Prolog
Du bist alles für mich und was bin ich für dich? Die Antwort kannst du mir nicht sagen, weil du die Frage gar nicht kennst. Daraus schließe ich mal, dass ich dir nicht einmal so wichtig bin, dass du mir überhaupt zuhörst! Ich bin enttäuscht und verlasse dich, um Jahre später zu erfahren, dass du dich umgebracht hast. Und das meinetwegen. Weil ich dich im Stich gelassen habe, als du mich am meisten brauchtest. Jetzt weiß ich auch warum du mir nicht zugehört hattest. Du warst in Gedanken und meine Anwesenheit hat dich durcheinander gebracht. Du konntest es nicht ertragen, dass ich dich so etwas selbstverständliches auch noch frage und somit an deiner Liebe zweifele. Ich habe deine Reaktion falsch gedeutet und es tut mir Leid. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist, aber es war wohl nichts Gutes. Immer schon habe ich mir gewünscht geliebt und geachtet zu werden. In deiner Nähe hatte ich das Gefühl, dass es jetzt endlich richtig ist. Echt und nicht nur vorgetäuscht! Ich wollte doch nur auf Nummer sicher gehen. Es ist wirklich ein Schlag mitten ins Gesicht für mich, jetzt von deinem Freund zu hören, dass ich dir etwas bedeutet habe. Und zwar mehr als alles andere auf der Welt. Aber das habe ich nicht gewusst. Am liebsten würde ich die Zeit zurückdrehen, auf den Moment, als ich dir diese alles entscheidende Frage gestellt habe. Aber das ist nun schon zwei Jahre her und in diesen zwei Jahren konntest du mit deinem Leben offensichtlich nichts anfangen. Du hast pausenlos an mich gedacht und wenn ich ehrlich bin: Ich auch an dich. Ich habe dich wirklich vermisst und mir gewünscht, dass das alles nicht wahr wäre. Das war es aber nun mal. Ich habe wirklich an deinen Gefühlen für mich gezweifelt. Sicher warst du traurig über unsere Trennung. Ich verstehe aber nicht, wieso du dein Leben gerade jetzt und gerade aus diesem Grund aufgegeben hast. Es hätte alles wieder gut werden können. Du hättest zu mir kommen können und mir sagen: Hey, ich liebe dich. Bitte komm zu mir zurück. Du hast das alles falsch verstanden. Bitte, glaub mir doch! Ich war nur verwundert darüber, dass du mich eine Sache fragst, von der ich eigentlich schon von unserer ersten Begegnung an überzeugt war! Es tut mir alles so Leid!
Aber das hast du nicht gesagt. Du musstest dich unbedingt von dieser Brücke stürzen und auch noch vorher aller Welt erzählen, dass du mit deinem Leben zufrieden bist. So nach dem Motto: Glücklicher Single! Das stimmt zwar nicht, aber mal sehen, wer mir diese dumme Story alles abkauft. Vielleicht ist unter ihnen ja auch meine Ex- Freundin, die sich dann ärgert, mich verlassen zu haben.
Man kann ja nie wissen, was in so einem Moment alles in manchen Leuten vorgehen mag.
Erstes Kapitel
Jedenfalls wurde diese Aussage auf einem Touristensender im Fernsehen ausgestrahlt und kurz darauf auch sein Sprung von der Brücke. Er stellte es vor seinem Tod als Mutprobe dar und wurde natürlich massenweise gewarnt, doch er hatte erklärt, dafür eine hohe Belohnung zu bekommen. Also zog er die Sache durch. Als er jedoch nicht mehr auftauchte und die Feuerwehr und einige Hunde ausrückten um ihn nach einer halben Stunde zu suchen, glaubte niemand mehr an diese Aussage. Denn es war offensichtlich, dass es sich um Mord handelte. Es gab viele vor ihm, die diesen Sprung gewagt haben und sie sind alle wieder aufgetaucht. Dass es ein beliebter Ort für solchen Kinderkram wie Mutproben ist, da hat er allerdings Recht behalten. Wahrscheinlich hatte er aber vorher seine Kleidung manipuliert. Als er nämlich endlich als Leiche gefunden wurde, sahen die Rettungsleute, dass sich in seinen Schwimmwesten Löcher befanden. Und auch seine Hose war nicht echt. Es waren schwere Metallstücke eingenäht, mit denen bestimmt niemand mehr aus dem Wasser gekommen wäre. Anfangs dachten viele, dass es sich um einen Mordversuch handelte, doch nach einem halben Monat Spurensuche, fand sich ein Zeuge. Es war sein bester Freund, der endlich redete. Er erklärte, dass es sich um keinen Mordanschlag handelte, sondern sich sein Freund selbst umbringen wollte. Natürlich hatte er versucht ihn davon abzubringen und hatte es auch nach einigen Tagen geschafft. Als die Aussage über sein glückliches Leben dann ihm Touristenjournal ausgestrahlt wurde, freute sich sein Freund, dass Mark, so heißt der Mörder, sich wieder gerettet und von der Selbstmordidee Abstand genommen hatte. Doch als er dann von dem plötzlichen Tod des Freundes erfuhr, war für ihn die Sache klar. Mark hatte alles nur gespielt. Er wollte nicht, dass sich die Leute unnötig Sorgen um ihn machten. Deshalb hat er sich eine Lüge einfallen lassen und das Attentat offensichtlich glaubwürdig harmlos dargestellt. Öffentlich gab der Freund von Mark allerdings auch auf viele Anfragen keine Antwort. Er sagte es nur mir, als ich ihn einmal in der Stadt traf, um genau zu sein: gestern. Er erzählte mir alles, ohne dass ich fragen oder ihn unterbrechen musste. Es tat mir alles so wahnsinnig Leid, doch der Freund versicherte mir, dass alles unter uns bleiben würde und ich in gewisser maßen auch keine Schuld an Marks Tod haben würde. Ich war von dieser Meinung allerdings nicht dermaßen überzeugt. Doch ich gab mich geschlagen. Alles was ich konnte, war einfach aufhören zu denken. Denn wenn ich gedacht hätte, wäre ich verrückt geworden und hätte mich ebenfalls umgebracht. Das alles nur wegen einer Frage. Kaum zu glauben, wie so etwas entstehen kann. Ich beschloss gestern, nachdem ich erfahren hatte, dass ich indirekt eine Mörderin bin, mich einfach von der ganzen Welt abzuschirmen. Einfach nur in meinem Zimmer zu sitzen und zu warten, dass ich sterbe oder einfach alles nur geträumt habe. Mir war klar, dass ich seit diesem einen Tag nichts mehr von Mark gehört hatte, aber ich dachte, für ihn wäre das Ende unserer Beziehung so klar wie für mich. Aber für ihn war gar nichts klar. Er war am Boden zerstört. Lange Zeit ließ er niemanden an sich heran. Der Einzige, der ihn immer begleitete, bei allem, was er tat, war sein bester Freund. Er war ebenfalls dabei, als Mark sprang, aber niemand ahnte, dass er etwas wissen könnte, dass niemand auf der ganzen Welt jemals erfahren hatte. Deshalb hatte ihn auch niemand nach Mark gefragt. Das fand er eigentlich gut, wie er mir gestern berichtete, denn er wüsste nicht, was er sagen sollte, wenn jemand ihn auf Mark ansprach. Ihm wäre es sicher nicht recht gewesen, wenn alle Welt von seinen seelischen Problemen erfuhr. Aber so ignoriert wie damals, war er jetzt gefragt bei allen Leuten, die Mark kannten. Nicht einmal seine Eltern kannten ihren Sohn so gut, wie sein bester Freund. In dem ganzen letzten Jahr hatte Mark keinen Kontakt zu ihnen. Er schirmte sich von der gesamten Umwelt ab. Ob er zur Schule ging, oder in eine Kneipe zum Saufen wusste niemand und es interessierte auch keinen. Natürlich kamen mit der Zeit Fragen auf und natürlich brauchte Mark auch irgendwelche Noten, aber sein Freund, der immer wusste, wo er steckte und sich dann ebenfalls nicht in der Schule blicken ließ, wusste immer, wie die Sache wieder zu Schaukeln war. Deshalb vertraute ihm Mark auch so sehr. Unvorstellbar, wie sehr man einen Menschen schätzen muss, um wegen ihm alles aufzugeben. Nicht in die Schule zu gehen, ist ja noch okay, aber jeder normale Mensch flippt doch aus, wenn der beste Freund einem erzählt, dass er sein Leben beenden muss. Aber in einer Sache traf Mark dennoch eine gute Entscheidung. Er hatte seinen besten Freund nicht in seinen letzten Selbstmordplan eingeweiht, da sonst der Freund festgenommen werden würde, da er Mark nicht davon abgebracht hatte. Mit einer so schweren Last wäre er wahrscheinlich auch nicht klargekommen. Jan, so heißt der beste Freund von Mark, war gestern am Boden zerstört und wirkte auch etwas enttäuscht von sich selbst, was ich nicht nachvollziehen kann, denn, was hätte er schon tun können? Vielleicht wäre er sogar noch hinterher ins Wasser gesprungen, hätte er früher gewusst, dass mit Marks Ausrüstung nicht alles in Ordnung war. Man kann ja nie wissen.
Doch leider konnte niemand Mark vor seinem Untergang retten. Morgen soll die Beerdigung der Leiche stattfinden. Man kann ihn sich auch noch ansehen und sich quasi offiziell von ihm verabschieden. Jan hat gesagt, ich solle auch kommen. Natürlich war ich bei Marks Tod nicht dabei. Wie sollte ich auch darauf kommen, dass der Kerl sich umbringen will.
Der Bürgermeister machte gestern eine Ansage auf dem Rathaus. Ich kam hin und sah alle in Schwarz gekleidet. Es lag Trauer in der Luft. Andächtig verkündete er, dass es ihm sehr Leid täte, einen so jungen Bewohner unserer kleinen Stadt zu verlieren. Die Eltern von Mark sagten ebenfalls ein paar Worte. Offensichtlich waren sie immer noch nicht davon überzeugt, dass es sich bei Marks Tod wirklich um Selbstmord handelte, denn sie wiesen zum wiederholten Male darauf hin, dass derjenige, der etwas darüber wisse, sich doch bitte entweder zu seiner Tat bekennen würde, oder den Eltern weitere Einzelheiten über die Verfassung ihres Sohnes vor seinem Tod berichten solle. Nach diesen Worten, konnte man beobachten, wie Jan die Versammlung verließ. Wahrscheinlich wusste er, dass er speziell damit gemeint war. Marks Eltern konnten Jan nie wirklich besonders gut leiden. Es musste sie mächtig gestört haben, dass nur er über ihren Sohn Bescheid wusste. Oft, wenn sie mit Mark reden wollten, wich er ihnen aus und schlich in sein Zimmer. Dann belauschten sie an seiner Tür, dass er Jan anrief. Doch Mark erkannte, wenn seine Eltern lauschten. Er hatte so etwas wie einen siebten Sinn. Wenn das der Fall war, öffnete er das Fenster und kroch auf den Baum, der davor stand. Dieser Baum war Marks ein und alles. Natürlich gleich nach Jan! Oft als ich noch mit Mark zusammen war, trafen wir uns und picknickten auf dem Baum. Es wuchsen Kirschen darauf und er fütterte mich immer. Das ist nun vorbei und das alles habe ich gestern mit Jan aufgefrischt oder erfahren, als er mich auf einen Kaffee einlud um mit mir zu reden. Ich dachte immer, dass Mark unsere Beziehung geheim halten wollte, da er nie öffentlich mit mir Händchen hielt. Aber gestern erfuhr ich, dass Jan jede Einzelheit aus unserem Beziehnungsleben bereits wusste. Ich war anfangs etwas verwirrt darüber, aber ich habe mich schnell daran gewöhnt. Jan erzählte mir aber außerdem, dass Marks Eltern wirklich streng mit Mark waren und ihn somit auch niemals Mutproben machen lassen würden. Aber Mark brachte es so hin, dass seine Eltern vorgestern, an diesem Tag war sein letzter Tag, nicht da waren. So erfuhren sie über das Handy vom Tod ihres Sohnes. Das musste ein gewaltiger Schock gewesen sein! Doch sie konnten erst am nächsten Tag zurück kommen. Sie wollten Mark noch einmal sehen, doch der Zugriff wurde ihnen verweigert. Angeblich sollte er vor seinem Sprung noch einmal mit den Stadtbeamten gesprochen haben. Die hatten ihm versichert, niemanden außer seinem Freund an sich heranzulassen. Aber nur während seinem Sprung. Wie die dann auf die Idee kamen, seine Eltern auch nach seinem Tod von seiner Leiche fernzuhalten, das ist auch eins, von den bisher ungelösten Rätseln um den Fall >> Mark < Doch einige Menschen waren auch gerührt wegen dem Engagement des Freundes. Sie lobten ihn für seine Tapferkeit. Er versicherte, dass es ihm wichtig sei, dass für den letzten Weg seines besten Freundes, alles seine Richtigkeit habe. So wurden dann einige neugierigen Zuschauer von den Vorbereitungen ausgeschlossen und Marks Eltern mussten das Trauerhaus ebenfalls verlassen.
Es war ein Tag vor der Beisetzung Marks. Jan musste mit Marks Eltern zusammen eine Urne für Marks Asche aussuchen. Die Eltern von Mark wollten diese familiäre Angelegenheit eigentlich alleine erledigen, aber der Bestatter bestand auf Jans Anwesenheit. Mittlerweile war niemand in der kleinen Stadt mehr gut auf Marks Eltern zu sprechen. Sie wurden hinter ihren Rücken als rücksichts- und verantwortungslose Rabeneltern beschimpft. In allen Zeitungen zierte Marks Name die Titelseite und jeden Tag kam eine genaue Berichterstattung über die Vorbereitungen für die Beerdigung. Laut den Leuten von der Stadtzeitung hatten die Eltern von Mark eine Art Tagebuch von den Tagen seit Marks Tod geschrieben, aus dem sie der Presse jeden Tag einen Eintrag für die Zeitung gaben. Merkwürdig war nur, dass sie mit den meisten Vorbereitungen nichts zu tun hatten, sie aber trotzdem genau beschreiben konnten. Sie erzählten außerdem, dass Mark immer ein Büchlein hatte, in die er seine Probleme schrieb. Jedes Mal, wenn er einen Eintrag fertig hatte, warf er ihn von der Brücke, von der er sich auch gestürzt hatte, ins Wasser. Jan berichtete mir, dass das eine klare Lüge war. Mark kam mit seinen Problemen immer zu Jan. Ich traf Jan immer öfter, weil mich Gewissensbisse plagten und ich außerdem bei den Vorbereitungen für die Beisetzung half. Dabei erzählte er mir immer neue Sachen, die ich von Mark noch gar nicht kannte. Komisch war nur, dass er nie in die Öffentlichkeit ging, wenn Marks Eltern wieder neue Lügen über ihren verstorbenen Sohn verbreiteten. Er wunderte sich nur, was sie mit derartigen Gerüchten bezweckten.
Von Tag zu Tag nahm dieser Mordfall seltsamere Gestalt an. Niemand wusste, was Marks Eltern mit dem allem zu tun hatten und ob es wirklich nur Selbstmord war. Die Polizei untersuchte Marks Elternhaus und fand allerlei komische Medikamente. Da Mark das einzige Kind dieser Familie war, konnte die Medizin nur für ihn bestimmt gewesen sein. Die Altersempfehlung zum Einnehmen dieser Medikamente war zwischen 12 und 18 Jahren. Mark war sechzehn. Doch die Verfallsdaten dieser Medizin waren vor zwei Jahren überschritten worden. Trotzdem lagen die Tabletten noch in Marks Zimmer. Es konnte allerdings bis jetzt nicht identifiziert werden, um welche Art von Medizin es sich handelte.
Ich hatte eine Theorie: Mark hatte vor zwei Jahren Beruhigungstabletten genommen, um über unsere Trennung hinwegzukommen. Dann hatte er die Packung beiseite gelegt und zwei Jahre lang nicht angerührt. Vor drei Tagen hatte er wieder einen Nervenzusammenbruch und fand die Tabletten. Da er ein vernünftiger Junge war, musste er das Verfallsdatum übersehen und nicht ignoriert haben. So nahm er ein paar von den Tabletten, die nicht mehr zum Einnehmen geeignet waren. So löste die Überschreitung des Verfallsdatums eine Art Verständnisverlust aus und er beschloss eine Mutprobe zu wagen. Dabei verschwendete er keinen Gedanken an Selbstmord. Er sprang, wie viele andere vor ihm, doch er tauchte nicht auf. Unklar war nur, wer seine Kleidung präpariert hatte.
Mit dieser Theorie ging ich am selben Nachmittag zu Jan, der mit Marks Eltern gerade vom Bestatter zurückkam. Sie hatten eine schlichte silberne Urne ausgesucht und Marks Namen eingravieren lassen. Nachdem ich Jan von meinen Überlegungen erzählt hatte, stimmte er mir zu, da er wusste, dass Mark Beruhigungstabletten in seinem Zimmer hatte. Doch die entscheidende Frage konnte auch er mir nicht beantworten. Marks Eltern konnten wir schlecht fragen, da sie wahrscheinlich noch weniger wussten. Wo aber waren sie an dem Tag von Marks Tod und warum konnten sie erst am nächsten Tag zurückkommen? Hatten sie etwas mit der Sache zu tun? Jan und ich beschlossen, noch niemanden in unsere Theorie einzuweihen und vor allem nicht die Polizei, denn wenn die wüsste, dass Jan mit den Tabletten von Mark vertraut war, würden sie sicher auch annehmen, dass er noch mehr über den Toten wüsste. Dieses Risiko wollten wir unter allen Umständen vermeiden. Keiner von uns wollte, dass Jan wegen seinem toten besten Freund ins Gefängnis kam. So beschlossen wir, auf eigene Faust im Fall >> Mark << zu ermitteln. Doch es war schon Abend und morgen war die Beerdigung. Ich suchte mir schwarze Sachen aus meinem Schrank. Dann ging ich schlafen. Wir würden morgen nach der Beerdigung weiter ermitteln.
Es war beinahe das ganze Dorf anwesend. Allen war die Trauer anzusehen. Jan wartete vor dem Eingang des Friedhofes auf mich. Wir gingen schweigend in die Halle, wo der Pfarrer eine lange Predigt hielt. Marks Urne stand vorne auf einem Tisch und um sie herum lagen Blumenkränze und Tücher, auf denen die Menschen ihre letzten Grüße an ihn niedergeschrieben hatten. Die Halle war schon fast voll, als wir eintraten. Jan steuerte auf die erste Reihe zu, weil er ja zu den engsten Angehörigen gehörte. Ich wollte mich nach hinten stellen oder in eine der letzten Reihen setzen, doch Jan winkte mich nach vorne zu sich. Erst war ich verwirrt, doch dann ging ich nach vorne. Alle starrten mich an, als ich durch den Mittelgang lief. Marks Eltern saßen auf der anderen Seite in der ersten Reihe. Wir saßen links. Durch die Milchglasfenster konnte man die Gräber des Friedhofs sehen. Mir wurde mulmig zumute, als der Pfarrer begann, über die Lebensgeschichte von Mark zu berichten. Diese ganze Prozedur zog sich eine halbe Stunde lang, in der ich versuchte, mich auf die Worte des Pfarrers zu konzentrieren und nicht daran zu denken, dass möglicherweise ich indirekt Schuld an seinem Tod hatte. Ich wollte nicht, dass es so war, denn dann würde ich mir mein restliches Leben lang Vorwürfe machen. Jan hatte ja schon versucht, mich davon zu überzeugen, dass ich nichts dafür konnte, dass es so passiert war, wie es passiert war, doch das hatte mich nicht wirklich überzeugt. Der Pfarrer war gerade dabei, zu erzählen, wie Mark ums Leben gekommen war. Er berichtete ausführlich über seinen Sprung von der Brücke. Auch, dass die Presse alles ganz genau mit verfolgt hatte. Als ich die Geschichte hörte, kam mir plötzlich alles noch verworrener vor, als es sowieso schon war. Ich sah zu Marks Eltern zu meiner Rechten. In ihren Gesichtern waren keine Regungen zu erkennen. Es schien mir, als wollte seine Mutter ein Schluchzen unterdrücken, doch sein Vater hatte eine steinerne Miene und die blieb auch bis zum Ende des Trauergottesdienstes. Der Pfarrer nahm die Urne vom Tisch und führte die Gemeinde nach draußen auf den Friedhof. Mark wurde neben einer Frau namens Helga Bauer begraben. Er hatte noch keinen Grabstein, aber das Loch war schon ausgehoben. Nachdem die Urne in die Erde gelassen wurde, ging jeder Bürger einzeln nach vorne und schaufelte etwas Erde in das Loch. Jan war der Erste. Danach kamen Marks Eltern, dann die anderen Angehörigen, danach ging ich nach vorne und musste bei dem Anblick an das Loch an Marks tiefe unergründliche Augen denken, die ich so gar nicht kannte, ich aber bei der Fernsehreportage seines Sprunges gesehen hatte. Normalerweise hatte er braune Teddybäraugen, doch an diesem Tag sahen sie verwirrt aus und gar nicht so, wie ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Er schien damals also schon gewusst zu haben, dass an diesem Tag etwas nicht stimmte, obwohl er der Reporterin sein Vorgehen vor seinem Sprung noch einmal ausführlich geschildert hatte und das mit einer Selbstsicherheit die, allem Anschein nach, doch nur gespielt war. Ich konnte diese ganze Geschichte nicht verstehen, doch ich war mir ziemlich sicher, dass ich mit Jan schon hinter das Geheimnis kommen würde, was mit Mark genau passiert war. Doch die Polizei mussten wir aus dem Spiel lassen und Marks Eltern würden uns wegen ihrer Abneigung zu Jan vermutlich auch keine große Hilfe sein. Wir mussten es also auf eigene Faust versuchen.
Nach der Beerdigung ging ich mit Jan zu ihm nach Hause. Er hatte noch einige Fotos von Mark und ihm und auch noch welche, die einige Tage vor seinem Tod gemacht worden waren. Wir betrachteten sie. Auf fast allen Bildern schnitten die beiden Grimassen, doch auf einem einzigen, dass am Tag vor dem Sprung gemacht worden war, waren beide ganz ernst. Wieso, wusste ich nicht und ich wusste ebenfalls nicht, ob ich Jan danach fragen sollte. Ich beschloss, das auf später zu verschieben. Jan hatte den Bericht aus dem Fernsehen aufgenommen. Wir schauten ihn uns gemeinsam an, wie es Jan vermutlich schon sehr oft alleine getan hatte. Um Mark standen wenig Zuschauer, aber die, die da waren, hatten keine Angst ins Gesicht geschrieben. Sie hatten eine solche Mutprobe schon oft mit verfolgt und es war noch nie etwas passiert. Sie hätten ja nicht ahnen können, dass dieses Mal alles anders war. Mark redete munter auf die Reporterin ein und erklärte ihr, dass das alles vollkommen ungefährlich sei und dass er spätestens eine halbe Minute, nachdem er ins Wasser getaucht sei, wieder auftauchen würde. Sie sah zwar noch nicht beruhigt aus, doch offensichtlich schien es sie zu erleichtern, dass hinter ihr Leute des Roten Kreuzes standen, die das ganze Geschehen überwachen würden. Dann kam der Sprung. Mark stieg auf das Geländer der Brücke, hielt sich an einem Laternenmast fest, holte noch einmal tief Luft und … sprang. Lange war er nicht in der Luft und es wehte auch kein Wind. Es lag vermutlich daran, dass jemand oder er selbst Metallstücke in seine Kleidung genäht hatte, die in runterzogen. Er tauchte ins Wasser ein. Alle waren noch sehr unbeeindruckt, doch als er nach einiger Zeit nicht aufgetaucht war, begannen die Menschen, ihrem Nebenstehenden etwas zuzuraunen. Das ging eine ganze Weile so, bis alle davon überzeugt waren, dass Mark nicht mehr auftauchen würde, aus welchem Grund auch immer. Das wusste man zu dieser Zeit noch nicht. Die Rettungskräfte gingen ins Wasser und tauchten und suchten eine halbe Stunde nach irgendetwas. Dann fand endlich einer von ihnen die Leiche. Er versuchte, Mark zu beatmen, doch es war schon zu spät. Trotzdem wurde sofort ein Krankenwagen gerufen und er wurde ins Krankenhaus gebracht. Bei dieser ganzen Zeremonie wich Jan nicht von der Seite seines toten besten Freundes.
Auch jetzt hatte er das ganze noch einmal mit entsetztem Gesichtsausdruck verfolgt. Und mir war wieder aufgefallen, dass seine Augen so tief und unergründlich waren, obwohl er sich nichts anmerken ließ. Er musste Angst gehabt haben. Entweder war das ganze eine Mutprobe, oder er wollte nur Aufsehen erregen. Das war die erste Frage, die wir klären mussten. Und wenn es eine Mutprobe gewesen war, mussten wir herausfinden, von wem sie gestellt wurde. Ich fragte Jan, ob er etwas wisse, doch er verneinte es. Wir beschlossen, zu Mr. und Mrs. Baskin nach Hause zu gehen um in Marks Zimmer zu suchen, ob die Beamten wohl etwas übersehen hatten. Denn Jan kannte ein Versteck in Marks Wand, in dem er allerhand Sachen aufbewahrte, die niemand sehen sollte. Dort wollten wir nachschauen. Die Frage war nur, ob Marks Eltern uns tatsächlich in ihr Haus lassen würden, zudem gerade die Beerdigung ihres Sohnes war und bestimmt noch Angehörige bei ihnen Zuhause trauerten. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als über den Baum vor Marks Zimmer einzusteigen, den Mark auch immer zur Flucht oder einfach nur zum Nachdenken genutzt hatte. Wir machten uns auf den Weg. Jan nahm zwei Paare Gummihandschuhe mit, damit wir keine Fingerabdrücke hinterließen, falls die Beamten von der Polizei noch einmal das Zimmer von Mark durchsuchen würden. Wir wollten ja nicht, dass wir wegen irgendetwas verdächtigt werden könnten. Als wir jedoch vor dem Haus der Baskins standen, wurde mir doch ein bisschen mulmig zumute. Ich wollte schon einen Rückzieher machen, doch offensichtlich durchschaute Jan mich, denn er sagte:
>> Komm, wir müssen ums Haus herum! <<
Plötzlich hörten wir Stimmen hinter uns. Wir drehten uns um, doch wir waren schon beinahe hinter dem Haus, weshalb die Menschen, die gerade durch die Eingangstür gingen, uns nicht sehen konnten. Wir warteten, bis sie im Haus waren und die Tür hinter sich geschlossen hatten. Dann kletterte Jan vorsichtig auf den Baum und half mir hoch. Er öffnete vorsichtig und so leise wie möglich das Fenster. Ich hatte alles in Marks Zimmer noch genauso in Erinnerung, wie es vor noch nicht allzu vielen Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Unter dem Fenster stand das Bett, weshalb Jan keine Probleme hatte, lautlos ins Zimmer zu gleiten. Ich hatte damit schon mehr Probleme. Hätte Jan mich nicht aufgefangen, ich wäre so weit gesprungen, dass ich vor dem Bett gelandet wäre. Als wir dann doch im Zimmer waren und ich schon die Zimmertür zu machen wollte, hielt mich Jan an der Schulter zurück und sagte, dass könne man unten hören.
