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Schlüsselszenen


Charlie betritt mit langen Schritten den leeren Saal und schreitet zu dem Sitz in der vierten Reihe, der die Nummer 19 trägt. Mit einem Seufzen lässt er sich fallen und das weiche Polster des Stuhls fängt ihn auf, so wie es ihn immer auffängt. Der Geruch von Leder steigt in seine Nase und er atmet tief ein. Er spürt, wie er sich entspannt. Er sieht an die schwarze Leinwand, auf der er in seine Vergangenheit eintaucht, wann immer er es möchte. Niemand verletzt ihn hier, niemand kann ihn herumkommandieren, niemand lässt ihn fallen. Charlie nimmt eine bequeme Sitzposition ein und ein Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht. Ein Welle des Friedens bricht über ihm zusammen, schließt ihn völlig ein. Er fühlt sich geborgen. Sein Herz erholt sich. All der Schmerz fällt von ihm ab. Und er weiß, dass er jetzt nicht mehr alleine ist.
Die Erinnerungen stürmen auf ihn ein, lassen den Schmerz erneut auflodern, doch nur ganz kurz. Bilder ziehen an ihm vorbei. Gesichter. Und Charlie fühlt. Fühlt den Schmerz, die Trauer, den Zorn und dann... Charlie schließt die Augen und lebt die Erinnerung. Er hält sie fest. Sein Herz pocht schneller, kräftiger. Und er spürt die Liebe, die Freude und das unbändige Gefühl, die Welt umarmen zu können. Ich glaube, man nennt es Glück. All diese Gefühle durchlebt er innerhalb weniger Sekunden. Er seufzt. Er ist bereit. Auf seinen Wink hin wird die Leinwand zum Leben erweckt. Keine lästige Werbung, nur der Film, der von seinem Leben erzählt.

Das helle Lachen eines Kindes. Ein kleines Mädchen das mit leuchtenden Augen auf die Wiese rennt und Gänseblümchen pflückt. Immer wieder schaut es in die Kamera, als hätte es Angst, es würde seinen Platz in dem Film verlieren. Das Mädchen schenkt der Kamera ein strahlendes Lächeln und pflückt weiter. Es pflückt und pflückt und verleiht dem Film so einen Charakter, eine wichtige Substanz, die ihn ausmacht, die ihn leben lässt und die ihn zum besten Film aller Zeiten werden lässt. Ohne Worte, nur mit kurzen abrupten Handbewegungen und einem wachsenden Strauß kleiner Blumen. Irgendwann ist das Mädchen fertig. Es erhebt sich, streicht mit der freien Hand seinen Rock glatt und läuft zu dem Mann, der ihr Handeln für immer festgehalten hat. Dies ist die Stelle, an der der Dialog beginnt.
„Die sind alle für mich, Cecilia?“ Cecilia nickt. Ihre braunen Zöpfe springen auf und ab. Auffordernd drückt sie die Blumen in eine Hand, die jetzt auf der Leinwand erscheint und sie entgegennimmt. „Danke, meine Kleine.“
„Du musst daran riechen, Papa!“ Das Mädchen schaut ihm zu, wie er ihren Rat befolgt und grinst dann. „Wie riechen sie? Sie riechen nach Mama, stimmt's?“
Stille.

