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Verwirrt und orientierungslos schaute sie sich um. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand oder was geschehen war. Aber irgendetwas stimmte nicht. Sie konnte nicht sagen, was es war, aber sie spürte es. Etwas war ganz und gar nicht richtig. Wieder sah sie sich um, aber ihre Umgebung kam ihr fremd und falsch vor. Alles schien so dunkel und kalt. Ihr fehlte das gewohnte Gefühl von Vertrautheit und Geborgenheit. Der Boden unter ihr war hart und unnachgiebig. Sie versuchte, aufzustehen, doch etwas hinderte sie daran. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Wieder überkam sie das Gefühl, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Und dann erinnerte sie sich. Ihre Flügel. Deshalb konnte sie das Gleichgewicht nicht halten. Sie waren fort und das fehlende Gewicht auf dem Rücken hatte sie nach vorn fallen lassen. Noch vor wenigen Stunden hatte sie im Himmel an Gottes Seite gesessen, doch ihr Dasein als Engel sollte nicht länger andauern, als ihr Frevel bekannt wurde. Sie hatte sich in einen der Dämonen verliebt, welche in letzter Zeit meist unerkannt im Himmel spionierten. Sie hatte für ihn sogar den Himmel verlassen wollen und Gott hatte ihr diesen Wunsch erfüllt. Allerdings nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Er hatte sie zu einem Menschen gemacht und das machte es ihr nun unmöglich, mit Azrael, ihrem Liebsten, in Kontakt zu treten. Es wäre ja auch viel zu einfach gewesen.
Ein unbekanntes Geräusch holte sie in die Realität zurück und plötzlich sah sie zwei helle Lichter auf sich zukommen.
Bevor sie wusste, was geschah, wurde sie von jemandem mit voller Wucht zur Seite geworfen und entkam somit nur knapp dem vorbei donnernden Zug. Doch sofort stiegen ihr die Tränen in die Augen und noch verwirrter versuchte sie, sich aufzurichten, aber etwas ließ sie aufschreien. Dieses Gefühl in ihrem Knöchel wollte sie um den Verstand bringen und der Schmerz bohrte sich unnachgiebig in ihr Gehirn. Schmerz. So etwas kannte sie nicht. Hatte es zumindest nie gekannt. Als Engel war sie von solchen Gefühlen und Unannehmlichkeiten immer verschont geblieben. Doch nun traf sie der Schmerz noch härter. Auch die Tränen, welche nun ihre Wangen hinab liefen, brachten sie durcheinander. Engel weinten nicht, auch wenn man ihnen das ab und zu andichten wollte. Aber um zu Weinen, musste man trauern können oder zumindest Schmerz empfinden. Beides war für Engel nicht vorgesehen. Natürlich konnte man auch vor Freude weinen, aber da sich Engel eigentlich immer in einem Zustand von vollkommener Zufriedenheit befanden, gab es keine Steigerung in Form von Freude oder Glück. Jedenfalls nicht in diesem Sinne. So war es zumindest immer Gottes Plan gewesen. Genauso, wie es sein Plan gewesen war, die Engel von den Dämonen zu trennen, sie voneinander fern zu halten. Doch dieser Plan war ja dank ihr für kurze Zeit gescheitert. Aber immerhin hatte sich Gott zu helfen gewusst, sehr zu ihrem Leidwesen.
Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
„Alles in Ordnung mit dir? Tut dir was weh? Wieso standest du überhaupt auf den Schienen, hast du den Zug denn nicht kommen sehen? Oder ihn wenigstens gehört? Man, du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Hast du ein Glück, dass ich in der Nähe war!“
Erst jetzt bemerkte sie den jungen Mann, der neben ihr saß und sie mit großen Augen ansah. Er stellte Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Zumindest würde er sie nicht verstehen oder ihr erst gar nicht glauben. Aber er hatte so etwas Weiches in seinem Blick und sah sie so voller ernst gemeinter Besorgnis an, dass sie ihn nicht einfach ohne eine Antwort zurücklassen konnte. Da die Fragen zu plötzlich kamen, um sich eine passende Antwort auszudenken und sie sich außerdem dafür nicht genug in der Menschenwelt auskannte, entschied sie sich für eine Halbwahrheit.