>> Aber, wenn die Tür offen steht und jemand vorbeiläuft oder uns hört, sind wir dran! <<, sagte ich.
>> Es wird uns niemand hören, weil wir hier nicht lange bleiben werden <<, bekräftigte Jan.
Ich beschloss, ihm zu vertrauen, denn einen bessern Plan hatte ich auch nicht. Jan ging zum Kleiderschrank, der genau neben der Zimmertür stand. Zuerst versuchte er, ihn zur Seite zu schieben. Ich konnte nichts tun, nur zuschauen. Ich hatte furchtbare Angst, dass wir entdeckt werden können und ich wusste nicht, was dann mit uns passieren würde. Jan schaffte es nicht, den Schrank wegzuschieben. Als begann er, allerhand Kleidungsstücke so lautlos wie möglich auszuräumen. Da sah ich plötzlich, dass hinten im Kleiderschrank eine kleine aufklappbare Öffnung eingeritzt worden war. Jan öffnete sie. Dahinter lag ein Tresor, doch dieser war verschlossen. Leider wusste auch Jan den Code nicht, er wusste nur, dass der Code sechs Ziffern hatte. Er probierte es mit Marks Geburtsdatum. Fehlanzeige. Er probierte es mit seinem Geburtstag. Fehlanzeige. Er versuchte es mit dem Datum von Marks Tod. Fehlanzeige. Danach konnte ich nicht mehr erkennen, was er für Ziffern einstellte. Aber plötzlich ging der Tresor auf.
>> Was hast du denn jetzt für einen Code eingegeben? <<, wollte ich von Jan wissen.
>> Das Datum, an dem ihr euch getrennt habt. << Das versetzte mit erst mal einen Stich.
>> Woher weißt du denn das? <<, fragte ich verwundert.
>> Mark hat oft betont, dass das der schlimmste Tag in seinem Leben war. Das war anfangs auch die Ursache, warum er schon mehrmals versucht hatte, sich umzubringen, doch damals konnte ich ihn noch davon überzeugen, es nicht zu tun! <<, erklärte mir Jan mit einem leichten Zittern in der Stimme. Das musste ich jetzt erst einmal verarbeiten, doch dazu blieb keine Zeit. Jan schaute, was hinter dem Tresor war. Eigentlich wusste er es ja vorher schon, aber ich wusste es nicht, deshalb schaute ich ihm gespannt über die Schulter. Was sich dahinter verbarg, waren einige Fläschchen und Döschen, die ich nicht identifizieren konnte. Jan holte eine Tüte aus seiner Hosentasche und begann die ganzen Gefäße darin zu verstauen. Wieder einmal konnte ich nur zusehen. Als er fertig war, schloss er die Tür des Tresors wieder und hängte die Kleidungsstücke wieder in den Schrank. Dann schloss er auch die Schranktür.
>> Komm, wir gehen! <<, sagte Jan.
Ich hatte noch gar nicht daran gedacht, wie wir da wieder rauskommen sollten. Über einen Baum in ein Zimmer einzusteigen, ist ja nicht so schwer, aber über den Baum auch wieder rauszukommen kann schon komplizierter werden. Jan ging zum Bett, stieg auf das Fensterbrett, von dem ich nicht erwartet hätte, dass es zusammenbricht und hangelte sich schließlich mit der Tüte in der Hand aus dem Fenster, was ich schon wirklich als Meisterleistung empfand. Ich versuchte, es ihm gleich zu tun, aber ich glaube, dass es bei ihm viel eleganter ausgesehen haben muss. Aber in diesem Moment war mir das herzlichst egal. Jan half mir wieder und als ich sicher auf dem Baum stand, kletterte er hinunter. Ich hinterher. Doch als wir unten waren, hörten wir schon wieder Stimmen, doch dieses Mal klang es nicht so, als würden sich die Stimmen in Richtung Haustür entfernen, sondern als würden sie immer näher kommen. Jan hörte die Stimmen auch. Er überlegte blitzschnell, was zu tun war und beschloss, dass wir weiter ums Haus gehen sollten. Er zog mich hinter sich. Als wir auf der gegenüberliegenden Hauswand angelangt waren, bekam ich einen Schreck, als ich nach oben sah. Auf dem Balkon über uns standen Menschen und unterhielten sich. Einer von ihnen, lehnte sich gefährlich weit nach hinten, sodass er uns sofort gesehen hätte, wenn er sich umdrehen würde. Wir drückten uns noch näher an die Hauswand und gingen vorsichtig weiter. Doch das war ein Fehler. Auf der anderen Seite stand das Fenster sperrangelweit offen und in dem Zimmer, zu dem das Fenster gehörte, saßen die anderen Gäste der Familie Baskin. Es wurde immer brenzliger, da auch die Stimmen, die uns verfolgten nicht leiser wurden. Allerdings verstanden wir nicht, was diese Menschen für einen Sinn darin sahen, immer und immer wieder um das Haus zu laufen. Wir drehten unsere Runde jedoch weiter, da uns ja nichts anderes mehr übrig blieb. Jan ging ganz vorsichtig, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. An dem geöffneten Fenster mussten wir kurz innehalten, weil ich etwas gehört hatte. >> ..kein Unfall.. Mord... Freund... Mädchen..! <<, Diese Wortfetzen drangen zu mir hervor, als wir direkt unter dem Fenster standen. Ich wusste nicht, was sie zu bedeuten hatten, aber ich wusste, dass der, der das gerade gesagt hatte, von Mark sprach. Ich konnte mir nur etwas zusammenreimen, aber es musste doch so viel bedeuten wie: Der Tod von Mark war kein Unfall. Es war pure Absicht. Sein Freund Jan hat ihn umgebracht und das Mädchen, das auf der Beerdigung neben ihm saß, war seine Komplizin. Wenn das, was der Mann gesagt hatte, so heißen sollte, dann würden wir bald dran sein, ob wir es waren oder nicht. Immerhin hatten die Menschen da drinnen Beweise. Wir hingen die ganze Zeit zusammen. Jan wollte, dass Mark verbrannt wurde, um nicht feststellen zu können, ob sich irgendwelche Fingerabdrücke der Täter an ihm befanden. Das waren alles Tatsachen mit denen man uns bei der Polizei überführen konnte. Außerdem hatten die Erwachsenen gegenüber uns noch einen entscheidenden Vorteil. Sie waren schon erwachsen. Egal, wer Recht hätte, man würde ihnen mehr glauben als uns. Aber wir waren noch nicht 18, konnten also nur in den Jugendknast, was bestimmt auch kein Zuckerschlecken sein würde… Aber ich machte mir schon wieder viel zu viele Gedanken. Vielleicht meinten sie im Wohnzimmer über uns auch etwas ganz anderes mit den Worten, die sie gesagt hatten. Vielleicht etwas, wie: Der Unfall von Mark kann kein Mord gewesen sein. Er muss sich selbst umgebracht haben. Aber wieso? Der Freund von Mark, dieser Jan und das Mädchen, das die ganze Zeit mit ihm zusammen ist, versuchen doch bestimmt, den Fall aufzudecken. Wenn sie das hinbekommen sollten, dann bin ich ihnen wirklich etwas schuldig.
Aber Leute, seid mal ehrlich, welche der beiden Fassungen klingt glaubwürdiger? Ich würde auf die erste tippen, aber die Hoffnung stirbt in diesem Falle wieder einmal zuletzt. Ich schaute besorgt zu Jan, doch auch auf seinem Gesicht machte sich ein Ausdruck von Panik breit. Er musste also das Gleiche gehört haben, wie ich und sich auch eine Geschichte zurechtgelegt haben.
Ich wurde endgültig aus meinen Gedanken gerissen, als ich wieder diese Stimmen hinter uns hörte, jetzt waren sie nur noch hinter der Hausecke zu vernehmen, uns blieben also weniger als drei Sekunden um zu verschwinden. Ich versuchte das Jan zu signalisieren, aber er hatte schon verstanden. Er hatte bereits meine Hand genommen und rannte los. Wir hatten Glück, denn keiner hinter uns schrie, als hätte er uns gesehen. Wir blieben nicht stehen, rannten immer weiter, aber dieses Mal nicht mehr ums Haus herum, sondern auf die Straße und immer weiter, bis ich schließlich nicht mehr konnte und stehen bleiben musste. Es war sowieso Unsinn, noch weiter zu rennen, da niemand mehr hinter uns war, der uns verfolgte. Wir schnauften durch und erst jetzt ließ Jan meine Hand los. Es fühlte sich nicht gezwungen an und auch nicht so, als ob wir verliebt wären, sondern einfach freundschaftlich. Ich bin der Meinung, dass so ein Erlebnis, auch wenn es kein schönes ist, schweißt zusammen. Wir wissen nicht, was wir jetzt machen sollen, also beschließen wir, zu Jan nach Hause zu gehen und uns die Fläschchen und Döschen genauer anzuschauen, die wir aus dem Tresor von Mark genommen haben. Wenn wir unter ihnen Beruhigungstabletten finden, dann wissen wir eine mögliche Todesursache von Jans bestem Freund. Mark und Jan wohnen nur etwa 15 Minuten voneinander weg. Da wir schon die Hälfte der Strecke gerannt sind, ist es nicht mehr weit. Als wir vor dem großen weißen Haus stehen, dass Jans Familie gehört, fällt mir auf, dass ich schon einmal hier gewesen bin, aber ich weiß nicht mehr wann und wieso. Jan erklärt mir, dass seine Eltern nicht zu Hause sind, deshalb waren sie vermutlich auch nicht bei der Beerdigung von Mark. Obwohl, Jan hatte mir ja erzählt, dass seine und Marks Eltern nichts miteinander zu tun hatten, da Marks Eltern Jan nicht ausstehen konnten. Das wurde alles immer merkwürdiger, wenn man mal so darüber nachdenkt. Ich weiß nicht, wie es euch vorkommt, aber ich finde das alles sehr verwirrend. Aber ich hatte jetzt keine Zeit, noch weiter darüber nachzudenken. Jan schloss die Tür auf und ließ mich vorgehen. Als ich das Haus betrat, kamen wir in einen großen Flur, der mit Bildern behängt war. Und ich hatte immer noch das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Doch Jan kannte ich nicht, bevor Mark gestorben ist. Wir gingen eine lange Wendeltreppe hoch, die darauf hinwies, dass dieses Haus schon sehr alt sein musste. Meiner Meinung nach zumindest. Ich kannte mich aber mit Architektur nicht aus. Oben gingen wir noch einmal durch einen langen Flur, der nach links in Jans Zimmer führte. Hier war ich auch schon einmal. Da fiel es mir wieder ein: Als ich das erste Mal bei Mark zu Hause war, hatte er mich hergeführt. Er hatte gesagt, seine Eltern hätten zwei Häuser und in diesem entspannte er sich meistens, wenn er seine Eltern nicht mehr ertragen konnte. Damals hatte er mich also zu Jan nach Hause geführt. Aber wieso?
>> Hier warst du schon mal, richtig? <<, fragte Jan völlig unerwartet.
>> Jj… Ja! Woher weißt du das? <<, ich ging sofort in die Offensive.
>> Mark hatte mich damals gebeten, ob er dich hierher führen dürfe, als ihr euch das erste Mal bei ihm zu Hause treffen solltet! <<, antwortete Jan.
>> Ja, okay, aber wieso hat er mich nicht zu sich nach Hause gebracht? <<, wollte ich wissen.
>> Seine Eltern haben zu der Zeit viel gestritten, weil sein Vater ein Drogenproblem hatte. Seine Mutter wollte, dass er eine Therapie macht, aber er hat sich gewehrt. Daraufhin haben sie sich scheiden lassen. Das ging alles sehr schnell und es ging Mark wirklich sehr nahe <<, erklärte mir Jan.
>> Was?! Seine Eltern haben sich scheiden lassen? Das hat er mir ja gar nicht gesagt! Moment, das bedeutet ja dann, dass der Mann, der jetzt mit Mrs. Baskin zusammenlebt gar nicht sein richtiger Vater ist, was bedeutet, dass ich seinen richtigen Vater noch nie gesehen habe. Wie hat seine Mutter denn dann so schnell einen anderen Mann gefunden und ist mit ihm sogar schon zusammengezogen? Denn ich war zwei Wochen oder so bei Mark zu Hause und da waren seine Eltern dann beide da. <<
>> Wie sich nachher rausstellte, hatte Marks Mutter schon eine ganze Weile eine Affäre mit Marks jetzigem Stiefvater. Das wusste sein Vater aber noch nicht, als er und seine Mutter sich trennten. Mark wusste es aber schon eine ganze Weile, deshalb wollte er so wenig wie möglich zu Hause sein und war so oft bei mir, dass es für ihn auch wie ein zweites Zuhause war. <<
>> Wieso hat er mir denn nicht einfach das alles erzählt? Ich hätte es doch verstanden! <<, ich verstand das alles nicht.
>> Ich schätze mal, er hatte Angst. Immerhin hatte sein Dad Drogenprobleme. Vielleicht dachte er, dass du annimmst, dass er auch was mit Kokain und Co. zu tun hat. <<
>> Das hätte ich doch nie gedacht! <<, protestierte ich, obwohl eine ganz kleine Stimme in meinem Hinterkopf Jan Recht geben musste. Ich wusste nicht, wie ich damals reagiert hätte. Aber das alles erklärte auch wieder einiges. Immerhin war Mark nie gut auf seine Eltern zu sprechen gewesen. Sein Stiefvater und seine Mutter hatten aber nie geheiratet, erklärte mir Jan. Das war verwunderlich. Denn ich dachte immer, dass die ganze Familie Baskin heißt. Aber das war wohl der Nachname von Marks richtigem Vater, der vermutlich noch nicht einmal erfahren hatte, dass sein Sohn ums Leben gekommen war. Ich sprach Jan darauf an, doch das, was ich dann als Antwort bekam, raubte mir den Atem:
>> Marks Vater hatte sich einige Zeit nach der Trennung von seiner Frau, als er erfuhr, dass sie eine Affäre hatte, während sie vortäuschte mir Marks Vater eine einigermaßen glückliche Ehe zu führen, das Leben genommen <<, erklärte Jan mit bemüht sachlicher Stimme. Ich traute mich nicht, zu fragen, wie er das getan hatte. Denn wenn er auch von irgendwo runtergesprungen ist, wäre ich vermutlich wegen dem Schock zusammengebrochen. Jan redete aber von sich aus und tröstete mich damit ein kleines bisschen. Er sagte, als hätte er meine Gedanken gelesen: >> Nein, er ist nicht von einer Brücke gesprungen. Er hat eine Überdosis Schlaftabletten genommen. Er wusste, dass er daran sterben würde, also war es damals bei ihm beabsichtigter Selbstmord. <<
>> Sind Mark, seine Mutter und ihr neuer Mann zu der Beerdigung gekommen? <<, wollte ich wissen.
>> Mark war dort und ich war auch dort. Seine Mutter hat, glaube ich, gar nicht erfahren, dass ihr Exmann gestorben ist. Die Familie hat einen Brief bekommen. Er war von einem Bestattungsinstitut. Zu der Zeit haben Mrs. Baskin und Mr. Heather, so heißt ihr neuer Freund, eine Reise gemacht. So eine Art Hochzeitsreise ohne Hochzeit. Vielleicht haben sie dort unterwegs irgendwo geheiratet. Das wussten weder Mark noch ich. Mark hatte den Brief gelesen, sich das Datum der Beerdigung aufgeschrieben und den Brief verbrannt. Seine Mutter und ihr Freund hatten ihn also nie gesehen. Mark ging zu der Beerdigung und sagte, er sei der Sohn von Mr. Baskin. Man glaubte ihm nicht. Ich bin auch dort gewesen und habe die ganze Prozedur mitbekommen. Ich habe gesagt, ich sei der Neffe des Verstorbenen und Mark sei mein Freund. Sonst wären wir dort nicht hineingekommen. Während der Rede des Pfarrers bekamen Mark und ich mit, dass er nicht erwähnte, dass Mr. Baskin einen Sohn hatte. Deshalb hatte auch niemand Mark geglaubt. Er hatte also gar nicht existiert. Der Pfarrer sagte nicht, wer Mr. Baskin tot aufgefunden hatte, da so etwas auch nicht auf eine Beerdigung gehörte. Aber Mark und ich wollten das schon gerne wissen. Nachdem die Urne, er wurde auch verbrannt, von Marks Dad in der Erde war, sahen Mark und ich die Bullen am Rand des Friedhofes stehen. Wir fragten uns, was die wohl hier wollten. Mark wollte es wissen und ging zu ihnen. Er fragte: >Was tun Sie hier, meine Herren?<
>Wir müssen das Ganze hier überwachen<, antwortete der eine der beiden, woraufhin er einen leichten Schienbeintritt des anderen kassierte. Danach sagten die beiden kein Wort mehr zu uns und verließen den Friedhof. Mehr haben wir also auch nicht rausbekommen!<<, beendete Jan seine Erzählung. Marks Vater musste also etwas mit der Polizei zu tun gehabt haben. Vielleicht hat er keine Miete bezahlt oder ist zu schnell Autogefahren. … Aber vielleicht … hat er auch jemanden umgebracht. Tatsache war, dass wir es nicht wussten. Noch eine Sache mehr, der wir unbedingt auf der Spur bleiben sollten.
Jetzt saßen wir allerdings auf Jans Fußboden in dem kleinen Zimmer und leerten Jans Tasche aus, in der sich alle Utensilien befanden, die wir aus Marks Tresor hatten mitgehen lassen. Es waren mehr als 15 Behälter. Ich nahem mir einen von ihnen vor. Den kleinsten. Davon war das halbe Etikett abgelöst. Doch auf dem Boden der Dose stand das Verfallsdatum. 12.05.06. Heute war der 29.02.09. Die Medizin war also schon vor über zweieinhalb Jahren abgelaufen. Aber vielleicht war es auch gar keine Medizin. Ich schraubte das Döschen vorsichtig auf und roch an dem weißen Pulver. Es roch nach nichts. Ich wollte es nicht probieren, da ich nicht wusste, was das Zeug zu handhaben war. Ich hielt es Jan vor die Nase. Er begutachtete das Pulver, roch auch daran und zog die Augenbrauen nach oben. Das sah aus wie Schnupftabak. Und es roch auch nach nichts. Es musste so etwas in der Art sein.
>> Aber ich dachte, Mark hat keine Drogen genommen! <<, entgegnete ich.
>> Ich weiß auch nicht, wieso er das in seinem Tresor hatte! Vielleicht ist das noch eine Dose seines Vaters, als eine Art Andenken! <<, überlegte Jan.
>> Komisches Andenken! Nimmt man sonst nicht eigentlich ein Bild, statt Drogen, um sich an jemanden zu erinnern? <<, wollte ich wissen, doch Jan antwortete nicht. Er war damit beschäftigt eine Schachtel aus seinem Schrank zu holen. Von außen sah es aus wie ein normaler Schuhkarton, doch als er den Deckel abhob, kamen darunter allerlei Materialien zum Vorschein, die Detektive immer benutzten. Er nahm ein kleines Tütchen und füllte etwas von dem Pulver hinein. Dann nahm er sich das nächste Döschen vor. Er schraubte es auf, roch an dem Inhalt und zuckte zurück. Sogar ich konnte den Inhalt riechen, obwohl ich einen halben Meter von Jan entfernt saß. Und ich konnte nicht behaupten, dass das, was sich da durch meine Atemwege bahnte, gut roch. Da musste das Verfallsdatum bestimmt schon seit mindestens zwei, wenn nicht drei Jahren abgelaufen sein. Jan untersuchte das Etikett. Wieder war nur noch das halbe dran, aber dieses Mal die vordere Hälfte, sodass wir die Anfangsbuchstaben von dem Mittel entziffern konnten. Der erste Buchstabe war ein S. Der zweite war ein A. Den dritten konnten wir nicht entziffern und der vierte war nur noch zur Hälfte aufgedruckt, sodass wir ihn auch nicht lesen konnten. Es gab sicherlich viele Medikamente oder andere Mittel, die mit >SA< anfangen. Dieses Mal holte Jan aber kein Tütchen auf seinem Karton, sondern ein Reagenzglas in Miniformat. Also musste es eine Flüssigkeit sein. Da war die Auswahl dann schon eingeschränkt. Er goss zwei Tropfen in das Gläschen und verschloss es mit einem kleinen Deckel. Darauf malte er die Buchstaben SA. Die Flüssigkeit war durchsichtig. Aber auf dem Originalbehälter stand kein Verfallsdatum und es sah auch nicht aus, wie ein Fläschchen aus der Apotheke. Das musste also etwas selbstgemixtes sein.
Mit den anderen Behältern gingen wir nach demselben Schema vor. Auf keinem der Gefäße war das ganze Etikett. Doch warum? Wollte Mark die Beweise vernichten? Konnte er ahnen, dass jemand das geheime Versteck finden würde? Doch bei einem Döschen, dem letzten, war Mark unvorsichtig gewesen. Das waren die Beruhigungstabletten. Sie waren schon lange abgelaufen, wie Jan gesagt hatte. Jan wickelte vorsichtig eine von den übrigen Tabletten aus der Dose in eine Frischhaltefolie, die wahrscheinlich keine war, aber zumindest so aussah. Dann holte Jan einen zweiten Karton aus seinem Schrank. Dieser war leer. Er verstaute darin alle Behälter aus Marks Zimmer. Er würde sie vermutlich nicht mehr brauchen, aber man weiß ja nie. Ich dachte, wir wären jetzt fertig, aber Jan war da wohl anderer Meinung. Er verstaute den Karton mit Marks Utensilien wieder in seinem Schrank (wie viel er da drin hatte!) und holte gleichzeitig ein Mikroskop heraus. Er baute alles auf und stellte es zwischen uns auf den Boden. Dann nahm er das Tütchen, in das er das weiße Pulver, vermutlich den Schnupftabak, gefüllt hatte und legte es auf den Objekttisch des Mikroskops. Er drehte einige Male an den Rädchen und stellte das Ganze schärfer. Dann schaute er zufrieden hindurch, aber offensichtlich sah er nichts Weltbewegendes. Trotzdem stand er auf, nahm einen Block von seinem Schreibtisch und begann zu dokumentieren, was er sah. Nach einigen Minuten Stille wollte ich wissen:
>> Was siehst du? << Erst einmal bekam ich keine Antwort, doch schließlich löste sich Jan von seinem Mikroskop und erklärte: >> Ich weiß jetzt ganz sicher, dass das hier Schnupftabak ist! << Ich fragte erst gar nicht, woran er das festmachte, denn ich kannte mich mit so etwas sowieso nicht aus. Er beschriftete also das Tütchen und legte es dann zur Seite. Als nächstes nahm er das Reagenzgläschen mit der Aufschrift SA. Er legte es unter das Mikroskop und versank wieder in seinen Gedanken. Nach einigen Minuten und mit undefinierbarem Gesichtsausdruck, begann er auch hier aufzuschreiben, was er gesehen hatte. Doch er wusste offensichtlich immer noch nicht, um was für ein Mittel es sich handelte. Komischerweise machte er aber nicht mit dem nächsten Tütchen weiter. Offensichtlich war er so ein Ordnungsfreak, der erst eine Sache beenden wollte, bevor er mit einer anderen weitermachte. Solche Menschen konnte ich nicht leiden, aber in diesem Falle war es sogar ganz nützlich, dass Jan so war. Mark war früher immer das genaue Gegenteil gewesen. Er suchte sich immer das, was am leichtesten zu tun war und das tat er dann. Ich war ungefähr genauso, deshalb haben wir uns eigentlich auch nie gestritten. Wir hätten das perfekte Paar werden können…
Jan nahm seinen Laptop vom Schreibtisch und ließ ihn hochfahren. Ich wusste nicht, was er vorhatte, aber ich schätzte, ich würde es noch früh genug erfahren. Jan ging ins Internet und gab die Adresse einer Apothekenseite ein. Schön langsam dämmerte mir, was er vorhatte. Auf dieser Seite konnte man entweder Namen von Medikamenten oder bestimmte Kennzeichen von ihnen eingeben. Jan tippte so schnell, dass ich nicht lesen konnte, was er schrieb, doch offensichtlich hatte das, was er eingetippt hatte, Erfolg. Es ergaben sich über 20 Suchergebnisse. Auf der einen Seite war das natürlich großartig, auf der anderen Seite hatten wir dadurch sehr lange Beschäftigung. Die Namen der Medikamente, die dort aufgeführt waren, klangen alle sehr kompliziert und da Jan offensichtlich nur die Kennzeichen der Medizin eingegeben hatte, kamen auch viele, deren Namen nicht mit >SA< begannen. Wir hatten also ganz schnell 21 Medikamente aussortiert, nur zwischen zweien konnten wir uns nicht entscheiden. Der Name des einen Mittels kam mir überhaupt nicht bekannt vor, doch das andere, war ein ganz normaler Name: Salzsäure. Doch wir mussten uns diese Medikamente, insofern man das so nennen konnte, noch einmal etwas genauer anschauen. Denn die ganzen Kennzeichen, die Jan eingetippt hatte, konnten nicht haargenau auf beide Medikamente zutreffen. Sowieso war es mir, nebenbei gesagt, ein Rätsel, wofür Mark so etwas gebraucht haben könnte.
