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1.Kapitel




Ich zog meinen löchrigen Mantel enger um meinen Körper, als eine kalte Brise durch die Gasse wehte und mir einen Schauer auf meiner von Frost gequälten Haut bereitete. Ich verabscheute die kalte Jahreszeit, die ich nun fast überstanden hatte, mehr als den Hunger, der meine Eingeweide peinigte. Dieses Jahr hatte es zwölf erwischt. Erfroren in der Kälte, waren sie nicht mehr aufgewacht.
Die Lumpen, die ich um meine Hände gewickelt hatte, waren nur eine kleine Hilfe, deshalb presste ich meine Hände unter meine Arme. Wenn ich auch nur einen Finger verlor, so wie es vielen passierte, würde sich der Ertrag meiner Diebstähle, die ich zum Überleben benötigte, dramatisch verringern. Ich müsste betteln und würde schon in weniger als ein paar Monaten verhungern.
An meinem Ziel angelangt klopfte ich an der hölzernen Tür des Stalles, in dem ich nachts Unterschlupf fand. Meine Hand schmerzte und die rissige Haut an meinen Fingern begann wieder zu bluten. Die Tür öffnete sich und ich konnte bereits die Wärme spüren, die in dem kleinen Nebengebäude der Gaststätte herrschte.
Kaleb, der Stallbursche, der sich um die Pferde der Gäste kümmerte, begegnete mir ohne ein Wort des Grußes. Ich wollte eintreten, doch er versperrte mir den Durchgang.
,,Tut mir Leid, Mina, aber ich kann dich nicht mehr hier schlafen lassen.”
Seine Worte trafen mich wie ein frostiger Windstoß und ließen mich sogar in meinem ununterbrochenen Zittern innehalten.
,,Was? Aber… ich habe niemandem erzählt, dass ich hier übernachte. Ich schwöre es!”
,,Darum geht es nicht. Mein Vater hat davon erfahren, dass ich dich hier schlafen lasse. Er hat mir gedroht mich aus dem Haus zu werfen, wenn ich dir noch einmal Zutritt zum Stall gewähre. Du ruinierst den Ruf unserer Gaststätte.”
Ich gab mir immer die größten Mühen keinen Ärger zu verursachen oder Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, doch dieses Mal ging es um mein Überleben. Eine Nacht auf der Straße könnte tödlich sein. Selbst jetzt, wo das Wetter wieder besser wurde.
,,Verdammt, Kaleb! Unsere Vereinbarung war es, dass ich niemandem von diesem Zufluchtsort erzähle, damit nicht noch mehr Obdachlose um deine Hilfe bitten. Genau das habe ich getan. Ich habe nichts gesagt!”
,,Darum geht es nicht mehr.”, redete er sich heraus und knöpfte seinen Mantel zu, um sich gegen den Windzug zu schützen.
,,Ich bin nicht scharf darauf auch auf der Straße zu landen. Du kennst meinen Vater nicht. Er würde seine Drohung wahr werden lassen, wenn er wüsste, dass ich dir weiterhin Obdach biete.”
,,Ich werde mich verstecken. Bitte, ich…”
,,Tut mir Leid, aber du musst zusehen, wie du alleine klarkommst.”, unterbrach er mich und wollte die Tür wieder schließen. Schnell schob ich meinen Fuß in den Weg.
,,Dann sag mir zumindest, wo ich hingehen kann. Du kennst doch sicherlich jemanden.”
,,Ja, aber das sind keine Leute mit denen du dich abgeben solltest. Sie verlangen bestimmte Gefälligkeiten.”
Mir wurde bewusst, dass ich mal wieder vor der entscheidenden Frage stand, wie viel mir mein Leben wert war. So sehr ich auch ums Überleben kämpfte, ich hatte mich bisher nicht dazu durchringen können meinen Körper an willige Männer zu verkaufen. Meine Selbstsicherheit strikt von dieser Option abzusehen, geriet angesichts meiner Lage ins Wanken.
,,Hier.”
Der Junge hatte sich die Mütze von Kopf gezogen und hielt sie mir durch den Türspalt hin. Seine Hand war klein und auch er war von keiner besonderen Stärke, sodass ein Szenario durch meine Gedanken huschte, in dem ich ihn aus dem Stall zerrte und auch seinen Mantel und vielleicht auch noch sein Hemd an mich riss.
,,Ich würde wirklich gerne helfen, aber ich kann nicht. Nimm es mir nicht übel.”
,,Tue ich nicht.”, sprach und nahm sein Geschenk an, ohne meinen Überfall auszuführen. Es wäre ohnehin nicht schlau, da der Junge meinen Namen kannte und wusste, wo ich mich normalerweise aufhielt. Spätestens morgen würden die Soldaten auf der Suche nach mir sein, um mich für meine Tat zur Rechenschaft zu ziehen.
,,Viel Glück.”
Er schloss die Tür, nachdem ich sie freigegeben hatte. Fröstelnd zog ich mir die Mütze über meinen geschorenen Kopf. Das Leben auf der Straße war einfacher, wenn die Leute glaubten, ich sei ein Mann. Solange ich den Mund nicht aufmachte und achtsam blieb, hielt es zwielichtige Gestalten davon ab, sich an mir zu vergreifen. Meistens jedenfalls.
Verzweifelt blickte ich den kalten Nächten auf der Straße entgegen. Meine Haut brannte und auch wenn mein Kopf nun wärmer war, ging es mir nicht besser. Mein Magen rumorte vor Hunger und meine schmerzenden Zehen in meinen Stiefeln, die ich mir von einer toten Bettlerin gestohlen hatte, schrien nach Wärme. Die Haut meines Gesichts brannte und meine Nase lief ununterbrochen.
Mit Vorsicht verließ ich die Gasse. Die größeren Straßen der Stadt boten nur wenig Schutz und ich befand mich in dem Gebiet einer Diebesbande, die schon seit einiger Zeit ihr Unwesen trieb und Passanten überfiel. Auch wenn sie bei mir nicht viel zu holen hätten, würden sie mich dennoch dafür bestrafen, dass ich in ihr Revier eingedrungen war.
Normalerweise patrouillierten Soldaten an jeder Ecke, doch hatte sich die Bande als sehr hartnäckig und stark erwiesen, sodass manche Söldner einen Umweg um dieses Gebiet machten. Jeder, der ihnen nicht angehörte, hatte sie zu fürchten. Auch ich tat es.
Viele versuchten Zutritt zu ihrer Gemeinschaft zu finden, um bessere Chancen zu haben, doch hatte ich oft genug davon gehört, wie die Anführer ihre Anhänger behandelten. Selbst nun, wo Kaleb mir meine letzte Unterstützung entzogen hatte, war ich besser dran, als einer ihrer Kameraden.
Ich konzentrierte mich wieder auf meine Umgebung und als ich niemand auf der vor mir liegenden Straße ausmachen konnte, verließ ich die schützende Gasse. Der Matsch, den der Schnee hinterlassen hatte, schmatzte unter meinen Füßen und ich achtete darauf meine Schritte nicht zu energisch auf den Boden aufkommen zu lassen. Es war besser, wenn mich niemand hörte oder sah.
Anaran, die Hauptstadt Atreyas, war groß, doch es würde mir viel Zeit und Geduld kosten, jemanden zu finden, der bereit war mir ohne Gegenleistung Hilfe zu bieten. Dass ich Kaleb gefunden hatte, war Glück gewesen und dass er leicht zu beeinflussen war, hatte ich zu meinem Vorteil genutzt. Er war jünger als ich, wodurch ich eine gewisse Macht über ihn gehabt hatte. Ein dankbarer Kuss auf die Wange oder eine Umarmung, die mir die Kälte aus den Knochen nahm, hatten schon gereicht, um ihn für mich zu gewinnen. Leider fürchtete er seinen herrischen Vater mehr, als dass er meine Aufmerksamkeit genoss.
Erleichterung fasste mich, als ich das Revier der Diebesbande verließ, ohne ertappt oder ausgeraubt zu werden. Selbst wenn ich kein Geld besaß, könnten sie mir dennoch meine Kleider nehmen und mich auf der Straße erfrieren lassen.
Bibbernd stieß ich den Atem aus, der in Wölkchen aufstieg. Ich überlegte, was ich tun sollte und blieb in Bewegung, indem ich eine andere Richtung einschlug, um meinen Körper warm zu halten. Das Armenviertel, in dem ich mich befand, bot nicht viel Möglichkeit für einen Unterschlupf. Die meisten Hauseingänge waren bereits belegt und gewährten nur wenig Sicherheit. Ich musste immer wieder die Kriterien für Sicherheit und Unterschlupf gegeneinander abwägen.
Nachdem ich längere Zeit wahllos umhergegangen war, entschied ich das Armenviertel zu verlassen. Es war gefährlich, denn die Stadtwache sah es nicht gern, wenn Gesindel in die Bezirke der höheren Schichten eindrang. Sie glaubten, dass Leute, wie ich, die Wohlhabenden ausraubten. Mit dieser Befürchtung hatten sie mehr als Recht.


Mir war klar, dass es zu so einer späten Zeit schwer sein würde, an die Geldbörse eines Spaziergängers zu gelangen. Normalerweise hielt ich mich auf dem Markt auf, um dort, geschützt in der Masse, in die Tasche einer reichen Frau oder eines unbewaffneten Mannes zu greifen. Hinzu kam, dass die Soldaten fast an jeder Ecke anzutreffen waren. Vielen Dieben passierte es, dass sie gefasst wurden und dafür eine ihrer Hände einbüßten. Ich wollte nicht so enden und hielt mich deshalb im Schatten der Straßen, die sich in den Nischen bildeten, welche nicht vom Laternenlicht erfasst wurden.
Stimmen wurden durch die kalte Luft getragen und ich folgte ihnen mit Vorsicht. Eine Gruppe von Männern, die wahrscheinlich den Besuch eines Wirtshauses anstrebten, ging die Straße hinunter. Sich an sie heranzuschleichen und zu hoffen nicht erwischt zu werden, wäre dumm und unbedacht. Trotzdem folgte ich ihnen. Es war nicht schlecht sich in der Nähe der Gasthäuser aufzuhalten. Hier befanden sich zu der Zeit viele Leute.
Ich wechselte die Straßenseite und mein Herz schlug schneller, als ich bemerkte, wie zwei Soldaten mir entgegenkamen. Den Kopf hielt ich gesenkt und hoffte, sie würden aus der Entfernung nicht sehen, in welch schlechter Verfassung meine Kleider waren.
Ohne Vorfall passierte ich sie und kam einer Gruppe näher, die sich lachend vor den Türen eines Gasthauses unterhielten. Die Männer, denen ich gefolgt war, waren bereits eingetreten. Abwägend überlegte ich, ob ich hier mein Glück versuchen sollte, doch, als sich erneut Soldaten näherten, trat ich den Rückzug an. Die Nacht auf kaltem Stein zu verbringen wurde immer unausweichlicher und trotzdem wollte ich mich nicht damit zufrieden geben. Ich rieb meine Hände und hielt meine Zehen in Bewegung, um sie vor dem Erfrieren zu bewahren. Die Haut in meinem Gesicht tat weh und meine Lippen waren bereits aufgeplatzt und bluteten. Auf keinen Fall würde ich von meinem Plan absehen.
Mir wurde klar, dass ich, je mehr Zeit ich verstreichen ließ, risikobereiter werden würde. Als ich nach einer Stunde des Umherwanderns noch immer nicht erfolgreich gewesen war und beinahe von einem Soldaten entdeckt worden wäre, entschied ich meine Jagdtaktiken zu verschärfen. Ich hielt an einer Wegkreuzung und schielte um die Ecke. Ein Mann würde meinen Weg passieren und im Laternenlicht konnte ich erkennen, dass er unbewaffnet war und seine Kleider von guter Qualität waren. Diese Kriterien reichten aus, auch wenn es noch ein Restrisiko gab, das ich eingehen musste.
Tief atmete ich durch und schrie nach Hilfe. Ich rannte um die Ecke. Mein Körper war bereits so abgemagert, dass ich nicht so tun musste, als wäre ich aus der Puste. Ich schluchzte und sah mich hinter mir um, damit er glaubte, ich wäre vor jemandem auf der Flut. Ich stolperte in den viel zu großen Schuhen und kam hart auf dem Boden auf. Meine Hände schmerzten und der Aufprall ging durch meinen ganzen Körper. Auch wenn dies nicht mein Plan gewesen war, machte es meinen Auftritt nur noch glaubwürdiger. Entkräftet wollte ich mich wieder aufrappeln, da war der Mann bereits an meiner Seite.
,,Habt Ihr Euch verletzt?”
,,Alles haben sie mir gestohlen! Mein Geld und sogar meinen Schmuck.”, weinte ich und hoffte, dass er im Zwielicht nicht erkannte, dass jemand wie ich, niemals Schmuck besitzen könnte.
,,Wer? Habt ihr die Soldaten informiert?”
,,Nein, sie… Was soll ich denn nun tun? Sie haben mir alles abgenommen!”
,,Beruhigt Euch. Die Soldaten werden sich sicherlich schon darum kümmern.”
Ich konnte nur wenig von seinem Gesicht sehen. Aus seiner Stimme allerdings entnahm ich die Bereitschaft zu helfen. Sie hatte einen angenehmen Klang.
,,Kommt, ich helfe Euch auf.”
Ich stützte mich auf seinen Arm, der in einen wärmenden Ärmel gehüllt war und gelangte wieder auf meine Füße.
,,Das war mein ganzes Geld! Ich… wie soll ich denn nun die Miete zahlen?”, klagte ich und hoffte, dass er darauf anspringen würde.
,,Lasst mich für Euch nachsehen, ob einer der Soldaten den Täter gefasst hat.”
,,Nein! Bitte… lasst mich nicht allein.”
Ich hielt ihn am Arm fest.
,,Euch wird nichts passieren. Ich bin gleich wieder da.”
,,Nein!”
Panik erfasste mich, als er sich von meinem Griff löste und gehen wollte. Ohne an die dreckigen Lumpen zu denken, die ich um meine Hände gewickelt hatte, umklammerte ich seine Finger. Er stoppte und drehte sich zu mir um. Die Konturen seines Gesichts wurden nun, wo das Licht einer Laterne auf ihn fiel, um einiges deutlicher. Schatten wiesen auf seine hohen Wangenknochen und seine schmalen Lippen hin. Mit dem Gedanken zu fliehen ließ ich ihn los. Er war um einen Kopf größer als ich und musterte mich eingehend.
,,Wie viel wurde Euch gestohlen?”, fragte er schließlich, bevor ich dem Impuls davonzurennen fast nachgegeben hätte.
,,Zehn Silbermünzen.”
Er griff an seine Seite und holte einen ledernden Beutel hervor. Ich wog es ab, ob ich ihm diesen entreißen und erfolgreich entkommen konnte, doch mein Sprint von zuvor ließ mich wissen, dass dies keine gute Idee war. Zehn Silbemünzen würden mir mindestens vier Nächte in einem Gasthaus und einen Laib Brot einbringen.
,,Ich befürchte, ich habe nur Goldmünzen bei mir.”, sprach er und ich musste mich anstrengen nicht zu offensichtlich auf seinen Geldbeutel zu starren. Er leerte ihn in seiner Hand und sieben, wenn nicht sogar mehr, Goldstücke kamen zum Vorschein. Mein Herz wäre fast stehen geblieben.
,,Ihr könnt sie haben. Ich bin mir sicher Ihr benötigt sie eher als ich.”
Er streckte mir seine Hand mit dem Gold entgegen. Fast wäre ich ohnmächtig geworden. Sieben Goldmünzen! Dieser Betrag würde mich für mehrere Monate hinweg versorgen. Ich wollte bereits zugreifen, da meldeten sich in mir alarmierende Zweifel. Wer verschenkte sieben Goldmünzen an einen Fremden? Ich sah zu ihm auf, doch seine Augen lagen im Schatten.
,,Seid Ihr sicher? Ich meine… das ist viel Geld.”
,,Ich werde es nicht vermissen.”, versicherte er und seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln. Ich überwand meine Zweifel und langte zu. Plötzlich schnappte seine Hand nach meiner und das Geld viel klimpernd zu Boden. Ich erschrak und wollte davonrennen, doch er riss mich zu sich. Der Versuch zu schreien wurde von seiner Hand auf meinem Mund vereitelt. Ich wand mich unter seinen Griffen und eine Gänsehaut, die dieses Mal nicht der Kälte entsprang, ging über meinen gesamten Körper. Seine Nähe wurde intensiver und ich schrie einen dumpfen Schrei in seine Hand.
Auf einmal gab er meinen Körper wieder frei, doch bevor ich die Flucht ergreifen konnte verpasste er mir einen festen Kniff in die Schulter. Ich konnte nicht einmal einen Schritt tun, da ging ich bereits, ohne die Kontrolle über meine Bewegungen zu haben, zu Boden. Bewusstlosigkeit holte mich ein.
***


