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Ein Blitz erhellt die Dunkelheit und Donnergrollen durchbricht die Stille. Schon seit einiger Zeit stehe ich hier oben auf dem Turm. Der Regen macht mir nichts aus. Eher habe ich das Gefühl, dass er meine Gedanken rein wäscht und ich dadurch wieder klar denken kann. Denn heute Morgen noch war mein Verstand von eben jenen dunklen Wolken verhangen, welche mir nun die Sicht auf den Nachthimmel versagen und unablässig ihre Regentropfen gen Erde schicken. Die Schwere dieser Nacht lastet wie ein bleierner Mantel auf mir und mein Blick schweift in die Ferne.
Ich lebe schon seit vielen Jahren mit meinem Vater und meiner kleinen Schwester in dieser jetzigen Ruine, die einst, vor nur wenigen Monden, noch eine ansehnliche Burg darstellte. Doch man hatte versucht, sie nieder zu brennen, um uns von hier zu vertreiben. Denn die Dorfbewohner sind nicht gut auf uns zu sprechen und obwohl unser Wohnsitz einige Meilen vom Dorf entfernt ist, sieht man uns anscheinend als Bedrohung an. Zwar sind wir beinahe menschlich anzuschauen, tatsächlich jedoch sind wir Geschöpfe der Nacht. Keine Vampire, wie die Dorfbewohner glauben, denn eigentlich sollte es allseits bekannt sein, dass Vampire selbsterfundene Mythen sind. Selbsterfunden deshalb, weil sie intelligent genug sind, sich nicht von den Menschen fangen und dann untersuchen zu lassen, wie sie es ja so gerne mit ihnen unbekannten Dingen tun. Und normalerweise hat sie auch noch kein Sterblicher je in ihrer wahren Gestalt zu Gesicht bekommen, oder aber er lebte danach nicht mehr lange genug, um jemandem davon zu berichten. Als Menschen getarnt mischen sie sich nämlich recht gerne unter das gemeine Volk und verbreiten Gerüchte über sich selbst, um die Menschen zwar glauben zu lassen, Vampire existierten tatsächlich, ihnen aber gleichzeitig auch genug Angst einzujagen, dass sie nicht auf die Suche nach ihnen gehen würden. Oder so sehr mit ihren Schilderungen zu übertreiben, dass die Menschen ihnen eh nicht glauben würden, dass es Vampire gibt. So hatten die Vampire ein recht angenehmes Leben, während sie unser Dasein damit zur Hölle machten.
Denn während die Vampire unentdeckt unter den Menschen wandelten, besaßen wir nicht die hilfreiche Gabe, uns tarnen und anpassen zu können. Unsere bleiche Haut und die kontrastreichen dunklen Augen und Haare waren noch die geringsten Erkennungsmerkmale. Was die Leute wirklich abschreckte und in den Glauben versetzte, wir seien die wirklichen Vampire, waren unsere Flügel. Jedem unserer Art wuchsen mit Beginn der Reife ein schwarzes Paar Schwingen, welche sich ja nun wahrlich schwer verbergen ließen. Und genau diese hatten uns in diese arg bedrohliche Situation gebracht.
Auch die Tatsache, dass ein besonders brutaler und blutrünstiger Vampir in Moony Hollow vor nicht allzu langer Zeit sein Unwesen trieb, hetzte uns die ungestümen Dorfbewohner auf den Hals, da diese annahmen, wir wären für die grausamen und widerwärtigen Verbrechen verantwortlich. Man sollte vielleicht meinen, die Geschöpfe der Nacht würden ja zusammenhalten, doch zwischen unserer Rasse und den Vampiren herrschte schon seit vielen Jahren ein stiller Kampf. Die elenden Blutsauger sahen sich schon seit Anbeginn der Zeitenrechnung als etwas Besseres an und meistens tolerierten wir es, da uns nichts anderes übrig blieb. Wir wären ihnen zahlenmäßig einfach unterlegen. Und solange sie ihr wirres Spiel im Verborgenen treiben und die Menschen, die sie aussaugen, unauffällig verschwinden lassen, gibt es auch keine weiteren Probleme. Doch hin und wieder gibt es auch Verrückte und Geisteskranke unter den Vampiren. Eine der ursprünglich menschlichen Krankheiten, die sie sich durch unbedachtes und wahlloses Aussaugen eingefangen haben. Und diese Irren töten nicht um des Trinkens und des Überlebens Willen, sondern nur aus purer Mordlust und aus Vergnügen. Sie quälen und foltern ihre Opfer auf grausamste Art und Weise, saugen sie dann bis auf den letzten Tropfen Blut aus und lassen die geschändeten und verstümmelten Körper einfach unbekümmert auf offener Straße liegen. Natürlich können die Sterblichen dieses verwerfliche Tun nicht übersehen und auch nicht tolerieren und es ist nachvollziehbar, dass sie jemanden dafür zur Verantwortung ziehen wollen, jedoch erkennen sie nicht, wie oberflächlich sie dabei vorgehen.