Jan klickte erst auf die eine Medizin, deren Namen ich nicht mal aussprechen konnte und verglich die Merkmale des Mittels mit seinen Notizen. Bei einem Punkt blieb er allerdings stehen, nämlich bei dem Geruch. Im Internet stand, dass dieses Mittel geruchsneutral war, doch das, was wir da gefunden haben, hatte doch einen ziemlich intensiven Geruch. Doch das musste nun wirklich noch nichts heißen, denn das Verfallsdatum unseres Mittels war vermutlich schon lange überschritten. Aber Jan ließ sich von solchen verwirrenden Ergebnissen nicht aus der Ruhe bringen. Er klickte auf das andere Mittel. Salzsäure. Da stand ebenfalls >geruchsneutral> Bei überschrittenem Verfallsdatum kann sich der Geruch verändern. << Das stand bei dem anderen Mittel nicht! Da hatten wir es doch! Also hatten wir es bei unserem Medikament mit Salzsäure zu tun. Jetzt fragt ihr euch bestimmt, was das ist, oder? Da muss ich euch leider sagen, ich weiß es auch nicht. Jan hatte offensichtlich genauso wenig Ahnung, was Salzsäure ist und vor allem, wofür man sie braucht. Noch ein Rätsel, das nicht gelöst worden ist. Jan hatte wieder alles mitgeschrieben was wir herausgefunden haben und beschriftete das Reagenzgläschen jetzt ordnungsgemäß. So machten wir weiter, bis wir schließlich alle Mittel identifiziert hatten. Ob mit oder ohne diese Internetseite, Jan war ein Genie. Doch so clean konnte er nicht immer gewesen sein. Viele von den Medikamenten und den anderen Dingen, die Mark besaß waren Drogen. Und die, die es waren, konnte Jan sofort zuordnen. Vielleicht hatte er in seiner Jugend, also vor ein paar Jahren mit Mark auch einige krumme Dinger gedreht. Ich wusste es nicht, aber einmal in diesem Fall war ich froh darüber, etwas nicht zu wissen.
Als wir fertig waren, verstaute Jan auch die Proben, also das, was er den Originalbehältern entnommen hatte, in seinem Schrank. Zwei Stunden hatten wir an diesem Zeug gesessen, aber es hatte sich gelohnt. Wir hatten alle Fläschchen und alle Gläschen den Namen der Mittel zugeordnet. Allerdings wussten wir immer noch nicht, wozu Mark das alles gebraucht hatte. Beruhigungstabletten, okay, solche besitzen viele Menschen. Ganz egal, wieso, aber die tun es. Drogen, manche Leute brauchen auch diese, aber Jan hat gesagt, dass Mark nie abhängig gewesen ist und das Zeug, wegen seinem Vater, auch nie angerührt hat. Die Frag ist nur, ob das Zeug wirklich nur ein Andenken an seinen Vater war, oder ob Mark Jan angelogen hat und das Zeug trotzdem genommen hat oder vielleicht hat Mark den Stoff auch vertickt. Das wäre natürlich nicht gut, denn wenn es so gewesen sein sollte, dass er das Zeug vertickt haben sollte, hat die Polizei bei der Durchsuchung seines Hauses bestimmt viel illegales Geld gefunden. Das konnten Jan und ich nicht wissen, da die Kommissare nicht ahnen konnten, dass wir auch ermitteln. Aber wenn sie das Geld gefunden haben sollten und Marks Eltern von den Drogen vermutlich nichts wussten, würde sich die Polizei früher oder später an Jan wenden, da er ja, laut ihm selbst und laut der Aussage von Marks Eltern der beste Freund und engster Vertrauter des Toten war. Wenn wir also nicht schneller waren, als die Polizei konnten Marks Eltern gegen Jan aussagen und dann waren wir vermutlich beide dran. Eine komplizierte Geschichte und uns blieb nicht viel Zeit, rauszufinden, was wirklich hinter dem Stoff steckte.
Zweites Kapitel
Die Polizei hatte gestern zu Marks Eltern gesagt, dass die Ermittlungen in circa zwei Wochen abgeschlossen sein würden und sie dann wussten, ob Mark umgebracht wurde oder ob er sich selbst das Leben genommen hatte und warum. Zwei Wochen. Das war eigentlich mehr Zeit, als ich gedacht hatte, aber die Polizei machte ihre Arbeit sehr genau, das bedeutete, dass sie auch irgendwann den Tresor finden würden, an dem noch die Fingerabdrücke von Jan und mir zu sehen sein würden, da wir nicht mehr daran gedacht hatten, die Handschuhe auch anzuziehen. Das bedeutete, dass sie uns entweder wegen Diebstahl oder wegen Verweigerung einer Zeugenaussage drankriegen würden. Blieb nur eins, Jan und ich mussten zurück zu Marks Haus und die Fingerabdrück überall, wo wir welche hinterlassen hatten, wegwischen. Wenn die Bullen nämlich in den nächsten 24 Stunden den Tresor finden oder noch eine Durchsuchung in Marks Zimmer starten würden, wären die Fingerabdrücke noch frisch. Doch wenn sie erst später kamen, sagen wir in zwei oder drei Tagen, könnten sie uns einen frischen Diebstahl schon mal nicht anhängen, da sie da nicht mehr erkennen könnten, von wann die Fingerabdrücke stammten. Das hatte Jan mir erklärt. Doch das Dumme war, dass wir nicht wussten, wann die Polizei noch mal zu Marks nach Hause ging. Vielleicht bestünde aber auch die Möglichkeit, dass sie zu Jan nach Hause gingen. Dann müssten wir den ganzen Stoff vorher zu mir nach Hause bringen, weil die Polizei dort möglicherweise nicht suchen wurde. Diese ganze Sache wurde immer komplizierter. Ich war in einer halben Stunde mit Jan verabredet um die Fingerabdrücke und alle anderen Beweise unseres kleinen Einbruchs zu vernichten. Ich machte mich schon mal auf den Weg zu ihm. Ich nahm meinen Rucksack mit, in den ich Taschentücher, zum Wegwischen, Gummihandschuhe, um nicht neue Abdrücke zu hinterlassen und zwei Plastiktüten, um keine Spuren von den Schuhen auf dem Boden zu hinterlassen, packte. Jan hatte gesagt, dass Marks Eltern heute nicht zu Hause waren, da sie ihre Verwandten in Tirol besuchen wollten um ihnen von dem tragischen Tod ihres Sohnes zu erzählen. Ich wusste auch nicht genau, wieso, aber mir kahm diese ganze Geschichte, die Mrs. Baskin und Mr. Heather da abzogen wirklich geheuchelt vor. Vielleicht hatten die ja auch was mit dem Tod von Mark zu tun und waren gar nicht so unschuldig, wie sie jedem versicherten. Aber das war doch Quatsch. Was hätten sie denn für ein Motiv, ihren eigenen Sohn zu töten? Nun ja, Eifersucht vielleicht, weil er sie immer ignoriert hatte und sich nur mit Jan abgegeben hat. Oder vielleicht barg Mr. Heather auch ein dunkles Geheimnis und hatte selbst noch andere Kinder, die er in letzter Zeit wegen Mark so sehr vernachlässigt hatte. Von denen Mark wahrscheinlich nicht einmal etwas wusste. Und jetzt hatte er sich mit Marks Mum zusammengetan und ihm Metallstücke in die Kleidung eingenäht, weil er von Marks Mutprobe wusste und auch wusste, was er anziehen würde und ist dann mit Mrs. Baskin weggefahren um die Schuld nicht auf sich zu lenken. Aber das war alles eine sehr weit hergeholte Theorie. Außerdem war Mrs. Baskin vielleicht link und falsch, aber die würde nie in ihrem ganzen Leben das Leben ihres Sohnes gefährden oder aufs Spiel setzen. Das würde sie nie machen. Dazu hätte sie nicht den Mut und nachher würde ihr jahrelang ihr schlechtes Gewissen zu schaffen machen. Ich kannte doch Marks Mum. Am Anfang schien sie mir immer ganz nett, doch wie ich neulich von Jan erfahren habe, hatte auch bei dieser gnädigen Frau der Schein getrogen.
Ich versank schon wieder einmal in meinen Gedanken. Obwohl ich doch im Moment wirklich keine Zeit dazu hatte. Schnell schnappte ich mir meinen gepackten Rucksack und machte mich auf den Weg zu Jan. Der wartete schon vor seiner Haustür. Er begrüßte mich mit einer Umarmung und ich konnte deutlich die dunklen Ringe unter seinen Augen sehen.
>> Na, du hast wohl nicht so viel Schlaf bekommen, was? <<, fragte ich neckend.
>> Nein, ich war die ganze Nacht damit beschäftigt, mir einen Plan auszudenken, wie wir an die präparierte Kleidung von Mark kommen können. Die brauchen wir nämlich. Vielleicht können wir die Metallstücke herausnehmen uns rausfinden, ob Mark selbst oder jemand anderes solche besitzt. <<
>> Das ist doch eine brillante Idee! Und wie sieht dein Plan aus? <<, ich war begeistert. Jan war der totale Detektiv.
>> Nun ja. Also ich nehme mal an, dass die Polizei die Weste haben wird. Also müssen wir hin und sie entweder klauen, was natürlich sehr riskant ist, oder wir müssen uns als Kommissare ausgeben, die von irgendeiner Unfallbehörde kommen. Da die erste Möglichkeit so gut wie unmöglich ist, habe ich noch gestern Nacht im Internet nach einem Ausweis für Kommissare der Unfallbehörde gesucht. Und das sogar erfolgreich. Ich habe mir den Ausweis ausgedruckt und einen mit deinem und einen mit meinem Namen gemacht. Sieht sogar beinahe echt aus. Aber ich würde diese Aktion jetzt noch nicht durchführen, denn wir haben erst einmal besseres zu tun. Wir müssen sehen, dass wir in Marks Zimmer kommen, ohne dass uns jemand dabei sieht und wir müssen aufpassen, dass die Polizei uns nicht schon zuvor gekommen ist, weil wir dann nämlich dran sind. Also, was sagst du? <<
>> Klingt doch vernünftig. Aber wenn die Polizei jetzt schon in Marks Zimmer ist, was sollen wir denn dann machen? <<, fragte ich besorgt.
>> Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als sie abzulenken. Mich kennen sie leider schon, da Mark eine Akte hatte, in der ich auch nicht selten auftauche. Also musst du dich dann als Nachbarin oder etwas Derartiges ausgeben. Ich habe dir einen Hut und eine Sonnenbrille für diesen Fall mitgebracht. Dann müssen wir hoffen, dass sich die Bullen mit irgendeiner möglichst brillanten Ausrede von dir, aus Marks Zimmer locken lassen und ich schnell alles verwischen kann. Ob die Bullen dann nachher merken, dass jemand in dem Zimmer gewesen ist, kann uns ja dann egal sein, denn die Spuren sind nicht mehr da. Aber wir müssen vorsichtig sein und erst einmal hoffen, dass wir schneller sind, als die Bullen. Das könnte echt eine Herausforderung werden, vor allem, weil die Bullen heute auch die perfekte Gelegenheit haben, da Marks Eltern nicht da sind und ihnen so niemand dazwischen reden kann. Hoffen wir also auf ein perfektes Timing! Na los, lass uns gehen. Genug geredet, jetzt wird gehandelt! <<
Wir machten uns auf den Weg zu Marks Haus und mich traf schon auf der Straße der Schlag. Ein Streifenwagen. >> Oh nein! <<, sagte ich leise zu Jan, in der Angst, dass mich jemand hören könnte. Sie sind schon da! Verdammt, dachte ich. >> Jetzt bleibt uns nicht mehr viel Zeit, wir wissen ja nicht, was sie schon rausgefunden haben <<, stellte Jan sachlich fest. Er kramte in seinem Rucksack und drückte mir Hut, Sonnenbrille und einen Schal in die Hand. Er forderte mich auf, die Verkleidung anzuziehen und den Schal als Rock um meine Beine zu wickeln. Es sah völlig beschissen aus, was ich da anhatte, aber das interessierte jetzt nicht. Wichtig war nur, dass Jans Plan aufging und wir alle Hinweise auf uns vernichten konnten, kostete es, was es wollte. Da konnte ich noch so nörgeln, was ich natürlich nicht tat, aber liebend gerne getan hätte. Es brachte nichts. Da mussten wir jetzt beide durch und ich glaube, ich muss nicht erwähnen, dass das, was Jan zu leisten hatte wirklich viel schwieriger war, als das, was ich tun musste. Aber mein Kopf war leer, ich konnte mir beim besten Willen keine gute Geschichte ausdenken. Dann musste ich eben vor Ort improvisieren. Mir würde schon etwas einfallen. Für Mark, für Jan und auch für mich. Ich würde über meinen Schatten springen und einmal in meinem Leben nicht so schüchtern sein, wie ich es immer war. Das würde mich natürlich Überwindung kosten, aber soviel musste mir das ganze hier schon wert sein. Immerhin wollten wir herausfinden, was hinter dem Fall mit der dicken Akte im Polizeipräsidium >Mark Baskin< steckte. Wir gingen langsam und vorsichtig die Straße entlang. Ich hatte meine Maskerade noch nicht an, denn es war wohl besser, wenn man Marks >Nachbarin< nicht mit dem sozusagen Hauptverdächtigen dieses Falles zusammensah. Wir schlichen uns langsam weiter vor, dass uns niemand sehen konnte, der noch in dem Streifenwagen saß, wenn noch jemand drin war.
Wir standen hinter dem Baum neben dem Wagen und Jan schaute vorsichtig durch die getönten Fenster. Er gab Entwarnung. Niemand saß in dem Auto. Da hatten wir ja noch einmal Glück im Unglück. Er half mir, den Schal um meine Beine zu schlingen und setzte mir den Hut auf. Ich schob mir noch schnell die Sonnenbrille auf die Nase und meine Verkleidung war perfekt. Jan stieg langsam den Baum hinauf, um zu sehen, ob die Polizisten tatsächlich in Marks Zimmer waren. Doch er duckte sich komischerweise nicht, sondern schaute nur noch länger in das Zimmer, als würde er etwas suchen.
Ich flüsterte: >> Was ist denn los? <<
>> Es ist niemand da und auch kein Werkzeug von denen! <<, erklärte er mir überrascht.
>> Und was willst du jetzt machen? <<, fragte ich, doch er gab mir keine Antwort, sondern öffnete das angelehnte Fenster und glitt hindurch. Ich schob gleich wieder Panik, denn ich wollte mir nicht ausmalen, was passieren würde, wenn ihn jemand fände. Ich hörte keine Schritte in Marks Zimmer, so leise war Jan, doch plötzlich hörte ich Stimmen über mir. Oh nein, dachte ich. Auch das noch! Die Stimmen wurden nicht leiser, das bedeutete, dass die Polizisten in Marks Zimmer waren und Jan war auch in Marks Zimmer. Vermutlich konnte er sich noch verstecken, sonst wäre von oben wenigstens Geschrei zu hören, aber ich wusste nicht, wie lange Jan noch versteckt bleiben würde, also musste ich was tun. Ohne zu Überlegen ging ich zu Eingangstür und klingelte. Es waren mehrere Polizisten oben bei Jan, mindestens drei, wie ich gehört hatte, doch wie zu erwarten war, öffnete nur einer von ihnen die Tür.
>> Guten Tag? <<, begrüßte mich der Officer verwundert.
>> Hallo… Ehm.. Ich möchte zu Mrs. Baskin! <<, sagte ich, wie gesagt, es war ein Kurzschlussreaktion. Mir fiel nichts ein.
>> Sie ist nicht da! <<, antwortete der Mann langsam genervt.
>> Wieso sind Sie denn dann in ihrem Haus? <<, wollte ich wissen.
>> Nun ja, rechtlich gesehen, darf ich Ihnen nichts sagen, aber Sie werden es doch nicht weitersagen, nehme ich an! << Ich schüttelte den Kopf. >> Der Sohn von Mrs. Baskin starb neulich bei einem Unfall. Wir müssen das Haus durchsuchen! <<
>> Was? Mark ist tot!? <<, fragte ich mit gespielt entsetzter Miene.
>> Ja, wussten Sie das denn noch nicht? <<, fragte der Mann.
>> Nein. Wann wird denn die Beerdigung sein? <<, ich merkte, dass ich so nicht weiterkommen würde, denn es waren immer noch zwei Beamte oben in Marks Zimmer viel zu nahe bei Jan.
>> Die war schon, gnädige Frau! <<
>> Oh nein, dann habe ich … <<, ich brach ab, denn ich hatte eine Idee. Ich beschloss, dass es jetzt glaubwürdig rüberkommen könnte, wenn ich vor Schock in Ohnmacht fiele. Und genau das tat ich jetzt. Ich sackte weg. Zum Glück schlug ich nicht auf den Boden auf, denn der Polizist reagierte sofort und fing mich auf. >> Hallo, hallo? <<, ich hörte seine Stimme klar und deutlich, doch ich war ja ohnmächtig. >> Oh nein <<, hörte ich den Beamten fluchen. Er rief die anderen beiden aus dem Zimmer nach unten und oben konnte ich keine Schritte mehr hören. Es hatte also funktioniert. Die anderen beiden schauten erst einmal ratlos auf mich hinunter. >> Tut doch was! <<, rief der erste der drei. Ich hörte ein leises Rascheln der Äste des Baumes, mit dessen Hilfe Jan offensichtlich aus dem Zimmer gekommen ist. Hoffentlich war die ganze Mühe nicht umsonst und er hat wenigstens die Spuren vernichtet. Aber ich vertraue Jan einfach mal.
Wenn Jan schon wieder draußen ist, hat es für mich ja eigentlich keinen Grund mehr, noch weiter ohnmächtig zu sein. Ich versuche, eine dramatische Erwachungsszene zu inszenieren. Langsam öffne ich die Augen und schaue den Beamten, der sich über mich gelehnt hat, mit glasigen Augen an.
>> Können Sie mich hören? <<, fragte er mich.
>> Wo bin ich? <<, antwortete ich weggetreten.
>> Es geht ihr gut <<, sagte der Polizist erleichtert zu den beiden anderen. Ich richtete mich langsam auf und klammerte mich noch etwas an den Polizisten fest, damit alles theatralischer wirkte. Dann sagte ich höflich:
>> Dankeschön. Sie sind ein Geschenk des Himmels. Ich sollte wegen diesen Ohnmachtsanfällen wirklich mal zum Arzt gehen! <<, das mit diesem >Geschenk des Himmels< sagen zwar alte Leute immer, aber es schien mir in diesem Moment passend. Dann stand ich auf und ging so würdevoll wie möglich an dem Baum vorbei. Jan streckte mir den erhobenen Daumen entgegen und die Beamten beobachteten mich noch eine ganze Weile bis ich um die nächste Häuserecke verschwunden war. Dann gingen sie zurück ins Haus und ich rannte zu dem Baum zurück. Dann nahm ich meinen Hut und meine Sonnenbrille ab und gab Jan alles zurück. Auch den Schal, der eigentlich gar nicht so schlecht als Rock aussah. Jan lobte mich. Das tat gut. Er erklärte mir, dass er es geschafft habe, die ganzen Fingerabdrücke am Tresor und am Schrank wegzuwischen. Es war knapp, denn die Beamten hätten ihn fast entdeckt, als er drinnen war. Er hatte sich schnell unter dem Schreibtisch versteckt. Zum Glück hatten ihn die beiden nicht gesehen, aber sie hatten den Tresor gefunden. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie von dort die Fingerabdrück genommen hätten. Also, das nenne ich doch mal perfektes Timing. Irgendwie war ich stolz auf mich. Das war doch alles perfekt gelaufen.
Als wir bei Jan zu Hause waren, zeigte er mir, was er aus der Ausrüstung der Polizisten hatte mitgehen lassen. Das Pulver; mit dem es den Beamten möglich war, die Fingerabdrücke zu nehmen. >> Damit werden sie eine Weile länger brauchen, um irgendwas zu finden. << Er hatte nämlich die Dosen ausgetauscht. Er hatte den Schnupftabak, dessen Behälter er natürlich auch von allen Fingerabdrücken befreit hatte, statt dem anderen Pulver wieder in den Kasten der Polizisten getan. Ich musste lachen.
Trotzdem waren wir in dem Fall >Mark Baskin< noch nicht viel weiter. Wir waren sicherer, aber noch nicht weiter. Da die Aktion mit der Polizei noch weiterer Planung bedurfte, beschloss Jan, dass wir erst einmal versuchen sollten, noch irgendwelche Daten über Marks leiblichen Vater auszubekommen. Das würde uns dann vielleicht in der Hinsicht helfen, dass wir erfuhren, was damals die Beamten auf seiner Beerdigung gemacht hatten. Wo würden wir wohl was über Mr. Baskin erfahren?
>> Das Einwohnermeldeamt! <<, rief Jan auf einmal.
>> Was? <<, ich verstand gar nichts. >> Da sind doch alle Daten der Menschen! <<, erklärte Jan.
>> Stimmt, ich hab schon mal was davon gehört! <<, erinnerte ich mich, >> Und wo finden wir das? << Jan ging an seinen Computer und gab >Einwohnermeldeamt Deutschland< in Google ein.
>> Eins ist in Berlin! <<, sagt Jan, >> Da kommen wir nicht hin! <<
>> Steht da denn keine Telefonnummer? <<, fragte ich.
>> Doch, hier! << Jan nahm einen Zettel und schrieb die Nummer auf. Dann griff er zum Telefon und wählte. >> Guten Tag, hier spricht Jan Gößner. Bin ich da beim Einwohnermeldeamt? <<, er wartete auf eine Antwort, dann nickte er mir zu. Volltreffer! >> Sie besitzen doch alle Daten von den Menschen in Deutschland, oder? <<, wollte Jan von der Frau am Telefon wissen. Nach einer Pause, in der sie ihm antwortete, sagte er: >> Ein entfernter Onkel von mir mit dem Namen Baskin ist verstorben. Das habe ich eben erst erfahren. Können Sie mir vielleicht sagen, woran er gestorben ist und wann die Beerdigung stattfindet? <<, Jan konnte wirklich gut lügen. Er beschloss, dass ich auch hören sollte, was die Frau am anderen Ende der Leitung zu sagen hatte und stellte das Telefon auf Lautsprecher.
Sie fragte: >> Wie heißt denn Ihr Onkel mit Vornamen? << Shit! Das war nicht gut!
>>Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es nur ein entfernter Onkel von mir war. Ich kannte ihn nicht und meine Eltern haben nie über ihn bei seinem Vornamen gesprochen. Tut mir wirklich Leid, aber es ist ja bestimmt nicht so, dass der Name Baskin so oft vorkommt. Schauen Sie doch bitte mal nach! <<, erklärte Jan mit gespielter Verzweiflung.
>> Wo sind denn Ihre Eltern? Vielleicht können die Ihnen weiterhelfen? <<, erwiderte die Frau energisch.
>> Meine Eltern sind vor einigen Jahren bei einem Autounfall verstorben! <<, log Jan, denn seine Eltern waren natürlich noch am Leben, oder?
>> Das tut mir Leid. Ich gehe mal nach hinten ins Archiv und schaue, was sich machen lässt. <<
>> Vielen Dank! <<, sagte Jan höflich. Das Telefon wurde abgelegt und man hörte Schritte, die sich von dem Hörer entfernten.
>> Leben deine Eltern wirklich nicht mehr? <<, wollte ich von Jan wissen.
>> Doch, sie leben noch. Aber was hätte ich der Frau vom Einwohnermeldeamt denn erzählen sollen? <<
>> Da hast du auch wieder recht. << Stimmt, er hatte mir ja noch gesagt, dass sie momentan nicht zu Hause waren.
>> Schon gut! <<
>> Und dass Mr. Baskin dein entfernter Onkel ist, war doch wohl auch gelogen, oder? <<, fragte ich mit einem Grinsen im Gesicht, doch ich bekam keine Antwort auf meine Frage. Jan schaute aus dem Fenster. Vermutlich dachte er nach. Konnte ich verstehen. Es ging ihm gerade sicherlich viel im Kopf herum. Die Frau am anderen Ende der Leitung kam zurück.
>> Ich habe tatsächlich zwei Akten von verstorbenen Baskins gefunden. Eine ist von Mark Baskin… <<, ich spürte, wie Jan merklich zusammenzuckte,
>> …und die andere ist von Bernhard Baskin. Aber Sie haben gesagt, dass er vor Kurzem gestorben sei und Ihr Onkel war. Diese Informationen treffen auf keinen der beiden zu! Denn Mark ist zwar vor Kurzen gestorben, aber er ist erst 16 gewesen. Und Bernhard ist vor ungefähr einem Jahr gestorben, kann aber vom Alter her ihr Onkel sein! Es muss sich hier um einen Irrtum handeln. <<
>> Sie müssen wissen, ich habe erst vor Kurzem ERFAHREN, dass mein Onkel gestorben ist, man hat mir nicht gesagt, wann das passiert ist! Und dann denke ich, dass er Bernhard heißt, denn ich kenne Mark Baskin und der ist in meinem Alter, also ist es fast unmöglich, dass er mein Onkel ist. << Jetzt war die Frau vom Einwohnermeldeamt aber auf etwas aufmerksam geworden.
>> Sie kennen Mark Baskin? Denn sein Todesfall ist noch nicht geklärt. Ich bin keine Kommissarin, aber ich bitte Sie, wenn Sie etwas wissen, was die Polizei noch nicht weiß, dann melden Sie sich dort. <<
>> Ja, das mache ich ganz bestimmt! Aber ich möchte doch gerne etwas über meinen Onkel erfahren. Hat er denn jemanden, der sich um seine Haustiere oder sein Grab kümmert? <<
>> Nein, hier ist niemand eingetragen! <<
>> Dann sollte ich das vielleicht machen, denn immerhin bin ich ja offensichtlich der letzte Verwandte des werten Herren. Steht da vielleicht auch, dass er mal verheiratet war, bevor seinem Tod und dass er Kinder hatte? <<
>> Nein, dass muss ich ebenfalls verneinen. Tut mir Leid, aber wie wollen Sie sich denn um sein Grab kümmern? Wo wohnen Sie? <<
>> Das ist doch nicht so wichtig. Ich werde es schon hinbekommen, dass ich einmal im Monat zu dem Friedhof komme und zum Beispiel Blumen gieße oder was man in so einem Falle sonst so macht, Können Sie mir bitte sagen, auf welchem Friedhof Bernhard begraben liegt? <<
>> Das kann ich jetzt so schnell nicht finden, denn die Akte von Ihrem Onkel ist sehr dick, aber ich kann Sie anrufen, wenn ich auf etwas gestoßen bin! <<
>> Das dauert mir viel zu lange. Ich bin jung und es sind Ferien. Ich habe nichts zu tun. Sie können mir die Akte doch einfach faxen! <<, schlug Jan vor.