Der Klang einer lauten Stimme weckte mich. Unfähig mich zu bewegen versuchte ich mich zu erinnern, was geschehen war. Schockiert schnappte ich nach Luft, als die Erinnerung durch meinen gelähmten Verstand zu mir durchsickerte. Ich öffnete blinzelnd die Augen und rührte meine Glieder.
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich nicht mehr fror. Nein, mir war sogar warm. Benebelt von meiner Bewusstlosigkeit sah ich mich um. Ich lag in einem Bett. Einem richtigen Bett!
,,He, du! Hast du mich nicht gehört? Aufstehen!”, schrie jemand und erst als eine Person neben mich trat, bemerkte ich, dass sie mit mir sprach. Ein hochgewachsener Mann mit gebräunter Haut stand dort.
,,Los, mach schon! Deinetwegen werden alle warten müssen.”
Die Lautstärke seiner Stimme bereitete mir Kopfschmerzen und um mich herum drehte sich alles, als ich mich aufsetzte. Ich blickte mich um, als sich meine Sicht wieder fasste und erkannte, dass ich mich in einem Raum mit mindestens zwanzig Betten befand. Schockiert entdeckte ich mehrere junge Männer die sich von ihren Kleidern befreiten, um sich umzuziehen.
,,Hier, zieh das an!”, befahl der Mann und warf mir eine Hose und ein Hemd in den Schoß. Völlig perplex saß ich da. Was war passiert?
,,Wird’s bald?”
Immer noch war ich nicht fähig mich zu rühren. Die Befehle des jungen Mannes wurden ungeduldiger und zogen die Aufmerksamkeit der anderen auf mich.
,,Ich… wo bin ich?”
Der Mann lachte. Das Geräusch tat mir in den Ohren weh.
,,Was bist du denn für einer? Jetzt steh auf, du Weichling. Die Jungs warten auf ihr Frühstück.”
,,Was?”
Er zerrte mich aus dem weichen Bett und drückte mir die Kleider in die Hände. Mein Mantel war fort und auch meine Schuhe waren weg. Hätte ich nicht andere Sorgen gehabt, hätte mich das zutiefst beunruhigt.
,,Na, los. Zieh dich um.”
,,Aber ich…”
Ich sah mich erneut im Raum um. Die letzten Männer hatten ihre Wechselkleider angezogen, ihre Betten gemacht und verschwanden aus dem Zimmer.
,,Sag bloß du bist zimperlich?”
Eine Flucht war unmöglich. Er versperrte mir den Weg und selbst, wenn es mir gelang die Tür zu erreichen, wusste ich nicht, wo ich mich befand. Er hätte mich schon bald wieder eingefangen.
,,Wenn du ein Problem hast, dass dir jemand dabei zusieht, dann wirst du dich wohl daran gewöhnen müssen.”, sprach er selbstgefällig und verschränkte die Arme, ,,Jetzt zieh dich um oder ich werde dir die Klamotten vom Leib schneiden müssen.”
Ich schluckte und rang mich dazu durch seinem Befehl Folge zu leisten. Amüsiert betrachtete er mich, als ich meine Hose fallen ließ und eilig in das bereitgelegte Kleidungsstück schlüpfte. Es war viel zu groß und ich musste einen festen Knoten in den Bund machen.
,,Dass sie eine halbe Portion, wie dich hier überhaupt annehmen. Du wirst es hier keine Woche aushalten.”
Ich erwiderte nichts, sondern befreite mich mit roten Wangen von meinem verdreckten Hemd. Schützend hielt ich den Stoff vor meine Brust und überlegte, wie ich mich umkleiden konnte, ohne mich vollends zu entblößen.
,,Was zum…”
Er griff nach meinem Hemd und wollte es mir entreißen. Als ich ihn verzweifelt davon, abhielt mir den Schutz zu rauben, trat er mit verwundertem Gesicht zurück.
,,Du bist… eine Frau?”
Ich antwortete nicht, sondern verharrte mit eingezogenem Kopf, wo ich war und hoffte, dass er mich nicht ein weiteres Mal anfassen würde. Verärgerung schlich sich in seine Züge und schnaubend eilte er aus dem Raum. Ich blieb stehen, wo ich war und als ich merkte, dass er fort war, ließ ich mein altes Hemd fallen und zog mir das Neue an. Es war aus dickerem Stoff und auch wenn es ein wenig kratzte, würde ich es nicht so schnell wieder hergeben wollen.
Als der junge Mann nach einigen Minuten immer noch nicht wiedergekehrt war, suchte ich eilig nach meinen Schuhen und meinem Mantel. Ich konnte sie nirgendwo finden, doch entdeckte ich ein Paar neuer Stiefel neben meinem Bett. Das Leder fühlte sich glatt und geschmeidig an und in der Sohle war nicht ein einziges Loch zu finden. Wie teuer mussten diese Stiefel bloß sein? Sicherlich kosteten sie mehr, als ich in meinem ganzen Leben jemals erbeutet hatte.
Mir ging das Geschen des gestrigen Abends durch den Kopf und sofort wurde mein Misstrauen wieder geweckt. Ich, die am besten wusste, was Geld für einen wahren Preis hatte, war in eine Falle getappt, in die ich nicht hätte gelangen dürfen. Manche Dinge waren zu schön, um keinen Haken zu haben.
Ich rief mir wieder in Erinnerung, dass ich fliehen sollte, statt ein Paar Schuhe zu bewundern oder mir Gedanken über Vergangenes zu machen. Hastig schlüpfte ich in die Stiefel und begab mich zwischen den Reihen der Betten zur Tür. Ich bereute es Zeit vertrödelt zu haben, denn der Mann kehrte mit noch schlechterer Laune wieder zurück. Er warf mir eine Jacke zu, die ich ungeschickt auffing.
,,Komm mit.”
In der Hoffnung die Flucht ergreifen zu können tat ich, was er verlangte und streifte die Jacke über, als mich die frische Morgenluft in Empfang nahm. Ich sah mich um und realisierte, dass ich mich nicht mehr in Anaran befand. Oder zumindest nicht in einem Stadtteil, den ich kannte. Zwischen den steinernen Gebäuden führten gepflasterte Wege entlang, die von Laternen gesäumt wurden. Frischer Schnee war gefallen, doch die Pfade waren bereits sorgfältig gekehrt worden.
Ich folgte dem Mann an einem Gebäude vorbei, durch dessen Fenster ich einen Speiseraum ausmachen konnte. Mein Hunger, der mein ständiger Begleiter war, schwieg jedoch und machte meiner Besorgnis Platz. Warum hatte man mich hierher gebracht? Ich traute mich nicht den Mann zu fragen.
,,Beeil dich gefälligst!”, befahl er herrisch und sein warnender Ton ließ mich gehorchen. Wir durchquerten eine Parkanlage, denn er schien auf das Gebäude an dessen Ende zuzuhalten. Soweit ich es einschätzen konnte, war es das Größte.
Verstohlen blickte ich mich um und suchte nach einem Ort, an dem ich mich verstecken konnte. Wo auch immer er mich hinbrachte, es konnte nichts Gutes bedeuten. Sein eiliger Schritt, den ich versuchte mitzuhalten, erschöpfte mich und mein Atem überschlug sich. Ich wurde langsamer und als er merkte, dass ich zurückblieb wurde er noch gereizter.
,,Du hältst mich vom Frühstücken ab. Komm jetzt!”
Er griff nach meinem Arm und riss mich hinter sich her. Mehrere Male wäre ich fast gestolpert und ich glaubte, wenn ich gefallen wäre, hätte er mich ohne Rücksicht hinter sich hergeschliffen.
Wir erreichten das Gebäude, das unzählige Fenster besaß. Um hinein zu gelangen, wurde ich eine Treppe hinaufgezogen, über deren Stufen ich fast stolperte. Die großen Türen bestanden aus Holz und im Inneren empfing mich ein Flur mit hoher Decke. Der Mann zerrte mich eine weitere Treppe hinauf, die eine Rundung machte und uns in den Flur des ersten Stockwerkes führte. Mein Herz schlug, wie nach einem Lauf durch die ganze Stadt und meine Beine schmerzten vom Stufensteigen.
,,Stell dich nicht so an.”
Ein Ruck ging durch meinen Arm als er an diesem riss und mich in einen Gang führte. So viel zu meinem Plan die Flucht zu ergreifen.
Schließlich hielt er an einer Tür. Ich wäre fast zusammengebrochen, wenn er mich nicht immer noch festgehalten hätte. Er klopfte und mein hektischer Atem, war das einzige, das die Ruhe störte. Von Innen klangen Schritte und ein Mann öffnete. Ich erstarrte, als ich ihn erkannte und war sogar für einen Moment unfähig zu atmen.
Er bemerkte mich und musterte mich kühl, bevor er sich an meinen Begleiter richtete. Erst jetzt im Licht konnte ich sein Antlitz vollends sehen.
Ich schätzte ihn auf mindestens fünfundzwanzig. Sein rasiertes Gesicht wirkte starr, doch das tiefe Grün seiner Augen ließ mich sofort wissen, dass hinter dieser Fassade ein scharfer Verstand steckte. Ich war der Überzeugung, dass seine Gegenwart mir selbst dann unangenehm gewesen wäre, wenn er mich nicht überfallen, außer Gefecht gesetzt und verschleppt hätte.
,,Gibt es ein Problem?”
Die Hilfsbereitschaft und Anteilnahme war aus seiner Stimme verschwunden und seine Worte waren karg formuliert.
,,Ja, in der Tat. Wo ist Obermagier Aramis?”
Magier? Mir dämmerte, wo ich mich befand. Anaran war die Hauptstadt Atreyas und somit auch Sitz des Militärkomplexes und der Magierzitadelle.
,,Er hat viel zu tun. Wenn es nicht wichtig ist, dann solltest du wieder gehen.”
,,Es ist wichtig. Sehr wichtig.”
Mein Entführer trat beiseite und ließ uns hineintreten. Der Mann neben mir hielt mich immer noch fest und meine Hand wurde langsam taub. Sein fester Griff ließ es allerdings nicht zu, dass ich mich befreien konnte. Er machte eine knappe Verbeugung vor dem älteren Mann, der an einem Schreibtisch saß. Aufgrund der gefüllten Schränke und vielen Papiere musste ich mich wohl in seinem Arbeitszimmer befinden. Ich war noch nie in solch einem Raum gewesen. Die Decke war unerreichbar und jemand hatte sich sogar die Mühe gemacht sie mit Verzierungen zu schmücken.
,,Verzeiht, wenn ich Euch bei Eurer Arbeit stören muss, aber es gibt ein Missverständnis, das Ihr Euch annehmen solltet.”, sprach der Mann neben mir nun in einem höflichen Ton, den ich ihn vor kurzem nicht zugetraut hätte.
,,Was für ein Missverständnis?”, fragte der Mann am Schreibtisch.
Ich betrachtete ihn genauer. Sein Gesicht war von Falten gezeichnet und sein ergrautes Haar trug er ordentlich zurückgekämmt. Enttäuschung fasste mich. Er sollte ein Magier sein? Er wirkte harmlos und nicht besonders interessant.
,,Sie.”, der Mann gab mir einen Stoß in die Richtung des Schreibtisches und ließ endlich von meinem Arm ab. Fast wäre ich wieder gestolpert.
,,Sie?”, fragte der Magier skeptisch und begutachtete mich. Mein Unwohlsein steigerte sich und ich blickte zu Boden.
,,Wer auch immer sie hergebracht hat, sollte sich neu einweisen lassen. Eine Frau hat hier nichts zu suchen.”
,,Ich habe ihn gefunden und was du dort von dir gibst ist gedankenlos und eine Frechheit.”, klang es hinter mir. Seine Stimme fachte meine Beklemmung nur noch weiter an. Was würden diese Leute mit mir machen? Warum war ich hier?
Erschrocken begegnete ich dem Blick des Magiers. Seine klaren Augen wirkten ruhig wie Wasser. Ob ich ihnen trauen durfte oder ich ertrinken würde, konnte ich nicht sagen.
,,Möchtest du diesen Irrtum nicht aufklären?”
,,Ich…”, krächzte ich, denn mein Mund war auf einmal trocken. Ich verstummte wieder.
,,Nur Mut. Niemand wird dir etwas tun.”
Ich bemerkte sein gutmütiges Lächeln und erinnerte mich wieder an die Goldmünzen. Sie waren ein Köder gewesen. Ich sollte vorsichtig sein.
,,Wie ist dein Name?”
,,Ich heiße Tamina. Ich bin… kein Mann.”, nuschelte ich, denn bedeutete diese Tatsache anscheinend nichts Gutes für meinen Entführer.
,,Aber das kann nicht sein. Ich habe ihn geprüft.”, widersprach er. Ich fuhr zusammen als er nach meiner Schulter fasste und mich zu sich drehte. Er hielt mich fest und suchte in meinem Gesicht und an meinem Körper nach Hinweisen die auf seinen Irrtum hindeuten könnten. Seine Nähe und vor allem seine Hand an meinem Körper waren mir nicht geheuer und ich wich zurück und stieß dabei gegen einen Schrank. Die Tür zum Flur war zu weit weg als dass ich sie problemlos erreichen könnte.
,,Woher weißt du, dass er eine Frau ist?”, fragte er den Mann, der mich hierhergebracht hatte, ohne von meiner Erscheinung abzulassen.
,,Ich habe es gesehen, als sie sich umgezogen hat.”
Mir stieg die Röte in die Wangen und beschämt senkte ich den Kopf, um der analysierenden Miene meines Entführers auszuweichen.
,,Danke für deine Aufmerksamkeit. Geh nun zu den anderen in den Speisesaal.”, schickte ihn der Obermagier weg und der junge Mann verließ das Arbeitszimmer.
,,Caden, setz dich.”
,,Ich habe mich nicht geirrt. Unmöglich.”
Er wollte wieder nach mir greifen, doch dieses Mal duckte ich mich unter seiner Hand weg und brachte genug Abstand zwischen mich und ihm, indem ich auf die andere Seite des Raumes floh. Er wandte sich um und wollte wieder auf mich zukommen.
,,Caden! Ich sagte, du sollst dich setzen.”
,,Lass es mich ein weiteres Mal prüfen.”
,,Du hast sie schon genug verängstigt. Nun setz dich oder geh.”
Er gab sein Vorhaben mit einem Grummeln auf und setzte sich auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch. Ich sah mich nach der Tür um, die nun viel näher war.
,,Du musst keine Angst vor uns haben, Tamina. Willst du dich nicht zu uns setzten?”, bot Aramis, so war wohl sein Name, mir an. Ich bewegte mich nicht vom Fleck. Wenn er ein Magier war, dann war er wohl auch in der Lage mich an einer Flucht zu hindern, egal wie schnell ich war. Sollte ich es versuchen oder auf eine bessere Gelegenheit hoffen? Immerhin wusste ich, dass die Magierzitadelle von einer Mauer umgeben war, die man nur durch ein bewachtes Tor erreichen konnte.
,,Hast du Hunger oder Durst? Ich könnte dir etwas bringen lassen?”
Ich schüttelte den Kopf. Noch einmal würde ich nicht auf ihre Köder hereinfallen. Aramis erhob sich von seinem Stuhl. Ich war sofort in Alarmbereitschaft, als er hinter seinem Schreibtisch hervortrat. Seine Bewegungen waren ruhig und er hatte ein freundliches Lächeln aufgesetzt. Ich trat zurück, um den Abstand zu wahren und er verharrte.
,,Woher kommst du?”
Ich antwortete nicht, denn sollte das Gespräch, in das er mich einwickeln wollte, mich unaufmerksam machen.
,,Ich habe sie von der Straße aufgegriffen. Sie hat versucht mir Geld abzuknöpfen.”, antwortete Caden an meiner Stelle.
,,Tatsächlich? Das klingt ziemlich waghalsig. Was hat dich dazu veranlasst solch ein Risiko einzugehen?”, hielt er seine Aufmerksamkeit auf mich gerichtet. Seine Frage war lächerlich, doch trotzdem blieb ich stumm.
,,Sicherlich um dir etwas zu Essen zu kaufen. Sieh an, wie dürr du bist. Bist du sicher, dass du keinen Hunger hast?”
Das Bedürfnis meines Magens nach Essen wurde immer schmerzhafter je weiter er davon sprach. Ich biss die Zähne zusammen, um es zu ertragen.
,,Caden, geh in die Küche und hol Tamina ein Frühstück.”
,,Ruf einen Diener. Ich bin dein Berater und nicht dein Laufbursche.”, erwiderte der Mann gelassen, was mir merkwürdig vorkam, da er dem Obermagier doch untergeordnet war.
,,Durchaus, doch scheinst du einen negativen Eindruck hinterlassen zu haben. Mach es wieder gut, indem du ihr eine Stärkung bringst.”
,,Sie wird es nicht annehmen.”, widersprach er weiter und Aramis wandte sich ihm zu.
,,Tu, was ich dir sage und benimm dich nicht so unfreundlich.”
Caden hielt dem Blick des Mannes eisern stand. Sekunden der Stille vergingen, in denen keiner von ihnen sich rührte
,,Ich meine es ernst, Junge.”
Caden gab nach. Wenn er verärgert war, dann ließ er sich diese Emotion nicht ansehen. Schnurstracks verließ er das Zimmer.
,,Er ist manchmal etwas schwierig.”, seufzte Aramis.
Ich erwiderte nichts. Der Magier schien wohl eine engere Bindung zu ihm zu haben, sonst hätte er ihn nicht mit solch einem Kosenamen angesprochen. Andersherum hätte mein Entführer sich dem Mann, dem er dienen sollte, wohl auch nicht derart widersetzt.
,,Erzähl mir doch, wie du hierher gefunden hast. Caden hat mir nichts über dich berichtet.”
Ich wog ab, was ich tun sollte. Mir fiel es nicht schwer nicht mit ihm zu sprechen, doch wenn ich wissen wollte, was geschehen war und viel wichtiger noch, was man mit mir machen würde, wäre es einfacher, wenn ich zumindest etwas kooperierte.
,,Er hat…”, ich fasste nach meiner Schulter, die unangenehm verspannt war,,…mich gekniffen. Ich bin bewusstlos geworden.”
Bedauernd presste der Magier die Lippen zusammen.
,,Er hat ein Nervenkniff angewendet. Das ist normalerweise ungefährlich.”
,,Warum hat er mich entführt?”
Aramis begab sich wieder an seinen Schreibtisch und deutete auf einen der beiden Stühle vor diesem. Ich zögerte, doch die Erschöpfung in meinen Gliedern siegte und ich nahm Platz. Es war ein Triumpf für ihn, den er sich natürlich nicht anmerken ließ.
,,Er muss wohl den Verdacht gehabt haben, dass du magische Fähigkeiten besitzt.”
Ich hätte fast gelacht. Magie? Ich? Niemals. Ich bekam solche Dinge nicht einfach so. Er musste sich geirrt haben.
,,Das habe ich nicht.”
,,Normalerweise wissen die Betroffenen nicht, dass sie diese Fähigkeiten besitzen. Allerdings spricht in deinem Falle der Umstand, dass du eine Frau bist, eindeutig dagegen. Nur Männer können Magier sein.”
Nun verstand ich, warum um meine Anwesenheit so ein Aufruhr veranstaltet wurde. Kein Wunder, dass der Mann, der mich hergebracht hatte, solch ein Theater gemacht hatte.
,,Wenn das wirklich so ist, dann darf ich doch jetzt gehen, oder? Ich meine, ich habe nichts getan.”
,,Ich würde Cadens Verdacht trotz der Unwahrscheinlichkeit gerne nachgehen, wenn du gestattest. Er irrt sich nur selten.”
Natürlich. Wäre es anders, hätte er mich nicht gleich verschleppt.
,,Wie wollt Ihr seinem Verdacht nachgehen?”
,,Ich möchte sehen, ob dein Körper auf Magie reagiert. Dafür musst du nur meine Hand nehmen. Wenn du etwas spürst, dann besitzt du wahrscheinlich magische Fähigkeiten und wenn du nichts wahrnimmst, dann können wir sichergehen, dass es sich hier bloß um einen Irrtum handelt.”
Die Erinnerung an die gestrige Nacht ließ mich erschaudern. War es das, was Caden mit mir getan hat? Er hat mich getestet? Angestrengt versucht ich mich zu erinnern, ob ich etwas gespürt hatte. Ich wusste es nicht. Meine Angst hatte alles andere ausgeblendet.
,,Was, wenn ich nicht will?”
Aramis lehnte sich seelenruhig in seinem Stuhl zurück. War dies alles nur eine Fassade, um zuzuschnappen, wenn es an der Zeit war?
,,Wir können dich natürlich nicht zwingen. Das verstößt gegen den Ehrengrundsatz unter Magiern. Wir haben Regeln, was das angeht.”
,,Aber er hat es schon getan. Er hat mich nicht gefragt.”
Er nickte mit Bedauern, was ich ihm nicht glauben wollte.
,,Das hätte er nicht tun dürfen. Denke nicht, dass sein Handeln keine Folgen hat.”
,,Ihr wollt ihn bestrafen?”
Es sollte mich mit Genugtuung füllen, dass der Mann in Schwierigkeiten kam, doch das tat es nicht, denn fürchtete ich, er könnte sich im Gegenzug an mir rächen.
,,Er hat mir nichts von einem weiteren Neuzugang unter den Jungmagiern erzählt. Demnach hat er wohl gehofft, dass ich es nicht erfahre und du, da er dich von der Straße geholt hat, dich erkenntlich erweist, indem du Stillschweigen bewahrst. Er wollte dir nur helfen, aber hätte er mit mir reden sollen.”
Dieses Mal unterdrückte ich mein Auflachen nicht. Helfen?
,,Das ist eine komische Art von Hilfe. Er hätte mir einfach sein Geld geben und mich in Ruhe lassen sollen. Ich wäre locker bis zum Sommer über die Runden gekommen.”
,,Und dann?”
Seine Frage brachte mich aus dem Gleichgewicht. Mir fiel nicht einmal eine Lüge ein, die ich nur um der Antwort willen hätte von mir geben können.
,,Hast du nie nach einer langzeitigen Lösung gesucht? Wenn du tatsächlich magische Fähigkeiten besitzt, dann wärst du für die nächsten fünf Jahre versorgt. Du könntest hier leben und dich unterrichten lassen, bis du den Titel einer vollwertigen Magierin erlangt hast und mit deinen Diensten Geld verdienen kannst.”
Seine Worte verpassten mir einen Tritt und bestätigten mir, wie töricht ich mein Leben gelebt hatte. Mir war es nur wichtig gewesen, dass ich für den Tag ein Stück Brot zwischen die Zähne bekam und was nächsten Monat oder Jahr war, hatte mich nicht geschert. Ganz einfach weil mich das Wissen Woche um Woche, Monat um Monat, Jahr um Jahr mit den gleichen Problemen zu kämpfen, in die Knie gezwungen hätte.
,,Wo ist der Haken?”
Aramis lächelte. Die Fältchen um seine Augen und seinen Mund waren ein Indiz darauf, dass er oft lachte. Es machte ihn sympathisch. Und verdächtig.
,,Die Ausbildung ist nicht ganz leicht. Du wirst in manchen Bereichen Schwierigkeiten entdecken. Allerdings würde es sich lohnen, denn du wärst der erste weibliche Magier. Das würde dir einen gewissen Ruhm verschaffen.”
,,Ich will keinen Ruhm.”
Grübelnd betrachtete der Magier mich.
,,Was möchtest du dann?”
Fort von der Straße, ein Dach über den Kopf, keine Sorgen überfallen zu werden, kein Hunger mehr leiden. Meine Liste war endlos. Würden meine Probleme sich so einfach vertreiben lassen?
,,Zumindest scheinst du nicht glücklich auf der Straße zu sein. Es ist ein hartes Leben, nicht wahr?”, fragte er, als ich nicht auf seine Frage antwortete.
,,Ja.”
,,Wie lange lebst du bereits dort?”
Er fragte ganz nebenbei und ohne auf mich herabzublicken, so wie es alle anderen taten. Es hieß allerdings nicht, dass er es nicht doch tat.
,,Seitdem ich mich erinnern kann.”
,,Darf ich fragen, wie alt du bist?”
Unwohl wich ich seinen hellen Augen aus.
,,Ich… ehrlich gesagt, weiß ich es nicht genau. Ich glaube, ich bin achtzehn oder neunzehn.”
,,Du hast demnach keine Eltern?”
Ich schüttelte den Kopf. Meine Erinnerung an meine Kindheit war nur lückenhaft und meine Eltern, wenn ich ihnen denn je begegnet war, kamen nicht in diesen Fetzen der Vergangenheit vor. Woran ich mich erinnerte war eine Kiste. Sie war nichts Besonderes. Ein schlichter Behälter aus Holz. Was genau es mit diesem Gegenstand, der in vielen meiner Träume auftauchte, auf sich hatte, wusste ich nicht.
,,Nun. Du kannst dich entscheiden. Es steht dir frei, ob du dich prüfen lassen willst. Wenn du dich dagegen entscheidest, dann werde ich Caden beauftragen, dich zurück in die Stadt zu bringen.”
Die Diebesbande, die auf den Straßen ihr Unwesen trieb, kam mir wieder in den Sinn. Viele glaubten den Mitgliedern ginge es besser, doch es war ein Irrtum. Sie hatten zwar keinen Hunger mehr, doch hatten sie einen anderen Preis zu zahlen.
Welcher Preis war es, den ich einbüßen musste, um in einem Bett schlafen zu können, nicht mehr hungern zu müssen und irgendwann sogar mein eigenes Geld verdienen zu dürfen? Er war sicherlich höher, als ich mir vorstellen konnte.
,,Meinetwegen. Testet mich.”
Trotz all dieser Gegenargumente… ich hatte die Straßen Anarans satt.

