In seinen großen Augen spiegelt sich das alte Buch
Die Abenteuerlust pocht heftig in seinem Herzen
Wissbegierig streckt er die kleine Hand nach dem Buch aus
Ganz langsam stiehlt sich ein Lächeln auf kindliche Züge
Forschende Finger ertasten fremdartiges Leder
Kostbare Seiten beginnen lockend zu flüsternd
Unter tausendfachem Seufzen öffnet sich das Fremde
Verzierte Buchstaben fangen seinen Blick
Das Rauschen der Seiten umspielt seine Ohren
Der Geruch wundersamer Geschichten lässt ihn weiterblättern
Zum Anfang des Abenteuers
Zu einem schmalen Fluss, der in einen Wasserfall mündet
...zur ersten Seite;
Und in eine Welt, in der Wunder noch alltäglich sind
Er erwacht in einem Nest aus schillernden Lichstrahlen
Die Bäume sprechen zu ihm in einer fremden Sprache
Der Klang gefällt
Er öffnet den Mund, um zu antworten
Fremde unnatürliche Laute kriechen seine Kehle empor
Eine zierliche Hand dämpft den harten Ton
Lässt ihn sie ansehen
Sie bewundern
Sie begehren
Das Lachen der Elfe lehrt ihn die Liebe
Er umfasst die zartgliedrige Hand, die sich ihm sogleich entzieht
Sie ist schön
Begehrenswert, da sie um ihre Wirkung weiß
Blind lässt er sich von ihr führen
Sich in die Geheimnisse der Natur einweihen
Hinter das Offensichtliche blicken
Er lässt sich betören von dem Duft der Blumen
Lernt die fremde Sprache der Schöpfung
Er hat sie schon immer beherrscht
Nie erkannt
Verleugnet
Einfach übersehen
Durch sie erfährt er Verständnis
Sie erlaubt ihm, die Hände nach ihren Flügeln auszustrecken
Er spürt bereits das Leben in ihnen
Spürt die pulsierende Magie,
als der sichere Boden sich als Falle entpuppt
und er mit dem Feuer an seinen Fingerspitzen
dem Traum entgleitet
Ein leiser Schrei fährt über geschlossene Lippen
Er starrt ungläubig auf die leere Seite des Buches
Sucht nach den verschwundenen Buchstaben
Nach dem Loch, das sie verschlungen hat
Sieht nicht, dass sein Herz nun eine Botschaft trägt
Ehrfürchtig blättert er weiter
Und mit der Schönheit der Elfe vor Augen
lässt er sich führen
Gedämpfte Stille und endloses Blau
Langsam löst er sich aus der Umarmung des Schlafs
Schaut träge um sich, ohne etwas zu erfassen
Sieht die Bläschen, die stetig zur Oberfläche strömen
beginnt zu begreifen
Sein Herz schlägt schneller
Angst ist sein Reiter
Laute Peitschenhiebe erschallen
Von Panik ergriffen beginnt er zu schwimmen
Der Oberfläche entgegen
Mit Entsetzen sieht er, wie sie sich von ihm entfernt
Mit wachsender Nähe schafft er neue Distanz
Und als er sich bereits dem Tod zuwenden mag
Gibt ihm ein langer Kuss die Chance auf wiedergeborene Ewigkeit
Die Luft fließt in ihn ein
Nährt die Hoffnung
Vertreibt den Tod
Und als sich die Lippen von seinen lösen
Als er fähig ist, unter Wasser zu atmen
Alleine
Gestärkt
Da öffnet er die Augen und verliert sich in ihrem Blick
Ihre wissenden blauen Augen
Die Nixe lächelt und zieht ihn hinter sich her
Die anmutigen Bewegungen ihrer Flosse ziehen ihn in ihren Bann
Das schillernde Spiel der bunten Schuppen wecken den Wunsch nach Berührung
Er lässt sie zu seinem Antrieb werden
Schenkt ihr bedingungsloses Vertrauen vom ersten Flossenschlag an
In ihm wird das Verlangen erweckt, ihr Beschützer zu sein
Verzaubert von ihrer Präsenz lässt er sich in einen Strudel ziehen
Und versinkt in dunklen Tiefen
Erschrocken schnappt er nach Luft
beruhigt den rasenden Ritt seines Herzen
und weiß bereits, dass weitere Sätze verloren sind
Verloren für andere
Eingeschrieben in seine Erinnerungen
Für ihn jederzeit zugänglich
Glücklich streicht er sanft über das Buch