>> Eigentlich darf ich das nicht, aber in so einem speziellen Fall kann ich mal eine Ausnahme machen, aber Sie dürfen mit niemandem darüber sprechen und niemand außer Ihnen darf diese Dokumente in die Finger kriegen! Haben Sie das verstanden? <<
>> Ja, das habe ich! <<, Jan gab ihr die Faxnummer durch, bedankte sich und legte auf.
>> Wir haben’s tatsächlich geschafft! <<, rief ich begeistert! >> Du warst wunderbar! <<
>> Hoffentlich schickt die Frau das Zeug dann auch, sonst war alles umsonst. <<, grübelte Jan.
>> Sie wird das schon schicken, das hat sie gesagt. Leute, die bei öffentlichen Ämtern arbeiten, linken andere nicht! <<, ich versucht überzeugend zu wirken, doch ich glaube, das hat nicht hingehauen, denn Jan musterte mich mit so einem ungläubigen Blick. Auf einmal ratterte etwas unten in der Wohnung. Jan und ich sprangen gleichzeitig auf und rannten ins Wohnzimmer. Es war das Faxgerät. Die Frau hatte tatsächlich ihr Wort gehalten. Offensichtlich war es wirklich eine dicke Akte, die Marks Dad im Einwohnermeldeamt hatte. Es ratterte und ratterte und schließlich war es still. Jan drückte auf ‚Drucken‘ und es druckte. Als der Drucker fertig war und wir die Blätter zählten, kamen wir auf 34 Stück. Das war echt viel Arbeit, die wir heute noch vor uns hatten. Meinen Eltern hatte ich bis jetzt noch gar nichts von Marks Tod und der Tatsache, dass ich mit Jan schneller als die Polizei ermittelte, erzählt, aber das würde auch so bleiben. Mindestens so lange, bis wir den Fall gelöst hatten. Sonst würde mir meine Mutter sicherlich den Umgang mit Jan verbieten, wenn sie hörte, dass er sich mit Drogen auskannte, keine Eltern und ganz gewiss Dreck am Stecken hatte. Aber welchen Dreck, das wusste ich auch nicht und das müsste ich wohl auch alleine rausfinden, da ich von Jan persönlich sicher nichts erfahren würde. Also noch ein Fall mehr für mich. Vielleicht sollte ich mich wieder als die alte Nachbarin von Mark ausgeben und sagen, dass ich die Oma von Jan bin, aber das war meiner Meinung nach noch riskanter, als mit Jan zusammen an die Kleidung von Mark ranzukommen. Das würde sowieso noch ein ganz großer Akt werden und es wäre wirklich verwunderlich, wenn da alles glattliefe. Aber ich sah schon wieder schwarz. Das sollte ich mir unbedingt abgewöhnen.
Jetzt war aber erst einmal wichtig, dass wir was über Marks Vater rausbekamen, was wir noch nicht wussten. In der einen Urkunde stand, wann er geboren wurde. 1959. Das half uns nicht weiter. Hier das Todesdatum. 13.10.07. Das war länger als ein Jahr her, so wie die Frau beim Einwohnermeldeamt und auch Jan das gesagt hatten. Das musste ungefähr hinkommen. Aber was war denn das? Das waren Kopien von der Akte, die der Mann bei der Polizei gehabt hatte.
In seiner Jugend war er mehrmals schon verhaftet worden. Er war vorbestraft. Das alles wegen Diebstahls, unerlaubtem Drogen- und Waffenbesitz, schwerer Körperverletzung, aber glücklicherweise kein Mord. So, da wussten wir doch schon einiges, was er verbrochen hatte, aber einen Grund, dass die Polizei an seiner Beerdigung erschien, gab es nicht. Es stand nur noch da, dass er einige Monate vor seinem Todestag zu einer Gefängnisstrafe von 7 Jahren verurteilt worden ist, aber er ist geflohen. Mehr stand da auch nicht. Offensichtlich hat er also diese Strafe nie angetreten. Ansatzweise wäre das ein Beweis dafür, aber da musste noch etwas anderes dahinterstecken. Ich kam aber nicht drauf, was es war. Und Jan offensichtlich auch nicht. Er verstand nicht, was sein Tod mit der Polizei zu tun hatte. Immerhin hatte er sich doch selber umgebracht, mit Schlaftabletten, oder etwa nicht? Dieser Sache mussten wir unbedingt auf den Grund gehen.
Die anderen Dokumente, die in der Akte von Bernhard Baskin zu finden waren, war sein Lebenslauf, einige Bewerbungen für Arbeitsstellen als Verkäufer, die aber auch alle abgelehnt wurden. Sowie ein Fahndungsfoto, mit dem die Bullen ihn gesucht hatten, als er aus dem Knast geflohen war. Außerdem noch einige Arbeits- und Schulzeugnisse. Er hatte sogar das Gymnasium gemacht, auch das Abi, aber kein Studium. Das war wahrscheinlich auch der Grund, wieso er keinen Job bekam. Schließlich stand da noch, dass er mit 22 einen Hauptschulabschluss nachholte und eine Ausbildung zum Mechaniker machte. Dann waren da noch ein Reisepass und einige Kontoauszüge, auf denen nur rote Zahlen zu sehen waren. Man konnte auch feststellen, dass oft große Summen von seinem Konto abgebucht wurden. Das konnte nicht bedeuten, dass er Drogen vertickte, dann hätte er ja schwarze Zahlen geschrieben! Das konnte also so ziemlich alles heißen. Vielleicht verspielte er sein Geld illegal im Internet oder in einer Kneipe bei Poker oder was weiß ich was sonst noch alles. Ehrlich gesagt beunruhigte mich die dunkle Vergangenheit von Marks Vater ein bisschen, denn wenn er schon so krumme Touren gefahren war, was hatte dann Mark wohl schon alles gedreht?
Mehr interessantes war in der Akte seines Vaters jedenfalls nicht zu finden und so legten wir die Blätter erst einmal zur Seite.
>> Es muss doch bestimmt irgendein dunkles Geheimnis geben, dass die Bullen auf seiner Beerdigung waren. Das habe ich sonst noch nie miterlebt und ich war schon auf vielen Beerdigungen. Auch von Menschen, die in ihrem Leben viel Mist gebaut haben, aber noch die war die Polizei da. Dass sie ausgerechnet bei ihm war, kann gar kein Zufall gewesen sein. Da muss etwas dahinter stecken und das müssen wir rauskriegen. Vielleicht hilft uns das ja dann auch im Fall >Mark< ein bisschen auf die Sprünge! <<, sagte Jan gedankenverloren.
>> Und was sollen wir jetzt machen? Hast du eine Idee? <<, wollte ich von ihm wissen.
>> Nein, aber uns fällt bestimmt noch was ein. Was müssen wir denn noch alles erledigen? <<
>> Viel zu viel. Wir müssen noch die Kleidung von Mark herbeischaffen, weil uns das vielleicht auch weiterhelfen könnte. Dann müssen wir eben das mit Marks Vater aufdecken und noch rausbekommen, ob Mark sich wirklich selbst umgebracht hat, was wir ja offensichtlich beide nicht glauben! Vielleicht haben seine Eltern ja doch etwas damit zu tun, oder wenigstens sein Stiefvater. Sollen wir sie mal befragen, oder ist das zu auffällig? <<
>> Ich würde sagen, das ist zu auffällig, aber dass sie etwas damit zu tun haben, da könntest du schon recht haben. Aber ich verstehe nicht, wieso so Mark so etwas antun sollten. Vor allen Dingen seine Mutter. Denn wenn Mr. Heather was damit zu tun haben sollte, dann weiß seine Mutter zu 99% auch davon. Aber vielleicht hat er auch ganz geschickt gehandelt und Mrs. Baskin nichts gesagt, weil er befürchtet hat, dass sie gegen ihn aussagt. Denn ich traue Mrs. Baskin keinen hinterlistigen und cleveren Mord an ihrem eigenen Sohn zu. Das muss schon ein echter Profi gewesen sein. Aber vielleicht können wir ja rauskriegen, ob Mark von jemandem überredet wurde, diesen Sprung zu machen! <<, sagte Jan.
>> Aber das hättest du doch bestimmt gewusst, wenn Mark provoziert wurde oder etwas in der Art. Das hätte er dir sicher gesagt! Ihr ward doch beste Freunde! << Jetzt schwieg Jan. Schon wieder. Da musste doch irgendwas faul sein.
>> Was ist denn? <<, fragte ich vorsichtig.
>> Ach, nichts…! <<, sagte Jan unsicher. Es schien, als würde er mit sich ringen, ob er mir erzählen sollte, was in ihm vorging und was hinter seiner Schweigsamkeit steckte, oder nicht. Offensichtlich entschied er sich dafür, es mir nicht zu erzählen, denn er machte keine Anstalten, noch etwas zu sagen. Das würde ich aber mit der Zeit auch noch rausfinden. Hoffte ich zumindest.
Wir begannen, zu planen, wie wir an die Kleidung kommen konnten, die Mark bei seinem Sprung getragen hatte. Jan zeigte mir seine Ausweise, die er gemacht hatte und zeigte mir auch das Original im Internet. Sie sahen zum Verwechseln ähnlich aus. Nur wenn man ganz genau hinschaute, konnte man sehen, dass es keine Wasserzeichen gab, aber das würde schon nicht passieren und wenn doch, dann mussten wir uns eben spontan etwas überlegen. Sowas, wie: >> Was? Das ist nur die Kopie von meinem Ausweis! Den originalen habe ich abgegeben, weil er gerade neu angefertigt wird. << Oder sowas in der Art. Oder wir müssten uns dann verkleiden, so wie ich das schon bei unserem letzten Akt gemacht hatte und uns einen anderen Plan ausdenken. Ob das hinhauen würde, würden wir ja dann noch früh genug sehen. Also, zuerst brauchten wir einigermaßen anständige Klamotten. Jan hatte einen Anzug, aber das war dann doch nicht wirklich passend. Eine Stoffhose und ein Hemd wären für ihn eigentlich schon genug. Er konnte die Hose von seinem Anzug nehmen, aber ein anständiges Hemd, wie die Polizisten sie anhaben, wenn sie nicht gerade im Einsatz sind, das hatte er nicht. Und was zogen Polizistinnen an? Besser gesagt, Kommissarinnen. Immerhin sollten wir ja von der Unfallbehörde sein. Ich wusste auch, dass ich bei mir zu Hause so etwas, was ich jetzt brauchen würde, nicht hatte. Also blieb nur ein. Entweder wir mussten die ganze Sache abblasen, oder wir mussten shoppen gehen. Wir entschieden uns für shoppen.
Jan wohnte bei seiner Tante, wie ich erfuhr, und die war nicht gerade arm. Er nahm 110¤ aus der Haushaltskasse und fragte mich, ob ich auch etwas Geld dabeihätte. Ich schaute nach und gab ihm die 20¤, die ich noch hatte. Das würde reichen. Immerhin brauchten wir ja nur ein Hemd für ihn und eine Hose und ein Oberteil für mich. Wir gingen in den nächsten Secondhandladen. Da gab es meistens auch solche schicken Sachen. Die Verkäuferin bot sofort ihre Hilfe an, als wir den Laden betraten, da ansonsten niemand da war, doch wir lehnten dankend ab. Wir wollten ihr ja schließlich nicht erklären, wofür wir solche Klamotten brauchten. Also stöberte Jan in der Herrenabteilung und ich bei den Damen. Nach zehn Minuten kam Jan, wie Jungs nunmal so waren, mit einem Hemd. Es sah eigentlich ganz passabel aus. Ich forderte ihr auf, es anzuprobieren. Das tat er dann sogar ganz ohne Protest. Ja, das sah doch ordentlich aus. Er sagte mir, dass er zu Hause noch eine schwarze Lederjacke hatte, die er drüber anziehen könnte, weil das Hemd nur kurzärmlig war. Ich stimmte zu und er half mir, für mich noch ein Outfit auszusuchen. Er war hilfsbereit, das war ich gar nicht von Jungs gewohnt. Normalerweise stöhnten immer alle, wenn ich etwas von Shoppen sagte, aber Jan war da ganz anders. Vielleicht lag das aber auch einfach nur daran, dass er das alles für Mark auf sich nahm. Das war mir eigentlich auch recht, solange er nicht protestierte. Schließlich hatten wir beide was zum Anziehen. Ich hatte eine Hellblaue Bluse und ein schwarze Jeans. Und Jan hatte sein Hemd. Meine Jacke war ganz passabel, deshalb beschloss ich, sie über meine Bluse zu ziehen, so wie Jan seine Lederjacke über sein Hemd. Noch ein bisschen Rouge ins Gesicht und dann war es perfekt. Ich rannte schnell nach Hause und holte mein Schminkzeug. Da schauderte Jan erst einmal, als er mich mit dem riesigen Koffer zurückkommen sah. Doch ich beruhigte ihn. Zuerst machte ich mich zurecht. Ich malte mir mit braunem Kajal ein paar leichte Falten um die Augen und den Mund. Dann tuschte ich meine Wimpern und malte meine Lippen an. Anschließend band ich mir nur noch die Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen, zog die Klamotten an, die ich mir gekauft hatte und war fertig. Jan bekam ein bisschen Rouge unter die Wangenknochen, sodass diese mehr hervortraten, wodurch er älter aussah. Das war es dann auch schon mit der seiner Verwandlung. Da wir uns jetzt schon vorbereitet hatten und es erst drei Uhr nachmittags war, beschlossen wir, das Ding schon jetzt durchzuziehen, wenn wir es hinbekommen würden. Wir hatten zwar für alle Ermittlungen fast zwei Wochen Zeit, weil die Polizei auch erst dann einen endgültigen Entschluss gefasst haben würde, aber wir wollten ja schneller sein, also mussten wir uns ranhalten. Jan hatte noch zwei alte Portemonnaies von seinen Eltern. Eins gab er mir. Ich füllte etwas Kleingeld hinein und steckte meinen gefälschten Ausweis in den durchsichtigen Schlitz. Jan tat es mir gleich und wir machten uns auf den Weg zum Polizeipräsidium. Auf dem Weg dorthin probten wir, was wir sagen sollten. Wir waren von der Unfallbehörde in Obernau und hatten von dem tragischen und unerklärlichen Tod von Mark Baskin erfahren. Wir hatten uns den Bericht und die Aufzeichnungen seines Sprunges im Fernsehen angesehen und gehört, dass seine Kleidung präpariert worden war. Nur wenn wir die Kleidung untersuchten, konnten wir feststellen, ob es auch wirklich ein Unfall gewesen war, ob die Kleidung vielleicht schon so war, oder vielleicht konnten wir sogar feststellen, wer der Täter war. Dann mussten wir nur noch hoffen, dass die Polizisten uns die Geschichte abkauften und wir die Kleidung bekamen. Wenn sie aber darauf bestanden, sie selbst zu untersuchen, dann mussten wir uns was anderes einfallen lassen und einfach improvisieren. Problematisch würde es erst werden, wenn die Bullen darauf bestanden, uns in unser Labor in Obernau zu begleiten um zu sehen, ob wir wirklich solche Geräte hatten, um so etwas ausfindig machen zu können. Dann heißt es nur noch >Bye byeunseres< Alters zu Fuß unterwegs sind, vor allem weil wir ja aus Obernau kamen und das fast 50 Kilometer von hier entfernt war, aber es liefen doch keine Bullen durch die ganze Stadt und das am helllichten Tag. Außer natürlich bei Marks Haus, an dem wir, zu allem Übel auch noch vorbeimussten und von wo die Polizisten mich heute schon einmal gesehen hatten.
Als wir mal wieder vor dem Präsidium hinter einem Baum standen, dachten wir nach, wie wir den Auftritt am glaubwürdigsten gestalten sollten. Wenn die Bullen uns nun durchschauten und es in Obernau gar keine Unfallbehörde gab oder wenn es gar keine Unfallbehörde gab? Ach Quatsch, natürlich gab es eine Unfallbehörde, das hatte doch Jan vorgeschlagen und ich hatte doch beschlossen, Jan zu vertrauen. Also sollte ich mich eigentlich auch an meine Vorsätze halten! Würde schon schief gehen! Das natürlich nur im übertragenden Sinne. Wir traten aus unserem Versteck hervor und die Schiebetür öffnete sich für uns. Ich war hatte dieses Polizeipräsidium noch nie von innen gesehen. Es war einfach riesig! Unglaublich. Jan wirkte nicht beeindruckt, das bedeutete, er war schon einmal hier drin gewesen. War ja klar. Die Eingangshalle war gleichzeitig der Hauptraum. Er war so groß, wie ein halber Fußballplatz. Er hatte eine hohe Deck, die zu einer Spitze zulief. Ich hatte immer gedacht, dass dieses Gebäude zweistöckig war, aber das stimmte wohl nicht. In der Mitte des Raumes war eine Art Tresen, an der momentan keine Leute standen. Der Tresen war rund und in der Mitte saßen allerlei Polizisten an ihren Computern. Alles war total High-Tech. Sie hämmerten wie wild in die Tasten oder telefonierten mit irgendwelchen Leuten. Außerdem standen an den Wänden des Raumes, beinahe sieben Meter von dem mittleren Tresen entfernt, Bänke, auf denen aber einige Leute saßen. Sie warteten vermutlich, dass irgendein Beamter für sie Zeit hatte. Doch die schienen die Leute gar nicht zu bemerken. Jan machte keine Anstalten, sich auf eine der Bänke zu den anderen wartenden Leuten zu gesellen, sondern steuerte auf den Tresen in der Mitte zu. Auch als ich ihm zuraunte, wir müssten uns doch erst hinsetzen und warten, ließ er sich nicht beirren und ging weiter. Da dämmerte mir auch, wieso. Wir waren schließlich eine Art Kollegen von den Bullen hier. Immerhin sollten wir Kommissare spielen. Jan zückte auf dem Weg zum Tresen sein Portemonnaie. Ich tat es ihm gleich, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Er stellte sich vor einen der Beamten und räusperte sich. Er hatte wohl einen sehr schreckhaften Polizisten erwischt, denn dieser zuckte zusammen.
>> Setzen Sie sich bitte dort drüben auf eine Bank. Ich komme zu Ihnen, wenn ich Zeit habe! <<, bat er Jan. Ich wollte mich schon hinsetzen, da hielt Jan mich am Arm fest und sagte mit ruhiger und fester Stimme zu dem Beamten.
>> Wir sind von der Unfallbehörde in Obernau. << Er schlug sein Portemonnaie auf und ließ den verdatterten Polizisten kurz seinen Ausweis sehen. Ich zeigt ihm auch meinen und er musste sich erst einmal sammeln. Das merkte man ihm an seinem Gesicht an.
>> Guten Tag. Tut mir Leid, das mit eben. Was kann ich denn für Sie tun? <<, dabei musterte der Officer mich mit einem argwöhnischen Blick. Offenbar traute er mir nicht. Ich hatte ja immerhin noch nicht einmal den Mund aufbekommen. Das war nicht sehr typisch für eine Kommissarin. Jan gab mir einen leichten Schubs, was bedeuten sollte, dass ich jetzt auch was sagen muss.
Also erklärte ich: >> Wir haben von dem Tod von Mark Baskin gehört und davon, dass die Todesursache noch nicht geklärt sein soll. Können Sie uns da vielleicht weiterhelfen? <<
>> Inwiefern interessiert Sie das denn? <<, fragte der Beamte zurück.
Ich war froh, dass Jan wieder übernahm: >> Wir sind von der Unfallbehörde und wir haben uns den Bericht über Marks Sprung im Fernsehen angesehen. Es soll ein Unfall gewesen sein, aber manche Menschen sind sich sicher, dass es sich hierbei um Selbstmord handelt. Die Kleidung von Mark war präpariert. Verstehen Sie, worauf wir hinauswollen? <<
Der Beamte schüttelte en Kopf. >> Nein, ich verstehe nicht. << Ich gab Jan ein Zeichen, dass ich wieder übernahm. >> Wir wissen, dass Sie mit dem Aufdecken des Falls unter Zeitdruck stehen und wir würden uns gerne bereiterklären, Ihnen zu helfen. Dazu müssten wir lediglich die Kleidung des Opfers untersuchen und die Metallstücke, mit denen sie präpariert wurde, untersuchen. Dann könnten wir schon einiges feststellen! <<, ich fand, dass ich wirklich überzeugend wirkte und Jan stimmte meiner Meinung zu, in dem er beinahe unmerklich nickte.
>> Ich muss mal mit meinem Chef sprechen, aber ich denke, er wird auch der gleichen Meinung sein, wie ich, dass wir Hilfe gut gebrauchen könnten! Entschuldigen Sie mich bitte einen kleinen Moment! <<, sagte der Beamte. Unsere Verkleidung war nicht aufgeflogen und bis zum Schluss hatte der Beamte sogar mir die Rolle der Kommissarin abgekauft. Ich war froh, aber das durfte ich mir nicht anmerken lassen.
>> Danke <<, sagte Jan und ging zu einer bis jetzt noch unbesetzten Bank. Die anderen Menschen, die, wie es aussah, schon eine ganze Weile gewartet hatten, hatten die ganze Szene erwartungsvoll verfolgt. Offensichtlich kauften die meisten von ihnen uns die Szene nicht so ganz ab, aber glücklicherweise sagten sie nichts. Die anderen Polizisten hatten von dem allem offensichtlich gar nichts mitbekommen, denn sie telefonierten weiter oder hackten in ihre Computer. Gut so. Weniger Zeugen!
Nach zehn Minuten kam der Officer zurück, mit einer Plastikfolie in der Hand, in der man deutlich Marks Kleidung erkennen konnte. Wir standen auf und gingen zurück zum Tresen.
Der Beamte sagte: >> Mein Chef war der gleichen Meinung wie ich, aber er hat noch nie mit einer Unfallbehörde in Obernau zu tun gehabt. Er möchte Sie beide gerne mal in seinem Büro sprechen. Geradeaus und dann die zweite Tür links! << Prompt wurde es mir mulmig zumute. Er würde mit ganz großer Sicherheit noch einmal unsere Ausweise sehen wollen. Und was sollten wir dann tun? Aussichtslos, wir würden auffliegen. Doch Jan schien sich noch keine Sorgen zu machen. Siegessicher betrat er das besagte Büro. Ich trat hinter ihm ein und machte die Tür zu. Der Officer saß mit dem Rücken zu uns. Er drehte sich um und ich bekam fast einen Herzinfarkt. Es war der Beamte, der auch bei Mark zu Hause die Tür geöffnet hatte, als ich mich als Nachbarin ausgegeben hatte. Mit 100%iger Garantie würde er mich wiedererkennen. Ich hatte zwar damals eine Sonnenbrille und einen Hut aufgehabt, aber er hatte sich immerhin über mich gebeugt, um zu sehen, ob ich noch atmete. Das würde schief gehen. Jan merkte sofort, dass etwas mit mir nicht stimmte, denn er legte mir sanft die Hand auf den Rücken und schob mich voraus. Ich setzte mich in einen der beiden breiten Ledersessel. Der Chef des anderen Beamten musterte mich ganz genau von oben bis unten. Doch er ließ sich aus seinem Gesicht nichts anmerken. Also konnte ich nicht sagen, was er über mich dachte, doch ich hoffte so sehr, dass unser Schwindel nicht auffliegen würde, denn ich wusste nicht, was die sonst mit uns machen würde und ich wollte es mir auch gar nicht ausmalen. Jan setzte sich in den Sessel neben mir und auch er wurde von Officer Bohne, wie auf seinem Namensschild stand, gemustert. Wenn Jan doch bei der Polizei eine so dicke Akte hatte und sein Name in Marks Akte auch auftauchte, dann würden sie ihn doch erkennen. Doch es konnte natürlich auch sein, dass ich mir nur einbildete, dass Jan Dreck am Stecken hatte, aber das glaubte ich nicht. Ich wusste nicht was, aber irgendetwas machte mich dessen so sicher. Als Officer Bohne seine Inspektion von uns beendet hatte, schaute er auf seinen Schreibtisch. Er schien, seine Gedanken zu ordnen.
>> Sie sind also von der Unfallbehörde in …? <<, begann er.
>> In Obernau. Genau! <<, vollendete Jan seinen begonnenen Satz.
>> Richtig, in Obernau. Hatten Sie denn schon einmal mit einem ähnlichen Fall wie mit diesem hier zu tun? <<, dabei schaute er mich an. Er wollte, dass ich antwortete, doch ich wusste bei bestem Willen nicht, was.
>> Ja … Vor ungefähr zwei Jahren <<, ich riet auf gut Glück.
>> Und was ist da genau passiert? Ich kann verstehen, dass das ein Berufsgeheimnis ist, aber wir sind ja hier schließlich unter Kollegen! <<, antwortete der Beamte.
>> Nun ja. Es wurde damals ein Kind von seinem Vater zum Spaß ins Wasser geworfen, als sie an einem See waren. Der Junge war schon elf Jahre alt und normalerweise wäre auch nichts passiert, aber er tauchte nicht mehr auf und wir wussten zuerst nicht, wieso. Da haben wir dann erfahren, dass der Junge am Ufer des Sees Steine gesammelt hatte, viele Steine, und die in die Taschen seiner Badehose gesteckt hatte. Eigentlich hätte der Vater des Kindes das merken müssen, hat er aber nicht und vielleicht war es auch Absicht. Das weiß ich nicht, denn die Lösung des Falles übernahmen andere Kollegen von uns! <<, ich beendete meine mehr oder weniger glaubwürdige Erzählung und sah, wie mir Jan aus den Augenwinkeln einen bewundernden Blick zuwarf.
>> Stimmt das? <<, fragte der Officer jetzt Jan.