„Ich muss mich wohl bei dir bedanken. Ich habe den Zug tatsächlich nicht gehört, ich war völlig in Gedanken versunken. Ich komme nicht von hier und irgendwie fühlte ich mich gerade etwas orientierungslos.“ Erst jetzt sah sie ihn sich genauer an und musste feststellen, dass der junge Mann sehr große Ähnlichkeit mit ihrem Azrael hatte. Er war groß und schlank, beinahe sehnig, hatte faszinierende grüne Augen, langes schwarzes Haar und markante Gesichtszüge. Ebenso ging eine fast magische Ausstrahlung von ihm aus, die sie einfach in ihren Bann zog. Jetzt fehlten nur noch die pechschwarzen ledernen Schwingen um das Bild zu perfektionieren und zu vervollkommnen. Während sie ihn so betrachtete, begann er erneut zu sprechen.
„Ach, keine Ursache. Ich rette gerne unschuldige junge Mädchen vor gemeinen hinterhältigen Bestien. Woher kommst du denn? Oder eher, wo musst du denn hin? Vielleicht kann ich dir ja weiterhelfen, ich komme aus der Gegend und kenne mich hier eigentlich ziemlich gut aus. Und wenn ich dir noch einen kleinen Tipp geben darf? Wenn du das nächste Mal deinen Gedanken nachhängst, stell dich dabei nicht auf irgendwelche Zugschienen. Autobahnen und Flughafenplätze sind übrigens genauso ungeeignet.“ Er lächelte sie breit an und zwinkerte ihr zu. Sie brauchte einen Moment um zu erkennen, dass er einen Witz gemacht hatte und verfiel in ein unsicheres Kichern.
„Ja, ich glaube auch, dass das besser wäre. Das nächste mal werde ich daran denken. Aber auf deine Fragen werde ich dir wohl keine befriedigende Antwort liefern können. Ich kann dir nur so viel verraten, dass ich von sehr weit her komme und was mein Ziel angeht...um ehrlich zu sein, habe ich im Moment keines. Ich schätze, der Weg ist mein Ziel, oder so. Ich bin ziemlich unvermittelt hier gelandet und habe mir daher noch keine Gedanken darüber gemacht, wo ich jetzt hingehen sollte.“ Sie stellte fest, dass sie wie ein Wasserfall redete und eigentlich schon viel zu viel gesagt hatte. Wenn sie nicht aufpasste, würde ihr noch eine unüberlegte Bemerkung über die Lippen kommen und sie in arge Bedrängnis bringen.
„Na wenn das so ist, könnte ich dich ja einfach ein wenig in der Stadt herumführen. So als persönlicher Traveling-Guide, quasi. Ich kann dich ja zu einer unserer Pensionen bringen, da ist bestimmt noch was frei. Ich könnte dir natürlich auch anbieten, vorerst bei mir unterzukommen, aber ich schätze, das wäre zu leicht falsch zu verstehen. Aber wo wir eh gerade dabei sind, uns kennen zulernen: ich heiße übrigens Marcus.“ Mit einem schelmischen Grinsen sah er sie an, hielt ihr seine Hand entgegen und wartete nun darauf, dass auch sie ihren Namen nennen würde. Allerdings musste sie auch hier wieder improvisieren, da er ihren wahren Namen, ihren Engelsnamen, nicht verstanden hätte. Also sagte sie das erstbeste, dass ihr einfiel.
„Ich bin Angel. Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.“ und sie ergriff seine Hand. Als sie sich berührten, zuckten beide kaum merklich zusammen, ließen sich schnell wieder los und sahen verlegen zu Boden. Beide hatten sie ein starkes Kribbeln in ihren Armen verspürt, welches bis zum Herzen vorzudringen schien und welches sich beide nicht erklären konnten. Marcus hatte sich als erstes wieder im Griff und fragte nun erneut nach, ob er ihr die Stadt zeigen sollte, was Angel dankend annahm.
So verbrachten sie die nächsten Stunden damit, in der Gegend herum zu laufen und hin und wieder erklärte Markus ihr das ein oder andere Gebäude und seinen Zweck oder sie unterhielten sich einfach über Gott und die Welt. Allerdings im übertragenen Sinne, sie hätte nie einem Sterblichen etwas über die wahre Identität des Schöpfers erzählen können. An einer Bäckerei machte Marcus plötzlich Halt.