2.Kapitel




2.Kapitel
Ich hielt ihm meine Hand hin. Meine Haut war immer noch rau von der Kälte und schmerzte an den Stellen, an denen sie aufgerissen war. Vorsichtig nahm er meine Hand, als wäre sie etwas, das leicht zerbrach. Es überraschte mich, dass seine Haut weich und warm war. Zugleich erschreckte mich die Berührung auch und füllte mich mit Unwohlsein. Ich ließ es ihn jedoch nicht sehen.
,,Du solltest, wenn wir hier fertig sind, egal mit welchem Ergebnis, das Heilhaus aufsuchen und jemand einen Blick darauf werfen lassen.”
,,Das ist bloß die Kälte. Der Winter dieses Jahr war härter als die anderen.”
Er nickte und Sorgen ergriffen mich.
,,Wird es wehtun?”
,,Nein. Auf manche wirkt es unangenehm, aber es wird nicht schmerzen.”
,,Inwiefern unangenehm?”
Mir war nicht wohl dabei, dass ich nicht genau wusste, was er tun würde.
,,Es fühlt sich, wie eine Art innere Bedrängnis an. Kannst du dich an derartiges entsinnen?”
Ich zuckte mit den Achseln.
,,Ich habe mich allgemein bedrängt gefühlt, als Euer Berater über mich hergefallen ist.”
,,Es tut mir wirklich Leid. Er ist nicht besonders offen. Es fällt ihm nicht leicht Freunde zu finden.”
,,Ich würde behaupten, dass das nicht sein einziges Problem ist.”
Aramis lächelte. Ich begriff seine Reaktion nicht, denn hatte ich erwartet, dass er mir widersprechen würde. Es machte mich erneut misstrauisch.
,,Lass mich nun beginnen. Bist du bereit?”
Ich bejahte und er legte seine schlanken Finger um meine Hand. Ich bemerkte den Ring an seiner Hand, in dem ein Wappen eingeprägt war und musste mich ungewollt fragen, wie viel er wohl gekostet haben mochte. War er sich bewusst, dass er ein kleines Vermögen mit sich herumtrug?
Ich keuchte auf, als ich ihn deutlicher zu spüren begann. Es war, wie ein Überfall. Als stünde er direkt vor mir und würde mich in alle Tiefe erforschen. Ich riss meine Hand zurück. Sie kribbelte von seiner Berührung.
,,Das ist zutiefst interessant. Wir hatten noch nie eine Magierin in unseren Reihen.”
Er lächelte über den anscheinend positiven Ausgang dieses Testes.
,,Warum nicht?”
Ich rieb meine Hand. Erleichterung breitete sich in mir aus. Ich müsste nicht mehr frieren.
,,Magie wird nicht durch Erbgut weitergegeben. Sie sucht sich ihren Träger. Bisher hat es keine Frau gegeben, die dafür in Frage gekommen ist.”
,,Wieso nicht?”
,,Das kann mit vielen Faktoren zusammenhängen. Charaktereigenschaften, Körpermerkmalen oder der Umwelt.”
Ich runzelte die Stirn. Noch nie hatte ich mich mit Magie befasst oder sie gesehen. Manchmal hatten Magier auf den Straßen patrouilliert, doch hatte ich mich auch vor ihnen versteckt.
,,Die Umwelt?”
Ich hörte, wie die Tür sich öffnete und mein Körper verspannte wieder. Caden platzierte einen Teller vor mit. Auf ihm lagen zwei Scheiben Brot, beide mit Käse bedeckt. Mein Magen grummelte und mein Mund füllte sich mit Speichel. Ich rührte mich jedoch nicht, denn nahm er den Platz neben mir ein.
,,Iss. Ich bin den Weg nicht umsonst gegangen.”
Ich schluckte meinen Hunger hinunter und vermied es auf den Teller zu sehen. Wie lange war es her, dass ich etwas gegessen hatte? Zwei Tage? Es könnten auch mehr sein. Ich war mir nicht mehr sicher.
,,Erzähl mir nicht, dass dir der Belag nicht gefällt.”, machte er sich über mich lustig.
Ich hätte das Brot sogar gegessen, wenn es auf dem Boden gelegen und er hinüber gelaufen wäre. Was hielt mich also davon ab meinem Trieb nachzugeben?
Ganz einfach. Mein Stolz. In all den Jahren hatte ich meine eigene Würde mit Füßen getreten. Zwar hatte ich nicht gebettelt, aber wenn mir jemand eine Münze zugeworfen hätte, hätte ich sie gefangen und hungrig gegen jeden Konkurrenten verteidigt. Erst so konnte ich auf Caden hereinfallen. Ich habe mich von den Gesetzten der Straße entwürdigen lassen.
Das hatte ich nun nicht mehr nötig. Ich konnte mir endlich Dinge, wie Stolz leisten ohne als Konsequenz meinen Tod entgegenblicken zu müssen. Es war ein stärkendes Gefühl. Kein Bissen des Brotes würde mir so viel Kraft spenden.
,,Jetzt iss schon.”
Ich schob den Teller zu ihm hinüber.
,,Ihr solltet es essen. Dafür dass Ihr so viel Kraft auf dem Weg in die Küche verschwendet habt.”
Ich hielt seinem scharfen Blick stand. Zumindest bis er eines der Brote nahm und hinein biss. Aramis schüttelte in Fassungslosigkeit den Kopf.
,,Du isst dem Mädchen doch nicht wirklich ihr Essen weg?”
,,Sie will es nicht haben. Wenn sie es nicht zu schätzen weiß, ihre Sache. Ich werde ihretwegen keine Nahrung verschwenden.”
Der Magier seufzte.
,,Tut mir Leid.”, sprach er an mich gerichtet, ,,Sein Benehmen lässt zu wünschen übrig.”
,,Nein. Er hat Recht. Essen lässt man nicht verderben.”
Ich rang mir ein Lächeln ab und ignorierte den widerlichen Mann neben mir. Meine Antipathie gegen ihn war, ich hätte nicht damit gerecht, nun noch größer geworden. Ich hoffte, dass er sich nicht noch steigern würde.
,,Na, gut. Ich schlage vor, dass du, bevor du unterrichtet werden kannst, einige Dinge erledigen solltest. Wir haben ein Badehaus, in dem du dich waschen kannst. Dann solltest du unsere Heilstation aufsuchen, um dich untersuchen zu lassen und anschließend solltest du in der Schneiderei nach neuen Kleidern fragen.”
Ich blinzelte überrascht und blickte an mir hinunter.
,,Was stimmt denn mit diesen nicht?”
Der alte Mann lachte.
,,Na, sieh dich an. Sie sind viel zu groß. Du wirst dich vermessen lassen müssen.”
Maßgeschneiderte Kleider? Für mich? Das schien mir absurd.
,,Aber ich bin mit diesen Sachen zufrieden. Sie sind warm.”
Er schmunzelte und seine Augen leuchteten amüsiert.
,,Die meisten jungen Männer, die wir aufnehmen, beklagen sich über die Qualität und Bequemlichkeit der Kleidung. Schön einmal etwas anders zu Ohren zu bekommen.”
Diese Klagen verstand ich unter Luxusprobleme. Ich freute mich auf den Tag, an dem solche Dinge meine einzigen Klagen waren.
,,Trotzdessen solltest du ein Paar Kleider erhalten, die dir auch passen. Darauf bestehe ich.”
Ich war mir nicht sicher, ob ich mich dafür bedanken sollte. Es erschien mir überflüssig die Sachen, die ich trug, gegen andere einzutauschen.
,,Ich werde mich, so bald es geht, mit Obermagier Elidor in Verbindung setzten und einen Stundenplan für dich aufstellen.”
Bevor ich fragen konnte, wie viele Obermagier es überhaupt gab, lächelte er und fuhr fort.
,,Am besten besprechen wir deine Stunden bei einem Abendessen. Hättest du Lust mit mir und meiner Frau zu speisen?”
Überrascht zögerte ich. Seine Gastfreundschaft war ungewohnt für mich. Normalerweise wünschten die Leute mir den Tod, wenn sie mich draußen herumlungern sahen.
,,Ihr ladet mich einfach so ein?”
,,Natürlich. Mel wird dich sicherlich kennenlernen wollen. Du wirst viel Aufmerksamkeit und Neugier auf dich ziehen.”
Ich erkannte, dass ich bereits den ersten Preis einbüßen musste. Meine Unbekanntheit. Ich war ein Niemand gewesen. Viele Leute hätten damit Probleme, aber mir hatte es geholfen ohne Schwierigkeiten die Bandenkriege und Revierverteidigungen in der Stadt ohne Schaden zu überstehen. Dass mich bereits nun mehr als drei Leute beim Namen kannten, war… ungewohnt.
,,Komme heute Abend in meine Wohnung. Sie liegt ein Stockwerk tiefer.”
Ich nickte, ohne zu widersprechen, auch wenn es mir nicht gefiel in seine privaten Räume eingeladen zu werden.
,,Caden wird dich herumführen und dir alles zeigen. Ich denke, das ist das Mindeste, was er für dich tun kann.”
,,Ich soll was? Denkst du, ich habe nicht Besseres zu tun, als Kindermädchen zu spielen?”
Seine Beschwerde war mir unangenehm und die Vorstellung weitere Zeit mit ihm zu verbringen sorgte in meinem Magen für Übelkeit.
,,Du bist ihr so einiges schuldig. Über deine Methoden werden wir später noch reden.”
,,Aber…”
Aramis hob eine Hand, um ihn zum Verstummen zu bringen.
,,Ich will keine Beschwerde hören. Weder von dir, noch von Tamina. Wenn ich erfahre, dass du dich ihr gegenüber nicht höflich verhältst, dann sollten wir ein ernsteres Gespräch führen.”
Ich wusste, dass ich niemals den Mut aufbringen würde, Caden zu verratenen. Sicherlich würde er mich für derartiges Verhalten büßen lassen.
,,Tamina, wir sehen uns dann heute Abend. Und lass dich nicht von Caden einschüchtern.”, versuchte er mich aufzumuntern. Der Mann neben mir erhob sich. Er hatte beide Brotscheiben aufgegessen und ging auf die Tür zu.
,,Komm. Der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden.”
,,Geh nur. Wenn es Probleme gibt, findest du mich hier.”
Ich erhob mich und verließ mit dem Wissen, dass ich mich nie bei ihm beklagen wollen würde, das Arbeitszimmer.