>> Das weiß ich nicht, ich habe es nur erzählt bekommen. Ich bin erst seit eineinhalb Jahren bei der Unfallbehörde in Obernau! <<
>> Aha <<, meinte der Polizist nur. >> Wie sind Sie denn überhaupt auf unseren Fall aufmerksam geworden? <<, fragte der Beamte.
>> Es wurde im Radio davon berichtet, als wir zufällig auf den Sender dieser Umgebung gestoßen sind. Und da wir wissen, dass bei den meisten Präsidien nur eine Frist von zwei Wochen besteht, um einen Fall zu lösen und im Radio gesagt wurde, dass die genaue Todesursache und die Absichten nicht bekannt sind, haben wir gedacht, da wir schon Erfahrung mit solchen Dingen gesammelt haben, wir könnten Ihnen unsere Hilfe anbieten! <<, Jan war richtig redegewandt.
>> Kann ich mal bitte Ihre Ausweise sehen? Ich habe nämlich noch nie von einer Unfallbehörde in Obernau gehört! <<, bat der Officer. Ich wusste doch, dass da ein Haken an der ganzen Sache war. Jan nahm ruhig und gelassen sein Portemonnaie aus seiner Hosentasche und zeigte dem Polizisten den Ausweis. Ich tat es ihm gleich. Mal wieder. Der Beamte nahm uns beiden die Ausweise aus der Hand. Oh nein! Er würde doch entdecken, dass kein Wasserzeichen drauf war und dann würde alles auffliegen, weil man uns die Geschichte mit den Kopien nicht abkaufen würde.
>> Wo sind denn die Wasserzeichen auf diesen Ausweisen? <<, da begann das ganze Übel auch schon. Das konnte ja nur schlimmer werden.
>> Tut uns Leid, aber das sind leider nur die Kopien. Die Originale liegen auf dem Präsidium in Obernau zur Neuanfertigung, weil sie nicht mehr in den besten Zuständen waren <<, Jan startete einen Versuch und man konnte ihm jetzt die Spannung leider allzu deutlich im Gesicht ansehen. Mein Gesicht zeigte sowieso Hoffnungslosigkeit. Der Officer musste also nur noch eins und eins zusammenzählen, dann …
>> Für wie bescheuert halten Sie mich eigentlich? <<, donnerte er plötzlich los, >>Ich kenne Sie, Jan! Und Sie, Sie sehen der Nachbarin von dem Opfer zum Verwechseln ähnlich. Das wird noch ein Nachspiel haben, das verspreche ich Ihnen! So leicht kommen Sie hier nicht davon. Ich lasse mich nicht verarschen. Ich habe recherchiert und es gibt in Obernau keine Unfallbehörde. So viel Schwachsinn, wie Sie ihn mir hier auftischen, lasse ich mir nicht bieten! << Okay, das war ja wirklich schlimmer, als ich erwartet hatte. Wenn er jetzt noch rausbekam, dass ich auch gar nicht die Nachbarin von Mark war, sondern ihn in der Früh auch schon an der Nase herumgeführt hatte, dann kam er doch auch sicher darauf, dass wir etwas bei Mark zu Hause wollten und dann war es egal, dass wir die ganzen Fingerabdrücke weggewischt und die Beweise vernichtet hatten. Dann waren wir dran. Wegen Betrug gegenüber der Polizei und womöglich auch noch wegen Einbruch. Hier kamen wir nicht raus, ohne dass man uns nicht auch noch Widerstand gegen die Staatsgewalt anhängen konnte. Das konnte ja noch heikel werden. Jan war mittlerweile käseweiß im Gesicht geworden, was nicht wirklich ein Wunder war. Wenn man sich vorstellte, was die mit uns jetzt alles anstellen würden. Vielleicht würden wir sogar verhaftet. Wenn wir Glück hatten, blieb es nur bei einer Verwarnung und bei einer Vorstrafe, aber das glaubte ich wohl eher nicht. Dennoch, der Betrug von heute morgen würde mit Sicherheit auffliegen, denn wer die Bullen verarscht, von dem werden die Personalien aufgenommen und dann kommen sie in die Akte. Da der Polizist Jan erkannt hatte, bestätigten mich schon meine Vermutungen und wenn Jan auch schon vorbestraft war, konnte es für ihn wirklich düster aussehen. Officer Bohne machte einen Aufruf und zehn Minuten später kamen schon drei andere Polizisten. Der Eine war der, mit dem wir anfangs geredet haben. Der sah jetzt gar nicht mehr so freundlich aus. Er schaute uns mit zusammengekniffenen Augen voller Abschaum an. Den anderen Polizisten hatten wir heute noch nicht gesehen. Und der stellte sich neben die Tür, vermutlich nahmen die Bullen an, dass wir versuchten, abzuhauen, aber das konnten wir doch jetzt sowieso vergessen. Der Chef unter ihnen, der uns eben schon zur Sau gemacht hatte, ergriff wieder das Wort: >> Ungeschoren werden Sie nicht davon kommen! Ich setze eine Freiheitsstrafe von vier Wochen auf Bewährung aus. Ihre Bewährung wird darin liegen, 100 Sozialstunden in einem Seniorenheim abzuleisten. Da ich davon ausgehe, dass Sie beide noch minderjährig sind, auch die werte Dame <<, er schaute zu mir, >> werden wir nicht vor Gericht gehen und die Freiheitsstrafe wird bei Widerstand gegen die Bewährungshelfer im Jugendgefängnis vollstreckt! Haben Sie mich verstanden? <<, wollte der Beamte wissen. Wir nickten stumm. Das war echt hart. Aber wenigstens waren wir auf Bewährung und wir würden die Sozialstunden im Altenheim schon durchhalten, obwohl ich für meinen Teil, mit alten Leuten nicht umgehen konnte, aber das würde ich dann in Kauf nehmen. Ich wusste nie, was ich mit ihnen reden sollte. Meine Großeltern waren schon gestorben, als ich noch klein war, von daher hatte ich von dieser Seite, keine Möglichkeiten, zu üben. Aber ich konnte ja auch nicht ahnen, dass ich solche Kenntnisse irgendwann einmal hätte brauchen können. Da war ich wohl etwas zu voreilig gewesen, aber das zählte jetzt nicht weiter. Der Polizist musste noch unsere Personalien aufnehmen. Natürlich auch die Adresse. Ich war schon wieder geliefert. Dann flog wohl auch meine gespielte Rolle als Nachbarin der Baskins auf. Doppelter Betrug der Staatsanwaltschaft. Ob das Folgen haben würde?
Zuerst war Jan dran. Ich musste mich zwischen die anderen beiden Polizisten auf einen Stuhl setzen, dass ich auch ja nicht weglaufen würde. Was dachten die eigentlich? Dass wir Kriminelle waren? Konnte ich mir gar nicht vorstellen, aber wahrscheinlich machten sie einfach nur ihren Job. Jan musste seinen Ausweis zeigen und der Beamte hackte alle Daten von dem Ausweis in seinem Computer. Als Jan fertig war und auch eine Unterschrift auf einem Blatt hinterlassen hatte, kam ich an die Reihe. Ich hatte glücklicherweise meinen Ausweis dabei. Daran dachte ich sonst eigentlich nie. Aber er steckte in meinem Geldbeutel und den hatte ich ja auch heute zum Shoppen gebraucht. Also nahm der Beamte auch von mir die Personalien auf. >> Soso, du bist erst 15! Und was war das dann heute Morgen? <<, wollte der Polizist wissen. Jetzt wurde es schon wieder brenzlig. Hinter mir hörte ich Jan sich räuspern. Das musste doch was zu bedeuten haben. Ich beschloss, dass es wohl heißen sollte, dass ich lügen musste.
>> Was war denn heute Morgen? <<, wollte ich scheinheilig von dem Beamten wissen. Er wirkte erst einmal verdutzt.
>> Versuch nicht schon wieder, mich zu verarschen! Ich habe wirklich genug von den Spielchen, die ihr hier mit mir spielt! <<
>> Aber was habe ich denn heute Morgen gemacht? Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen! <<, ich versuchte es immer weiter, denn wenn ich jetzt gestehen würde, wäre ich geliefert.
>> Na gut. Ich glaube dir zwar immer noch nicht, aber lassen wir das mal beiseite. Vielleicht bekomme ich ja doch noch Beweise, die dir zeigen, was du heute Morgen gemacht hast! <<, er schrieb weiter die Daten von meinem Ausweis ab. Jan räusperte sich schon wieder. Das sollte wohl ein Lob sein, aber es konnte auch soviel heißen, wie > Bist du von allen guten Geistern verlassen!? Ich wollte dir doch sagen, dass du nicht schon wieder lügen darfst! Wir haben schon genug am Hals! < Aber das war jetzt auch egal. Für den Moment war meine kleine unwahre Aktion gelungen. Der Beamte war fertig mit abtippen und auch ich musste unter Jans Unterschrift meinen Namen kritzeln. Danach begleiteten uns die beiden Polizisten nach draußen zum Tresen. Dort saßen immer noch Menschen auf den Bänken, die dort schon seit Ewigkeiten warteten, denn wir kannten ihre Gesichter noch. Der Beamte, der uns am Anfang schon begrüßt hatte und von dem wir nicht wussten, ob er uns sie Geschichte mit der Unfallbehörde abgekauft hatte, drückte jetzt jedem von uns einen Zettel in die Hand und verschwand wieder. Auf dem Zettel stand eine Adresse. Darüber stand: Seniorenheim am Brunnen. Unter der Adresse stand bei mir >Xenia Eckert, 100 Sozialstunden, Station 1< Bei Jan stand, als ich auf seinen Zettel schaute >Jan Gößner, 100 Sozialstunden, Station 3
Drittes Kapitel
Am nächsten Morgen wartete Jan bereits mit seinem Fahrrad vor seiner Eingangstür auf mich. Auf der Fahrt zum Seniorenheim waren wir beide nicht sehr gesprächig. Wir wollten uns die Energie für die Arbeit aufsparen, denn es würde ein langer Tag werden. Wir mussten um sieben anfangen und durften um fünf Uhr gehen. Das würde dann dreimal die Woche so verlaufen. Die Tage waren festgelegt. Montag, Mittwoch und Freitag. Heute war Freitag. Also mussten wir heute arbeiten und dann noch drei Wochen lang die drei Tage. Das würde eine harte Zeit werden, aber wenigstens würden wir noch Zeit haben, uns um den Fall >Mark Baskin< zu kümmern. Aber vermutlich nicht mehr nach unseren harten Arbeitstagen. Also hatten wir nur noch die Hälfte der Zeit, somit nur halb so viel Zeit, wie die Polizei. Dort konnten wir uns auch nicht mehr blicken lassen, also würden wir im Fall >Bernhard Baskin< auch nicht weiterkommen. Wir brauchten aber unbedingt die Kleidung von Mark. Alles was uns da übrig blieb, war, sie bei einer Nacht und Nebel Aktion zu klauen. Aber wenn wir da auffliegen würden, könnten wir uns nicht mehr mit einer Bewährungsstrafe wie dieser retten. Wir mussten einen Plan erst einmal überdenken. Ich schätzte, diese Bewährung im Altenheim war sozusagen eine Art Warnung gewesen. Wir hatten innerhalb von sehr wenigen Tagen einfach zu viel riskiert. Es war klar, dass etwas ins Auge gehen musste.
Als wir durch die Eingangstür des Seniorenheims traten, kam uns sofort der Geruch von Desinfektionsmittel entgegen. Der typische Geruch von Altenheimen eben. Wir gingen zur Rezeption. Es war gerade Frühstückszeit und keine älteren Herrschaften waren in der Eingangshalle. Wir hatten Glück, auch wenn ich nicht verstehen konnte, wieso manche Menschen freiwillig um sieben Uhr morgens frühstückten. Das würde ich wohl nie verstehen. Obwohl ich eigentlich ein Morgenmuffel war, hatte ich mich heute früh aus dem Bett gequält. Die Frau an der Rezeption empfing uns mehr oder weniger freundlich. In ihrem Gesicht konnte man erkennen, dass es offensichtlich nicht das erste Mal war, dass Leute hier ihre Bewährungsstrafe abarbeiten mussten. Aber sie konnte beruhigt sein, wie waren ja keine Kleinkriminellen. Aber das würde sie wohl früher oder später bemerken. Sie riss uns förmlich die Zettel aus der Hand, schaute zuerst auf die Telefonnummer unseres Bewährungshelfers und vergewisserte sich dann, dass wir auch auf den richtigen Stationen zugeteilt waren. Wie sich herausstellte, war Station 1, also da, wo ich hinmusste, die Station, wo die Leute wohnten, die noch sehr gut in Schuss waren. Mit ihnen konnte man also etwas spielen, oder sich mit ihnen unterhalten. Sie waren auch Fans von langen Spaziergängen. Jan war auf Station 3. Dort waren alle Menschen im Rollstuhl. Die konnten auch noch reden und man konnte mit ihnen alles machen, was man auch mit den Leuten auf Station 1 machen konnte. Wir waren also um Station 2, wo alle Menschen waren, die betreut werden mussten, rumgekommen.
Einige von den Schwestern, die dort arbeiteten, erklärten uns alles und gaben uns Tipps, wie wir mit den Menschen umgehen sollten. Sie schrieben uns Zimmer auf, wo Leute wohnten, um die wir uns besonders kümmern sollten, weil sie kaum Besuch bekamen. Wenn wir bei jemandem waren und uns mit ihm beschäftigten, dann sollten wir trotzdem gehen, wenn sie jemand besuchen wollte, auch wenn die Menschen sagen würden, dass wir gerne bleiben könnten, denn wir sollten allen Menschen ihre Privatsphäre lassen. Wir durften außerdem niemandem sagen, wieso wir hier waren. Wir durften sagen, dass wir ein Praktikum machten, aber wir durften nicht die Polizei erwähnen, weil manche Leute sehr schreckhaft waren und dann vielleicht Angst vor uns haben könnten. Das wollten wir natürlich vermeiden. Dann wurden wir auf unsere Stationen geschickt.
Die Schwester, die mit mir auf der Station arbeitete, erklärte mir, wer um diese Zeit noch schlief und wer Frühaufsteher war. Mit denen, die schon gefrühstückt hatten, konnte ich entweder einen Spaziergang machen oder sie fragen, was sie heute für Pläne hätten. Dann könnte ich mich mit ihnen unterhalten oder sie alleine lassen, wenn sie keine Gesellschaft wollten. Doch wenn ich mit irgendjemandem spazieren gehen wollte, durfte das nicht länger als eine halbe Stunde dauern, denn ich sollte mich mit allen Menschen ungefähr gleich lange beschäftigen, damit sie sich nicht benachteiligt fühlen würden. Die Schwester sagte mir, dass ich mir in der Zeit, in der ich hier war, angewöhnen würde, zu wem ich um wieviel Uhr gehen konnte und wer eigentlich nie Gesellschaft brauchte. Ich sollte nicht unhöflich sein und auch die Ruhe respektieren, denn viele der Menschen machten Mittagsschlaf. Dann sollte ich sie nicht stören. Mittagessen gab es für alle zur gleichen Zeit. In der Zeit konnte ich dann auch Mittagspause machen. Eine Stunde hatte ich Pause und in der Zeit konnte ich mich auch mit Jan treffen. Essen mussten wir uns selbst mitbringen, da nur die festen Angestellten in der Kantine mitessen durften. Wir sollten uns irgendwo draußen hinsetzen und durften aber zur Not auch im Wohnbereich bleiben. Vermutlich hatten die Angestellten Angst, dass wir etwas klauen könnten. Lächerlich, aber das waren wohl die Vorsichtsmaßnahmen, wenn man es mit Vorbestraften oder Kleinkriminellen zu tun hatte. Da fiel mir ein, dass ich gar nicht wusste, ob wir jetzt eigentlich vorbestraft waren. Aber wenn dieser Bewährungsjob eine Vorwarnung sein sollte, dann konnte ich ja mal schwer davon ausgehen. Das würde aber gar nicht gut bei meiner Mutter ankommen. Aber die war sowieso kaum zu Hause, weil sie einen Vollzeitjob hatte und mein Vater war noch einige Wochen auf Geschäftsreise. Hoffentlich so lange, bis wir diesen ganzen Fall abgeschlossen hatten. Dann würden beide nichts davon mitbekommen. Und immerhin hatten wir noch beinahe vier Wochen Ferien. Diese Zeit würde ich noch voll auskosten, da wir ja sowieso nie in den Urlaub fuhren, hatte ich genug Zeit, mich mit Jan zu treffen. Auch wenn der Fall seines besten Freundes abgeschlossen war, blieben wir ja immer noch Freunde. Das hoffte ich zumindest. Aber das würde sich alles noch zeigen. Zuerst musste ich mich jetzt auf meinen Job hier im Seniorenheim konzentrieren.
Ich ging in das erste Zimmer, in das mich die Schwester geschickt hatte. An der Tür stand der Name einer Frau. Das Zimmer war groß und sehr geräumig. Die Frau hieß Martha. Offensichtlich war sie eine Dame, die sich über Gesellschaft freute. Sie fragte mich sofort, was ich hier machte und fragte mich auch, ob ich zur Schule ging und in welche Klasse und ob es mir Spaß machte. Dann erzählte sie mir von ihrer Enkelin, die genauso alt war, wie ich. Sie ging in ein Internat, das ungefähr 50 Kilometer von hier entfernt war. Wir hatten wirklich viel Spaß und Martha war total nett. Sie war leider eine von den Frühaufstehern, aber ich versicherte ihr trotzdem, am Montag wieder um die gleiche Zeit bei ihr zu sein.
Dann ging ich zum nächsten Zimmer. Ich klopfte an, doch niemand bat mich herein. Da die Schwester mir gesagt hatte, dass ich mich höflich benehmen sollte, ging ich zum nächsten Zimmer. Ich würde es dort noch einmal später versuchen.
Der nächste Raum beinhaltete die gleichen Möbel wie bei Martha, doch darin wohnte ein Mann namens Bernd. Allerdings schlief er noch, als ich bei ihm klopfte, obwohl es kurz vor acht war und es nur bis um halb neun Frühstück gab. Er war deshalb weder gesprächig, noch freundlich. Jetzt hatte ich also bei meinem zweiten Zimmerbesuch schon jemanden kennengelernt, der Gesellschaft offensichtlich nicht so sehr schätzte wie Martha. Aber trotzdem fragte ich Bernd höflich, ob ich später noch einmal bei ihm vorbeischauen sollte, oder ob er am Vormittag schon andere Pläne hatte. Er sagte, dass es in Ordnung wäre, wenn ich um elf, also eine Stunde vor dem Mittagessen noch einmal zu ihm kommen würde. Ich war einverstanden und wies ihn freundlich darauf hin, dass er nur noch eine halbe Stunde die Möglichkeit hatte, etwas zu frühstücken. Er antwortete mit Ja, ja, drehte sich um und schlief weiter. Offensichtlich aß er morgens nichts.
Ich ging zum nächsten Raum. Zum Glück wohnte eine Frau darin. Doch als ich anklopfte, traf mich fast der Schlag. Eine krächzende piepsige Stimme krisch: »WAS!?«, ich wusste gar nicht, ob ich überhaupt noch in das Zimmer reingehen sollte, doch ich musste ja höflich sein, also betrat ich den Raum, in dem eine Dame namens Katrin wohnte. Ihre Stimme passte überhaupt nicht zu ihrem Äußeren. Sie war klein und zierlich. Ich schätzte, dass sie um die siebzig war, doch sie rannte im Zimmer auf und ab, wischte die Kommoden und den Tisch mit einem Lappen ab und fegte mit einem Besen durch das ganze Zimmer. So eine fitte alte Dame sah man auch nicht alle Tage. Sie bat mich nicht, mich hinzusetzen und sie sah es offensichtlich auch nicht ein, ihre Arbeit zu unterbrechen um sich mit mir zu unterhalten, also stand ich blöd im Zimmer rum. Ich fragte sie schließlich, ob ich lieber gehen sollte, doch sie sagte nein. Der Höflichkeit halber fragte ich, ob ich ihr zur Hand gehen könne, doch wieder verneinte sie. Dann wusste ich eigentlich auch nicht, was ich in diesem Zimmer noch machen sollte. Nach einer Viertelstunde hatte sie ihre Putzarbeit beendet und widmete sich nun mir.
>> Was willst du? <<, fragte sie barsch.
>> Ich wollte nur fragen, ob ich Ihnen ein bisschen Gesellschaft leisten darf, ich mache hier ein Praktikum! <<, sagte ich höflich.
>> Aha <<, sagte Katrin nur. Sie machte mir ein Zeichen, dass ich mich hinsetzen konnte, was ich nur dankbar befolgte. Dann setzte sie sich neben mich an ihren Tisch und fragte mich, ob ich später Altenpflegerin werden wolle. Ich musste dies bejahen, sonst wäre es sinnlos, ein Praktikum zu machen. Wir unterhielten uns noch ein bisschen, aber alles klang sehr gestelzt. Gar nicht so wie mit Martha, denn sie war echt eine liebe Frau, im Gegensatz zu Katrin. Katrin sprang mir zwar nicht an die Gurgel, aber sie musterte mich alle zwei Sekunden mit einem so abschätzigen Blick. Ich glaube, sie konnte mich nicht leiden, oder sie war eine von den Heimbewohnern, die nie Besuch von ihren Angehörigen bekamen, was ich diesen bei Katrin und aller Freundlichkeit, nicht verdenken konnte. Sie war wirklich ein Biest. Ich war froh, als ich eine halbe Stunde rumgebracht hatte, die sich für mich anfühlte, als wäre es ein halber Tag.
Dann ging ich wieder zum Zimmer, das vorhin leer gewesen war. Dort wohnte ein Mann namens Helmut, der jetzt sogar da war. Ich klopfte an und er bat mich sofort mit einer warmen, herzlichen Stimme herein. Ich wusste von Anfang an, dass ich mit ihm gut klarkommen würde. Er erklärte mir, dass er es überhaupt nicht leiden konnte, früh aufzustehen. Ich sagte, das ginge mir genauso. Helmut war nicht mehr ganz so fit, er lief mit einem Stock durch die Gegend, aber sein Verstand war wirklich top. Da er sich nicht anstrengen wollte mit einem Spaziergang, schlug ich vor, dass ich ein Gesellschaftsspiel holen könnte und wir ein paar Runden spielten. Er stimmte zu und sagte, dass er Memory sehr gerne mochte. Er war wirklich ein sehr netter Mann und ich hätte meinen Allerwertesten darauf verwettet, dass er sich auch mit Martha sehr gut verstand. Ich ging in den Aufenthaltsraum, wo am Nachmittag die alten Herrschaften mit ihren Verwandten zum Kaffee saßen. Jetzt war es dort leer. Ich ging zum Schrank und holte Memory heraus. Damit ging ich wieder zu Helmut. Er strahlte mich an, als ich wieder durch die Tür kam. Dann spielten wir Memory. Eigentlich verabscheute ich solche Spiele, aber mit Helmut zu spielen machte wirklich Spaß. Und wie gesagt, sein Verstand war topfit. Er konnte sich alles ganz genau merken. Im Gegenteil zu mir. Ich versagte kläglich und verlor haushoch. Irgendwann war Helmut dann schon wieder etwas erschöpft und musste sich ausruhen. Wir unterhielten uns noch und ich fand endlich einen Menschen, der mir etwas aus der Nachkriegszeit erzählen konnte. Helmut war damals in den Krieg gezogen und war einer von etwa 100 Mann, die aus seiner Gegend überlebt hatten. Er erzählte mir, wo sie sich immer versteckt hatten und sagte mir, dass er es nie übers Herz gebracht hätte, einen Menschen umzubringen. Das hatte er auch nicht getan, wofür ich ihn wirklich bewunderte, immerhin war das doch der Job der Soldaten damals gewesen. Helmut hatte einen Sohn und zwei Töchter, die ihn immer abwechselnd besuchen kamen. Sein Sohn hatte eine Tochter, aber seine Töchter hatten keine Kinder. Sie waren beide erfolgreiche Geschäftsfrauen in der Modebranche, aber sein Sohn war immer das schwarze Schaf mit den schlechten Noten unter den Kindern gewesen. Aber immerhin war er der einzige von Helmuts Kindern, der bis jetzt geheiratet hatte. Außerdem war er auch derjenige, der ihn immer mit seiner Frau und seiner Tochter besuchen kam. Man konnte deutlich hören, wie sehr Helmut sein Sohn am Herzen lag und wie stolz er auf ihn war. Ich sah auf die Uhr, die auf Helmuts Nachtisch stand und bekam einen Schrecken. Ich saß schon seit eineinhalb Stunden bei ihm. Es war jetzt zehn Uhr. Ich entschuldigte mich für die lange Störung, aber Helmut schien sich wirklich darüber gefreut zu haben, dass ich bei ihm war. Ich versprach ihm, am Montag wieder um die gleiche Uhrzeit zu kommen und dann ein anderes Spiel mitzubringen. Jetzt musste ich noch ein paar andere Leute kennenlernen. Er sagte, dass ich unbedingt mal zu Martha gehen müsste. Ich wusste es doch! Ich sagte, dass ich schon bei ihr gewesen war und er schien sich darüber zu freuen. Am Montag musste ich Martha wirklich mal über Helmut ausfragen.
Da nur noch ein Zimmer auf dieser Flurseite war, bei dem ich noch nicht gewesen war, ging ich hin und klopfte. Darin wohnte wieder ein Mann. Er hieß Gerhard. Dieses Altenheim hatte die Gewohnheit, immer nur die Vornamen der Menschen an die Tür zu schreiben. Ich klopfte und betrat auf die Bitte von Gerhard hin das Zimmer. Es war anders eingerichtet als die anderen, die ich bis jetzt gesehen hatte. Alle anderen Zimmer hatten ein Bett neben dem Fenster, einen Fernseher auf der gegenüberliegenden Seite und einen Tisch mit drei Stühlen davor. In der Mitte von jedem Zimmer lag ein großer einfarbiger Teppich und an den Wänden standen kleine Kommoden und ein großer Schrank am Fußende des Bettes.