„Also, ich weiß ja nicht, wie's bei dir aussieht, aber ich hab tierischen Kohldampf! Was hältst du davon, wenn wir hier erstmal Rast machen und uns was für zwischen die Zähne besorgen? Ich lad dich auf 'nen Kaffee ein, okay?“ Voller Vorfreude sah er sie an und sie konnte gar nicht anders, als seine Einladung anzunehmen. Auch wenn sie nicht genau wusste, was er mit „Kohldampf“ und „was zwischen die Zähne“ meinte. Und auch „Kaffee“ kannte sie nur aus den wenigen Momenten, in denen sie die Menschen heimlich beobachtet hatte. Was es allerdings genau mit dieser seltsamen, dunklen Flüssigkeit auf sich hatte, welche die Menschen so zu vergöttern schienen, wusste sie nicht. Aber sie freute sich beinahe darauf, es jetzt herauszufinden.
„Das klingt wirklich großartig, ich nehme dein Angebot sehr gerne an!“ Marcus musste ein wenig über ihre überhöfliche Art schmunzeln, aber er verkniff sich jegliche Bemerkung und hielt Angel die Tür zur Bäckerei auf. Als diese den hellen und freundlichen Raum betrat, stieg ihr als erstes ein unbekannter, aber mehr als angenehmer Duft in die Nase. Sie drehte sich zu Markus um, welcher nun seinerseits die Bäckerei betreten hatte.
„Sag mal, was riecht denn hier so gut?“ fragte sie ihn neugierig und er erkannte, dass diese Frage tatsächlich nicht ironisch, sondern wirklich ernst gemeint war.
„Also ich rieche hier nur frisch gebrühten Kaffee. Den besten in der ganzen Stadt, übrigens. Aber du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass du noch nie Kaffee gerochen hast?“ Sichtlich erstaunt und verwirrt sah er die junge Frau an, die vor ihm stand und allen ernstes zu behaupten schien, dass sie nicht wusste, wie Kaffee roch.
„Das ist also Kaffee? Oh, dann verstehe ich, warum ihr Menschen...ähm, also warum alle so verrückt danach sind. Das riecht wirklich himmlisch!“ Sie sog erneut tief den Duft durch die Nase ein und wünschte, ihn nie wieder zu verlieren.
„Du veräppelst mich doch, oder? Willst du mir ernsthaft erzählen, dass du keinen Kaffee kennst? Wo kommst du denn her? Aus Kambodscha oder so? Aber ich schätze, selbst da wird man doch Kaffee kennen. Na egal, dann ist das hier heute halt quasi dein erstes Mal. Also, was das Kaffee-Trinken angeht.“ Erneut grinste er sie verschmitzt an, aber dieses Mal verstand sie seine Andeutung nicht und lächelte nur der Höflichkeit halber zurück.
„Und was möchtest du essen? Also ich tendiere ja zu einem großen Stück Schwarzwälder Kirsch. Es gibt echt nichts besseres zum Kaffee!“
Unsicher sah sie auf den gläsernen Tresen, hinter dem die verschiedensten Gebäcksorten und Kuchen aufgebahrt waren. Da sie absolut keine Ahnung hatte, worum es sich bei den ganzen Sachen handelte, aber alles auf seine Weise sehr verführerisch und in ihren Augen ästhetisch aussah, und sie sich somit schwer tat, eine Entscheidung zu treffen, entschied sie sich ebenfalls für dieses „Schwarzwälder Kirsch“, was auch immer das sein sollte. Somit bestellte Marcus ihnen zwei große Tassen Kaffee und die beiden Stücken Torte und sie setzten sich an einen der Zweiertische am Fenster. Marcus nahm einen kleinen Schluck von seinem Kaffee und Angel sah ihm gebannt zu, um es ihm dann gleich zu tun. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Kaffee heiß sein würde und verbrannte sich somit die Lippen und die Zunge, was ihr einen leisen Aufschrei entlockte.
„Vorsicht, Vorsicht, immer langsam mit den jungen Pferden. Vielleicht hätte ich dich vorwarnen sollen, dass der Kaffee hier immer besonders heiß ist. Geht’s wieder?“
Angel nickte nur und schob die Tasse weit von sich weg. So schnell hatte sie nicht vor, wieder davon zu probieren. Als Marcus sich auf sein Stück Schwarzwälder Kirsch stürzte, sah Angel interessiert, aber auch leicht skeptisch zu. Die unangenehme Überraschung mit dem Kaffee hatte sie noch nicht ganz verdaut und sie war sich nicht sicher, ob sie diesem seltsamen Kuchenstück trauen konnte. Aber letztendlich wagte sie es doch und schob sich ein Stück des Kuchens in den Mund. Als das Gebäck ihren Gaumen erreichte und seinen Geschmack in ihrem Mund entfaltete, konnte sie ein wohliges Stöhnen nicht unterdrücken. Anerkennend begutachtete sie das Stück Torte.