Es fiel mir schwer Schritt mit dem Magier zu halten. Er ging nicht schnell, legte aber ein zügiges Tempo an den Tag. Ich hatte das Gefühl, als würde nur die Hälfte der kalten Luft in meinen Lungen mir Sauerstoff bieten, denn mein Atem ging schnell und für tiefere Züge blieb mir keine Zeit.
Ich folgte ihm durch die Parkanlage zurück in Richtung des Gebäudes, aus dem ich zuvor gekommen war. Er drehte sich nicht um und versicherte sich auch nicht, dass ich mithielt. Stattdessen ging er einfach stur geradeaus.
Als ich es nicht mehr aushielt, blieb ich stehen. Hitze wallte über meinen Körper und meine Beine waren schwer, als würde ich gegen ein Gewicht ankämpfen, das mich davon abhielt eine Bewegung zu tun. Ich rang nach Luft und der Mann blieb stehen und drehte sich um, als er merkte, dass ich ihm nicht weiter folgte.
,,Stell dich nicht so an. Das waren nicht einmal fünfhundert Meter.”
,,Ich…”, keuchte ich ohne mich verteidigen zu können. Wahrscheinlich war es auch besser so. Mir schien es, als habe er nicht viel Verständnis.
,,Wenn du nicht mithalten kannst, dann wirst du dich hier alleine zurechtfinden müssen.”
Er ging weiter. Sofort setzte ich mich wieder in Bewegung und folgte ihm über die gepflasterten Wege. Die kalte Luft brannte auf meine Haut. Es ärgerte mich, dass er nicht einmal ein wenig aus der Puste war.
Auf dem Weg kamen uns eine Gruppe junger Männer entgegen. Ich verbarg meinen hastigen Atem, als ich sie passierte. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie sie sich nach mir umdrehten.
,,Das soll sie sein?”
,,Ja. Jamiro hat sie heute Morgen entdeckt.”
Meine Anwesenheit hatte sich schneller herumgesprochen, als mir lieb war. Fast jede Person, an der ich vorbeiging, schien mich zu mustern. Ich war froh und erschöpft, als ich das Gebäude erreichte, das Caden bereits betreten hatte. Warme Luft, die nach Parfum und Badeölen duftete, schlug mir entgegen, als ich den Eingangsbereich betrat.
,,So dreckig, wie du bist, wirst du dich sicherlich zwei Mal waschen müssen.”
Er führte mich in einen gekachelten Gang. Es war heiß und ich liebte es.
,,Geh da rein.”
Caden öffnete eine Tür und ich blickte in einen gefliesten Raum mit einer großen Badewanne. Handtücher lagen auf einer Anrichte und ein Spiegel war an der Wand angebracht. Ich betrat den Raum und er folgte mir.
,,Schuhe ausziehen.”
Er trat an die Wanne und öffnete einen Hahn. Sofort sprudelte ein Schwall von Wasser aus diesem. Ich fragte mich, wo es wohl herkommen mochte und als Dampf aufstieg wunderte ich mich, wie es erhitzt worden war. Ich zog meine neuen Stiefel aus, die wie meine weiteren Kleider zu groß waren. Ich könnte sie ausstopfen, damit meine Füße nicht froren.
,,Du weißt doch hoffentlich, was Seife ist?”, fragte er und drückte mir ein Stück in die Hand.
,,Natürlich weiß ich das.”
Meine Worte waren nicht gelogen. Ich kannte die Stände des Marktes, die solche Sachen verkauften. Ich hatte sie nicht für wichtig gehalten, denn konnte man Seife ja nicht essen.
,,Wirklich? So siehst du keineswegs aus.”
Ich ging auf seine Beleidigung nicht ein. Was sollte ich auch schon entgegnen? Unter einem Bad verstand ich es schließlich, meine Haut mit dem Wasser einer Pfütze zu reinigen.
,,Wenn die Wanne voll ist, dann dreh den Hahn wieder zu. Du hast fünfzehn Minuten. Wenn du bis dahin nicht fertig bist, wirst du dich alleine zurechtfinden müssen.”
Er verließ das Bad. An der Tür gab es ein Schloss, dessen Riegel ich zuschob. Es war immer besser auf Nummer Sicher zu gehen.
Die Wanne füllte sich und noch bevor sie wirklich voll war, entledigte ich mich meiner Kleider. Mein erstes, richtiges Bad! Das Wasser war heiß und schmerzte an meinen blauen Zehen. Mein Körper gewöhnte sich jedoch schnell an die Hitze und mit einem Seufzen glitt ich in die Wanne. Ich schloss die Augen und genoss für einen Moment die Wärme, die mich umgab. Als genug Wasser aus dem Hahn gelaufen war, schloss ich diesen und nahm die Seife. Sie hatte einen angenehmen Duft und Blüten waren in ihr eingeschmolzen. Ich rieb sie über meine Arme und leichter Schaum bildete sich.
Am Rande der Wanne lag ein Stapel Waschlappen, doch ich entschied mich dagegen eines der hellen Tücher zu nehmen, als ich den Schmutz sah, der das Wasser trübte. Stattdessen schrubbte ich das Stück Seife fester über meine Haut, bis sie gerötet war.
Nach und nach wurde das Wasser immer trüber. Ich tauchte kurz unter und wusch mein Gesicht. Die Seife brannte in den Augen und ich spülte den Schaum weg. Als ich sogar den Schmutz zwischen meinen Zehen entfernt hatte und keine dreckige Stelle auf meiner Haut mehr vorhanden war, erhob ich mich aus der Wanne und wickelte mich in eines der großen Handtücher ein. Das Wasser floss wieder ab, nachdem ich den Verschluss geöffnet hatte.
Hastig trocknete ich mich ab. Ich hoffe ich hatte nicht zu viel Zeit verschwendet. Es lief zwar darauf hinaus, aber ich wollte es umgehen einen Kommentar Cadens einstecken zu müssen.
Ich kleidete mich wieder an und rieb das Handtuch über mein nasses Haar. Es war so kurz, dass es bereits in wenigen Sekunden trocknete. Mein Blick fiel in den Spiegel und ich erkannte mich beim ersten Hinsehen fast nicht wieder. So sauber war ich noch nie gewesen. Meine Wangen waren leicht gerötet. Ich hatte nicht gewusst, dass meine Haut, trotz ihres warmen Tons, so hell sein konnte.
Mein Haar war frei von jedem Fett. Ich strich mir über den Kopf. Es war weich und vielleicht würde ich es jetzt wachsen lassen können. Bisher hatte ich nie einen Gedanken daran verschwendet. Ich wollte nicht nur den Eindruck erwecken, dass ich ein Junge war. Im Sommer musste ich mich nicht mit lästigen Kopfläusen herumschlagen, die von einem Bettler zum anderen weitergegeben worden waren.
Ich betrachtete mein schmales Gesicht. Unter meinen Augen waren dunkle Ringe und überrascht fiel mir auf, dass ich vollkommen vergessen hatte, welche Farben meine Iris hatten. Üblicherweise hatte ich nicht die Zeit oder Möglichkeit mich zu betrachten oder an solche Nebensächlichkeiten zu denken. Blaue und grüne Sprenkel umrahmten meine Pupillen.
,,Bist du fertig?”
Caden klopfte ungeduldig an der Tür. Ich schnappte mir meine Jacke und schloss sie auf. Abschätzend musterte er mich.
,,Na ja. Zumindest stinkst du jetzt nicht mehr.”
Ohne, dass ich etwas hätte sagen können, ging er und ich hastete hinter ihm her. Kalte Luft schnitt über meine frische Haut, als wir das Gebäude verließen. Es klang komisch, doch ohne den Schmutz fühlte ich mich der Kälte nur noch mehr ausgeliefert.
Glücklicherweise war der Weg bis zu unserem nächsten Ziel nicht weit. Es war das hohe Gebäude, das direkt gegenüber lag. Wie alle anderen Bauten war auch dieses mit schwarzen Dachziegeln versehen.
Schnell erkannte ich, dass es sich um das Heilhaus handeln musste. Es gab ein Foyer, in dem momentan nur wenige Leute warteten. Frauen in einheitlichen Kleidern kreuzten unseren Weg durch die Gänge. Es schienen wohl nicht nur Magier hier zu leben.
Ich erklomm hinter Caden die Treppe, die uns ins dritte Stockwerk führte. Meine Oberschenkel schmerzten von der Anstrengung und ich spürte, wie meine Hände zu zittern begannen. Ich hatte zu wenig gegessen, als dass ich den Kräfteverbrauch einfach so wegstecken konnte.
Caden klopfte an einer der vielen Türen. Die Stimme eines Mannes bat uns herein und er ließ mich eintreten. Der Duft des Raumes war sonderbar. Er war beißend und reizte meine Nase, die gegen jeglichen Gestank gewappnet war.
,,Master Caden. Was kann ich für Euch tun?”, fragte der Mann, der an einem Regal stand und Gläser mit diversen Inhalten aussortierte. Er hatte helles Haar und wirkte recht unscheinbar.
,,Ich bringe Euch einen Patienten.”
Es hätte mich ärgern sollen, dass er eine männliche Form verwendete, um mich zu benennen. Das tat es aber nicht, denn es zeigte mir, wir sehr es ihn störte, dass ich ihn mit meinem Aussehen getäuscht hatte. Ich musste fast lächeln. Wenn ich denn mal so tat, als wäre ich eine Frau, wurde ich für einen Mann gehalten.
Ich erstarrte, als mir bewusst wurde, dass der fremde Mann mir eine Frage gestellt hatte. Ich sollte mich mehr auf meine Umgebung konzentrieren, als auf meine Gedanken.
,,Was?”
Er wollte seine Frage wiederholen. Caden funkte ihm dazwischen, indem er mich zurechtwies.
,,Es heißt nicht was, sondern wie bitte. Merk dir das lieber.”
Ich nickte und prägte es mir ein. Manieren bedeuteten auf der Straße rein gar nichts. Ich würde sie lernen müssen.
,,Wie ist dein Name?”, fragte der Heiler.
,,Tamina.”
Verwunderung huschte über sein noch recht junges Gesicht. Er blickte fragend zu Caden.
,,Sie ist eine Magierin. Ihr könnt sie gerne sezieren, wenn Ihr wollt.”
Der Heiler ignorierte seine makabren Worte und wandte seine Aufmerksamkeit mir zu. Ich würde wohl noch vieler dieser Momente erleben, in denen ich mich angaffen lassen musste.
,,Seid ihr Euch sicher, dass sie Magie besitzt?”
,,Ja.”
Ich schien das Interesse des Heilers geweckt zu haben, denn er bot mir einen Platz vor seinem Schreibtisch an. Ich ließ es über mich ergehen mir ein weiteres Mal anzuhören, dass meine Existenz eigentlich unmöglich sei.
,,Warum bist du hier?”, wollte er schließlich wissen.
,,Aramis sagte, ich solle herkommen.”
Erneut zog ich den Tadel Cadens auf mich, der sich in einem weiteren Stuhl platziert hatte.
,,Obermagier Aramis, gefälligst.”
Ich korrigierte meine Worte und zeigte dem Heiler meine Hände. Ohne Zögern nahm er sie und untersuchte meine kaputten Glieder. Immer noch zitterten sie und ich war voller Unruhe.
,,Du hast leichte Kälteverbrennungen. Wie konnte es dazu kommen?”
,,Ich… habe den Winter auf der Straße verbracht.”
Je öfter ich es aussprechen musste, dass ich eine Obdachlose war, desto unbehaglicher wurde mir diese Tatsache. Diese Leute wussten nicht, was es bedeutete.
,,Wie lange hast du auf der Straße gelebt?”
Mein ganzes verdammtes Leben.
,,Einige Jahre.”
Er runzelte besorgt die Stirn. Ich hielt es nicht für echt. Dieser Mann war ein Fremder. Er konnte nicht wirklich besorgt um mich sein.
,,Für deine Hände kann ich dir eine Salbe geben. Allerdings möchte ich untersuchen, wie weit die Schäden deines Körpers reichen. Wann hast du zuletzt gegessen?”
,,Vor ein paar Tagen.”
Caden saß ruhig und ohne mit der Wimper zu zucken da. Ich musste mich nicht vergewissern, ob er ein schlechtes Gewissen besaß. Sein Gesicht ließ nicht oft Emotionen zu. Ich fragte mich warum, konnte aber keine plausible Antwort finden.
Der Heiler deutete auf eine Liege, die an einer der Wände zwischen den Regalen mit Arzneimitteln stand. Ich realisierte, dass ich erneut abgedriftet war. Meine Konzentration war momentan nicht die Beste. Das hatte der Heiler ebenfalls gemerkt. Erneut bat er mich auf der Liege Platz zu nehmen. Zögernd folgte ich seiner Bitte.
Er kramte in seinem Schreibtisch, der im Vergleich zu dem des Obermagiers, das reinste Chaos war. Als er gefunden hatte, wonach er suchte, trat er vor mich. Caden war auf seinem Platz sitzen geblieben und blickte gelangweilt zum Fenster hinaus.
,,Krempel deinen Ärmel bitte hoch.”
Ich hatte meine Jacke ausgezogen und schob den Stoff des Hemdes meinen Arm hinauf. Er legte ein Maßband um meinen Oberarm. Die Falten auf seiner Stirn kehrten wieder, als er die Zahl ablas.
,,Leg dich bitte hin.”
Die Liege besaß nur eine leichte Polsterung über dem Metallgestell. Dennoch war sie um einiges besser als der kalte Bordstein.
Panik schnellte durch meine Sinne, als er nach meinem Hemd griff und beabsichtigte es hinaufzuschieben. Ich schlug sein Hände weg und wollte die Liege verlassen.
,,Ganz ruhig. Ich möchte nur sehen, wie weit du bereits abgemagert bis. Bei den weiten Kleidern lässt sich das schwer feststellen.”
Caden richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. Er war genervt.
,,Stell dich nicht so an und leg dich wieder hin.”
Ich rührte mich nicht und als der Heiler mir weitere Male beteuerte, dass er nichts tun würde, das mir weh tun oder zu nahe treten würde, gab ich nach und legte mich wieder hin. Dieses Mal bat er mich, mein Hemd zu lüften. Meine Brust, die sich nur wenig von meinem Brustkorb abhob, ließ ich bedeckt.
Wieder trat Besorgnis in seine Miene. Er tastete meinen Bauch ab und ich drehte den Kopf weg, um ihn nicht ansehen zu müssen. Meine Haut, die sich um meine Rippen geschweißt hatte, war kein schöner Anblick.
,,Leidest du öfters unter Magenschmerzen?”
Ich bejahte. Selbst wenn ich gegessen hatte, suchten sie mich heim.
,,Du solltest den Verzehr von Nahrung nicht überstürzt angehen. Dein Körper und deine Verdauung werden Zeit brauchen, um sich daran zu gewöhnen. Halte dich die ersten Tage noch zurück.”
Er gestattete mir mich wieder aufzusetzen und ich zog meine Schuhe aus, als er meine Füße untersuchen wollte. Sie waren genauso geschunden wie meine Hände. Hinzu kam, dass sich aufgrund der alten Stiefel, die ich getragen hatte, Blasen an meinen Fersen gebildet hatten.
Während ich meine Schuhe wieder anzog, kehrte er an seinen Schreibtisch zurück und schrieb etwas auf einen Zettel. Er gab das Blatt Papier Caden, der sich nicht einmal ansah, was er aufgeschrieben hatte.
,,Gebt das unten ab.”
Caden erhob sich und wartete ungeduldig im Türrahmen auf mich. Der Heiler hatte sich wieder an mich gerichtet.
,,Komm nächste Woche ein weiteres Mal zu mir. Ich möchte wissen, ob dein Zustand sich gebessert hat. Sollte es dir schlechter gehen, komm sofort her.”
Ich bedankte mich bei ihm. Erst als ich schon zur Tür hinaus war, fiel mir ein, dass ich seinen Namen nicht kannte. Ich hätte Caden fragen können, doch war dieser nur darauf aus, so schnell wie möglich weiterzukommen.
In einem Raum, der nach jeglicher Art Salben und Mixturen roch, bekam ich zwei Tiegel. Sie waren mit Etiketten beschriftet. Die Frau, die mir die Salben gab, erklärte mir, welche der beiden für meine Hände und welche für meine Füße waren. Da die Behälter jedoch identisch aussahen, wusste ich beim Verlassen des Gebäudes nicht mehr, welches nun wofür war.