Das sieht man allein schon daran, dass sie uns diese schändliche Tat ankreiden wollen, wo wir doch eigentlich die friedliebendsten und gutmütigsten aller Wesen sind. Abgesehen vielleicht von Einhörnern, welche ja nun wahrlich in ihrer Reinheit und Tugend nicht zu übertreffen sind. Doch diese haben sich schon vor Jahren von der Menschheit zurückgezogen und sich seit dem nie wieder dem Blick eines sterblichen Auges ausgesetzt. Und daran taten sie gut, denn die Menschen sind so blind was die Dinge angeht, die nicht in ihr vordefiniertes Bild passen. Alles, was anders ist als sie, wird als unnormal deklariert und ist daher entweder böse oder aber nicht existent. Ihre ganze Welt, ihre Glaubensgrundsätze, ihr Handeln und Tun ist auf dieses eine Axiom aufgebaut. Und da solle sich noch jemand wundern, dass es mit der sterblichen Welt zugrunde geht.
So sind wir nun ganz auf uns allein gestellt. Hinzu kommt noch, dass Vater im Sterben liegt und ich, als letzter männlicher Nachkomme, nun für unsere Sicherheit und unser Überleben verantwortlich bin.
Ich weiß nicht, ob ich schon dazu bereit bin, auch wenn ich bereits ein fortgeschrittenes Alter erreicht habe. Die Menschen, mit ihren blinden und arroganten Augen, mochten mich für siebzehn, höchstens achtzehn halten, in Wahrheit bin ich jedoch schon 173 Jahre alt. Denn unsere Rasse altert ungefähr zehn Mal langsamer als die sterbliche Bevölkerung und während meine kleine Schwester schon 81 Jahre alt ist, hat sie doch das Aussehen eines achtjährigen Mädchens. Somit war sie intelligenter und viel weiser als jede achtjährige Sterbliche, jedoch war sie mindestens genauso schutzbedürftig. Denn alle Weisheit der Welt hilft nicht weiter, wenn man sich mit dem Körper eines Kindes wehren und verteidigen muss. Es hilft einem höchstens, sich möglichst bedeckt zu halten und den Menschen so gut es geht aus dem Weg zu gehen.
Ein erneutes Donnern holt mich mit meinen Gedanken ins Hier und Jetzt zurück. Es würde jeden Moment mit meinem Vater zu Ende gehen, dass Gewitter kam immer näher. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Blitz mich treffen und damit Vaters Seele, sein Wissen, seine Kraft auf mich übertragen würde. Immer, wenn ein Ältester starb, wurden seine gesammelten Erfahrungen und alles andere Wichtige auf den erstgeborenen Sohn oder den jeweils ältesten männlichen Blutsverwandten übertragen. Und da Vater der Älteste gewesen war und er außer mir und meiner Schwester keine weiteren Nachfahren oder Angehörige hatte, würde seine Seele nun auf mich übergehen. Dann gäbe es nur noch zwei von unserer Art. Das Überleben und Fortbestehen unserer Rasse läge allein in den Händen meiner Schwester und mir.
Unter Sterblichen würde man dies sicher als Inzucht beschimpfen, jedoch besitzen wir eine viel komplexere DNA-Struktur und unsere gleichen Gene würden sich durch die inzestuöse Fortpflanzung nicht negativ auf unseren Nachkommen auswirken, sondern nur die besten und stärksten unserer Eigenschaften würden weitergegeben werden. Das war eine weitere Maßnahme der Natur, um unser Überleben zu sichern.
Das einzige Problem an der Sache war nur, dass es noch ungefähr 70 Jahre dauerte, bis meine Schwester fähig sein würde, einen Erben zu gebären. Bis dahin mussten wir unser Bestes tun, um zu überleben.
Ich sehe zum Himmel hinauf und nun befindet sich eine gigantische schwarze Wolke direkt über mir. Es ist soweit. Voller Erwartung schließe ich die Augen und nur Sekunden später spüre ich etwas tief in meinen Körper eindringen und mich vollständig von innen ausfüllen. Wissen, Erinnerungen, Gedanken, Erfahrungen und Empfindungen aus 648 Jahren schießen durch meinen Leib und suchen sich ihren vorbestimmten Platz. Und ich weiß, dass ich bereit bin. Mit der Hilfe meines Vaters würde ich es schaffen, auf meine Schwester und auch auf mich aufzupassen. Ich fühle mich so lebendig und stark wie noch nie, doch gleichzeitig auch unglaublich erschöpft und müde.