Doch bei Gerhard war das anders. Ich wusste nicht, ob alleine, mit einer Schwester oder mit seinen Angehörigen, aber Gerhard hatte sein Zimmer komplett umgeräumt. Sein Bett stand mitten im Zimmer und sein Fernseher am Fußende davon. Rechts und links neben dem Bett standen zwei Stühle und in der Ecke stand der Tisch an dem noch ein Stuhl stand. Der Teppich hing an der Wand und auf dem Tisch lag ein Laptop. Ich war erst einmal verblüfft. Ich meine, alte Leute konnten doch keinen Laptop haben! Das war doch nicht normal. Manche Menschen konnten im Alter meiner Mutter noch nicht einmal ein Handy bedienen und Gerhard ein Laptop. Er war gerade im Bad, während ich mich im Zimmer umsah. Als er herauskam sah ich, dass er gelähmt war. Aber er konnte noch laufen. Nur sein ganzer linker Arm und auch der restliche Oberkörper auf der linken Seite waren gelähmt. Vermutlich hatte er keine Angehörigen, sonst wäre er deswegen noch nicht ins Altenheim gekommen. Er war vermutlich um die sechzig oder Ende fünfzig. Also eigentlich noch richtig jung. Er streckte mir seine Hand entgegen. >> Hallo, ich bin Gerhard Baskin <<, mich traf schon zum zigsten Mal heute der Schlag. BASKIN!? Der Typ hieß Baskin? Wir lebten in einer kleinen Stadt, das konnte kein purer Zufall sein. Das war unmöglich. Okay, ich schätzte, ich würde mir für diesen Herrn auch mehr Zeit nehmen müssen. Zuerst unterhielten wir uns ganz normal über alltägliches. Dann sagte er plötzlich: >> Du bist ungefähr in dem gleichen Alter wie mein verstorbener Neffe. Hast du etwas von dem Fall um Mark Baskin mitbekommen? << Oh mein Gott! Das war allen Ernstes Marks Onkel!
>> Sie sind sein Onkel!? <<, fragte ich ungläubig.
>> Ja, das bin ich, wieso? <<, wollte der Mann wissen.
>> Ich… ich kannte Ihren Neffen! <<, gab ich zu.
>> Ach ja? <<
>> Ja, wir waren vor einigen Jahren gut befreundet… <<, ich zögerte. Klang das glaubwürdig? Wohl eher nicht, denn Gerhard begutachtete mich mit einem wissenden Blick. Okay, egal.
>> Wissen Sie denn, was da genau mit ihm passiert ist? Ich konnte hier nur in den Nachrichten kurze Ausschnitte der Reportage sehen, weil zu der Zeit gerade eine Schwester bei mir war. <<
>> Nun ja, also ich war nicht vor Ort dabei, aber Mark soll von einer Brück gesprungen und nicht wieder aufgetaucht sein. Es tut mir wirklich leid für Sie! <<, fügte ich noch schnell hinzu.
>> Ah! Das ist schon in Ordnung, ich habe Mark leider kaum gesehen in den letzten sieben Jahren! Er hat mich nie besucht und seine Mutter, meine Schwester hat versucht, ihn immer von mir fernzuhalten. Das ist ihr auch eine Zeit lang gelungen, aber ich habe mich heimlich mit Mark getroffen. Ich hatte das Gefühl, dass er mich auch sehen wollte. Wir haben uns immer gut verstanden und viel über alte Zeiten geredet. Zu der Zeit, als sich seine Eltern getrennt haben, ist der Kontakt zwischen uns abgebrochen. Diese Geschichte hat Mark wirklich schwer getroffen. Der arme Junge tat mir wahnsinnig leid. Ich habe immer wieder versucht, bei ihm zu Hause anzurufen, aber immer ging ein Mann dran, der sich mit >Heather< meldete. Ich habe vermutet, dass Mark umgezogen ist. Aber ich wusste ja nicht, wohin. Bald darauf hatte ich einen Autounfall und wurde gelähmt. Dann bin ich hier gelandet. Ich bin mir aber sicher, dass Marks Mutter von dem Unfall mitbekommen hatte. Sie hatte aber nichts gesagt. Ich hatte also keine Angehörigen, die für mich sorgen konnten, dann haben sie mich ins Heim gebracht. Und jetzt musste ich hören, dass Mark und seine Familie die ganze Zeit über hier gewohnt haben und mein eigener Neffe tot ist. Ich werde meiner Schwester nie verzeihen, dass sie sich nicht mehr gemeldet hat. Wissen Sie vielleicht, was es mit dem Fall auf sich hat, dass sich immer jemand anderes gemeldet hat, als ich versucht habe, bei ihm anzurufen? <<
>> Ja, also, Ihre Schwester hatte schon vor der Trennung mit ihrem Mann eine Affäre und der Mann ist dann nach der Trennung von Marks Eltern zu Mark und seiner Mutter gezogen. Ihre Schwester und dieser Mann haben nicht geheiratet. Mark und seine Mutter heißen immer noch Baskin, aber der neue Mann seiner Mutter heißt Heather. Er ist vermutlich immer ans Telefon gegangen, als sie versucht haben, Mark zu erreichen! <<
>> Davon wusste ich ja gar nichts! << Gerhard schien erschüttert. Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass ich tatsächlich Marks Onkel vor mir sitzen hatte. Das musste ich Jan nachher unbedingt erzählen. Wir unterhielten uns noch ein bisschen weiter, aber ich sagte ihm nicht, dass ich dabei war, den Fall seines Neffen zu lösen. Das hatte noch ein bisschen Zeit. Es war außerdem schon wieder ganz schnell eine Stunde vergangen.
Es war elf Uhr und Bernd erwartete mich. Ich ging zu seinem Zimmer und klopfte an. Er bat mich hinein, doch er lag immer noch im Bett. Ich fragte ihn, ob er nicht aufstehen wolle, doch er verneinte das. Ich erkundigte mich, wie er sonst immer seine Vormittage verbrachte, doch er zuckte nur mit den Schultern. Er schien vergesslich zu sein. Oder er dachte einfach nur nach. Ich wusste es nicht, doch plötzlich fragte er mich, ob ich mit ihm Karten spielen wolle. Dabei schaute er mich ganz erwartungsvoll an. Dazu war ich ja schließlich hier, um mich mit den Menschen zu beschäftigen, sagte ich mir und holte die Karten aus dem Schrank, den mir Bernd zeigte. Doch er wollte nicht aufstehen, also schlug ich vor, ein Buch auf sein Bett zu legen, damit wir eine gerade Unterlage hatten, worauf wir spielen konnten. Er war einverstanden und er zeigte mir ganz neue Spiele, die ich noch gar nicht kannte. Wir waren so vertieft ins Kartenspielen, dass wir uns automatisch dabei unterhielten und plötzlich schien er sich wieder an seinen Tagesplan zu erinnern, denn er erzählte mir, was er alles für Aktivitäten besuchte. Ich hörte mehr oder weniger interessiert zu und erzählte ihm auch von meinen Schultagen. Er hatte leider keine Kinder und auch keine Enkel. Er war einsam, seit seine Frau vor zwei Jahren gestorben ist. Er tat mir wahnsinnig leid, denn er war wirklich ganz in Ordnung. Wenn er müde war, war er unerträglich, so wie Katrin immer, doch je später es wurde, desto mehr taute er auf, so wie Helmut. Also war er eigentlich eine gute Mischung der beiden. Doch wie sich rausstellte, war er tatsächlich vergesslich, denn kurz vor 12 klopfte eine Schwester an seine Zimmertür und sagte, dass es Zeit zum Mittagessen sein würde und er schaute sie nur mit einem leeren Blick an, als würde er nicht verstehen, was sie nun von ihm wolle. Die Schwester forderte mich mit Eisesmiene auf, ihn zum Essen zu begleiten. Offensichtlich waren hier alle so schlecht auf mich zu sprechen, außer den alten Menschen, aber die wussten ja auch nicht, weshalb ich hier war. Ich halb also Bernd, aufzustehen und sah seinen Rollator in der Ecke stehen. Ich holte ihn und er stützte sich darauf. Dann gingen wir aus dem Zimmer hinaus zum Aufzug. Dort warteten schon einige andere Bewohner des Heims darauf, dass sie nach unten fahren konnten, doch es waren auch einige unbekannte Gesichter unter ihnen, aber ich würde sie ja heute noch alle kennenlernen. Ich wusste nicht, ob mich eher darauf freuen sollte, oder das, was Jan und ich getan hatten, verfluchen sollte. Denn das hatte mir ja das alles hier eingebrockt, aber immerhin hatte ich den Onkel von Mark kennengelernt, der uns bestimmt weiterhelfen würde. Doch das musste wohl noch ein bisschen warten, weil ich ja erst am Montag wieder zu ihm kommen würde. Bis dahin mussten Jan und ich weiterhin verdeckt ermitteln und dieses Mal möglichst so, dass wir wirklich nicht erwischt werden konnten. So etwas, wie jetzt, durfte uns nicht mehr passieren, unter keinen Umständen. Im Speisesaal saßen schon alle anderen Menschen der Stationen 1 und 2. Jan war auch da. Ich winkte ihm vorsichtig zu, doch nicht vorsichtig genug, denn eine Schwester brachte das auf die Idee uns allen Menschen vorzustellen. Besser gesagt, wir mussten uns selbst vorstellen und wir mussten uns als Praktikanten ausgeben, damit die Senioren keine Angst vor uns bekamen. Ich entdeckte Gerhard unter den anderen und zwinkerte ihm zu. Er lächelte zurück. Wir hatten uns verstanden. Jan wollte wissen, wem ich denn zugezwinkert hatte und ich versprach, es ihm nachher zu erzählen. Als wir unsere glorreiche Vorstellung beendet hatten und die Senioren uns nur noch verständnislos musterten, gingen wir nach oben auf meine Station, da Jans ganz oben war. Jan hatte sich drei Butterbrote geschmiert. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er die alle essen würde, doch ich behielt Unrecht. Er verdrückte alle drei Brote schneller, als ich mein eines. Jetzt wollte er erst einmal von mir wissen, wie mein Tag bis jetzt war. Also erzählte ich ihm von allen alten Menschen der Reihe nach. Die Geschichte von Katrin schmückte ich ein bisschen sehr aus und stellte sie als absolute Hexe dar. Was soll’s, dachte ich mir. Dann kam ich zu Helmut und sagte ihm, dass er und Martha bestimmt mal ein Paar werden würden, da er sehr oft von ihr geredet hatte. Und dann kam der Höhepunkt meiner Erzählung: Gerhard Baskin. Jan bekam seinen Mund gar nicht mehr zu, so erstaunt war er über das, was ich ihm da alles sagte. Immerhin würden wir dann im Fall Bernhard Baskin weiterkommen, da Gerhard bestimmt wissen würde, was die Bullen auf der Beerdigung seines Schwagers gemacht hatten. Vermutlich war er ja auch da gewesen. Ich war mir nämlich nicht mehr sicher, ob er mir dazu etwas gesagt hatte. Die Vergesslichkeit von Bernd war ansteckend. Ich würde ihn noch einmal fragen. Ich erzählte Jan aber, dass Gerhard am Anfang gar nichts davon wusste, dass sein eigener Neffe tot war und dass seine eigene Schwester jahrelang den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte. Das musste doch auch einen Grund gehabt haben, dachte ich zumindest. Immerhin war es nicht normal, dass der Onkel eines Jungen aus dem Fernsehen erfahren musste, dass dieser Junge bei einem >Unfall< ums Leben gekommen war. Es schien mir in diesem Fall noch einiges faul zu sein und es musste ebenfalls einen Grund haben, dass Bernhard Baskin damals nicht seinen eigenen Namen behalten hatte, sondern den Namen seiner Frau übernommen hatte. Normalerweise war das ja auch andersrum. Vielleicht wollte Mrs. Baskin nicht, dass man sich an seinen ursprünglichen Namen erinnerte, weil er irgendwelche schwarzen Schafe in der Familie hatte, die auch den Namen trugen oder dass irgendein Krimineller auch seinen Nachnamen hatte und Mrs. Baskin wollte nicht mit so jemandem in Verbindung gebracht werden. Das war alles ganz uns gar nicht normal, aber was war das in diesem Fall schon. Jan grübelte mit mir und wir kamen zu dem Schluss, dass ich am Montag auf jeden Fall noch einmal mit Gerhard Baskin über seinen Schwager reden sollte. Vielleicht konnte er mir ja doch irgendetwas sagen. Aber Jan und ich würden uns am Wochenende auch noch einmal treffen und im Internet recherchieren. Irgendwo musste man doch eine Seite mit Schlagzeilen finden. Denn es war meiner Meinung nach, schon eine Schlagzeile wert, dass auf einer ganz gewöhnlichen Beerdigung plötzlich Bullen auftauchten. Dazu würden wir am Samstag dann alle Zeit der Welt haben. Wir trafen uns ja sowieso jeden Tag.
Dann berichtete Jan noch, wie es ihm auf seiner Station ergangen war. Das war im Vergleich zu dem, was ich erlebt hatte wirklich nicht Spannendes. Aber einer der Bewohner, hatte zum Frühstück etwas gegessen, was er nicht vertragen hatte und musste sich dann übergeben. Unglückerlicherweise saß Jan zu diesem Zeitpunkt genau in seiner Schusslinie. Deshalb ergoss sich dann Erbrochenes in einer undefinierbaren Farbe über ihn, wie er mir erzählte. Deshalb trug er jetzt ein weißes Hemd, das alle Angestellten im Heim anhatten. Die Mittagspause ging viel zu schnell rum. Kaum hatten wir uns ein bisschen über den bisherigen Verlauf unseres Arbeitstages ausgetauscht, war es auch schon ein Uhr und wir mussten zurück zu unseren Stationen. Auf mich warteten noch vier andere Zimmer, doch Jan traf es richtig hart. Er musste bei einem Spielnachmittag zusammen mit einer Schwester, die ihn gar nicht ausstehen konnte, wie er vermutete, die Aufsicht führen und den Alten erklären, wie man >Mensch ärgere dich nicht< spielt. Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Jan war sonst eigentlich nicht der Typ, der was von Gesellschaftsspielen hielt und im Allgemeinen passte er nicht ins Seniorenheim hinein, doch ich dachte das Gleiche auch noch vor ein paar Stunden von mir selbst und ich hatte auch da meine Meinung geändert. Vielleicht würde die Arbeit hier uns so viel Spaß machen, dass wir uns auch in unserem späteren Berufsleben mit sowas beschäftigen wollten. Man konnte ja nie wissen und es war gut, wenn man schon früh anfing, verschiedene Optionen durchzugehen. Und das taten wir ja gerade bei unserem unfreiwilligen Praktikum. Das sagten uns die Lehrer ganz oft in der Schule, dann würden wir jetzt einmal auf sie hören.
Jan machte sich auf den Weg nach oben auf seine Station und ich wartete noch ein bisschen an dem Tisch, an dem wir gesessen hatten, bis alle Bewohner eingetrudelt waren und ich weiteren Hausbesuche abstatten konnte.
Die erste Dame, die nach oben kam und in ihr Zimmer ging, hieß Rosa. Sie hatte blond gefärbtes Haar, dass zu einer Dauerwelle gedreht war, was sie vermutlich jünger machen sollte. Darüber konnte man ja nun denken, was man wollte. Schließlich war ich nicht hier, um Menschen zu beurteilen. Außerdem hatte Rosa eine Hornbrille mit feuerrotem Gestell auf der Nase. Die Hornbrille war viel zu riesig für ihre kleine zierliche Stupsnase. Aber ansonsten schien Rosa total durchschnittlich zu sein. Ihr Zimmer war wie das, jedes anderen hier, mit der Ausnahme von Gerhard und ihre Kleidung war auch ihrem Alter entsprechend. Doch die meisten Frauen in ihrem Alter waren eher rundlich. Das traf auf sie ganz und gar nicht so. Sie war auch überdurchschnittlich groß, also rank und schlank. Eine merkwürdige, aber doch schöne Mischung für eine Rentnerin. Als ich ihr Zimmer betrat, empfingen mich sofort wunderschöne Bilder, die an den Wänden hingen. Einige zeigten verschiedene Blumen, auf anderen konnte man Landschaften sehen. Das war alles sehr beeindruckend.
>> Haben Sie die denn selbst gezeichnet? <<, wollte ich von Rosa wissen.
>> Ja, das habe ich. Gefallen sie Ihnen? <<, antwortete sie.
>> Natürlich, sie sind wunderschön. Sie haben großes Talent! <<, bekräftigte ich.
Das war es dann für den Anfang an Gesprächsstoff. Ich war fürs Erste damit beschäftigt, alle Bilder unter die Lupe zu nehmen und danach zeigte sie mir auch, woran sie im Moment arbeitete und wo die ganzen Bilder, die sie an der Wand hängen hatte, entstanden waren. Ich konnte mir eigentlich noch nie richtig vorstellen, dass auch ältere Menschen mal jung gewesen waren und das gleiche oder ein ähnliches Leben geführt hatten, wie die, die dieses Leben jetzt mit mir lebten, also die, die in meinem Alter waren. Und ich konnte mir außerdem nicht vorstellen, wie die Zeiten waren, als Menschen wie Rosa und die anderen, die ich hier schon kennengelernt hatte, gelebt hatten. Doch ich würde mich nach drei Wochen hier im Seniorenheim vielleicht doch ein bisschen besser in ihre Lage damals hineinversetzen können. Ich redete mit Rosa hauptsächlich über ihre Kunstwerke und ob ich auch gerne zeichnete. Ich verneinte dies, mit Bedauern. Doch sie bestand darauf, dass ich etwas zeichnen sollte. Ich wusste nicht was und sie schlug vor, dass ich eines ihrer Gemälde abzeichnen sollte. Damit war ich einverstanden und ich gab wirklich mein Bestes, doch in Kunst war ich eine echte Niete. Sie fand das gar nicht so schlecht, was ich zustande gebracht hatte, aber in ihren Augen konnte man Verwunderung sehen. Vermutlich konnte man auf Anhieb nicht mal erkennen, was meine Zeichnung darstellen sollte. Sie sagte außerdem, vermutlich nur um mich aufzubauen, dass es viel schwerer sei, eine Zeichnung abzuzeichnen und nicht das Original. Aber man sah ihr auch da wieder an, dass sie selbst nicht glaubte, was sie da sagte. Aber ich sah das Ganze nicht als Beleidigung, sondern nur als Objektive Kritik. Und ich fand ehrliche Kritik immer noch besser, als Geschmeichel. Doch was ich wirklich total süß von Rosa fand, war, dass sie anbot, mir Zeichenunterricht zu geben. Das fand ich wirklich reizend. Und natürlich willigte ich ein. Doch heute hatten wir keine Zeit mehr. Ich war schon eine Stunde bei ihr und ich musste noch drei anderen Menschen in ihrem Gang Gesellschaft leisten. Wenn ich bei jedem eine Stunde sein würde, hätte ich doch mal einen geordneten Zeitplan. Bis jetzt war auch die einzige schlechte Erfahrung, die ich hier gemacht hatte, eine Dame namens Katrin. Berühmt und berüchtigt, zumindest bei ihrer Bekanntschaft und Verwandtschaft, sonst würde man sie ja besuchen. Doch ich war ja jetzt bei Rosa, noch zumindest. Ich verabschiedete mich also und freute mich schon auf meine Zeichenstunde am Montag.
An der nächsten Tür stand der Name Georg. Wieder ein Mann. Ich klopfte, doch niemand antwortete mir. Stattdessen wurde die Tür von innen aufgerissen und ein alter Herr mit Halbglatze und weißen Haaren steckte seinen runden Kopf durch den Spalt. Ich bekam zuerst einen richtigen Schock, doch dann fing ich mich wieder. Georg grinste mich an. Offensichtlich hatte er mitbekommen, dass ich zurückgezuckt war. Das schien ihn zu amüsieren. Na ja, solange die Leute hier mit mir ihren Spaß hatten, hatte ich meine Arbeit auch erledigt. Georg machte die Tür ganz auf und ich wunderte mich, dass zu diesem kugelrunden Kopf ein großer gertenschlanker Körper gehörte. An seiner Wand hingen allerlei Medaillen und er hatte eine extra Kommode, auf der sich Pokale und andere Trophäen türmten, die zeigten, dass Georg früher einmal Marathon gelaufen war. Offensichtlich war er dabei sehr erfolgreich gewesen. Denn es waren alles goldene Trophäen, deshalb vermutlich auch seine schlanke Gestalt.
Nachdem wir den üblichen Small- Talk hinter uns hatten, begann ich ihn über die Preise auszufragen. Er erzählte mir die ganze Geschichte seiner Karriere. Vom Anfang in einem winzigen Dorf in der Nähe von Hamburg. Ich kannte den Namen des Dorfes nicht und es hatte auch nur um die 300 Einwohner, wie Georg erzählte, doch da begann seine Karriere. Das war doch meistens die übliche Story für einen guten Film. Da beginnen doch auch immer alle großen Erfolge in einem winzigen Ort, den niemand kennt. Also konnte man sagen, das war ein klassisch unrealistischer, aber oft verfilmter Karrierestart. Immerhin. Und das, was danach kam, also in Georgs Karriere war auch das, was man so aus einem dieser Filme entnehmen konnte. Er suchte sich einen Verein und machte bei kleinen Wettkämpfen mit, die er natürlich alle gewann. Bei einer Landesmeisterschaft waren dann auch Scouts von größeren Sportvereinen. Zwei von ihnen entdeckten das große Talent, das in Georg steckte und fragten ihn, ob er ihnen beitreten wolle. Doch er lehnte, zum Schock aller, ab. Natürlich war der Grund dafür, dass er abgelehnt hatte, eine Frau. Die wohnte zu der Zeit nämlich auch in dem kleinen Dorf und war gerade mitten in einem Studium und der Verein hatte seinen Sitz ungefähr 400 Kilometer von dem Ort, wo sie studierte, entfernt. Also blieb Georg bei ihr und lief weiter bei dem kleinen Verein, doch weiter als eine Landesmeisterschaft ging es von dem kleinen Verein nicht. Als er und seine Freundin dann das Studium beendet hatten und sie beide beschlossen zusammenzuziehen, brauchten sie natürlich Arbeit. Also zogen sie nach Hamburg. Dort hatte Georgs Freundin einen Job als Apothekerin, wo sie auch viel verdiente und Georg selbst fand einen großen Verein, wo er sich aber erst mal wieder von ganz unten hocharbeiten musste. Das fiel ihm aber nicht sehr schwer. Und ab dann ging es nur noch steil bergauf mit seiner Karriere. Er nahm auch an der Europameisterschaft teil und hatte immer mehr Erfolge. Bis er schließlich nach zwanzig Jahren Hochleistungssport seine Karriere beenden musste, weil er sich das Wadenbein brach und das gleich zweimal hintereinander. Beim zweiten Mal verbot ihm dann der Arzt, noch weiter zu laufen. Doch in der Zeit hatte er schon so viel erreicht, wie viele Menschen in ihrem ganzen Leben nicht. Dann war er um die vierzig und wollte noch nicht in Rente gehen. Da er als Junge schon Abitur gemacht hatte, beschloss er, Apotheker zu lernen, um seine Frau, die er in der Zwischenzeit geheiratet hatte, in der Apotheke zu unterstützen. Bis er dann mit 60 in Rente ging und sich leider auch von seiner Frau trennte. Die beiden hatten zusammen zwei Kinder. Zu denen pflegte Georg heute noch sorgfältig den Kontakt. Er hing wirklich sehr an ihnen und sie kamen ihn auch regelmäßig besuchen. Das Mädchen der beiden lebte in der Nähe ihrer Mutter und berichtete Georg ab und zu, wie es seiner Exfrau ging. Sie telefonierten nur selten miteinander, doch sie waren keine Feinde, sondern Freunde geblieben, was ich sehr rührend fand, da ich auch der Meinung war, dass man nicht im Hass aufeinander auseinander gehen sollte…
Ob das bei Mark und mir damals so gewesen war, konnte ich jetzt nicht beurteilen. Aber darüber wollte ich im Moment auch gar nicht nachdenken. Schließlich war ich ihm immer noch etwas schuldig. Immerhin war ich damals der festen Überzeugung gewesen, dass er mich nicht geliebt hatte, doch da lag ich falsch. Also musste ich jetzt so schnell wie möglich den Fall seines mysteriösen Todes auflösen.
Die eine Stunde war schon wieder wie im Flug vergangen und ich musste zum nächsten Heimbewohner. Ich verabschiedete mich von Georg und trat hinaus auf den Flur, aber nicht, ohne noch einen bewundernden Blick auf all seine Errungenschaften zu werfen, auf die er vermutlich auch mächtig stolz war, was ihm auch ohne Frage gegönnt war.