Vom Heilhaus zur Schneiderei war es nur ein kurzer Fußweg. Ich bewältigte ihn keuchend. Der Mann musste sich wohl daran erfreuen. Einen anderen Grund mir dies anzutun, fiel mir nicht ein.
Im Eingangsbereich der Schneiderei standen Regale voller Kleider. Sie waren sorgfältig gefaltet und sortiert. Es ärgerte mich, dass sie niemand trug. Es gab so viele Obdachlose, die in der Stadt fürchteten zu erfrieren und hier lagen die Kleider herum als wären sie bloß Objekte zum Ansehen. Ich behielt meinen Ärger für mich, weil ich keinen Grund hatte mich zu beklagen.
,,Das ist die kleinste Größe, die wir haben.”
Caden hatte eine der Scheiderinnen gebeten mir neue Kleider zu geben. Sie hatte ihn angelächelt und mit besonderen Blicken beäugelt. Ich verstand nicht, warum und ich wollte es auch nicht wissen. Spätestens nachdem er ihre Hilfe für unnütz deklarierte, indem er nach ihrem Vorgesetzten bat, hatte sich die Sache auch schon wieder erledigt. Sie rief nach einem Mann namens Lyras und beachtete ihn mit keinem Blick mehr. Ich hätte gelacht, wenn ich sie nicht bedauert hätte.
,,Wer wünscht nach mir?”
Ein Mann von beträchtlicher Körpergröße trat hinter einem Vorhang hervor, der in einen Nebenraum führte. Als er Caden erblickte, neigte er höflich den Kopf.
,,Wie kann ich Euch behilflich sein?”
,,Wir benötigen etwas, das nicht der Standardgröße entspricht.”
Er deutete mit dem Kopf auf mich.
,,Verstehe. Folg mir bitte.”
Lyras verschwand wieder hinter dem Vorhang und als ich versäumte ihm sofort zu folgen, holte ich mir Cadens Tadel ein.
,,Worauf wartest du? Geh und hör auf noch mehr meiner kostbaren Zeit zu vertrödeln.”
Ich schob den Vorhang beiseite und fand mich in einem Raum mit einem großen Tisch und einem Podest wieder. Auf dem Schneidertisch lagen Stoffbahnen und Skizzen von Schnitten und Mustern hingen an den Wänden.
,,Stell dich hierhin.”
Ich zog meine Jacke aus. Mir wurde schwindelig, als ich auf das Podest stieg. Ich hoffte, noch genügend Kraft zu haben, um den Rest des Tages zu überstehen. Oder zumindest nicht ohnmächtig zu werden und von der Erhöhung, auf der ich mich befand, hinunterzustürzen.
Mit eiligen Handgriffen hatte der Mann sich sein Maßband geschnappt und es um meine Hüfte gewickelt. Leise nuschelte er dir Zahlen, um sie sich zu merken. Er maß die Länge meiner Beine und meiner Arme und notierte sich die Werte auf einem Fetzen Papier.
,,Meine Güte, was bist du denn für ein Fliegengewicht.”
Ich stand zwar auf dem Podest, doch überragte ich seine Körpergröße nicht. Er trug eine Brille, die ihm fast schon bis zur Nasenspitze hinuntergerutscht war und sein graues Haar hatte er im Nacken zusammengebunden.
Ich errötete, als ich meine Arme anheben musste, damit er meinen Brustumfang messen konnte. Er stockte, kurz nachdem er das Band um mich gezogen hatte und merkte, dass ich keineswegs ein Junge war. Beschämt neigte ich den Kopf zu Seite.
Ohne eine Bemerkung schrieb er sich einen Wert auf. Ich durfte wieder vom Podest hinunter, wobei sich alles zu drehen begann. Fast wäre ich über meine eigenen Beine gestolpert und gefallen, wenn er nicht schnell reagiert und mich gestützt hätte.
,,Alles in Ordnung?”
Ich nickte und bewerkstelligte es wieder auf eigenen Beinen zu stehen.
,,Danke.”
,,Du solltest gehen und dir ne Mütze voll Schlaf gönnen. Ich habe alles, was ich brauche.”
Ich verließ den Raum und Caden wechselte noch knapp einige Worte mit dem Schneider. Ich wusste nicht, worüber sie sprachen und all meine Anstrengungen ihre Worte zu erfassen bereiteten mir Kopfschmerzen. Als wir wieder gingen, merkte ich, wie Caden etwas zu mir sagte.
,,Wie bitte?”
Er seufzte zutiefst genervt.
,,Ich sagte, dass du zurück in die Schlafräume kannst, um dich auszuruhen. Der Weg ist nicht weit, also muss ich dich nicht begleiten.”
,,In welche Richtung muss ich?”
Er zeigt mit dem Finger auf das längliche Gebäude neben dem Badehaus und ließ mich stehen. Ich bewältigte die ersten Schritte nur mit Mühe und als meine Sicht verschwamm und meine Kraft vollends aufgebraucht war, wurde es dunkel um mich.


Es war bereits das zweite Mal, dass ich nach einer Bewusstlosigkeit in dem Bett aufwachte. Dieses Mal schrie mich niemand an. Es war ruhig und ich streckte mich, als ich die gefütterte Decke bemerkte, die sich um meinen Körper schmiegte und mich wärmte. Ich wusste nicht, wie spät es war und wie genau ich hierher gelangen konnte, erahnte ich mit Schauer. Ich flehte darum, dass es nicht Caden war, der mich hergebracht hatte.
Mein Körper verspannte sich, als ich ein Stöhnen hörte. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich nicht allein war. Unter der Decke hervorschielend sah ich mich in dem Zimmer um. Weit entfernt von mir, saß ein Junge auf einer der Betten. Er hielt sich den Kopf. Erschrocken setzte ich mich auf. Er presste sich einen Lappen an die Schläfe und Blut klebte in seinem kurzen Haar, in seinem Gesicht und an dem Tuch in seiner Hand. Seine Kleidung war verdreckt und Schmutz klebte ihm im Gesicht. Unsere Blicke trafen sich und für eine unerträglich lange Zeit herrschte nichts als Schweigen.
Gestärkt vom Schlaf schob ich mich an den Rand des Bettes. Er beobachtete mich mit dunklen Augen.
,,Du bist die Magierin.”
Seine Stimme klang kratzig und ich vermutete, dass er den Stimmbruch erst erreicht hatte.
,,Ich bin Tamina. Wie heißt du?”
,,Flint.”
Ich erhob mich aus dem Bett. Mein Magen schmerzte und raubte mir meine Energie, doch begab ich mich trotzdessen in seine Richtung. Ich setzte mich auf das Bett, das seinem gegenüberstand.
,,Was ist mit dir passiert?”
,,Ich habe beim Kampftraining nicht aufgepasst und gegen Vador verloren.”
Paralysiert von dem Inhalt seiner Worte brauchte ich eine Sekunde bis ich mich gefasst hatte.
,,Kampftraining?”
Flint nahm das Tuch von seiner Schläfe. Die Platzwunde an seinem Kopf weckte bei mir Bedenken.
,,Du hast deinen Stundenplan wohl noch nicht bekommen, was? Dreimal die Woche müssen wir diese Folter ertragen.”
,,Aber… gibt es keinen Weg sich davon zu entschuldigen?”
,,Nein. Wir werden ausgebildet, um dem König in Kriegszeiten zu dienen. Sie wären dumm, wenn sie uns nicht zwingen würden, uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.”
Mir wurde schlecht und hätte meinen Magen einen Inhalt gehabt, hätte ich mich wahrscheinlich übergeben.
,,Davon hat mir niemand etwas gesagt.”
In diesem Moment hätte ich mich selbst ohrfeigen können. Warum hatte ich nicht nachgefragt, als Aramis die Hindernisse erwähnt hat, die mir bevorstünden?
,,Das wird Obermagier Bengor nicht berücksichtigen. Freundlichkeit oder Gnade kennt er nicht.”
,,Obermagier Bengor?”
Blut lief ihm die Schläfe hinunter und er presste das Tuch wieder an seinen Kopf. Es musste sehr wehtun, denn er zog eine Grimasse.
,,Er unterrichtet uns und ist für den Bereich der Kampfkunst zuständig. Du solltest ihn nicht verärgern, indem du dich ihm widersetzt oder seinen Anforderungen nicht gerecht wirst.”
Ich begriff, was für eine Närrin ich gewesen war. Ich hatte mich mal wieder blenden lassen. Von allem, das ich nicht berechtigt war zu besitzen.
Flint sog scharf den Atem ein. Die Wunde blutete noch immer und das Tuch hatte eine rote Farbe angenommen. So sehr es mir widerstrebte, riss ich ein Stück Stoff aus meinem Hemd.
,,Du solltest ins Heilhaus gehen und dich untersuchen lassen.”
Ich setzte mich neben ihn und fing das Blut, das bis zu seinem Kinn hinuntergeronnen war, mit dem Stoff aus meinem Hemd auf. Aus Angst, ihm mehr Schmerz zu bereiten als ihm eine Hilfe zu sein, überließ ich ihm den Lumpen, den er sich an die Schläfe drückte. Er schien überrascht.
,,Warum hilfst du mir?”
,,Warum sollte ich nicht?”, stellte ich ihm eine Gegenfrage. Er zuckte mit den Achseln.
,,Bisher bin ich hier nicht auf sehr viel Freundlichkeit gestoßen.”
Nickend stimmte ich ihm zu. Ich wusste, was er meinte. Das Bild von Caden, wie er mir das Gold hinhielt und lächelte, tauchte in meinen Gedanken auf. Ich war naiv und dumm gewesen. Hatte ich wirklich geglaubt, dass er freundliche Absichten gehegt hatte?
,,Von wo kommst du?”, fragte Flint mich und ich bemerkte, wie nah ich mich neben ihn gesetzt hatte. Unauffällig rückte ich etwas beiseite.
,,Anaran. Du?”
,,Iridon.”
,,Wo liegt das?”
Meine geographischen Kenntnisse waren nicht die Besten. Ich hatte keine Vorstellung von den Grenzen Atreyas. Ich wusste nur, dass ich in der Hauptstadt lebte und Atreya sich aus Provinzen zusammensetzte.
,,Im Norden. In der Provinz Sovrin.”
,,Klingt weit weg.”
,,Jap.”
Die Blutung seiner Wunde, schien gestoppt zu haben, denn als er den Fetzen aus meinem Hemd von seiner Schläfe nahm, rann kein frisches Blut mehr sein Gesicht hinunter.
,,Ich hätte mich nicht hierauf einlassen dürfen.”, klagte er.
,,Warum hast du es dann getan? Haben sie dir etwa auch verschwiegen, was dich erwartet?”
War ich wirklich die einzige, die auf ihre Köder hereingefallen war? Ich hoffte nicht.
,,Nein. Ich wusste, dass es schwer werden würde. Aber… Ich habe mich dafür entschieden, weil ich nicht weiter wusste. In Iridon sind sie Leuten wie mir immer feindseliger geworden.”
,,Leuten wie dir?”
Er sah sich nach der Tür um und vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war.
,,Sag es nicht den anderen. Ich bin schon der Jüngste. Sie sollen nicht noch mehr Grund haben auf mir herumzuhacken.”
,,Was soll ich ihnen nicht sagen?”
Er wirkte besorgt. Das gab mir Grund ebenfalls beunruhigt zu sein. Wenn sie es auf ihn abgesehen hatten, nur weil er der Jüngste war, wie würden sie dann auf mich reagieren?
,,Dass ich ein verdammter Bettler bin. Ich habe keinen hohes Ansehen oder einen edlen Familiennamen, wie sie alle.”
Ich war doch nicht die Einzige, weswegen ich mit einem Lächeln reagierte.
,,Ich werde es für mich behalten, wenn du mir versprichst ihnen nicht zu sagen, dass ich eine Diebin bin.”
Überrascht hob er die dunklen Brauen.
,,Ich dachte, du wärst… alle reden über dich.”
Ich stieß den Atem aus und stützte mein Kopf auf meinen Händen ab. Mir fiel erst jetzt auf, wie schmächtig er war.
,,Das ist mir nicht entgangen.”
,,Wie bist du hergekommen?”
Ich erzählte ihm von meinem Versuch an Geld zu gelangen und wie Caden mich letztendlich gelinkt hatte. Bei der Erwähnung seines Namens verdüsterte sich Flints Gesicht.
,,Mir kam er von vornherein nicht geheuer vor. ”
,,Was?”
Ich ertappte mich, wie ich mich von Paranoia einwickeln ließ.
,,Er ist merkwürdig. Ich bin ihm schon ein paar Mal begegnet und auch auf der Willkommensfeier war er da. Glücklicherweise unterrichtet er nicht.“
Flint studierte mein Gesicht, als ich nur einen zustimmenden Ton von mir gab. Ich wandte mich ab, denn es war mir unangenehm.
,,Entschuldige. Ich wollte dich nicht anstarren. Es ist nur… “
,,Was?”, fragte ich gereizt, als er nicht weiter sprach. Ich hatte es satt, dass man mich beäugte. Sofort tat es mir Leid ihn so angefahren zu haben. Er nuschelte eine eingeschüchterte Entschuldigung. Ich erklärte ihm, dass es nicht seine Schuld sei und bot ihm an, ihn ins Heilhaus zu begleiten.
Auf dem Weg dorthin fiel mir auf, wie dunkel es bereits geworden war. Die Laternen auf dem Gelände beleuchteten die Wege und der puderige Schnee zwischen den Pfaden glitzerte im Licht. Die Fenster der Gebäude leuchteten und mit Beruhigung registrierte ich, dass sich alle im Speisesaal aufhielten. Mein Magen rumorte und mir kam das Abendessen, zu dem Aramis mich eingeladen hatte, wieder in den Sinn. Ich sollte seine Einladung wahrnehmen.