„Wow, das ist wirklich umwerfend! Ich wusste ja gar nicht, was ich alles verpasst habe. Dafür könnte man ja glattweg töten.“ Immer noch ließ sie den Geschmack in ihrem Mund nachwirken und konnte immer noch nicht fassen, wie gut es schmeckte und dass sie all die Jahre als Engel darauf hatte verzichten können. Marcus jedoch sah sie verwundert und skeptisch zugleich an.
„Also, jetzt mal ernsthaft, wo kommst du denn nun wirklich her? Du kennst keinen Kaffee und Schwarzwälder Kirsch hast du auch noch nie gegessen. Aber du beherrschst unsere Sprachen völlig akzentfrei. Irgendetwas ist doch da faul. Komm schon, rück mit der Sprache raus, wer bist du wirklich?“
Angel fühlte sich nun leicht in die Ecke gedrängt, aber sie sah auch ein, dass sie Marcus tatsächlich eine Erklärung schuldig war. Und zwar eine möglichst Plausible. Aber sie hatte keine Ahnung, wie sie ihr seltsames Verhalten angemessen hätte erklären können. So schien es nur eine Möglichkeit zu geben: sie musste ihm die Wahrheit sagen. Auch auf die Gefahr hin, dass er sie für geisteskrank hielt oder ihr einfach nicht glauben würde. Seltsamerweise versetzte es ihr einen leichten Stich, wenn sie daran dachte, dass er sie für verrückt halten könnte. Sie wusste selber nicht, warum, aber irgendwie wünschte sie sich nichts mehr, als dass er ihr Glauben schenken würde.
„Also, um ehrlich zu sein und so seltsam es sich auch anhören mag, aber eigentlich bin ich gar kein richtiger Mensch. Bis vor kurzem war ich noch ein Engel, aber da ich Gottes Gunst verspielt habe, hat er mich zu einem Menschen gemacht und mich auf die Erde geschickt. Deshalb stand ich vorhin auch orientierungslos auf den Schienen. Ich hätte einfach nie gedacht, dass Gott so etwas tatsächlich tun würde. Und nun muss ich mich mit dem deprimierenden Schicksal -mein Dasein als Mensch fristen zu müssen- wohl oder übel abfinden. Ich weiß zwar noch nicht, wie ich das anstellen soll, schließlich kenne ich die Menschenwelt nur aus wenigen -zugegebenermaßen unerlaubten- Beobachtungen. Wenn du mich jetzt für völlig verrückt hältst, ist das natürlich dein gutes Recht, aber du hast mich um eine Erklärung gebeten und das ist die einzige, die ich dir geben kann. Und vor allem ist es die einzig wahre Erklärung, auch wenn sie unglaublich klingen mag.“
Betreten sah sie zu Boden und traute sich nicht, Marcus direkt anzusehen, aus Angst, Unglauben oder sogar Spott in seinen Augen zu entdecken. Einige Zeit herrschte Schweigen zwischen ihnen, doch als Marcus wieder zu sprechen begann, klang seine Stimme keineswegs ungläubig, sondern nur leicht verwirrt.
„Na ja, also dass etwas mit dir nicht stimmt, beziehungsweise dass du irgendwie anders -wenn nicht sogar seltsam bist, das hab ich ja schon vorhin bemerkt, als du den Zug mit großen Augen angestarrt hast, anstatt zur Seite zu springen. Irgendetwas an deiner ganzen Erscheinung, deiner ganzen Art, war sonderbar und fremd. Aber nicht im Sinne von „ausländisch“ oder so, sondern einfach nur...ach, keine Ahnung. Aber mit so einer Erklärung hätte ich jetzt wirklich nicht gerechnet und es klingt wirklich unglaublich. Unglaublich, aber aus deinem Mund keineswegs unglaubhaft. Seltsamerweise, wie ich zugeben muss. Man, das ist echt starker Tobak, aber es erklärt so einiges. Aber was hast du denn jetzt vor? Irgendwie musst du als Mensch ja jetzt klar kommen.“
Völlig verwirrt ob seiner Worte und vor allem der Tatsache, dass er ihr tatsächlich glaubte, bemerkte sie im ersten Moment gar nicht, dass er ihr eine Frage gestellt hatte. Ihr Schweigen deutete Marcus allerdings als das Nichtvorhandensein einer Antwort ihrerseits und redete einfach weiter.