Meint seinen Herzschlag zu hören
Hört die Seiten atmen
Und blättert mit geschlossenen Augen auf die nächste Seite
Mitten in ein Fest geboren
Schallendes Gelächter und muntere Musik empfängt ihn
Vor ihm brennt ein großes Feuer
Wundersame Gestalten tanzen um es herum
Ihr Gesang erfüllt die dunkle Nacht
Neugierig tritt er näher heran
Lässt sich von dem Schein der Flammen erhellen
Bewundert die unterschiedlichen Wesen
Man nennt sie Faun
Ihr Name schleicht sich in seine Gedanken
Staunend mustert er ihre Beine, die die einer Ziege ähneln
Mag den Rhythmus, den ihre Hufe spielen
Ein Mädchen mit einer Harfe stellt sich an seine Seite
Ihre Augenbinde ist blütenweiß
Mit weißen Fingern beginnt sie eine Melodie zu spielen
Alles andere verstummt
Von dem Spiel ihrer Finger fasziniert, lauscht er ihr ergeben
Lässt sich von der Musik ihre Geschichte erzählen
Dunkle Tränen zeichnen Noten auf sein Gesicht
Und als der letzte Ton erklingt
Und als das Mädchen die Harfe senkt
Als es die Augenbinde löst
brennt das große Feuer in ihren Augen
und verzehrt das lebendige Notenblatt
Seine Finger fahren zu seinem Gesicht
Der Spiegel zeigt ihm das Gewöhnliche
Und doch ist es ihm, als spüre er noch die Noten
ist es ihm, als höre er noch die Melodie des blinden Mädchens
Und obwohl dies ihm sehr bedrohlich erschien,
ist der Abenteurer in ihm gänzlich erwacht,
und die Begierde lässt ihn hastig ein neues Kapitel aufschlagen
Ein Ritt durch den Himmel
Unter ihm ein riesiges Wesen
Seine prächtigen Flügel zerschneiden die Wolken
seine mächtigen Klauen durchbrechen jeden Widerstand
Der Greif öffnet seinen Schnabel und lässt einen schrillen Schrei ertönen
Er versteht diese Art der Kommunikation nicht
Hastig hält er sich die Ohren zu
Und erfährt gleich darauf, dass es besser ist, sich festzuhalten
Die Freiheit ist überwältigend
Der Wind treibt ihm Tränen der Freude in die Augen
Und als der Greif erneut seinen Schnabel öffnet, schreien beide gemeinsam
schreien gemeinsam ihre Wonne heraus
Die Könige der Luft
Gebieter der Elemente
Uneingeschränkte Macht
Plötzlich beginnt der Greif zu fallen
Seine Flügel legen sich an den Körper
Die schützende Decke fällt über ihm in sich zusammen
Über ihm färben sich die Wolken schwarz
Senden teuflische Boten zu ihm herunter
Kreischende Harpien mit Mordlust im Blick
Gefallener Engel im Schoß des Bösen
Das mächtige Greifenherz tut seinen letzten Schlag
und entlässt den Jungen in die Dunkelheit
Lässt ihn fallen
Schreiend fallen
Selbst sein Todesschrei wird von dem Rufen der Harpien übertönt
Hart schlägt er auf dem Boden auf
Einige Sekunden verstreichen
Momente vergehen
Er erhebt sich und weicht vor dem Buch zurück
Harmlos liegt es vor ihm
Leere Seiten giftiger Unschuld
Mit zitternden Finger schließt der kleine Junge das Buch
Eine Weile mustert er es nachdenklich
Dann dreht er sich um und verlässt den Raum
Den Raum, in dem er in wenigen Momenten erwachsen wurde
Mit einer Botschaft im Herzen
Mit dem Kuss einer Nixe auf seinen Lippen
Mit einer verschlüsselten Melodie im Ohr
Und mit einer geheimnisvollen Feder im Haar
Auf dem Tisch liegt ein Buch mit leeren Seiten
Seinem Inhalt beraubt
Für ungeschulte Blicke bedeutungslos
Doch hört man genau hin,
hört man eine Elfe lachen,
hört man Meeresrauschen,
kann man die Stimme einer Harfe vernehmen,
den Schrei einer mächtigen Kreatur
Und tritt man näher und legt eine Hand auf den Umschlag,
dann spürt man zwei Herzen,
die im Einklang schlagen
Tag der Veröffentlichung: 13.11.2011
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