeobachtet fühlte, huschte ein Schatten über ihr Gesicht und ich sah, wie diese andere Seite von ihr wieder versuchte, die Oberhand zu gewinnen. Meist war dieser Schatten so schnell wieder verschwunden, dass ihn jeder andere als Einbildung abgetan hätte, aber nur ich wusste, dass er wirklich da war und was er bedeutete. Und ich spürte auch, wie sehr ihr das zu schaffen machte. Sie hatte mir immer wieder beteuert, dass sie diese andere Seite in sich niemals die volle Kontrolle über sich überlassen würde. Ja, sie wusste selbst sehr genau um diese Zwiespältigkeit in ihr. Aber sie konnte nichts gegen sie unternehmen. Oder wollte es nicht. Keine Ahnung. Jedenfalls zermürbt es mich zusehends und ich weiß nicht mehr ein noch aus. Einerseits liebe ich sie wirklich über alles, daran gibt es keinen Zweifel. Aber andererseits kann ich mit ihren Verlustängsten und ihren offensichtlichen Depressionen einfach nicht umgehen. Ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann und das macht mich fertig. Ich frage mich, wie weit sie gehen würde...
Ich sah auf die Uhr und stellte erschrocken fest, dass es schon halb acht durch war. Ich war so in meine Gedanken versunken, dass ich die Zeit völlig vergessen hatte. Und vor allem die Verabredung mit meinem Mädchen. Um sechs. Ich hatte sie um anderthalb Stunden versetzt und mich nicht einmal bei ihr gemeldet. Mir schauerte bei dem Gedanken, was gerade in ihr vorgehen mochte. Und was sollte ich ihr überhaupt sagen? Dass ich sie vergessen hatte, weil ich die ganze Zeit über sie nachgedacht hatte? Wohl kaum.
Ich griff zum Telefon und wählte ihre Nummer. Am anderen Ende läutete es. Einmal. Zweimal. Nach dem siebten Mal legte ich auf, schnappte mir meine Jacke und meine Schlüssel und verließ die Wohnung. Draußen angekommen setzte ich mich in meinen Wagen und fuhr los. Ich hatte ein schlechtes Gefühl, welches sich durch nichts abschütteln ließ. Wenn es um jemand anderes gegangen wäre, hätte ich gedacht, sie wäre vielleicht einfach alleine losgezogen, nachdem ich nicht gekommen war. Aber nicht mein Mädchen. Sie zog nie alleine los. Und sie hätte mich auch niemals angerufen, um zu fragen, wo ich denn bleiben würde. Weil sie nicht klammern wollte. Jetzt wünschte ich nichts sehnlicher, als dass sie angerufen hätte. Dass sie nicht ans Telefon gegangen war, war kein gutes Zeichen. Sicher, sie könnte einfach sauer gewesen sein und aus Trotz meinen Anruf ignoriert haben. Aber das passte nicht zu ihr. Eher hätte sie den Hörer überstürzt ans Ohr gepresst und mit brechender Stimme gefragt, was los sei, ob etwas passiert sei. Und hätte dabei so gut es geht versucht, ihre Tränen zu unterdrücken, damit ich nicht merkte, dass sie die ganze Zeit geweint hatte. Ich beschleunigte den Wagen, da mein ungutes Gefühl immer stärker wurde. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde, wenn ich bei meinem Mädchen ankam. Ob sie mir tränenüberströmt in die Arme fallen würde. Oder ob sie mich wütend anschreien würde. Oder ob sie gar nicht erst öffnen würde. Egal, das würde ich ja sehen, wenn ich bei ihr angelangt war. Ich parkte den Wagen in einer Seitenstraße, stieg aus und ging zu ihrem Haus. Ich klopfte an die Tür und als sich nach einer -mir wie eine Ewigkeit vorkommenden- Minute immer noch nichts getan hatte, klopfte ich erneut. Heftiger und lauter. Immer noch nichts. Mehrere Minuten stand ich so vor der Tür und die schrecklichsten Gedanken schossen durch meinen Kopf. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sie weggegangen sein sollte. Das passte so überhaupt nicht zu ihr. Und dann fiel es mir endlich ein. Sie hatte immer einen Ersatzschlüssel unter dem Fußabtreter versteckt, nur für alle Fälle. Das mochte vielleicht töricht und unklug sein, aber in diesem Moment war ich ihr unglaublich dankbar dafür. Ich hob den Abtreter an und der Schlüssel befand sich tatsächlich darunter. Ich hob ihn auf und steckte ihn mit zittrigen Händen ins Schloss. Als ich es zurückschnappen hörte, beruhigte mich das allerdings keineswegs. Die völlige Dunkelheit und Stille im Haus taten ihr Übriges. Ich betrat das Haus, schloss die Tür hinter mir und rief nach meinem Mädchen. Keine Reaktion. Ich schaute flüchtig in die Zimmer im unteren Geschoss, war mir allerdings sicher, dass sie sich in der oberen Etage in ihrem Schlafzimmer befinden würde. Es war ihr Lieblingsraum im ganzen Haus. Es war modern aber dennoch beinahe kuschelig eingerichtet, aber alles in allem wirkte es düster und regelrecht bedrohlich. Zumindest