Die nächste Tür war mit komischen Mustern bemalt. Aber ich war mir sicher, dass ich solche Muster schon einmal irgendwo gesehen haben musste, doch ich wusste nicht mehr wo. Ich klopfte vorsichtig an die Tür und eine glockenhelle Stimme bat mich, einzutreten. Mich traf mal wieder an diesem Tag fast der Schlag. Irgendwie war diese Flurseite nicht normal. Jeder, der hier wohnte hatte irgendein Talent oder abstruses Hobby. So auch Katharina, die hier wohnte. Das ganze Zimmer war mit allerlei Tüchern behängt, in den verrücktesten Farben, die ganz und gar nicht zu alten Damen passten. Doch zu Katharina passte diese ganze Aufmachung sogar sehr gut, denn sie war auch so angezogen. Als ich heute Mittag im Speisesaal war, hatte ich sie allerdings noch nicht gesehen und sie war auch niemand von denen, die am Aufzug gestanden hatten. Doch ich habe vielleicht vergessen zu erwähnen, dass eine der beiden, die ich am Aufzug noch nicht gekannt hatte, Rosa war. Der andere Herr war vermutlich der, den ich als nächstes besuchen würde. Ich wusste nicht, ob ich mich auf ihn freuen sollte, denn ich konnte erkennen, dass etwas mit seinen Augen nicht stimmte und seine Mundwinkel waren nach unten gerichtet, aber jetzt musste ich mich erst einmal auf Katharina konzentrieren. Entweder sie war totaler Fan vom Orient, weil da auch alle so rumliefen, oder sie war eine von diesen Esoteriktanten. Mit solchen Menschen wusste ich überhaupt nicht umzugehen, weil ich nicht an Tarotkarten und so etwas glaubte und Menschen, die das als Beruf womöglich machten, total besessen von dem Krimskrams waren. Das konnte ich wirklich nicht verstehen, denn ich war der Meinung, dass die Zukunft in der Gegenwart noch nicht festgelegt war, also konnte man auch nicht bestimmten, anhand von Karten, was passieren würde. Es würde wahrscheinlich einige Zufälle geben, aber das war dann auch schon alles. Doch ich hatte Pech. Katharina war nicht nur am Orient im Allgemeinen interessiert, sondern sie war total verrückt nach Wahrsagungen und so. Sie bestand natürlich darauf, in ihre Glaskugel zu schauen, mir die Karten zu legen und mir zu sagen, was in absehbarer Zeit oder in entfernter Zukunft auf mich zukommen würde. Na, da war ich ja mal gespannt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendetwas, was sie sehen würde auch nur ansatzweise mit der Wahrheit übereinstimmte. Doch schon wieder hatte ich voreilige Schlüsse gezogen, ohne etwas zu wissen. Zuerst beschloss sie, mir die Karten zu legen. Ich kannte mich damit nicht aus. Zuerst mischte sie ihre Karten, die sie komischerweise auf ihrem Nachttisch liegen hatte. Dann verteilte sie sie auf drei Stapel und mischte jeden Stapel einzeln. Dann wieder alle zusammen. Das war wirklich eine aufwändige Prozedur. Danach verteilte sie die Karten der Reihe nach auf dem Tisch. Drei Reihen mit je drei Karten. Die übrigen Karten legte sie auf die Seite. Man schien also nur neun Karten zu brauchen. Dann holte sie einen zusammengefalteten Zettel aus der Schachtel mit den Tarotkarten heraus. Auf dem konnte ich die neun Felder aufgezeichnet sehen und bei jedem Feld stand, für welches Thema die jeweilige Karte stand. In der Reihenfolge von oben links: Liebe, Treue, Freunde, Erfolg, Glück, Beruf, Streit, Komplikationen, Zukunft. Katharina begann nacheinander die Karten umzudrehen und jede einzelne zu kommentieren. Offensichtlich war sie mit den ersten fünf Karten sehr zufrieden. Die mussten also was Gutes bedeuten, aber die anderen fünf Karten sahen alle düster aus und die letzte Karte hatte komische Symbole. Ich glaubte, das eine sollte einen Teufel darstellen. Also würde meine Zukunft laut der Karten wohl nicht so rosig aussehen. Aber wenigstens war bei Liebe eine Karte, die doch sehr vielversprechend war. Zwei Herzen, die zu einem verschmolzen. Ich fragte Katharina, was das bedeutete und sie sagte, dass ich bald meine große Liebe finden würde. Natürlich wollte ich wissen, ob sie mir auch sagen konnte, wer das denn war, aber das wusste sie nicht. Dann musste ich das wohl auf mich zukommen lassen. Wenn ich meine große Liebe aber noch finden würde, dann konnte es nicht Jan sein, so viel stand doch von vornherein schon einmal fest. Aber ich glaube, ich hätte mich auch nicht wohlgefühlt, mit dem besten Freund meines toten Exfreundes zusammen zu sein.
Nachdem Katharina mir die Tarotkarten gelegt hatte und ich nun wusste, wie es in meiner Zukunft aussah, wollte ich gerne auf das Wahrsagen mit der Kugel verzichten und versprach ihr, dass sie mir ja am Montag zeigen könne, wie man sowas macht. Ich versuchte sie davon zu überzeugen, dass mich Esoterik wahnsinnig interessierte, doch ihrem Blick zufolge, glaubte sie mir nicht. Da das Legen von den Tarotkarten so lange gedauert hatte, war die eine Stunde schon wieder rum und ich wusste ja schon, auf was ich mich am Montag bei Katharina freuen konnte.
Als ich an der nächsten Tür klopfte, bat mich der Herr, der dort wohnte nicht hinein, er fragte:
>> Wer ist da? <<
>> Hier ist Xenia Eckert. Ich bin hier Praktikantin! >>
Dann konnte ich hören, wie sich der Zimmerschlüssel im Schloss drehte. Dieser Kerl schloss sich hier allen Ernstes ein. Und wenn was passieren würde? Dann könnten die Schwestern nicht in sein Zimmer! Aber war das wirklich mein Problem? Für die Tage, in denen ich hier war, schon. Also, sollte ich ihn überreden, das zu lassen oder sollte ich schon zu einer Schwester gehen und ihn melden? Nein, das wäre nicht richtig. Jeder Mensch hat doch ein gewisses Recht auf Privatsphäre. Also trat ich erst mal in das Zimmer von Erwin. Er hatte sich mittlerweile auf einen Stuhl an seinem Schreibtisch gesetzt und sah mich erwartungsvoll an. Jetzt sah ich auch seine Augen. Das linke Auge war ganz normal, mit Pupille, Iris und was alles dazugehört, aber das rechte Auge war nur eine Glasplatte. Ich konnte es nicht fassen. In so vielen Geschichten wurde immer von Menschen mit Glasauge berichtet und ich hatte noch nie so jemanden gesehen. Und jetzt hatte ich Erwin kennengelernt und er war genauso, wie die Geschichten die Männer mit Glasaugen beschrieben. Er sah aber noch nicht so alt aus, wie die anderen Männer, die hier wohnten. Meines Erachtens war er erst so um die 60. Er trug ein Flanellhemd und eine Jogginghose. Ziemlich merkwürdige Kombination, aber das war wohl Geschmackssache. Als er sprach, konnte ich erkennen, dass er noch kein Gebiss, sondern seine richtigen Zähne hatte. Seine Gestalt war groß und bärig. Solche Menschen waren echt lieb. Ich hatte mal einen entfernten Onkel, der genauso war und immer wenn er mich in den Arm genommen hatte, habe ich mich so sicher gefühlt, als könnte mir niemand etwas tun. Doch dann ist auch er gestorben.
Erwins Zimmer war wie alle anderen und auch sonst konnte ich nichts erkennen, was ihn anders machte, außer seinen Augen natürlich, aber ich wusste nicht, ob ich ihn darauf ansprechen konnte. Andererseits wusste ich auch nicht, was ich sonst mit ihm reden sollte. Nach einer Weile des Schweigens, durchbrach Erwin plötzlich die Stille: >> Sie fragen sich doch sicher, wie es passiert ist, oder? <<
>> Wie was passiert ist? <<, ich war von der Tatsache, dass wir nicht mehr schwiegen, etwas verwirrt.
>> Na, das mit meinem Auge!“
>> Woher wissen Sie denn das? Es tut mir wirklich leid, wenn ich Sie komisch angeschaut habe…! <<
>> Nein, das haben Sie nicht. Aber erstens, haben wir keinen Gesprächsstoff und zweitens interessiert so eine spannende Geschichte, wie ich sie zu erzählen habe doch jeden! <<, unterbrach er mich.
>> Okay, ich würde schon echt gerne wissen, wie sowas passieren kann, denn die Geschichten in Büchern sind meistens sehr unrealistisch! <<, lachte ich.
„Du liest für ein Mädel aber ganz schön komische Bücher! <<, er lachte mit.
Und dann begann er zu erzählen.
>> Als ich noch ein kleiner Junge war, habe ich mit Bogenschießen angefangen. Das habe ich wirklich eine lange Zeit gemacht. Natürlich habe ich auch an vielen Wettkämpfen teilgenommen und was man eben so macht…<<
Ich war mir nicht sicher, ob ich die Geschichte weiterhören wollte. Deshalb unterbrach ich ihn und sagte, dass ich auf solche Geschichten gar nicht stand. Er lachte nur, aber er tat mir den Gefallen und beendete seine Schauergeschichte. Aber das war schon wirklich ein Ereignis, denn ich war mir sicher, dass er sein Auge beim Bogenschießen verloren hatte und das stellte ich mir wirklich widerlich und schmerzhaft vor. Ich wollte doch nicht weiter darüber nachdenken! Manchmal schweiften meine Gedanken wirklich in Richtungen, die ich von meinem Hirn fernhalten wollte. Das musste ich mir echt abgewöhnen.
Erwin schlug vor, dass wir einen Spaziergang ums Haus machen konnten und ich war einverstanden. Ich war nämlich heute noch nicht an der Luft gewesen und ich hatte noch eine halbe Stunde Zeit. Dann war es dreiviertel fünf und ich musste zu der Schwester, die für diese Station zuständig war, damit sie mir sagte, ob ich mich heute schon gut gemacht hatte oder nicht.
Draußen war es mittlerweile warm und die Sonne stand mitten am Himmel. Es war Frühling und die Blumen versuchten sich gegenseitig an Schönheit zu übertreffen. Aber ich glaubte, dass Erwin nicht der Typ Mensch war, der so etwas stundenlang bewundern konnte. Da waren doch dann schon eher Frauen wie Martha dafür geeignet oder auch Rosa, die die Blumen dann gleich zeichnen könnte. Trotzdem machte der Spaziergang mit Erwin Spaß, weil er echt ein Mann mit Humor war. Er fragte mich alles Mögliche zu meinem Leben in der Schule und auch er durchschaute, dass ich nicht wirklich ein Praktikum hier machte. Ich erfuhr, dass schon viele Jugendliche in meinem Alter hier waren, weil sie ihre Sozialstunden ableisten mussten und die wurden auch alle als Praktikanten vorgestellt. Mittlerweile wussten sehr viele von den Heimbewohnern, was abging. Oder zumindest die Männer. Erwin sagte, dass die Frauen hier im Seniorenheim noch sehr gutgläubig waren. Ich fragte ihn, mit welchen Frauen er denn am meisten zu tun hatte, doch er sagte, dass er die meisten nur beim Essen sehen würde. Ich wusste nicht so genau, ob ich ihm das glauben sollte.
Doch er erzählte mir von Katharina, die schon im Heim war, bevor Erwin kam. Und sie wollte ihm auch immer wieder die Karten legen und seine Zukunft vorhersagen. Die ersten Male hatte er es über sich ergehen lassen, doch mittlerweile hatte er keine Lust mehr und auch keine Angst mehr, ihr das zu sagen. Sie hatte sich damit abgefunden. Ich erzählte Erwin, dass sie mir auch die Karten gelegt hatte und was alles dabei herauskam. Er lachte nur, denn glücklicherweise gehörte er auch zu der Sorte Mensch, die nicht an so einen Unfug glaubten.
Erwin schien sehr neugierig zu sein und so wollte er wissen, ob ich alleine hier war oder ob der junge Mann auf Station 3 auch zu mir gehörte. Ich antwortete wahrheitsgemäß, da es sowieso keinen Sinn gehabt hätte, Erwin täuschen zu wollen. Er wollte wissen, was wir denn so schreckliches getan hatten, damit man uns so viele Sozialstunden aufbrummte, aber das konnte ich nun wirklich nicht sagen. Nicht, weil ich Angst hatte, dass auch andere Heimbewohner davon erfuhren, sondern weil ich ja mit Jan verdeckt ermitteln wollte. Zum Glück hakte Erwin nicht nach, sondern ließ es gut sein, da er bemerkte, dass ich es ihm sowieso nicht sagen würde. Als wir wieder zurück in sein Zimmer gingen, war es schon so spät, dass ich mich beeilen musste, um rechtzeitig zu der Schwester zu kommen. Also verabschiedete ich mich von Erwin und sprintete zum Büro der Schwester am anderen Ende des Ganges. Sie erwartete mich schon. Zur Begrüßung war sie mir nur einen abschätzigen Blick zu und sagte kein Wort. Ich war nicht auf den Mund gefallen oder ich hatte einfach nur mehr Selbstbewusstsein bekommen in den letzten Stunden und fragte sie direkt, ob sie mit mir zufrieden gewesen sei. Sie nickte beinahe unmerklich und erzählte mir dann, dass Martha und Rosa zu ihr gekommen seien und ihr gesagt haben, dass sie sich freuen würden, für einige Wochen ein neues Gesicht zu sehen. Über dieses Lob von den Heimbewohnern schien die Schwester nicht sehr begeistert zu sein. Da konnte ich ihr auch nicht helfen. Ich war hier immerhin nicht freiwillig, aber sie hatte sich diesen Beruf ja irgendwann ausgesucht. Und was sollte ich machen, wenn die Leute hier gleich schon am ersten gut auf mich reagierten. Das war doch schön, aber es war ja auch logisch, dass sie sich nicht freuten, wenn jemand, der fast in den Knast gewandert wäre, gut mit älteren Herrschaften umgehen konnte. Vielleicht würde sie aber auch später, wenn sie in einem Heim war, mit Leuten wie mir zu tun haben und andere Schwestern würden sich darüber aufregen. Aber das war jetzt schon wieder viel zu weit hergeholt. Die junge Dame hatte sich mir bis jetzt noch nicht einmal vorgestellt. Ich wusste nur, dass sie die Schicht hatte, wenn ich immer hier rauskam. Die Schwester, die Dienst hatte, wenn ich in der Früh kam, hatte bis jetzt auch noch keinen Namen, mit dem ich sie anreden konnte. Aber sollte ich sie einfach fragen, wie sie hieß, oder würde das ein bisschen unverschämt sein? Ich wusste es nicht, also beschloss ich, sie ohne Namen anzureden, solange es ging.
Die namenlose Schwester machte eine Schublade an ihrem Schreibtisch auf und holte einen zusammengefalteten Zettel und einen Stempel raus. Auf dem Zettel waren zehn Spalten, also die zehn Tage, die ich hier war. Und für den ersten Tag machte sie einen Stempel in die Spalte vom ersten Freitag. Den Plan gab sie mir aber nicht. Ich hatte dort offensichtlich auch so einen Art Akte, zumindest einen Schnellhefter, wo sie den Plan jetzt reinlegte. Dann entließ sie mich nach Hause. Ich beschloss, nicht draußen vor der Tür auf Jan zu warten, sondern nach oben auf seine Station zu gehen. Vermutlich war er gerade mitten in dem Gespräch, das ich soeben hinter mich gebracht hatte. Ich ging die Treppe hoch und sah Jan schon von weitem. Er stand mit einer Schwester hinten, die ihm einen Vortrag hielt. Als er mich hinter der Glastür sah, beendete er das Gespräch mit der Schwester schnell, verabschiedete sich und kam auf mich zu. Das dritte Mal, dass wir uns an diesem Tag gesehen hatten. Nach den vielen Tagen, die wir die ganze Zeit zusammen verbracht hatten, war das eine ganz ungewohnte Situation, weil wir nicht wussten, was wie sagen oder tun sollten. Also liefen wir schweigend durch den Haupteingang des Seniorenheims.
Der Tag war schon fast gelaufen, aber wir wollten trotzdem noch nicht nach Hause. Also beschlossen wir, in ein Café zu gehen, wo wir die Erlebnisse vom ganzen Tag austauschen konnten. Jan hatte nämlich auch ein paar interessante Entdeckungen gemacht, nicht nur ich. Also hatte sich der Tag für uns wirklich gelohnt. Er begann zu erzählen, mit welchen Leuten er sich auf seiner Station rumschlagen musste. Einige von ihnen waren wirklich sehr nett gewesen, doch andere hatten an allem, was Jan oder auch jemand anderes machte, etwas rumzumeckern. Jan war auch bei verschiedenen Angeboten des Heims dabei gewesen, wo viele alte Menschen ihre Zeit verbrachten. Das war vielleicht eine harte Nuss, meinte Jan, da einige von den Leuten nur dort waren, weil die Schwestern sie sozusagen gezwungen hatten. Solche Menschen taten sogar ihm Leid, doch noch mehr tat sich Jan natürlich selbst Leid, weil er diese Leute zum mitmachen und Spaßhaben animieren musste, was ein ganz schön schweres Stück Arbeit war.
Doch dann erzählte mir Jan von der unglaublichen Entdeckung, die er gemacht hatte. Auf seiner Station war ein Mann, der total begeistert von jeglichen Zeitungen oder Zeitschriften war. Er wollte, dass Jan ihm eine holte. Also ging Jan zu einem Schrank wo Bücher und Zeitungen wild verstreut drin lagen. Er wühlte in dem Haufen und plötzlich tippte ihm jemand auf die Schulter. Er war schon nach der Mittagspause und Jan wusste, dass Marks Onkel auch im Heim war. Und zwar auf meiner Station. Jan drehte sich also zu der Person um, die ihm auf den Rücken geklopft hatte. Es war eine Frau, die er auf ungefähr 45 Jahre schätzte. Sie wollte wissen, wo das Zimmer von Gerhard Baskin sei. Jan wusste erst einmal nicht, ob er ihr sagen sollte, dass sie auf der falschen Station war, oder ob er so tun sollte, als wüsste er nicht, wo der Gefragte lebte, weil die Dame vielleicht nicht auf guten Absichten hier sein wäre. Doch dann entschied er sich dafür, erst einmal zu fragen, mit wem er es überhaupt zu tun hatte. „Ich bin seine Cousine“, antwortet die Frau mit tränenüberströmtem Gesicht. Jan musste sich zusammenreißen, damit sein Kiefer nicht vor Erstaunen nach unten klappte.
„Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich habe schon von Gerhard Baskin gehört und ich hatte erfahren, dass er keinerlei Verwandten mehr hat“, sagte Jan stattdessen.
„Ja, ich weiß es auch erst seit einer Woche, dass ich mit ihm verwandt bin. Ich habe von seinem Neffen im Fernsehen gehört und habe meinen Vater gefragt, ob ich den Jungen nicht schon einmal gesehen hatte. Sie sagte, dass sie das nicht für möglich halte, doch als immer mehr Details über diesen Vorfall ans Licht kamen und auch der Name von Gerhard Baskin erwähnt wurde, erinnerte sich meine Mum wieder, dass ihr Bruder einen Sohn mit dem gleichen Namen hatte. Sie hat ihren alten Stammbaum hervorgekramt und ist zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei diesem Mann um den gleichen handelt, den sie auch in dem Stammbaum gefunden hat. Daraufhin hat sie nach ihm gesucht und seine Adresse war dieses Heim. Da meine Mutter schon sehr alt ist, hat sie mich gebeten, mich zu erkundigen, ob es ihm gut geht und ob er meine Mutter kennt. Und dann einfach über alles reden. Du weißt schon!“, erklärte die Dame Jan. Jan nickte wie hypnotisiert. „Ja, also Sie sind auf der falschen Station. Sie müssen ganz nach unten. Dort sollten Sie dann einfach eine Schwester fragen!“, erklärte Jan, nachdem er sich wieder gefangen hatte.
Dann ging die Dame weg und auf unsere Station, sagte Jan. Aber ich hatte sie leider nicht gesehen. Wahrscheinlich war ich da gerade mit irgendjemandem beschäftigt. Aber wieso hatte sie geweint?
Okay, jetzt wussten wir also, dass Gerhard Baskin eine Cousine hatte, aber so wirklich weiter brachte uns das auch nicht. Aber je mehr Verwandten wir von Mark Baskin hatten, desto einfacher würde es am Ende für uns werden. Und immerhin wollten wir ja auch noch rausbekommen, was es mit Mr. Baskins Beerdigung und den Polizisten auf sich hatte. Dabei würde uns die Cousine von Mrs. Baskins Bruder zwar nicht sehr weiterhelfen können, aber immerhin konnten wir dann rausfinden, ob die ganze Familie im Großen und Ganzen viel mit der Polizei zu tun hatte, oder ob dort alle clean waren. Das würde auch eine Entdeckung für sich werden. Entweder würden wir geschockt oder positiv überrascht sein. Ich tendierte eher zu geschockt. Und das im negativen Sinne.
Jetzt waren Jan und ich aber erst einmal auf dem Weg zu ihm nach Hause. Dort würde, so wie an jedem anderen Tag, niemand auf uns warten. Wir würden also ganz ungestört sein. Gute Aussichten. Vielleicht konnten wir ja noch etwas rausbekommen. Vielleicht würden wir ja im Internet eine Schlagzeile finden, die uns auf die Beerdigung von Marks Vater aufmerksam machte. Wenn dann nichts Genaueres dabeistand, könnten wir es ja mal beim Bestatter versuchen, wenn im Internet ein Name angegeben war. Hofften wir mal das Beste. Jan zog seinen Schlüssel aus der Hosentasche und sperrte die Tür auf. Mittlerweile war ich schon so oft hier, dass ich direkt in Jans Zimmer ging, ohne auf ihn zu warten. Dort warf ich meine Tasche in die Ecke und setzte mich auf einen Stuhl. Als Jan zwei Minuten später mit zwei Gläsern Wasser zu mir kam, setzte er sich auf sein Bett und wir tranken erst einmal schweigend. Beide mussten wir vermutlich den heutigen Tag verarbeiten. Immerhin waren wir jetzt sozusagen direkt oder indirekt gesehen vorbestraft und hatten eine Akte bei der Polizei. Ob das meine Eltern freuen würde, wenn sie es mitbekämen, wusste ich nicht. Aber sie mussten es ja noch nicht erfahren. Das hatte schon noch Zeit.
Jan schaltete seinen Computer an und wartete, dass er hochfahren würde. Als das geschafft war, setzte er sich davor und ging ins Internet. Was sollte man aber schon als Suchbegriff eingeben? Wir wussten ja nicht einmal das Datum der Beerdigung von Marks Vater. Unter „Skandalöse Beerdigungen“ als Suchbegriff würde man sicherlich nichts Brauchbares finden. Also versuchten wir es mit dem Namen von Marks Vater. „Bernhard Baskin“ brachte ein Resultat von über 10.000 Suchergebnissen. Wir schauten uns erst einmal die erste Seite an, doch da waren nur wie üblich irgendwelche Forscher oder Nobelpreisträger. Das würde uns wohl nicht weiterbringen. Also nahmen wir uns die zweite Seite vor. Das konnte noch einige Stunden so weitergehen, aber so lange hatten wir heute nicht Zeit. Auf der zweiten Seite wurden wir auch nicht fündig. So ging das, bis wir bei Seite zehn ankamen und erstmals unter allen Suchergebnissen unser Wohnort angegeben war. Bernhard hatte hier vor seinem Tod zwar nicht mehr gewohnt, aber vielleicht fanden wir ja doch einen Hinweis. Jan klickte den Link an und kam auf die Homepage unseres Ortes. Dort war die Seite, wo die wichtigsten Menschen im Stadtrat aufgeführt waren. Dort sahen wir den Namen von Marks Mutter. Gabrielle Baskin – Vorsitzende für öffentliche Angelegenheiten. Okay. Das hatten wir schon mal. Dann standen da noch die Namen von Mark, von seinem Vater und von Stephen Heather. Das würde uns vermutlich doch nicht weiterhelfen. Aber wenigstens wussten wir jetzt, dass Marks Mutter bei der Stadt angestellt ist und für die öffentlichen Dinge zuständig ist. Wenn rauskommen würde, dass sie ihren Sohn umgebracht habe, könnte sie erst einmal ihren Arbeitsplatz vergessen und die ganze Stadt würde einen hohen Schaden davontragen, weil sich durch einen solchen Skandal nicht unbedingt das Ansehen und das Niveau einer Stadt verbessert. Theoretisch könnte man sie dann ausschließen. Zudem hatte sich auch noch ein Alibi. Ob das wasserdicht war, konnten wir noch nicht beweisen. Aber Stephen war bei ihr. Nehmen wir mal an, dass Stephen Heather Mark umgebracht hat, was hätte er für ein Motiv? Aber Gabrielle Baskin hatte noch weniger ein Motiv. Wir drehten uns wirklich im Kreis.
Jan hatte inzwischen die Seite geschlossen und schaute weiter die Suchergebnisse durch.
„Da haben wir’s doch!“, rief er plötzlich.
Und tatsächlich. Da stand das Datum der Beerdigung und der Name des Bestatters. Dazu noch die Telefonnummer von ihm, aber keine Schlagzeile. Na ja. Wenigstens hatten wir schon einmal einen Hinweis. Jan nahm sein Telefon aus seiner Ladestation und wählte die angegebene Nummer des Bestatters. Er meldete sich offensichtlich, aber ich konnte nichts verstehen, was er sagte. Ich hörte nur, dass Jan versuchte, ihm den Fall nahezubringen. Doch offensichtlich hatte der Mann irgendeine Verschwiegenheitspflicht zu erfüllen, denn Jan verzog das Gesicht. Dann versuchte Jan, mit dem Bestatter einen Termin auszumachen, um sich zu treffen. Er nickte zufrieden, bedankte sich höflich und legte auf.
Dann sagte er zu mir gewandt: „Wir treffen uns morgen um vier am Nachmittag mit dem Bestatter. Er wollte am Telefon keine Auskunft geben. Hoffentlich zieht er die Masche nicht auch morgen ab, wenn wir und mit ihm treffen. Von wegen, er darf nichts sagen, weil er eine Verschwiegenheitspflicht habe!“
Viertes Kapitel
Am nächsten Tag passierte am Vormittag nichts, was sonst nicht auch passierte. Also ging ich am frühen Nachmittag um drei Uhr zu Jan. Er war gerade am Computer und recherchierte irgendetwas. Doch ich konnte nicht erkennen, auf was für einer Seite er war. Doch offensichtlich hatte es nichts mir Mark zu tun. Dachte ich jedenfalls. Aber als Jan endlich etwas gefunden hatte, was er gut fand und es mir zeigte, sah ich, dass er immer noch dabei war, nach Marks Vater zu suchen. Ich konnte auf der Seite lesen, dass es sich um Schlagzeilen der letzten Jahre handelte, die in der Zeitung erschienen waren. Dabei war dann auch die Schlagzeile »Polizei auf Beerdigung von Bernhard Baskin«. Aber leider stand nicht mehr dazu auf der Seite. Doch Jan beschloss, wenn der Besuch bei dem Bestatter nicht das ergab, was wir uns erhofften, dass wir dann versuchen könnten, die Zeitung anzurufen, die den Artikel mit dieser Schlagzeile herausgegeben hat. Denn eigentlich sollten sie diesen Artikel noch haben. Doch wieso stand er dann nicht einfach auch auf dieser Seite? Das ergab noch keinen Sinn. Aber wir wollten ja jetzt noch hoffen, dass der Bestatter uns weiterhelfen kann.