„Hm, ich könnte dich natürlich erst einmal mit zu mir nehmen und dir dann so eine Art Crash-Kurs in Sachen Menschsein geben, aber ich hab keine Ahnung, ob ich dafür sonderlich geeignet bin. Ist schließlich auch für mich das erstes Mal, dass ich in so einer Situation stecke. Und du brauchst ja auch eine Identität, also Papiere und so. Aber da könnte ich vielleicht Thomas fragen, der kennt da einige Leute, die sich in dem Bereich auskennen und uns unter Umständen weiterhelfen können. Dann musst du natürlich die wichtigsten Grundregeln lernen, damit du dich nicht aus Versehen völlig daneben benimmst oder noch mal so ein Missgeschick wie mit dem Kaffee passiert. Das wäre wohl erst einmal das Wichtigste und alles andere können wir dann danach regeln. Also, was hältst du davon?“ Voller Enthusiasmus sah er sie an und schien es kaum erwarten zu können, Angel etwas vom richtigen Leben als richtiger Mensch beibringen zu können.
„Ich habe zwar, ehrlich gesagt, nicht alles so genau verstanden, aber ich nehme an, dass ist fürs Erste ein ganz guter Plan. Wobei du da wahrscheinlich mehr Ahnung von hast, also vertraue ich dir einfach mal. Bleibt mir ja auch kaum was anderes übrig.“ Sie lächelte schief um ihm zu zeigen, dass sie den letzten Satz nicht wirklich ernst gemeint hatte und er lächelte zurück. Als sie ihn so vor sich sah, kam ihr plötzlich ihr neues Schicksal gar nicht mehr so schrecklich vor und sie hatte das Gefühl, dass sie sich an diesen Zustand tatsächlich früher oder später gewöhnen würde. Und mit Marcus' Hilfe wahrscheinlich sogar eher früher.
Also verließen sie die Bäckerei und machten sich auf den Weg zu Marcus' Wohnung. Diese befand sich etwas außerhalb gelegen in einem der ruhigsten Viertel der Stadt. Sie war geräumig und durch die große Fensterfront im Wohnzimmer auch sehr hell und sonnig. Es war bereits Nachmittag und Angel hatte gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit verflogen war. Es war schon beinahe sieben Stunden her, dass ihr Dasein als Mensch begonnen hatte und sie Marcus begegnet war. Neugierig sah sie sich in der Wohnung um und entdeckte so einige wunderliche Dinge, von denen sie weder Namen noch Zweck kannte, aber sie war zuversichtlich, dass Marcus ihr das alles nach und nach erklären und beibringen würde. Und das tat er auch.

~*~

In den nächsten Wochen verbrachten sie vierundzwanzig Stunden am Tag zusammen und schon bald besaß Angel tatsächlich so etwas wie eine eigene Identität und kannte sich in den wichtigsten Lebensbereichen ohne weiteres aus. In der gemeinsamen Zeit wurde ihr auch immer bewusster, dass sie in Marcus so etwas wie ihren Seelenverwandten sah, sofern man bei einem ehemaligen Engel schon großartig von Seele reden konnte. Natürlich besaß sie eine Seele, schon zu Zeiten als Engel, aber diese war nun wahrlich nicht mit der kümmerlichen Seele eines Sterblichen zu vergleichen. Aber sie spürte auch, dass ihre unsterbliche Seele ebenfalls immer menschlicher wurde und sie auch von menschlichen Makeln und Fehlern belastet wurde. Und es war für Angel mehr als schmerzhaft, ihre menschliche Hülle, ihr Gefängnis, zerfallen zu spüren. Natürlich alterte sie nicht schneller als alle anderen Menschen, aber sie war es nie gewöhnt gewesen, an einen Körper gebunden zu sein, welcher um sie herum älter wurde und die Spuren der Zeit nicht unbemerkt vorbeiziehen ließ. Gerade in der Anfangszeit hatte sie nächtelang wach gelegen und stumm um ihre verlorene Unsterblichkeit getrauert, hatte die Tränen in ihren