Ich beschließe, mich ein wenig hinzulegen und zu dösen und somit lege ich mich zu meiner Schwester ins Bett. Unbewusste dreht sie sich zu mir und kuschelt sich an mich. Sie war nicht nur so schutzbedürftig wie eine Achtjährige, sondern auch so anhänglich. Ich nehme sie behutsam in meine Arme während sie "Ich hab dich lieb, Papi" im Schlaf murmelt. Erst jetzt wird mir wirklich bewusst, dass Vater von uns gegangen war, auch wenn ein Teil von ihm in mir weiterlebt. In meinen Gedanken noch bei Vater, schlafe ich nach kurzer Zeit schon ein.
Ein beißender Geruch weckt mich wieder auf. Im ersten Moment schaue ich mich desorientiert um und habe keine Ahnung, was überhaupt geschehen ist. Dann fällt mir alles wieder ein, das Gewitter und Vaters Tod. Ich sehe mich im Zimmer um und bemerke, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich weiß nur nicht, was. Doch dann rieche ich es. Rieche es wieder. Diesen Geruch, der mich aufweckte. Jetzt, wo ich wach bin und meine Gedanken sammeln konnte, erkenne ich den Geruch. Ich habe ihn schon einmal wahrgenommen, vor nur wenigen Monden. Der Geruch von Rauch. Der Geruch von Feuer. Der Geruch von Tod!
Die Dorfbewohner waren zurückgekommen, während ich geschlafen hatte, und sie hatten unser Heim zum zweiten Male angezündet. Als ich versuche, aufzustehen, überfällt mich ein starker Hustenreiz und ich setze mich wieder hin. Das Atmen fällt mir immer schwerer, aber mit letzter Kraft schleppe ich mich zum Fenster. Da draußen stehen sie alle versammelt, die Fackeln noch in der Hand und sie jubilieren und triumphieren und ergötzen sich am Feuerschein und ihrer Heldentat.
Es gibt nur eine Chance, wie wir diesem Flammeninferno noch rechtzeitig entkommen können. Ich versuche, meine Schwester aufzuwecken, doch der giftige Rauch hat sie benommen gemacht, und somit schließe ich sie fest in meine Arme, gehe zurück zum Fenster, öffne es, und springe in die Nacht. Im ersten Moment denke ich, ich schaffe es doch nicht, aber dann finden meine Schwingen den richtigen Schlagrhythmus und ich erhebe mich in die Luft. Als ich über die Menschen hinweg fliege, höre ich Peitschengeknalle die Luft zerreißen. Zu spät erkenne ich, dass es sich um Gewehre handelt. Unzählige dieser Teufelsgeräte sind auf uns gerichtet und ich spüre etwas nahe meinem Ohr vorbei zischen. Als wir schon fast über dem angrenzenden Waldstück angelangt sind, bohrt sich etwas schmerzhaft in meinen Oberarm und ich spüre, wie sich meine Schwester meinem Griff entwindet. Die Kraft in meinem Arm verlässt mich und der kleine Körper gleitet aus meiner Umarmung. Ich setze zum Sturzflug an, um sie noch rechtzeitig auffangen zu können, doch da spüre ich einen erneuten Schmerz in meiner Brust. Als ich an mir herab blicke, sehe ich, wie sich mein weißes Hemd langsam rot färbt. Dann schlage ich auf dem Boden auf, keine fünf Meter von meiner Schwester entfernt. Mit letzter Kraft versuche ich, zu ihr zu gelangen. Von irgendwo weit her höre ich Stimmen näher kommen. Oder zumindest denke ich, dass sie näher kommen. In meinen Verstand rückt alles außer meiner Schwester immer weiter aus meiner Wahrnehmung und erst, als uns die tanzenden Fackeln schon fast erreicht haben, bekomme ich die Hand meiner Schwester zu fassen. Ihre kleine Hand, sie ist ganz kalt. Die Fackeln befinden sich jetzt direkt vor uns und ich nehme Stimmen wahr, verstehe jedoch nicht, was sie sagen. Jetzt ist nur noch meine Schwester wichtig. Sie wollen ihr wehtun, aber das werde ich nicht zulassen. Ich ziehe mich weiter zu ihr heran und lege mich schützend über sie. Küsse ein letztes Mal ihre Stirn, als die Kugeln überall in meinen Körper eindringen und alles um mich herum schwarz wird. Das letzte, was ich sehe, ist das liebliche und unschuldige Gesicht meiner über alles geliebten Schwester.

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Tag der Veröffentlichung: 19.12.2008

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