Das Bild verschwindet und eine ganz neue Szene taucht auf. Wieder ist nur das Mädchen zu sehen, der Mann, der die Kamera hält, ist im Hintergrund verschwunden. Er achtet darauf, dass sein Mädchen die Hauptrolle übernimmt. Cecilia sitzt auf dem weinroten Sofa, die Arme hat sie vor der Brust verschränkt. Die Haare sind zu einem Zopf zusammengebunden. Sie sieht aus dem Fenster in die dunklen Wolken. Sie schaut ganz kurz in die Kamera. „Warum drehen wir unseren Film jetzt weiter? Es gibt doch nichts zu sehen.“
„Wenn du nicht möchtest, dann höre ich auf.“
Das Mädchen schaut weg und runzelt die Stirn. „Ich habe es gerne, wenn du filmst. Aber findest du nicht, dass diese Szene nicht in unseren Film gehört, Papa?“
„Warum?“
„Ich sitze doch nur hier. Es ist nicht spannend genug.“ Sie lächelt. „Ein guter Film braucht das, sonst ist er nicht gut, verstehst du?“
Ein kurzes, lautes Lachen. „Das stimmt. Aber glaub mir. Ich weiß, was ich tue und mir gefällt diese Szene. Ich würde sie gerne festhalten. Sie hat das gewisse Etwas.“
Cecilia kaut auf ihrer Lippe herum und nickt dann. „Du bist der Profi.“ Ein letzter Blick in die Kamera, dann sieht sie erneut aus dem Fenster heraus. Lange Zeit passiert nichts. Sie sitzt einfach nur da, niemand sagt etwas. Dann beginnt es zu regnen. Die Tropfen zeichnen ein abstraktes Muster an die Scheibe. Cecilia regt sich. Sie streckt ihre Hand aus, berührt das Fenster mit der Fingerspitze und zeichnet den Weg eines einzelnen Tropfens nach. Ganz leise flüstert sie: „Glaubst du, Mama weint in diesem Moment?“ Und der Tropfen fällt hinab.

Erneut erlischt das Bild. Kurze Zeit ist die Leinwand schwarz, dann kommt die nächste Szene. Das Rauschen des Meers. Die Wellen reflektieren die Sonne, kräuseln sich dabei. Mitten darin schwimmt ein Mädchen mit braunen Haaren. Es sieht zufrieden aus. Manchmal taucht es eine kurze Strecke, dann lässt es sich auf dem Rücken treiben. Wenn sie zu weit hinaustreibt, ruft ihr der Mann etwas zu und sie schwimmt wieder zum sicheren Strand zurück.
Irgendwann hat sie genug. Mit großen Sätzen ist sie zurück am Ufer. Ihr nasses Harr klebt ihr in der Stirn. Mit beiden Händen wringt sie es aus und geht dann langsam immer mehr auf die Kamera zu. Mit einem Seufzen lässt sie sich auf das Handtuch, das auf dem Sand ausgebreitet ist, fallen. Sie schließt die Augen. Ihre Atmung beruhigt sich. „Cecilia, cremst du dich bitte ein, bevor du einschläfst?“
Widerwillig öffnet sie die Augen und greift nach der Tube. Sie cremt sich langsam überall ein. Dann hält sie die Tube ins Bild und fragt: „Kannst du mich am Rücken eincremen, Papa?“
Die Tube verschwindet. Und mit ihr das Bild.

Ein weißes, schlichtes Zimmer erscheint. Das Mädchen sitzt auf einem Bett und lässt die Füße baumeln. „Wie lange dauert es noch, Papa?“
„Nicht mehr lange. Der Arzt ist sicher schon auf dem Weg und dann schauen wir mal, was die Ursache für deine Kopfschmerzen sind.“
Das Mädchen lächelt. Es ist blass und hat dunkle Ringe unter den Augen. „Warst du schon einmal im Krankenhaus?“
„Ja, ein paarmal. Früher wurde mir der Blinddarm herausoperiert. Da lag ich dann in einem Bett, das genauso aussah wie das, auf dem du sitzt.“
Cecilia schaut auf das Bett unter sich. „War da auch dein Papa bei dir?“
„Es war immer jemand da. Mama und Papa haben sich abgewechselt. Und Tante Emilia war auch oft bei mir.“
„Kanntest du Mama da schon?“
Kurzes Schweigen. „Nein, da kannten wir uns noch nicht.“ Cecilia sieht immer noch in die Kamera, als wolle sie noch mehr über ihre Mutter hören. „Und als Mama mit dir schwanger war, und deine Geburt unmittelbar bevorstand, da waren wir auch im Krankenhaus.“
„Dann kennst du dich hier ja schon aus.“
Lachen. „Kann man so sagen.“
Es klopft. Ein Arzt tritt ein. „Hallo, Cecilia. Wie geht es uns denn heute?“
Sie schüttelt brav seine Hand. „Ein wenig Kopfschmerzen, aber sonst ganz gut.“
Der Arzt sieht die Kamera. „Oh, drehen wir einen kleinen Film?“
„Ja, mein Papa hat ein Kino und wenn wir fertig sind, sehen wir ihn uns an. Muss er die Kamera ausmachen, Herr Doktor?“
Der Arzt lächelt sie an. „Ich müsste mal ganz kurz mit deinem Vater etwas besprechen und dann kann er sofort weiterfilmen, in Ordnung?“
Das Mädchen nickt. Das letzte Bild ist die bedrückte Miene des Doktors.