3.Kapitel



Nachdem ich Flint ins Heilhaus gebracht hatte, suchte ich nach dem großen Gebäude, das der Obermagier bewohnte. Es war nicht schwer zu finden, doch musste ich, um es zu erreichen, die Parkanlage durchqueren. Flints Worte über Caden ließen mich nur mehr Bestätigung in meinen Misstrauen, das ich gegen den Magier hegte, finden.
Auf meinem Weg glaubte ich hinter jedem Baum eine Gestalt zu erkennen. Ich hielt und sah mich um, als ich aus den Augenwinkeln heraus einen Schatten wahrnahm. Es herrschte Stille und nichts bewegte sich. Ich rührte mich nicht vom Fleck, bis ich mir sicher war, dass es bloß ein Hirngespinst war, das mich jagte und aufgrund meines leeren Magen hinter mir her war. Die Worte, die ich mir einredete, hielten mich nicht davon ab, mit einem zügigeren Gang auf mein Ziel anzustreben.
Bibbernd floh ich aus der Kälte und trat in den Eingangsbereich. Ich fand mich vor einem langen Gang wieder. Die Türen waren mit Namensschildern versehen. Zumindest glaubte ich das. Mir gaben diese Zeichen keine Auskunft. Ich überlegte, ob ich nicht an einer Tür klopfen sollte, um nachzufragen, doch verwarf ich den Gedanken schnell, denn würde ich damit erstens preisgeben, dass ich nicht lesen konnte und zweitens, jemanden begegnen, dem ich vielleicht nicht begegnen wollte. Mir war es lieber ungesehen und unauffällig zu bleiben.
In der Hoffnung vielleicht doch eines der Schilder entziffern zu können, trat ich an eine der Türen und sah mir die Zeichen an. Sie bildeten mehrere Worte, was es schwer für mich machte einen Anhaltspunkt zu finden. Plötzlich öffnete sich die Tür und ich wich zurück, damit ich nicht von ihr getroffen wurde. Es war Aramis.
,,Tamina, komm doch herein.”
Ein herrlicher Duft schwang mir entgegen. Mein Magen flehte mich darum an ihn endlich zu füttern. Bevor ich ging, würde ich mir noch ein Essen gönnen, das mich für lange Zeit satt halten würde. Ich entschied dem Magier nichts von meinem Entschluss, die Magiervereinigung wieder zu verlassen, zu erzählen.
Er führte mich durch ein edel möbliertes Wohnzimmer in einen Speiseraum. Ein länglicher Tisch ruhte in dessen Mitte. Egal wohin ich sah, alles glänzte in meinen Augen. Wenn ich nur daran dachte, wie viel Geld es einbringen würde, wenn man alles, was sich in diesem Raum befand, verkaufen würde, dann zwang es mich schon fast in die Knie. Er hatte überhaupt keine Ahnung! Wusste er, dass ich mit dem Ring an seinem Finger ganze zwei Monate über die Runden kommen könnte? Ganz sicherlich nicht.
,,Ist sie da?”, rief eine Frauenstimme aus einem Nachbarraum.
,,Ja, Liebes.”
Aramis lächelte mich an. Ich entgegnete mit emotionsloser Miene. Meinen Mund, der zuvor noch offen gestanden hatte, hatte ich geschlossen.
,,Sie freut sich bereits den ganzen Tag auf deinen Besuch.”
Eine Frau in einem langen Kleid betrat den Speiseraum. Sie war ungefähr so alt wie ihr Mann, trug ihr graues Haar zu einer Hochsteckfrisur und brachte ein Tablett mit Essen in den Raum. Sie stellte das Tablett ab und obwohl es mich nur noch nach Nahrung zerrte, gab ich mir die Mühe, mich auf ihr Gesicht und nicht auf die gefüllten Schüsseln zu konzentrieren.
Wie erwartet musste ich mich auch ihrer Musterung unterziehen. Sie hatte jedoch den Anstand es so unauffällig wie möglich zu tun.
,,Das ist meine Frau Meliana.”
,,Nenn mich einfach Mel.”
Da ich mit den Höflichkeitsformen dieser Leute nicht vertraut war, neigte ich bloß den Kopf. Sie lächelte mich herzlich an und ich erkannte Neugier in der Art, wie sie mich betrachtete.
,,Setzt dich doch und greif zu. Aramis hat mir davon erzählt, dass du schon seit langem nichts zu Essen gehabt hattest. Meine Güte! Wie dünn du bist.”
Trotz ihres Alters hatte sie ein aufgewecktes Gemüt. Sie dirigierte mich zu einem gedeckten Platz und verteilte in einem Atemzug auch noch die Schüsseln und Teller mit den Speisen auf den Tisch. Es dampfte und roch so herrlich, dass mein Magen schmerzte.
,,Gib mir deine Jacke. Du musst sie nicht im Haus tragen.”
Sie tauchte hinter meinem Stuhl auf und nahm mir das Kleidungsstück ab.
,,Was ist denn mit deinem Hemd passiert?”
Ich verbarg unangenehm den zerrissenen Saum meines Hemdes. Ich meinen viel zu großen Sachen kam ich mir an diesem Ort nicht richtig vor. Ich gehörte nicht hierher. Und das würde ich auch nie.
,,Flint. Er hat am Kopf geblutet. Ich habe ihn ins Heilhaus gebracht.”
Aramis hatte sich an den Tisch gesetzt und Meliana begab sich an den Platz neben mir.
,,Was ist deinem Freund denn passiert?”
,,Er wurde in einem Kampf verletzt. Sie wollen ihn die Nacht dort behalten.”
Sehnsüchtig starrte ich die vielen Schüsseln an. Es sah alles köstlich aus und ich konnte es kaum noch aushalten.
,,Ich arbeite im Heilhaus. Wenn du willst, kann ich ihm direkt morgen früh, einen Besuch abstatten und nachsehen, ob es ihm gut geht.”
,,Mel, jetzt halte das Mädchen doch nicht noch weiter auf. Tamina, greif ruhig zu.”, forderte Aramis mich auf. Ohne zu wissen, was ich mir auf den Teller tat, füllte ich diesen mit diversen Speisen. Es gab Fleisch vom Verrockrind, in dessen Genuss ich nur selten gekommen war, Brot, verschieden Gemüsesorten, die in Einmachgläsern über den Winter haltbar gemacht worden waren und nun in einem himmlischen Duftnebel präsentiert wurden und diverse Soßen. Der Heiler hatte zwar gesagt, ich dürfe nicht zu viel essen, doch wenn dies meine letzte Mahlzeit auf lange Sicht war, dann war es besser, wenn ich zulangte.
,,Halt, halt. Du wirst dich noch übergeben, wenn du all das in dich hineinschaufelst. Du kannst dir später immer noch neu auffüllen.”, hinderte Meliana mich daran noch mehr zu nehmen. Ihren Vorschlag, später mehr zu nehmen, würde ich mir auf jeden Fall zu Herzen nehmen.
,,Lass es dir schmecken.”, sprach Aramis und füllte sich ebenfalls etwas auf. Skeptisch bemerkte ich das Silberbesteck neben meinem Teller. Ich hatte noch nie mit Gabel und Messer gegessen und der Gedanke Silberbesteck zu nutzten, schien mir falsch. Tat es ein Löffel aus Holz nicht auch? Ich verschwendete keinen Gedanken mehr an diese überflüssigen Hilfsmittel und nahm eine Portion mit den Fingern auf. Genüsslich ließ ich die kleinen Gemüsestückchen über meine Zunge wandern. Sie waren so zart, dass ich sie kaum kauen musste. Ich seufzte leise, als ich das erste Mal schluckte. Meine Hände zitterten vor Aufregung.
,,Möchtest du nicht lieber das Besteck benutzten? Deine Hände werden schmutzig.”, versuchte Meliana mir vorsichtig zu vermitteln, dass es sich nicht gehörte mit den Händen zu essen.
,,Ich brauche kein Silber zum Essen.”, sprach ich, während ich einen weiteren Bissen, den ich mir in den Mund gesteckt hatte, kaute. Nur am Rande bemerkte ich, wie Aramis den Tisch verließ und wenig später wiederkehrte und ein Messer und eine Gabel aus Metall neben meinen Teller legte. Ich beachtete das Besteck nicht und er setzte sich wieder.
,,Versuch es.”
Sein ernster Ton ließ mich innehalten.
,,Es würde mehr in deinem Mund landen, wenn du Besteck benutzt.”
Ich wischte meine Hände an einer Serviette ab, die mir Meliana reichte. Wenn ich mehr der Speisen zwischen die Zähne bekommen würde, dann würde ich seinen Ratschlag mit Genuss befolgen.
,,Sieh her. Das Messer hältst du so und die Gabel so.”, zeigte die Frau mir und ich machte es ihr gleich. Ich würde zwar etwas Übung benötigen, doch tatsächlich war die Art zu Essen effizienter. Ungewohnt, aber effizient.
,,Das ist doch schon viel besser, nicht wahr?”
Sie schien sich über meine ersten Versuche zu freuen. Ich fand es eigenartig.
,,Mit den Händen schmeckt es besser.”
In kürzester Zeit hatte ich den Teller geleert und nahm mir einen Nachschlag. Der Gedanke, bald schon wieder den Müll von der Straße essen zu müssen, machte mich krank. Wie konnte ich, wo ich all diese Köstlichkeiten probiert und all den Luxus gesehen hatte, einfach so wieder auf die Straße zurückkehren? Hatte ich das Spiel nicht schon längst verloren? Allein weil ich hier saß und von ihren Speisen aß, bedeutete es, dass ich ihren Köder schon längst geschluckt hatte. Es war zu spät. Mir wurde mulmig und ich legte das Besteck beiseite. Mein Teller war noch zur Hälfte gefüllt.
Mir wurde bewusst, dass das Straßenleben nun noch schwieriger für mich werden würde. Ich kannte einen Vergleich. Das würde es für mich unerträglich machen.
,,Stimmt etwas nicht, Kind?”, fragte mich Aramis.
Nichts stimmte. Ich wusste, ich hatte mich längst dafür entschieden hier zu bleiben. Die Würde, die ich glaubte, erlangt zu haben, schwand, denn letztendlich war ich nur ein weiteres Mal geködert worden.
,,Alles bestens.”, log ich.
Ich wartete, bis auch sie ihre Mahlzeit beendet hatten. Meliana wollte ein Gespräch mit mir führen, doch da sie mich nur über mein niederträchtiges Leben ausfragte, verging mir schnell die Lust. Es war mir einfach zu unangenehm. Zudem machte ich mir Sorgen über meinen Stundenplan. Würde ich Flints Schicksal teilen müssen? Ich war nicht einmal in der Lage eine Treppe zu erklimmen, ohne erschöpft zu keuchen. Wie sollte ich dann gegen einen bewaffneten Mann ankommen?
Als ich es nicht mehr aushielt, bat ich Aramis mich über meine Stunden zu informieren. Während seine Frau den Tisch abräumte, holte er einen Hefter von einer nahestehenden Anrichte. Er gab mir einen Zettel auf dem eine Tabelle aufgezeichnet war. Ich schluckte.
,,Ich war mir nicht sicher, ob du des Lesens fähig bist, daher habe ich einige Zeichen eingefügt, dir es dir vorerst erleichtern sollten.”
Ich erkannte unter jedem Kästchen ein Zeichen. In der ersten Spalte waren die Umrisse eines Buches aufgezeichnet. Darunter befand sich ein weiteres Kästchen mit einem Pferd. Er hatte sich tatsächlich die Mühe gemacht unter jedem Unterrichtsfach eine Karikatur zu setzten.
,,Danke.”
,,Natürlich wirst du das Lesen und Schreiben erlernen müssen. Du und Flint, ihr werdet zusätzliche Stunden belegen müssen, um Eure Versäumnisse aufzuholen.”
Der Plan war mit beschrifteten Kästchen zugepackt. Nur ein Tag der Woche, war ohne Unterricht. Meine Erleichterung über diese Tatsache, dämpfte sich wieder, als ich das Bild eines Schwertes entdeckte. Es war dreimal vertreten.
,,Ich… ich werde Kampfunterricht bekommen?”
Mein Mund wurde trocken und mein Magen rumorte.
,,Ja. Es gehört zu den Anforderungen, die wir unseren Schülern stellen. Du wirst am Ende des Jahres eine Prüfung in jedem Fach ablegen müssen. Deine Lehrer werden dich bewerten und aufgrund dieser Bewertung und deiner Bemühungen während des Jahres, entscheiden, ob du in die höhere Stufe versetzt wirst und das nächste Jahr antreten darfst.”
Das würde ich niemals schaffen, war das erste, was mir durch den Kopf ging. Diese Sache war zu groß für mich.
,,Was wenn ich durchfalle?”
,,Dann wirst du das Jahr wiederholen müssen. Wenn es dir beim zweiten Mal nicht gelingt einen guten Schnitt zu erlangen, dann wird man dich aus der Magiervereinigung verweisen und du müsstest in die Stadt zurückkehren.”
Besorgt nahm ich das Papier in meine Hand. Es stand so vieles auf dem Spiel. Es hing so viel davon ab, ob ich gut war. Ich durfte nicht versagen.
,,Was bedeuten die anderen Zeichen?”
Noch wollte ich den Mut nicht gänzlich sinken lassen. Es würde sicherlich etwas geben, das mir lag. Oder?
,,Insgesamt wirst du sieben Fächer belegen. Neben Lesen und Schreiben, wirst du dich mit deinen mathematischen Kenntnissen auseinandersetzten müssen, wichtige Grundsätze der Heilkunde erlernen, etwas über die Geschichte und Politik Atreyas erfahren, Reitstunden nehmen, dich in Selbstverteidigung üben und natürlich in regelmäßigen Stunden deine Magie erproben. Für die meisten ist dies der interessanteste Teil.”
Ich sackte auf meinem Stuhl zusammen. Ich fühlte mich klein und eingeschüchtert. All das war zu viel für mich. Wäre ich in der Lage, überhaupt etwas Sinnvolles zu erlernen, wäre ich nicht auf den Straßen Anarans verkümmert.
Aramis holte einen weiteren Zettel aus dem Hefter und reichte ihn mir. Ich erkannte eine Skizze, die das gesamte Gelände mit ihrer Gebäude einfasste. Die eingezeichneten Grundrisse der Häuser waren mit einer säuberlichen Handschrift versehen.
,,Ich habe die Zeichen deines Stundenplanes in diese Karte eingefügt, damit du Bescheid weißt, wo welcher deiner Stunden stattfinden.”
Ich wollte mich bedanken, brachte aber kein Wort mehr heraus. Ich war froh, als Meliana mit einem Kuchen zurückkehrte. Zwar hatte ich keinen Hunger mehr, was mir sehr viel Last von den Schultern genommen hatte, doch gab es nun weitere Probleme, denen ich entgegentreten musste. In Gedanken versunken aß ich ein Stück des Desserts.