Augen gespürt und wie sie ihre Wangen hinab liefen und hatte sich damit nur noch sterblicher und verwundbarer gefühlt, was sie in eine noch tiefere Verzweiflung abdriften ließ. Aber jedes Mal war Marcus zur Stelle gewesen, hatte sie ohne ein weiteres Wort in den Arm genommen und festgehalten, hat ihr die Tränen aus dem Gesicht gewischt und sie sacht hin und her gewiegt. Und jedes Mal hatte es ihr geholfen, mit der Trauer umzugehen und sich wieder zu beruhigen. Mit keinem menschlichen Wort hätte sie beschreiben können, wie unendlich dankbar sie ihm dafür war. Allein für seine Anwesenheit und sein stummes Verständnis. Er war ihr Halt, ihr Lichtblick, ihre Hoffnung. Sie würde nicht so weit gehen, ihn ihre Liebe zu nennen, denn sie hatte einst ihr Herz Azrael versprochen. Aber zu ihrem Leidwesen spürte sie, wie sie Azrael immer mehr zu vergessen schien. Alles, was vor ihrem Dasein als Sterbliche gewesen war, entzog sich immer mehr ihrer Erinnerung und je stärker sie versuchte, das Vergangene vor ihren Augen aufleben zu lassen, desto stärker vernebelte sich die Erinnerung in ihrem Kopf. Und nichts konnte diesen Vorgang aufhalten. So sehr sie es manchmal auch wünschte, so wurde sie doch mit jedem Tag menschlicher und alles Engelsgleiche wich von ihr. Nur ihr Aussehen behielt sie eine Zeit lang. Die grazile Gestalt, die hüftlangen weißblonden Haare, die dunkelblauen, beinahe violetten Augen. Doch ihre Gestalt war schon bald nicht mehr so grazil, sondern wirkte eher ausgemergelt, ihr Haar wurde langsam stumpf und spröde, und ihre Augen, die einst unergründlich und tief waren, und in denen dieser ganz besondere Glanz zu finden war, sie waren zu den Augen einer Sterblichen geworden, hatten ihren unendlichen Glanz verloren und nun sah man nur noch Trauer und Schmerz über das Leid dieser Welt und über ihr eigenes, freudloses Schicksal. Tränen hatten den Glanz mit sich davon gespült und die Zeit hatte ihr Übriges getan. Ja, sie hatte sich an ihr Dasein als Mensch gewöhnt, da sie immer mehr vergaß, was sie ursprünglich gewesen war. Und kein anderer hätte irgendetwas sonderbares an ihr bemerkt, außer vielleicht diese endlos traurigen Augen. Nur Marcus sah die Veränderung, sah sie immer mehr zu der abgestumpften sterblichen Hülle werden, welche sie anfangs so sehr gehasst und verflucht hatte. Und es zerriss ihm beinahe das Herz, sie so leiden zu sehen und ihr nicht helfen zu können. Also tat er zumindest sein Bestmögliches, um ihr Leben so angenehm wie nur möglich zu gestalten. Er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab und war für sie da wann immer sie ihn brauchte. In gewisser Weise liebte er sie. Ob es nun an ihr oder an ihrer engelsgleichen Herkunft lag, vermochte er nicht zu beurteilen, aber er wusste, dass er alles für sie tun würde. Gegebenenfalls würde er auch für sie sterben.

~*~

Sie waren schon im Morgengrauen aufgestanden, und liefen nun mehr oder weniger ziellos durch die Straßen. Sie beide hatten das Gefühl gehabt, einfach raus zu müssen, sich bewegen und keine Sekunde zu rasten. Es war ein schöner Morgen, die Vögel saßen in den Bäumen und zwitscherten ihre fröhlichen Melodien und die Sonne stand schon früh recht weit oben am Himmel. Nach einigen Stunden des Umherwanderns wurden sie des Laufens überdrüssig und stiegen die Treppen zu einem U-Bahn-Schacht herab. Sie hatten noch fast zwei Minuten Zeit und so standen sie schweigend und wartend nebeneinander, bis ein wild aussehender Jugendlicher ihre gemeinsame Stille durchbrach.