für fröhlich gestimmte Menschen. Ich stieg also die Treppe hinauf und näherte mich der Schlafzimmertür. Sie war nur leicht angelehnt und ein schwacher Lichtschein drang daraus hervor. Erst jetzt bemerkte ich, dass es nicht völlig still im Haus war. Aus dem Zimmer drang leise Klaviermusik, welche mich sogleich traurig stimmte. Als ich näher trat, erkannte ich das Lied sogar. Mein Mädchen hatte mir einmal davon erzählt. Ein ungarisches Lied mit dem Titel „Gloomy Sunday“. Die Geschichte dazu hatte mich damals elendigst deprimiert und diesen Song jetzt aus ihrem Schlafzimmer zu hören, verstärkte das flaue Gefühl in meinem Magen. Das Lied hatte einen sehr tragischen Hintergrund und es wurden immer wieder die verschiedensten Selbstmorde damit in Verbindung gebracht. Etwas Kaltes, beinahe Eisiges griff nach meinem Herzen, als ich die Tür öffnete. Der schwache Lichtschein wurde von einigen Teelichtern erzeugt, welche um das Bett herum aufgestellt waren. Auf dem Nachttisch standen zwei weitere Kerzen. Die Musik stammte aus einem tragbaren Radiorekorder, welcher ebenfalls auf dem Nachttisch stand. Direkt neben dem Bett. Dem Bett, auf dem mein Mädchen lag. Sie schien zu schlafen, war allerdings noch völlig angezogen. Ich trat zu ihrem Bett und setzte mich neben sie. Zärtlich küsste ich ihre Stirn. Sie war angenehm kühl, obwohl es im Zimmer wohlig warm war. Ich wollte sie zwar nicht wecken, so friedlich, wie sie da lag, aber ich musste mit ihr sprechen. Urplötzlich wollte ich unbedingt den Klang ihrer Stimme hören, als ob es nichts anderes auf der Welt gab und allein dadurch, dass sie etwas sagte, alles wieder in Ordnung kommen würde. Ich rüttelte sie sacht an der Schulter, doch sie reagierte nicht darauf. Ich versuchte es erneut, diesmal etwas stärker, aber sie rührte sich immer noch nicht. Unergründliche Panik machte sich in mir breit. Sie konnte aus Trotz meinen Anruf ignoriert haben, auch mein Klopfen an der Tür. Aber konnte sie aus Trotz einfach so hier liegen und so tun, als würde sie schlafen?
Erst jetzt bemerkte ich, wie mir Tränen in die Augen stiegen und ich wandte mich ab, um sie wegzublinzeln. Mein Mädchen sollte mich schließlich nicht weinen sehen. Dabei fiel mein Blick jedoch auf eine kleine weiße Schachtel, welche direkt neben dem Radio lag. Zögernd nahm ich sie in die Hand und betrachtete sie. Der Name auf der Packung, 'Chloraldurat 500', sagte mir nichts, aber der Wirkstoff, Chloralhydrat, war mir noch aus dem Chemieunterricht bekannt. Es handelte sich um ein Hypnotikum und nun wusste ich auch, warum mein Mädchen nicht reagierte. Die Packung war leer. Nicht eine einzige Kapsel befand sich mehr darin. Und jetzt entdeckte ich auch das leere Wasserglas auf dem Nachttisch. Ich konnte es nicht glauben, als mich die Erkenntnis wie ein Schlag traf. Das durfte einfach nicht wahr sein! Aber die Tablettenpackung und das leere Glas sprachen für sich. So auch das Lied aus dem Radio, welches immer und immer wieder von neuem zu seinem schaurigen Klang ansetzte und mich regelrecht zermürbte. Ich schaltete das Radio aus. Die Stille war zwar auch unerträglich, aber sie setzte mir nicht so sehr zu wie dieses zutiefst niederschlagende Werk des unglücklichen Ungaren. Ich drehte mich wieder zu meinem Mädchen um und nahm sie in meine Arme. Jetzt wusste ich auch, warum ihre Stirn vorhin so kühl gewesen war. Ich hätte eigentlich sofort einen Notarzt rufen müssen, aber ich spürte instinktiv, dass es dafür eh zu spät war. Stattdessen wollte ich sie einfach nur in meinen Armen halten und nie wieder loslassen. Als ich sie so umklammert hielt, sah ich einen Zettel in ihrer Hand. Zu klein für einen Abschiedsbrief, aber irgendetwas musste er ja bedeuten, wenn sie ihn so festhielt. Ich nahm den Zettel an mich und entfaltete ihn. Nur sieben Worte waren darauf zu lesen. Geschrieben in ihrer wundervollen geschwungenen Handschrift, jedoch leicht verwischt, dort, wo ihre Tränen das Papier berührt hatten. Erneut musste ich an etwas denken, das mir schon vorhin durch den Kopf gegangen war: wie weit würde sie gehen? Nicht nur ihre Tränen waren nun auf dem Stück Papier verteilt, sondern auch meine benetzten nun die Oberfläche, so dass die Schrift bald kaum noch zu lesen sein würde. Aber ich wusste, was darauf gestanden hatte und würde es nie wieder vergessen:

Schütz mich vor dem, was ich will.

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Tag der Veröffentlichung: 19.12.2008

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