Es war spät, als ich die Wohnung des Obermagiers verließ. Draußen war es eiskalt. Zur Ausnahme hatte ich nichts gegen die Kälte, denn hatte mich Übelkeit geplagt. Ob es an dem Essen lag, das ich mir einverleibt hatte oder an den vielen Anforderungen, die ich würde erfüllen müssen, konnte ich nicht genau sagen. Ich wusste auf jeden Fall, dass mir zweites eindeutig schwerer im Magen lag.
Mit dem Hefter in der Hand durchquerte ich die Parkanlage. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Ich hielt, als ein saurer Geschmack meinen Hals hinaufstieg. Hustend übergab ich mich am Wegesrand. Ich bedauerte sofort, den Rat des Heilers nicht angenommen zu haben, denn hatte ich durch mein Verhalten kostbare Nahrung verschwendet.
Erst als ich mir sicher war, dass ich nicht noch ein weiteres Mal speien musste, strebte ich meinen Rückweg zu den Unterkünften der Jungmagier wieder an. Leider erfüllte sich mein Wunsch, dass alle bereits schliefen und ich der Konfrontation mit meinen Mitschülern aus dem Weg gehen konnte, keineswegs. Leise Stimmen drangen durch die Tür in den Flur, in dem ich verharrte. Ich hing meine Jacke an der Garderobe auf und näherte mich der Tür. Mein Herz schlug schneller, als ich nach der Türklinke fasste. Sekundenlang verharrte ich so, bis ich es schaffte die Tür zu öffnen.
Sofort erstarb das Gemurmel in dem Schlafraum. Achtundzwanzig Augenpaare richteten sich gleichzeitig auf mich. Ich versteinerte. Mein Herz hämmerte in meiner Brust und Hitze wallte in meinem Körper. Unsicher, ob ich etwas sagen sollte, ging ich auf mein Bett am anderen Ende des Raumes zu. Links und rechts von meinem Schlafplatz befanden sich die Eigentümer der Nachbarbetten. Meine Wangen röteten sich, als ich feststellte, dass einer von ihnen kein Hemd trug.
,,Seht mal, wie verlegen sie ist.”
Gelächter machte die Runde. Ich ignorierte es und setzte mich an den Rand meines Bettes. Ich konnte es kaum erwarten mich unter meiner Decke zu verkriechen.
Gerade als ich meine Stiefel ausziehen wollte, wurde mir der Hefter mit meinem Stundenplan aus der Hand gezogen. Ich drehte mich um, doch war die Mappe bereits außerhalb meiner Reichweite. Ein blonder Mann hatte sie an sich genommen. Herausfordernd grinste er mich an.
,,Du solltest besser auf deine Sachen aufpassen.”
Bedacht blieb ich auf meinem Bett sitzen. Vielleicht würde er mich in Ruhe lassen, wenn er sah, dass ich mich nicht von solchen Dingen provozieren ließ.
,,Bitte, gib sie mir wieder.”
Ich hätte mehr Selbstsicherheit in meine Stimme legen sollen. Meine Gelassenheit war vergebens, wenn er um meine Unsicherheit wusste.
,,Hol sie dir.”
Ich ahnte, worauf dieses Spiel hinauslief. Meine Chancen ihm gegenüberzutreten, ohne mich ihm Unterwerfen zu müssen, indem ich eingestand, dass ich nicht an die Mappe gelangen konnte, lagen gleich bei null. Er war größer und vor allem stärker als ich.
,,Gib sie mir bitte wieder.”
Mein zweiter Versuch diese Situation mit Vernunft zu regeln bewirkte nicht mehr als der erste auch.
,,Wenn du dir keine Mühe gibst, willst du sie wohl nicht wiederhaben.”
Er öffnete den Hefter und lachte, als er die Zettel sah.
,,He, Leute. Seht mal. Scheint als hätten wir noch einen Analphabeten in unseren Reihen.”
Er nahm meinen Stundenplan und hielt ihn in die Runde, womit er Erheiterung unter den Männern hervorrief.
,,Wo wir schon beim Thema sind. Wo steckt Flint überhaupt? War die Abreibung, die ich diesem Farook verpasst habe, etwa zu viel für ihn?”
,,Der versteckt sich bestimmt im Heilerhaus.”, sagte ein weiterer Mann und trat zu Vador, um sich die Papiere in der Mappe anzusehen. Bis auf eine Hose, war er unbekleidet.
,,Die werden ihn da nicht ewig behalten. Aber solange er weg ist, können wir uns ja mit einem Ersatz zufrieden geben.”
Vador grinste mich an. All meine Befürchtungen wurden wahr.
,,Ich… ich habe euch nichts getan.”
,,Es gibt immer ein Ende an der Nahrungskette. Das ist das Gesetzt der Natur.”
Er brauchte mir nicht erklären, dass ich, wie eigentlich immer, den Kürzeren zog. Eigentlich hatte ich ja nicht einmal daran gedacht, dass es hier anders sein würde und ich unten in der Hackordnung auf meinem Rang verkümmern würde.
,,Gib mir meine Sachen wieder.”
,,Oder was? Wirst du mich dann verpfeifen?”
Der gebräunte Mann neben Vador nahm meinen Stundenplan aus dem Hefter und hielt das Papier demonstrativ hoch.
,,Oje.”
Langsam riss er das Blatt in der Mitte durch. Er wartete nur darauf, dass ich aufsprang und nach den Unterlagen hechtete. Ich blieb auf dem Bett sitzen. Es verärgerte ihn, denn zerfetzte er kurz darauf die beiden Teile der Seite in kleine Schnipsel.
,,Hör auf, Felak. Sie kann sich nicht wehren.”, sagte jemand am anderen Ende des Raumes. Der dunkelhaarige Mann drehte sich um.
,,Und was tut sie dann hier? Magier sollten in der Lage sein sich zu verteidigen. Aus dem Grund sollten Frauen auch keine Magie besitzen.”
Er hatte seinen Standpunkt klar gemacht. Es störte ihn, dass ich aufgenommen worden war. Daran würde ich nichts ändern können. Am Besten war es, wenn ich ging. Inmitten dieser Männer würde ich ohnehin kein Auge zu machen können.
Mein Plan den Schlafraum zu verlassen wurde durch Vador und Felak vereitelt, die sich mir in den Weg stellten und den Durchgang versperrten. Mein Stundenplan war mir nun völlig egal. Ich wollte nur fort von hier.
,,Kleine Mädchen, wie du, sollten zu so später Zeit nicht draußen herumlaufen.”
Beide überragten mich mit ihrer Körpergröße. Nach Hilfe suchend blickte ich mich im Zimmer um. Niemand rührte sich. Ich nahm es ihnen nicht übel. Felak und Vador standen an der Spitze der Nahrungskette. Niemand legte sich mit denen von Oben an. Ich befand mich am anderen Ende. Ich brauchte also keine Angst zu haben, noch tiefer zu sinken. Was für eine Erleichterung.
,,Leg dich schön in dein Bettchen.”, gaffte Vador und ich trat zurück. Ich musste schnell sein. Nicht unbedingt meine größte Stärke.
Niedergeschlagen gab ich vor mich in mein Bett legen zu wollen. Ich blieb ruhig und als ich auf eines der Fenster zustürmte und es öffnete, rechnete niemand damit. Zu spät jagten sie mir hinterher. Ich sprang hinaus und hörte, wie sie hinter mir die Verfolgung aufnahmen. Die Kälte schnitt in meine Lungen und Atemwege. Meine Jacke hatte ich nicht bei mir.
,,Fangt sie ein!”
Ich wusste nicht, wie viele von ihnen hinter mir her waren. Ich wusste nur, dass ich mir etwas einfallen lassen musste. Auf meine Schnelligkeit würde ich mich nicht verlassen können, daher würde ich nach einem Versteck suchen müssen.
Die beleuchteten Wege vermeidend rannte ich in den Schatten eines der hohen Gebäude. Sie waren mir bereits auf den Fersen und ich hoffte, sie würden keine Möglichkeit finden mich einzukreisen. Ich kannte mich nicht auf dem Gelände aus. Ein weiterer Nachteil.
Außer Atem rannte ich um das Gebäude. Es lag dicht an einem weiteren Gebilde, sodass eine schmale Gasse zwischen ihnen entstand. Trotz meiner Panik war ich klar genug im Kopf und vermied den Durchgang, der ein perfekter Ort für einen Hinterhalt wäre. Stattdessen schleppte ich mich weiter. Ich befand mich in der Nähe des Hauses, in dem ich zuvor noch zu Abend gegessen hatte. Sollte ich um Hilfe bitten? Das näherkommen von Schritten erlaubte mir nicht groß darüber nachzudenken. In meinem Falle entschied ich mich, darauf zu hoffen, dass ich heil aus der Sache herauskam, ohne bei jemandem Schutz zu suchen.
Ich musste den Park durchqueren, wenn ich entkommen wollte. Tief holte ich Luft und bereitete mich auf einen Sprint vor. Sie hatten mich schon fast erreicht, da raste ich los.
,,Da ist sie!”, rief Vador. Sofort stürzten sie hinter mir her. Ich durfte nicht langsamer werden. Ich musste den Park vor ihnen durchquert haben, denn im Dunkeln war ich sicher. Gefasst von Panik schlug ich einen Haken, als ich bemerkte, wie nah mir einer der Männer bereits gekommen war. Er hatte nach mir gegriffen. Im letzten Moment war ich ihm entwischt, nur um darauf zu warten, dass er es ein weiteres Mal versuchte.
,,Bleib stehen! Du hast keine Chance.”
Ich erreicht die andere Seite und rannte auf ein Waldstück zu, das meine Rettung sein könnte. Ich fiel zu Boden, als mein Verfolger nach mir hechtete und meine Beine umschlang. Er landete mit mir auf dem Boden. Der Versuch ihn mit Tritten loszuwerden scheiterte und zog mir fast die lockere Hose von der Hüfte.
,,Lass mich los!”
Ich sah die anderen bereits heranstürmen. Verzweifelt verpasste ich dem Mann einen Fausthieb ins Gesicht. Er stöhnte auf und lockerte seinen Klammergriff um meine Beine. Ich sprang wieder auf die Füße und rannte weiter. Im Dunkeln konnte ich nur die Schemen der etlichen Bäume erkennen, die sich vor mir auftaten.
Den Rest meiner Kräfte hatte ich nun endgültig aufgebraucht. Hinter mir war alles ruhig geworden. Sich nun schon in Sicherheit zu wägen, wäre allerdings ein großer Fehler. Ich schleppte mich weiter. Der Schnee knirschte unter meinen Stiefeln. Ich hielt kurz an, um zu lauschen, ob mir jemand folgte. Bisher noch nicht. Ich musste tiefer in den Wald gelangen.
Schließlich, als ich glaubte, weit genug gelaufen zu seinen, sank ich auf meine Knie. Erneut musste ich mich übergeben und verabschiedete mich von dem Rest meines Abendessens. Die Fasern meiner Muskeln schrien vor Schmerz. Meine kaputten Hände gruben sich in den stechendkalten Schnee, der meine Kleider durchweicht hatte. Ein kühler Wind zog über mich her und die Hitze meiner Anstrengung wich Kälteschauern.
Mit letzter Kraft hievte ich mich zu einem Baum hinüber. Er bot mir weniger Schutz als ich gehofft hatte. Trotzdessen blieb ich an den Stamm gelehnt sitzen. Mein Atem wurde langsamer und meine Augenlider schwer. Ich durfte nicht einschlafen. Ich war mir sicher, wenn ich es tat, würde ich nicht mehr aufwachen. Mein Geist hatte in diesem Kampf jedoch keine Chance auf einen Sieg und würde schon bald ins Exil übergehen. Ich schlief ein.