„Hey, habt ihr vielleicht ma 'ne Kippe für mich?“ Nichts an diesem jungen Mann wirkte sympathisch und man würde ihn älter schätzen, als er eigentlich war, denn sein Gesicht war von der Zeit des Herumstreunens gegerbt und gezeichnet worden. Mit einer Mischung aus Ungeduld und Abneigung sah er das so ungleiche Pärchen an und wartete auf eine Antwort. Schließlich verneinten beide und verfielen wieder in ihr wissendes Schweigen. Diese fehlende Anteilnahme und Ignoranz der beiden missfiel dem Gammler so sehr, dass er all seine angestaute Wut auf die Bevorzugten und Wohlhabenden dieser Welt bündelte, auf das junge Mädchen, dass einst fast übermenschlich schön gewesen sein musste, und stieß sie mit aller Kraft in den Rücken. Beinahe hätte sie es noch geschafft, das Gleichgewicht zu halten, aber auf einer nassen Stelle auf dem Boden rutschte sie aus, verlor endgültig den Halt und stürzte auf die Schienen. Die Wartezeit auf der Anzeigetafel der U-Bahn war erloschen, was bedeutete, dass der Zug jeden Moment um die Ecke gefahren kommen könnte. Marcus dachte keine Sekunde über das nach, was er tat, als er zu Angel auf die Schienen sprang und ihr auf den Bahnsteig hinauf half. Dann versuchte er selber, sich hochzustemmen, doch der erste Versuch scheiterte, er rutschte wieder nach unten und im selben Augenblick leuchteten die Scheinwerfer der U-Bahn auf und sie näherte sich zwar nicht mehr mit voller Geschwindigkeit, aber doch noch viel zu schnell. Ein letztes Mal versuchte Marcus, auf den Bahnsteig zu gelangen und Angel reichte ihm die Hand, aber er schaffte es nicht und der Zug riss ihn mit sich, bis er am Ende des Gleises zum Stillstand kam. Für Marcus kam jede Rettung zu spät.

~*~

Seit Stunden schon stand sie am Rande des zehnstöckigen Gebäudes und starrte in die kalte und dunkle Nacht hinaus. Der Wind konnte ihre Tränen nur kurzweilig trocknen, denn sogleich benetzten Neue ihr Gesicht. Wie hatte es nur so weit kommen können? Alles was sie gewollt hatte, war etwas Liebe und später zumindest etwas Glück. Aber sie verstand es nun. Endlich verstand sie es. Sie hatte ihr Dasein als Engel aufs Spiel gesetzt und hatte es verloren. Sie war ein gefallener Engel. Und ein gefallener Engel war für immer aus dem Paradies verbannt und konnte nie wieder dahin zurückkehren. Und die Zeit mit Marcus kam dem Paradies schon sehr nahe, auch wenn ihre sterbliche Hülle ihr Anfangs große Schwierigkeiten bereitet hatte. Aber sie war kurz davor gewesen, sich gänzlich daran zu gewöhnen und ihre Vergangenheit vollkommen zu vergessen. Dann hätte ihrem Glück mit Marcus nichts mehr im Wege gestanden. Aber das war ihr nicht vergönnt gewesen. Sie war und blieb ein gefallener Engel, egal, wie sie es drehte und wendete. Daran würde sie nie etwas ändern können und ihr war ein Leben in Kummer und Leid bestimmt. Zumindest, solange sie am Leben war.
Es gab eine Zeit, da hatte sie Flügel besessen. Weiß wie frisch gefallener Schnee und sanft wie ein zarter Windhauch. Es gab eine Zeit, da hatte sie fliegen können. Jetzt war die Zeit gekommen, zu sehen, ob ihre Flügel doch noch vorhanden waren und sie immer noch fliegen konnte. Sie breitete die Arme aus, wie um ihre verlorenen Schwingen zu imitieren und als sie sich fallen ließ, schien es für einen Moment so, als ob der Wind sie mit sich fort tragen würde. Aber dann stürzte sie nur noch und der Fall gab ihr das Gefühl von Freiheit wieder, welches sie seit ihrem Dasein als Mensch so schmerzlich vermisst hatte. Sie wusste, dass es von nun an für sie nur noch besser werden könnte. Sie würde Marcus folgen, bis ans Ende der Welt und an den Anfang der Zeit. Und dort wären sie für immer vereint. Der gefallene Engel und sein Seelenspiegel.
Als ihr Körper den Boden berührte, fing es zu regnen an, gerade so, als ob der Himmel um seinen ehemaligen Bewohner trauern würde. Und es regnete sieben Tage und sieben Nächte ununterbrochen, während die Menschheit eine ungekannte und unergründliche Trauer und Melancholie verspürte, welche von diesem Tage an auf ewig tief in ihren Herzen verharrte.

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Tag der Veröffentlichung: 19.12.2008

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