Neues Bild, neue Szene. Cecilia lächelt schwach in die Kamera. Sie hat keine Haare mehr, ist noch blasser geworden und hält nur noch mit Mühe ihre Augen offen. „Papa möchte mich erst wieder filmen, wenn ich gesund bin. Sonst würde der Film zu traurig werden. Er müsste dann immer weinen, wenn er ihn sich mit mir ansieht. Aber er möchte ein Film von meinem Leben machen und das hier gehört zu meinem Leben dazu. Ich habe etwas Schlimmes im Kopf und bekomme jetzt oft Medikamente und Spritzen und so ein Zeug. Es macht mich schwach und meine schönen Haare sind mir ausgefallen. Aber es muss sein. Ich will ja wieder ganz gesund werden.“ Sie hält kurz inne und reibt sich die Augen. „Sie machen mich müde.“ Wie zur Bestätigung gähnt sie. Dann zwingt sie sich zu einem Lächeln. „Ich freue mich schon auf den Film, den ich mir irgendwann ansehen werde. Und dann ist das hier alles vorbei und ich bin wieder gesund.“ Sie winkt zum Abschied, schließt die Augen und wieder wird die Leinwand schwarz.

Dieses Mal bleibt sie es auch. Die Lichter im Kino flammen auf und zeigen Charlie, wie er weinend vor der Leinwand sitzt. Er denkt zurück an die Zeit. Cecilia ging es immer schlechter. Er musste hilflos mitansehen, wie sie zusammenbrach, musste mit ihr über ihren Tod reden. Ihr die Angst nehmen, die ihn innerlich auffraß. Drei Jahre ist die letzte Szene nun her. Charlie reibt sich über die Augen, wie es kurz zuvor seine Tochter getan hat und steht auf.
Da geht die Tür auf und ein Mädchen steht im gegenüber. Es lächelt ihn an. Die langen Haare hängen ihr über die Schultern und sie stemmt die Fäuste in die Hüften. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst auf mich warten und wir sehen ihn uns gemeinsam an.“
Charlie lächelt. „Ich habe mir zuerst einen anderen Film angesehen.“
„Du hast geweint?“
„Es war der Film mit der Krankenhausszene am Schluss.“
Das Mädchen schüttelt lächelnd den Kopf. „Warum tust du dir das immer wieder an.“
„Es gehört zu dem Leben meiner Tochter. Und ich will auch in schlechten Zeiten immer an ihrem Leben teilhaben.“
Das Mädchen ist mit ein paar Schritten bei ihm und schließt ihn in die Arme. „Du hast echt gedacht, es endet wie bei Carolina.“
„Sie war meine Frau und sie hat den Kampf gegen den Tumor verloren.“
Das Mädchen löst sich von ihm und sieht ihn an. Sie sieht wieder viel besser aus. Ihre Haare sind wieder nachgewachsen, die Farbe ist in ihr Gesicht zurückgeflossen. „Es war hart und am Schluss sah es ganz danach aus. Aber ich habe ihn besiegt, Papa.“ Charlie nickt. Cecilia nimmt seine Hand und führt ihn zurück zu den Sitzplätzen. „Und jetzt, lass uns den anderen Film ansehen. Den du nach dem Kampf aufgenommen hast.“
Es wird dunkel und auf der Leinwand erscheint ein lachendes Mädchen, das die Haare noch kurz trägt, weil der Sieg gegen den Tumor nicht lange zurückliegt. In seinem Haar versteckt sich eine Gänseblume, die sie kurz davor auf einer grünen Wiese gepflückt hat.


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Tag der Veröffentlichung: 14.11.2011

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