Ich wäre fast in Panik ausgebrochen, als ich am Morgen in meinem Bett im Schlafraum aufwachte. Um mich herum war alles ruhig. Es war bereits hell geworden und bis ich mich traute, mich zu vergewissern, dass ich allein war, verging viel Zeit. Mir war nicht wohl dabei mich hier aufzuhalten. Wenn einer von ihnen zurückkehrte, was dann?
Ich setzte mich schnell auf. Zu schnell. Alles drehte sich und mein Kopf hämmerte. Meine Stiefel standen neben meinem Bett und ich schlüpfte ohne eine Vorstellung davon zu haben, wo ich hingehen sollte, in sie hinein.
Das Aufschwingen der Tür ließ mich aufspringen. Ich würde wieder durch das Fenster fliehen müssen. Gerade wollte ich mich auf meine Flucht bereit machen, da erschien Caden in dem Schlafraum. Einerseits war ich erleichtert und andererseits alarmiert. Was tat er hier?
,,Du kommst zu spät zum Unterricht.”
Perplex stand ich da. Hatte ich etwas nicht mitbekommen?
,,Na, los. Setz dich in Bewegung.”
Er warf einen Stapel Kleider auf mein Bett.
,,Was geht hier vor sich?”
,,Das nennt man Unterricht. Es ist üblich, dass man pünktlich kommt.”
Verwirrt suchte ich nach Anhaltspunkten, was geschehen sein könnte.
,,Ihr habt mich hierhergebracht?”
,,Setz deinen faulen Hintern in Bewegung und zieh dich um. Du hast drei Minuten.”
So schnell wie er gekommen war, war er wieder verschwunden. Auf meinem Bett lagen drei paar Hosen und Hemden. Ein Set war für die Nacht gedacht. Geschwind zog ich mich um. Die neuen Sachen passten mir viel besser. Der Nachteil war, dass jeder sah, wie abgehungert ich war.
Zeitig verließ ich den Schlafraum. Caden drückte mir meine Jacke in die eine und ein Stück Brot in die andere Hand.
,,Anziehen, essen, mitkommen. Und zwar gleichzeitig.”
Wie erwartet kümmerte er sich nicht darum, ob ich mithielt. Ich hatte das Brot in meinen Mund gesteckt und versuchte mir meine Jacke anzuziehen, während ich hinter ihm herhetzte.
,,Warum helft Ihr mir?”
,,Iss. Sonst wirst du bis heute Abend warten müssen.”
Es war nicht leicht zu essen, während man fast schon rennen musste. Vor allem wenn man in der Nacht bereits um sein Leben gerannt war und dem Tod nur knapp entronnen konnte.
,,Warum habt Ihr mich gerettet?”
Essen, laufen und sprechen zusammen war noch schwieriger. Ich war mir jedoch sicher, dass er mich vor der Kälte gerettet hatte. Nur den Grund kannte ich nicht.
,,Es gehört sich nicht mit vollem Mund zu sprechen.”
,,Aber…”
,,Wenn du lieber redest, statt zu essen, dann gibt mir das Brötchen wieder, damit ich es mir in die Ohren stopfen kann.”, schnitt er mir das Wort ab. Er würde mir nichts sagen und so entschied ich das magere Frühstück zu verputzten. Wir erreichten unser Ziel und ich stellte fest, dass es das Gebäude war hinter dem ich gestern Nacht kurz gehalten hatte, bevor ich durch die Parkanlage gerannt war. Wusste er von den nächtlichen Ereignissen?
,,Wenn du hier fertig bist, suchst du das Heilhaus auf. Dort findet dein nächster Unterricht statt. Danach gehst du zum Reitplatz.”
,,Wo ist der Reitplatz?”
,,Da, wo die Pferde sind.”
Niedergeschlagen wurde mir bewusst, dass ich Aramis aufsuchen müsste, um mir meinen Stundenplan ein weiteres Mal abzuholen. Ich hoffte, er würde nichts von all den Geschehnissen erfahren. Das würde mir nur größere Probleme einbringen. Ich fürchtete mich bereits jetzt vor der nächsten Nacht.
Wir betraten das Gebäude. Es handelte sich um eine Bücherei. Ich war noch nie in einer Bücherei gewesen. Der Duft von Papier und Bücherleim umgab mich. Ich mochte es. Hier war es ruhig.
,,Frag nach Master Yalin. Er ist der Bibliothekar und wird dich unterrichten.”
Caden machte auf dem Absatz kehrt und wollte mich mir selbst überlassen. Meinen Mut zusammennehmen hielt ich ihn auf, indem ich mich ihm in den Weg stellte. Ich fühlte mich lächerlich. Er könnte mich ohne Schwierigkeiten beiseite stoßen.
,,Ich möchte eine Erklärung, Caden.”
Meine anfängliche Entschlossenheit war verpufft und meine Forderung klang nicht nur in meinen Ohren kläglich. Er trat dicht an mich heran, sodass ich meinen Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufzusehen. Der Drang zurückzuweichen überkam mich. Hätte ich ihm nachgekommen, wäre meine Erscheinung nur noch armseliger gewesen und so ich hielt die Konfrontation aus.
,,Es heißt Master Caden. Nebenbei verschwendest meine Zeit. Ich habe besseres zu tun, als mich mit so einer Göre wie dir auseinanderzusetzen. Beispielsweise muss ich meine Socken noch nach Farben sortieren oder meine Sammlung magischer Kristallkugeln, die mir gesagt haben, dass du nur Ärger machst, abstauben.”
,,Kristallkugeln?”, fragte ich verwirrt. Ich wusste ja nicht, was es mit Magie auf sich hatte.
,,Du bist doch nicht wirklich so leichtgläubig?”, machte er sich über mich lustig.
,,Wenn Ihr wusstet, dass ich nur Ärger mache, warum habt Ihr mich dann hierhergebracht?”
,,Ganz einfach, weil ich großzügig bin. Du hast mir noch nicht gedankt.”
Ich fasste es nicht. War er wirklich so ignorant oder wollte er mich nur ärgern?
,,Das werde ich nicht. Ihr habt mich verschleppt.”
,,Hör auf nachtragend zu sein und geh mir aus dem Weg.”
Seine kalte Miene schüchterte mich ein. Schlimmer jedoch waren seine funkelnden Augen, die mich nicht losließen. Die Worte, dass er der Nachtragende war, verwarf ich schnell wieder.
,,Ich möchte doch nur wissen, warum…”
Ich kam nicht dazu meinen Satz zu beenden. Er verlor die Geduld und verpasste mir einen Nervenkniff in den Arm. Ich stieß einen hellen Aufschrei aus. Sofort wurde meine Haut taub. Ich konnte meinen Arm nicht mehr bewegen.
,,Ich hoffe für dich, dass du keine Linkshänderin bist.”
Er stieß mich beiseite und ging. Ich fasste nach meinem Arm, der bewegungslos an meiner Seite hing. Ich verstand nicht, warum er so reagierte. Es war doch nur eine Erklärung, nach der ich gebeten hatte. Ich würde sie wohl nie bekommen und ich entschied zukünftig einen Bogen um ihn zu machen.
Auf der Suche nach jemandem trat ich zwischen die Bücherregale, die bis hinauf an die Decke reichten. Bevor ich in dem großen Raum verloren gehen konnte, traf ich auf einen älteren Herrn. Er war nicht besonders groß und bereits etwas älter.
,,Ich suche Master Yalin.”
Der Mann ließ von dem Bücherwagen, an dem er gestanden hatte, ab und kam zu mir hinüber. Er reichte mir die Hand.
,,Ich bin Yalin. Du musst Tamina sein.”
Ich nickte und schüttelte seine Hand. Sein Händedruck war fest und schmerzte meinen kaputten Fingern. Ich ließ mir nichts anmerken und verbarg so gut es ging, dass mein linker Arm gelähmt worden war. Sorgen ergriffen mich. Wie lange würde es anhalten?
,,Wo ist Flint?”
,,Er ist im Heilhaus. Er wurde beim Kampftraining verletzt.”
Ich erkannte keine Anteilnahme in seinem grauen Gesicht. Er war sicherlich nicht oft in der Sonne, sondern hockte bei seinen Büchern.
,,Dann wird er den verpassten Stoff nachholen müssen. Ebenso wie du. Das Jahr hat bereits vor mehreren Wochen begonnen. Du wirst einiges nacharbeiten müssen.”
Master Yalin befahl mir, ihm zu folgen. Der Bibliothekar brachte mich in einen Raum im oberen Stockwerk. Er war nicht besonders groß und mit einem Tisch, Stühlen und Schränken überfüllt. Auf seine Worte hin, setzte ich mich an den Tisch. Er begab sich zu einem der Schränke, die mit Heften und Büchern gefüllt war.
Schließlich fragte er mich über meine bisherigen Kenntnisse aus und ich gestand, dass ich rein gar keine Ahnung hatte. Noch nie hatte ich ein Buch in den Händen gehabt. Er reagierte ohne eine Emotion darauf und reichte mir ein dünnes Heft.
,,Wir werden ganz von vorn anfangen. Ich werde dir Aufgaben stellen, die du auch außerhalb des Unterrichts erledigen musst. Ich erwarte von dir, dass du sie erfüllst und ausreichend Fleiß an den Tag legst. Von alleine wird dir nichts zufliegen.”
Ich wollte schon erwidern, wie klar mir diese Tatsache war, entschied mich aber dafür den Mund zu halten. Er war streng und ich hatte den Eindruck, dass er mit dem Schlimmsten rechnete. Tat er das bei jedem oder leiteten ihn Vorurteile, mich wie eine Närrin zu behandeln?
Ich schlug das Heft auf. Linien waren auf das Papier gedruckt worden. Am Beginn jeder zweiten Zeile stand ein Zeichen.
,,Du hast eine Woche Zeit, um das Alphabet auswendig zu lernen. Ich erwarte noch nicht, dass du alle Buchstaben schreiben kannst, doch du solltest sie benennen können, wenn ich dich abfrage.”
Meinen betäubten Arm hatte ich auf meinem Schoß platziert. Ich hätte Master Caden bitten sollen mich vollkommen außer Gefecht zu setzten. Das würde den Tag weitaus angenehmer machen.
Yalin zog das Heft zu sich hinüber und schrieb ein Wort, das aus sechs Zeichen bestand, auf die erste weiße Seite. Die Buchstaben waren säuberlich und mit einigem Abstand zueinander versehen.
,,Das ist dein Name.”
Ich betrachtete das Wort. Ich hatte meinen Namen noch nie niedergeschrieben gesehen. Mir gefiel die Aneinanderreihung der Zeichen.
,,Warum ist der erste Buchstabe größer?”
Er erklärte mir, dass Namen oder Gegenstände immer mit einem Großbuchstaben begannen. Ich würde mir von jedem Buchstaben zwei Schreibformen einprägen müssen. Wunderbar.
Aufmerksam hörte ich zu, wie er mir die Laute der ersten Buchstaben vorgab. Ich wiederholte sie immer wieder im Kopf und ging sie von vorn nach hinten durch. Master Yalin erwies sich als geduldig, als ich die Buchstaben in ihrer Reihenfolge auflisten sollte und viel zu oft ins Stocken geriet. Es dauerte, bis es mir in einem Durchgang gelang. Immer wieder musste ich die Buchstaben wiederholen, bis er mir einen Bleistift reichte und mich aufforderte die Zeichen nachzuschreiben. Je öfter ich ein Zeichen wiederholte, desto sicherer wurde ich. Es würde jedoch mehr als das brauchen, damit ich das Lesen oder Schreiben erlernen konnte.
Ganze zwei Stunden lang konzentrierte ich mich auf die Aufgaben die er mir stellte. Ich fühlte mich erschöpft. Das Heft und den Stift durfte ich mitnehmen und er erwartete, dass ich bis zum nächsten Mal meinen Namen schreiben konnte und die Übungen, die ich gemacht hatte, wiederholte. Ich war froh, als er mich entließ und ich gehen durfte.
Die Lähmung meines linken Armes hatte nachgelassen und ich konnte meine Finger wieder bewegen. Meine Haut kribbelte noch etwas. Zu gern wüsste ich, wie dieser Trick funktionierte. Er wäre gewiss nützlich, wenn ich erneut in Schwierigkeiten geriet. Ich ahnte, es würde nicht nur bei einem Überfall bleiben.
Achtsam sah ich mich auf dem Gelände um. Die Sonne schien durch Wolkenfetzen hindurch. Mein Atem stieg in Form von kleinen Wölkchen auf. Ich schauderte nicht nur wegen der Kälte. Gruppen von Männern überquerten das Gelände. Sie nahmen die gepflasterten Wege, um zu ihrem weiteren Unterricht zu gelangen. Die meisten strebten das Gebäude neben der Bibliothek an.
Ich beeilte mich, um zum Heilhaus zu gelangen. Es war keine gute Idee bloß herumzustehen und zu warten, bis jemand, der es auf mich abgesehen hatte, mich entdeckte.


Ich war erleichtert, als ich das Foyer betrat und merkte zugleich, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich mich hinbegeben sollte. Abwägend, ob ich lieber warten oder nachfragen sollte, begab ich mich auf die Suche nach jemandem, der hier arbeitete.
Auf einmal stieß ich mit einer Person zusammen, die um eine Ecke gekommen war. Ich wollte mich entschuldigen und mit gesenktem Kopf weitergehen. Daraus wurde leider nichts.
,,Du!”
Ich erstarrte, als ich Vador vor mir erkannte. Er trug einen Gips auf der Nase und sein linkes Auge war blutunterlaufen. Böses schwante mir. Er musste es gewesen sein, dem ich einen Hieb verpasst hatte.
In der Hoffnung entkommen zu können wollte ich mich an ihm vorbeistehlen. Natürlich ließ er dies nicht zu. Er stieß mich zurück und drückte mich mit einer kräftigen Hand auf meinem Brustkorb an die Wand hinter mir. Ich schluckte.
,,Glaubst du wirklich, dass ich mich von jemandem wie dir verprügeln lasse? Alle Jahrgänge wissen es schon. Du hast mich lächerlich gemacht.”
Meine Angst wuchs. Er würde sich rächen.
,,Ich… das wollte ich nicht.”
,,Tja, dafür ist es leider zu spät.”
Der Druck seine Hand presste jegliche Luft aus meiner Lunge. Mein Herz raste. Er spürte meinen hohen Puls und grinste.
,,Mit dir werde ich noch viel Spaß haben.”
Vador nahm meinen Kiefer in seinen Griff und zwang mich ihn anzusehen. Sein Atem strich über meine Haut und ich hätte mich zur Wehr gesetzt, wenn ich die Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.
,,Was ist hier los?”
Eine bekannte Stimme hallte durch den Korridor. Sofort ließ Vador von mir ab. Schritte näherten sich und ich atmete erleichtert aus, als ich den Heiler, der mich behandelt hatte, auf uns zukommen sah.
,,Ich habe mich bloß mit Mina unterhalten.”
Übelkeit wallte durch meinen Körper. Mein Spitzname aus seinem Mund klang falsch und einfach nicht richtig.
,,Das habe ich gesehen. Verschwinde lieber, bevor ich dein Verhalten den Obermagiern melde.”
Ohne mich zu beachten verschwand Vador. Sein Gehen nahm die Anspannung von meinem Körper und ich sackte erleichtert zusammen.
,,Geht es dir gut?”
Der Heiler trat zu mir. Seine zuvor strenge Stimme klang nun sanfter.
,,Ja.”, log ich, was er natürlich nicht glaubte.
,,Was wollte er von dir?”
Mein Mund war trocken. Ich hatte Vador schon ausreichend verärgert. Ich sollte es nicht noch schlimmer machen, indem ich ihn verpfiff.
,,Nichts. Könnt Ihr mir sagen, wo ich hin muss? Mein Unterricht soll hier irgendwo stattfinden und ich bin wahrscheinlich schon zu spät.”
Der Heiler hatte eine ernste Miene aufgesetzt. Ich hielt ihr nur kurz stand.
,,Du solltest es den Obermagiern erzählen, wenn solche Dinge passieren. Sie dulden keine Übergriffe unter den Schülern.”
,,Bitte, sagt es niemanden.”, flehte ich ihn an. Ich wollte mir nicht ausmalen, was geschah, wenn Vador erfuhr, dass ich ihn bei den Obermagiern in Verruf gebracht hatte.
,,Das werde ich nicht, aber du solltest es tun.”
,,Nein, das ist nicht nötig. Es ist nicht so schlimm, wie Ihr denkt.”
Er reagierte auf meine Worte nur mit einem Stirnrunzeln. Ich glaubte mir selbst ja nicht einmal. Wie sollte er dann?
,,Wenn du meinst.”
Er würde nicht viel ausrichten können, denn war ich nicht bereit meine Lage noch zu verschlechtern.
,,Hast du die Salben benutzt, die ich dir verschrieben habe?”
Die Aufmerksamkeit des Heilers richtete sich auf meine Hände. Meine Linke juckte noch von der Betäubung.
,,Nein. Ich… bin nicht dazu gekommen.”
Er hielt mir seine Handflächen hin.
,,Lass mich dir Abhilfe verschaffen.”
Ohne wirklich zu wissen, was er vorhatte, legte ich meine Hände auf seine. Er lächelte mir zu, um mir meine Verunsicherung zu nehmen. Dann schloss er die Augen. Meine Hände kribbelten und die Stellen, an denen die Haut aufgerissen war, brannten. Mir verschlug es dir Sprache, als ich zusah, wie die blutigen Risse von frischer Haut verschlossen wurden. Dass seine Magie mich innerlich bedrängt und mich daran hinderte, Luft zu holen, versuchte ich zu ignorieren.
,,Besser so?”
Der Heiler hatte die Augen wieder geöffnet und ich hob meine Hände an, um sie mir mit offenem Mund anzusehen. Der Schmerz war weg und dort, wo die Risse gewesen waren, konnte ich nur noch rosa Haut erkennen. Magie.
,,Warum habt Ihr das nicht schon vorher getan?”, fragte ich, als ich mein Erstaunen überwunden hatte.
,,Es ist immer gesünder, wenn der Körper seine Wunden von alleine heilt. Ich verwende meine Magie nur, wenn ich merke, dass es wirklich notwendig ist. In deinem Falle, hat dein Körper bereits mit genug Schwierigkeiten zu kämpfen.”
Ich bedankte mich bei ihm und erkannte, warum es sich lohnte hier zu bleiben. Magie! Bisher hatte ich nur an Essen und Unterkunft gedacht. Das Wichtigste hatte ich vergessen.


Impressum

Texte: Alle Rechte Vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An meine Lan, die mir so viel geholfen hat und mich motiviert weiterzuschreiben

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