Noch eine Viertelstunde bis zu unserem Treffen mit dem Bestatter. Jan und ich machten uns langsam auf den Weg zum Bestattungsinstitut. Es hieß „Der Weg zurück“. Das machte keinen Sinn. Vielleicht sollten wir die Ausfragerei von dem Bestatter erst einmal mit der Frage beginnen, wieso er seinen Laden so genannt hatte. Bestimmt würde das die Atmosphäre der ganzen Situation etwas entspannen. Aber ich hatte sowieso nicht vor, viel zu reden, das wollte ich Jan überlassen.
Nach zehn Minuten standen wir vor dem Institut. Wir holten noch einmal tief Luft, bevor wir den Raum betraten. Es lag ein strenger Geruch in der Luft und der Raum war dunkel. Nur eine Glühbirne hing an der Decke und sie machte nicht viel Licht.
In dem Zimmer sah man drei Särge an den Wänden und zahlreiche Urnen. Dann noch einige Kataloge, vermutlich für Blumenschmuck, und an der hinteren Wand ein Tisch mit einem alten Computer darauf. Hinter dem Tisch stand ein Bürostuhl und vor dem Tisch standen zwei Klappstühle. Alles in allem sah dieser Laden also ziemlich heruntergekommen aus. Das schien zu dem Fall von Marks Vater zu passen.
Niemand kümmerte sich darum, weil es niemanden mehr interessierte und vermutlich auch nie interessiert hatte. Also war die Akte dieses Falls irgendwo in der letzten Ecke eines Archivs und verstaubte.
Mr. Corpse, das war der treffende Name des Bestatters, auf Deutsch >>Leiche<<, kam aus einem kleinen Nebenzimmer heraus und gab Jan und mir die Hand. Er hatte keinen festen Händedruck, sondern eher einen, den man mit dem, eines verschreckten Mädchens vergleichen konnte. Aber vermutlich hatte er den auch deshalb, weil er schon so viel mit toten Menschen zu tun hatte und die ja bekanntlich zerbrechlicher waren, als Lebendige. Er bedeutete uns mit einer Handbewegung, doch auf den beiden Klappstühlen Platz zu nehmen und wir setzten uns. Er ging um den Tisch herum und saß uns schließlich gegenüber. Ich versuchte unauffällig, mich hinter Jan zu verstecken, denn irgendwie wirkte Mr. Corpse einschüchternd auf mich.
>> Weswegen seid ihr noch mal genau hier? <<, wollte er von uns wissen.
>> Wir haben ein paar Fragen an Sie. <<, antwortete Jan. Ich hielt mich nur schweigend im Hintergrund, da ich Jan schon bei ihm zu Hause davon überzeugt hatte, die Konversation alleine zu führen.
>> Ihr seid aber nicht von der Polizei oder so etwas? <<
>> Nein, sind wir nicht. Sie sehen doch, dass wir noch nicht erwachsen sind. Aber was wäre denn, wenn wir von der Polizei wären? Würden Sie uns dann rausschmeißen? <<
>> Äh.. Nein, wieso sollte ich das denn tun? <<
>> Das möchte ich doch von Ihnen wissen, Mr. Corpse. <<
Der Bestatter zögerte. Man konnte sehen, wie er immer nervöser wurde. Jan war wirklich gut. Und erbarmungslos.
>> Also Mister. Meine Freundin und ich sind nicht von der Polizei, aber Sie scheinen Angst vor den Beamten zu haben. Haben Sie etwa etwas zu verbergen? Wir werden Sie nicht verpfeifen, das kann ich Ihnen versprechen. Aber wir ermitteln für einen guten Zweck. <<
>> Für welchen Zweck ermittelt ihr denn? <<
>> Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Aber wir wären Ihnen trotzdem sehr dankbar, wenn Sie uns helfen. <<
>> Ja, ich werde sehen, was ich für euch tun kann. Dann stellt mal eure Fragen. <<
>> Also, ich möchte immer noch von Ihnen wissen, was Sie mit der Polizei zu tun haben, Sir. <<
>> Äh.. Eigentlich habe ich nichts direkt mit den Beamten zu tun … <<
>> Mr. Corpse, was verschweigen Sie uns? <<
>> Okay, es gab eine Zeit, wo ich krumme Geschäfte gemacht habe. Beispielsweise habe ich Leute bestattet, die eigentlich noch untersucht werden mussten. Aber die Angehörigen dieser Menschen wollten nicht, dass ihre Verstorbenen noch einmal in die Hände der Polizei geraten. Meist waren diese Menschen nämlich Schwerverbrecher. Bei den Beerdigungen waren immer nur zwei oder drei Menschen. So haben wir das dann geheim gehalten. Ich weiß nicht, ob ihr Vermisstengräber kennt. - <<
>> Doch, ja. Ich habe schon einmal davon gehört. <<, Jan drehte sich zu mir um und ich nickte nur.
>> - Okay, also wir haben diese Gräber so, wie Vermisstengräber aussehen lassen. Ohne Namen, nur mit dem Datum, wann die Person verstorben ist. Die Polizei hat lange Zeit nichts davon bemerkt. Doch vor ein paar Monaten sind sie mir irgendwie auf die Schliche gekommen. Bis jetzt konnte ich mich noch rausreden, aber ich habe trotzdem immer Angst, dass sie wiederkommen und dann handfeste Beweise gegen mich haben. <<
>> Solche Geschäfte machen Sie jetzt wohl nicht mehr? <<
>> Nein, damals, als die Polizei zu mir kam und mich auf diese Gräber angesprochen hat, habe ich natürlich geleugnet, dass ich diese Bestattungen durchgeführt habe, aber es hat mir schon einen Denkzettel verpasst und ich habe eingesehen, dass es falsch ist, gegen das Gesetz zu handeln. <<
>> Okay, danke für Ihre Ehrlichkeit. <<
>> Aber deswegen seid ihr doch nicht hier, oder? <<
>> Da gebe ich Ihnen in der Tat recht. Wir sind auf der Suche nach Informationen über Bernhard Baskin. - <<
Bei diesem Namen wurde Mr. Corpse kreidebleich.
>> Das war mit Abstand mein schlimmster Fall. <<
>> Wieso denn das? <<
>> Also, wisst ihr. Bernhard Baskin war auch einer der Menschen, die eigentlich nicht begraben werden durften. Doch seine Frau, Gabrielle Baskin, hat mich damals angefleht und mit einer großen Summe Geld bestochen. Aber ihre Absicht war eine andere. Sie wollte, dass ihr Mann in einem Vermisstengrab beigesetzt wird. Erst Tage nach der Beerdigung hat sie mir gestanden, wieso… <<
>> Und was war der Grund? <<
>> Sie wollte, dass sich später niemand mehr an ihren Mann erinnert. <<
>> Können Sie sich erklären, wieso sie das beabsichtigt haben könnte? <<
>> Ja, das kann ich durchaus. Sie hasste ihren Mann. Auch als sie noch zusammen waren, hat sie ihn betrogen. Mit einem gewissen … Stephen Heather. Mrs. Baskin wollte, dass alle Menschen denken, dass Mr. Heather ihr einziger Mann ist. Und die meisten Leute dachten auch, dass er Baskin heißt. Doch mit der Zeit ist die Geschichte ans Licht gekommen. Doch niemand wusste, woher dann das Kind stammte. Denn es sprach sich herum, dass Mr. Heather keine Kinder zeugen konnte. Der Junge …- <<
>> - Mark Baskin <<, half Jan.
>> Ja, genau. Mark war also ein Bastard. Niemand kannte seinen Vater. Und Mrs. Baskin wollte auch nicht, dass irgendjemand seinen Vater kennenlernte. Sie schämte sich für Bernhard. Sie meinte, dass er ihren Sohn verdorben hätte. Dass er daran schuld sei, dass er nicht mehr zur Schule ging und sich ganz von seinen Eltern zurückzog. Doch Mark erkannte Stephen Heather nicht als seinen Vater an, denn der Junge liebte Bernhard. Manchmal traf er sich noch hinter dem Rücken seiner Mutter mit ihm. Doch irgendwann wurde Bernhard verhaftet. Ihm wurde schwere Körperverletzung und versuchter Mord vorgeworfen. Er bekam sieben Jahre Haftstrafe. <<
>> Sieben Jahre? Aber das geht doch gar nicht. Moment … << Das war viel zu lang. Dann müsste Bernhard Baskin heute noch im Gefängnis sitzen.
>> Nein, nein, warte! Er saß keine sieben Jahre lang. Er hielt es nicht mehr aus. Doch erst einmal muss ich noch etwas erwähnen. Bernhard Baskin hatte die Tat, die ihm vorgeworfen wurde nämlich gar nicht begangen. Die einzigen, die aussagten, waren zwei anonyme Zeugen. Und wisst ihr, wer das war? <<
>> Nein, keine Ahnung <<, sagte Jan.
>> Gabrielle Baskin und Stephen Heather? <<, hörte ich mich sagen. Die beiden drehten sich überrascht zu mir, doch Mr. Corpse nickte.
>> Kluges Mädchen! Die beiden waren die Zeugen. Sie wollten, dass Bernhard Baskin ins Gefängnis geht. Gabrielle Baskin hatte nämlich mitbekommen, dass sich ihr Sohn doch noch mit seinem Vater traf und das fand sie gar nicht gut. Und da Stephen bei allem, was sie tat, hinter ihr stand, half er ihr. Es ist unfassbar, wie sehr man einen Menschen hassen muss, um imstande zu sein, so etwas zu tun. Sie wollte ihn sieben Jahre seines Lebens berauben. Mark allerdings wusste nicht, dass sein Vater unschuldig festgenommen wurde. Er wollte trotzdem Kontakt zu ihm aufnehmen, um ihn zu fragen, wie er so etwas tun konnte, doch seine Mutter stellte sich dazwischen. << Mr. Corpse machte eine Pause, um Luft zu holen.
>> Was ist dann passiert? <<, wollte Jan wissen.
>> Nach zwei Jahren hielt Bernhard es schließlich nicht mehr aus und wollte fliehen. Es war der Klassiker. Er brach die Gitterstäbe auf und flüchtete. Doch kurz vor dem Tor des Haupteingangs, wurde er gesehen und schließlich verfolgt. Doch er rannte und blieb nicht stehen. Schließlich zog ein Polizist seine Pistole und schoss in die Luft. Bernhard wusste, dass er nicht auf ihn schießen würde und rannte weiter. Es war stockdunkel und er wusste nicht, wo er hinlief. Hinter ihm waren immer noch die Beamten. Doch plötzlich war vor ihm eine Mauer. Sie war ungefähr drei Meter hoch. Er dachte schon, dass er verloren sei, doch dann sah er einen Stein, der in der Mitte herausragte. Darin sah er seine einzige Möglichkeit. Also begann er, die Mauer hochzuklettern. Irgendwie schaffte er es. Doch plötzlich blieben die Beamten stehen. Ein Auto hatte ihnen den Weg versperrt. Sie konnten also nicht weiter. Da zog ein anderer Polizist wieder seine Knarre und schoss. Diesmal hatte er sie auf Bernhard Baskin gerichtet. Und er traf. Mr. Baskin fiel die Mauer wieder hinunter und war tot. <<
Wir mussten alle drei schlucken und man konnte sehen, dass es Mr. Corpse nicht einfach fiel, diese Geschichte zu erzählen. Doch eine Frage stellte sich mir immer noch. Und wie durch Telepathie sprach Jan sie im selben Moment laut aus und durchbrach so die Stille.
>> Woher wissen Sie das alles so genau? <<
>> Ich habe die Verfolgungsjagd mitbekommen und ich saß in dem Auto, dass die Polizisten gestoppt hat. <<
Also damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.
>> Und woher wussten Sie, dass Bernhard Baskin aus dem Gefängnis ausgebrochen war und wann. Und vor allem, dass er unschuldig saß? <<, hakte Jan nach.
>> Die Beamten haben es mir erzählt, als sie bemerkten, dass Bernhard Baskin tot war. <<
>> Sie wussten, dass er unschuldig ist? <<
>> Ja, aber sie haben es erst an dem Abend erfahren. Stephen Heather hatte ein schlechtes Gewissen und ist zur Polizei gegangen. Denn ihm hatte Bernhard Baskin ja nun nichts getan. Natürlich wusste Gabrielle Baskin davon nichts, sonst hätte sie das niemals zugelassen. Aber sie war gerade auf der Arbeit. Wie auch immer. Die Polizisten wollten Bernhard am nächsten Tag mitteilen, dass er entlastet wurde und frei sei. Leider war es zu spät. <<
>> Was hat Gabrielle Baskin gesagt, als sie davon erfahren hat? <<
>> Sie hat Trauer vorgetäuscht, aber ich glaube, insgeheim war sie froh. Immerhin hatte sie jetzt ihren Mann nicht nur für sieben Jahre los, sondern für immer. Doch sie fand nie raus, dass es Stephen Heather war, der die Aussage gemacht hat, dass ihr Mann unschuldig sei. Es hat mich auch gewundert, dass die Polizei nicht zu ihr gekommen ist. Immerhin hat sie Meineid geleistet. Aber davon weiß ich nichts. Vielleicht hat sie die Beamten auch bestochen, aber das wäre jetzt fantasieren. Auf alle Fälle kam sie am nächsten Tag zu mir und sagte, dass ich ihren Mann in einem Vermisstengrab bestatten sollte, so, dass niemand es mitbekommen würde. Doch weil so viele Menschen kamen, die um Bernhard Baskin trauerten: Mark, Jan, Gerhard, Stephen, Leute, aus dem Gefängnis, einige Nachbarn und Freunde, fiel der Polizei auf, dass etwas nicht stimmen konnte und es waren auch zwei Beamte auf der Beerdigung. Ich hatte sie gesehen, doch ich hielt weiter die Zeremonie ab. Die Beamten sagten nichts, weil es immerhin einer von ihnen war, der Bernhard Baskin erschossen hatte. Also verließen sie den Friedhof gleich nach der Bestattung. <<
>> Wow, sie haben uns echt viele Informationen gegeben! Vielen Dank. <<
>> Aber könnt ihr mir nicht wenigstens sagen, wieso ihr das alles wissen wolltet? <<
>> Ach komm, Jan, er ist doch auch nicht gut auf die Polizei zu sprechen. Wenn er uns verpfeift, verpfeifen wir ihn! <<, flüsterte ich Jan zu.
>> Okay, Mr. Corpse. Aber Sie gehen mit dieser Information nicht zur Polizei. Genauso, wie wir Ihre Geschichte für uns behalten. <<
>> Abgemacht. <<
>> Vermutlich haben Sie schon davon gehört, dass Bernhards Sohn Mark tot ist. Wir wollen rausfinden, ob es Mord oder Freitod war. Und dann haben wir rausgefunden, dass sein Vater auch tot ist und dass Polizisten auf seiner Beerdigung waren und dann haben wir daraus geschlossen, dass er ein Verbrecher war. Das beweist, dass vorschnelle Schlüsse trügen. <<
>> Ich helfe euch gerne, wenn ihr meine Hilfe braucht. Der Fall ist nämlich wirklich mysteriös. <<
>> Ja, das stimmt. Und wir haben schon einiges versucht, aber bei einem Versuch sind wir aufgeflogen und wurden zu Sozialarbeit im Seniorenheim verdonnert. Es kann also wirklich nicht schaden, wenn wir einen Erwachsenen an unserer Seite haben, den die Beamten, mit einer guten Verkleidung, auf den ersten Blick nicht erkennen, oder zumindest nicht mit uns in Verbindung setzen. <<, das war das Meiste, was ich heute den ganzen Nachmittag über gesagt hatte. Ich schaute auf meine Uhr und bemerkte, dass wir schon bald zwei Stunden bei Mr. Corpse im Bestattungsinstitut saßen.
Wir verabschiedeten uns, dankten noch einmal und freuten uns auf eine gute Zusammenarbeit mit ihm.
Das war ein sehr informatives Gespräch heute Nachmittag. Doch jetzt rauchte mir auf jeden Fall der Kopf, und Jan, glaubte ich, auch.
Fünftes Kapitel
Am nächsten Tag war Sonntag und ich konnte endlich wieder einmal richtig ausschlafen. Nach dem, was wir gestern rausgefunden hatten, konnten wir uns heute eigentlich einen ruhigen Tag gönnen. Aber etwas beschäftigte mich immer noch. Die einzige Möglichkeit, wie wir rausfinden könnten, wer etwas mit dem Fall >Mark Baskin< zu tun hatte, war, dass wir an die Kleidung kamen, die Mark bei seinem Sprung getragen hatte und die manipuliert worden war. Doch wie sollten wir das anstellen?
Und gerade kam mir noch ein anderer Gedanke. Denn ich erinnerte mich an ein Gespräch, dass ich mit Jan vor ein paar Tagen geführt hatte. Da hatte mir Jan erzählt, dass sich Marks Vater selbst das Leben genommen hatte. Doch stattdessen wurde er von der Polizei erschossen. Hatte Jan vielleicht gewusst, dass der Tod von Bernhard Baskin kein Selbstmord war? Und wenn ja, wieso hatte er es mir dann nicht gesagt. Denn als wir bei Mr. Corpse saßen, wirkte er nicht so sehr überrascht von dem, was er über die ganze Sache erzählt hatte. Aber wieso kam mir dieser Gedanke denn gerade jetzt? Wäre ich nämlich schon früher darauf gekommen, dann hätte ich fragen können, was hinter der Selbstmordgeschichte steckte, denn es war offensichtlich, dass mehrere Leute, so wie ich, in diesem Glauben gelassen wurden.
Da mir jetzt so viele Sachen durch den Kopf gingen, konnte ich das mit dem Ausschlafen eigentlich gleich vergessen. Also beschloss ich, aufzustehen. Ich war mal wieder alleine zu Hause. Langsam hatte ich mich dran gewöhnt.
Ob Jan wohl schon aufgestanden war? Bestimmt. Schließlich war er immer noch dabei, die Medikamente aus Marks Tresor zu untersuchen. Doch bis jetzt hatten wir noch nichts gefunden.
Moment mal, noch ein anderer Gedanke. Hatte Jan nicht einmal erwähnt, dass Marks Vater drogenabhängig war? Ja, hatte er. Diese ganze Geschichte lies sich einfach nicht entwirren. Es war zum Verrücktwerden.
Und wieso hatte ich eigentlich alle diese komischen Erinnerungen heute? Denn es war schließlich so, dass die Dinge, die Jan mir vor einigen Tagen, als wir uns noch nicht so gut kannten, und auch noch nicht so viel wussten, erzählt hatte, in keinster Weise mit der Geschichte übereinstimmten, die uns Mr. Corpse gestern erzählt hatte. Jan und ich konnten also nur hoffen, dass eine der beiden Varianten der Wahrheit entsprach.
Vermutlich hatte Jan die Geschichte von Gabrielle Baskin. Und Mr. Corpse …? Es schien unwahrscheinlich, dass die Polizei ihm alles erzählt hatte, nur weil Mr. Corpse zufällig dabei war, als Bernhard Baskin starb.
Außerdem kannten sie ihn doch, nachdem sie ihn in seinem Auto gesehen hatten. Und dann hielt er ja noch die Zeremonie bei der Beerdigung von Bernhard Baskin. Das passte nicht zusammen. Da steckte zu neunundneunzig Prozent Bestechung dahinter. Entweder hatten die Beamten Mr. Corpse bestochen, Grund dazu hätten sie, weil er gesehen hatte, dass ein Polizist eine Straftat begangen hatte. Oder aber Mr. Corpse hat die Beamten bestochen, weil er krumme Geschäfte gemacht hat und es der Polizei spätestens bei der Bestattung von Marks Vater aufgefallen sein müsste.
So hätten beide Gruppen ein ausgezeichnetes Motiv. Doch eine Frage stellte sich dabei immer noch. Dass die Beamten genug Geld für eine Bestechung haben, ließ sich nicht abstreiten, aber Mr. Corpse. Wenn man seinen Laden so anschaute, dann war es schwer zu glauben, dass er eine angemessene Summe verdiente, mit der er die Polizei bestechen konnte. Was könnte er denn noch haben, was die Beamten vielleicht interessieren würde? Oder sie machten es nach dem Prinzip, wie auch Jan und ich mit ihm verhandelt hatten. Wenn Mr. Corpse niemandem von dieser einen Nacht erzählte, dann würden ihn die Beamten auch nicht verpfeifen. Ob sich Polizisten auf so etwas einließen? Na gut, es war ein Geschäft, was man nicht nachweisen konnte. Doch Bestechlichkeit war kein Kavaliersdelikt. Dann also doch nach dem einfacheren Prinzip.
Aber wir konnten immer noch nichts beweisen. Denn wenn Mr. Corpse uns helfen wollen würde, dann müsste er im Gericht eine Aussage machen, so dass man Gabrielle Baskin etwas nachweisen konnte. Doch wenn er das tat, brach er die Abmachung mit der Polizei. Also würde er das nicht tun. Etwas gab allerdings immer noch keinen Sinn. Er hatte doch gestern so eine Angst, dass wir von der Polizei sein könnten. Wenn er mit ihnen einen Deal hätte, wieso sollte er sich denn dann vor ihnen fürchten. Und wieso hatte er uns dann die Geschichte aufgetischt mit den krummen Geschäften und dass er sich rausgeredet hatte und das alles. Die Hälfte davon passte auch in die andere Geschichte, aber die Sache, dass er sich rausgeredet hatte, die passte da nicht hinein. Und ich persönlich konnte gestern nicht erkennen, dass er gelogen hat.
Mit solchen wirren Gedanken würde ich auch nicht weiterkommen. Also rief ich Jan an.
Glücklicherweise war er schon wach. Bevor ich noch viel reden konnte, sagte er, dass ich zu ihm kommen sollte. Er hätte etwas rausgefunden. Ich war gespannt und machte mich sofort auf den Weg. Noch ehe ich klingeln konnte, hatte er schon die Tür aufgemacht. Wir gingen in sein Zimmer. Mitten auf dem Fußboden stand sein Mikroskop und daneben sein Laptop. Auf dem Objektträger lag offensichtlich eine Probe. Doch ich wusste nicht, von was. Er erklärte es mir.
>> Ich habe eins der Medikamente, die wir bei Mark gefunden haben, noch einmal genauer untersucht. Im Internet habe ich gefunden, woraus es besteht. Und es ist hochexplosiv! <<
>> Hilft uns das weiter? <<
>> Nein, eigentlich nicht. <<
>> Was hast du denn dann rausgefunden? <<
>> Also, das Medikament hilft gegen Kopfschmerzen. Es ist so ähnlich, wie Aspirin, nur stärker. Und es kann ab einer gewissen Dosis abhängig machen. <<
>> Kann es noch von Marks Vater sein, oder von Mark? <<
>> Das weiß ich nicht. Das Schild, auf dem das Datum stand, wurde abgerissen. <<
>> Oh nein! Und jetzt? Das hilft uns doch alles nicht! <<
>> Na ja. Ich habe im Internet recherchiert. Und diese Medizin wird seit drei Jahren nicht mehr hergestellt. Es sind Nebenwirkungen aufgetreten. <<
>> Welche Nebenwirkungen denn? <<
>> Also, erst einmal, es macht süchtig. Und dann soll es ja die Kopfschmerzen lindern. Stattdessen wurden sie in 70% der Fälle schlimmer, anstatt besser. Außerdem noch die üblichen Nebenwirkungen: Schwindel, Ausschlag, und so weiter. <<
>> Ja, und weiter? <<
>> Einige Leute haben den Hersteller dieser Tabletten verklagt. Doch es gab nie einen Prozess. <<
>> Steht irgendwo, wieso nicht? <<
>> Nein, es sind alles nur Gerüchte. Tatsache ist nur, dass der Hersteller nie zu den Gerichtsterminen erschienen ist. Und niemand hat ihn gesehen. Bis heute nicht. <<
>> Was sind das denn für Gerüchte? <<
>> Na ja, also auf manchen Seiten steht, er hätte sich das Leben genommen. Auf anderen steht, dass er umgebracht wurde, von einem der Menschen, die dieses Medikament benutzt haben. Und wieder auf einer anderen Seite steht, dass er irgendwohin nach Australien ausgewandert ist. Aber das alles ist jetzt eben schon drei Jahre her. Und seit der Mann nicht mehr da ist, werden die Tabletten auch nicht mehr produziert. <<
>> Aber ich verstehe immer noch nicht, was daran jetzt so toll sein soll, ehrlich gesagt. <<
>> Also, ich bin mir zwar nicht sicher, aber es deutet vieles darauf hin, dass die Tabletten noch von Marks Vater stammen. Denn der ist vor über zwei Jahren gestorben, aber die Medikamente werden seit drei Jahren nicht mehr hergestellt. Und vor drei Jahren war Mark noch zwölf Jahre alt. Er hätte also von alleine nicht an die Tabletten kommen können, außer er hat sie seinem Vater geklaut, aber das schließe ich in diesem Falle einfach mal aus. <<
>> Also haben die Tabletten Bernhard Baskin gehört. Aber wieso hatte Mark dann alles, was vorher sein Vater hatte? <<
>> Das kann ich mir auch nicht erklären. Aber ich habe noch etwas rausgefunden. <<
>> Ach ja, und was? <<
>> In den Tabletten ist eine Substanz, weswegen man von ihnen abhängig wird, die in anderen Medikamenten nicht vorhanden ist. <<
>> Okay, und was hat das mit Mark zu tun? <<
>> Also, diese Substanz gibt es in flüssigem und in festem Zustand und wenn man sie auf ein Material gießt, das sich mit der Substanz ergänzt, wie das Pulver dieser Tabletten, dann ziehen sich die Atome in dem Gegenstand zusammen und werden verdoppelt. <<
>> Okay, ich habe davon jetzt kein Wort verstanden. <<
>> Diese Substanz ermöglicht es, Gegenstände schwerer zu machen, also ihre Masse beinahe zu verdoppeln! <<
>> Das ist super. Aber was willst du mir denn nun damit sagen? <<
>> Wenn wir Marks Kleidung hätten und das Metall untersuchen würden, dann besteht die Chance, dass es mit dieser Substanz präpariert wurde. Denn mal ehrlich. Kein Metall wiegt in natürlichen Zustand und in Plättchenform so viel, dass es einen Menschen unter Wasser halten kann, wenn er sich auch noch dagegen wehrt, unterzugehen. Also kann es nur so gewesen sein. <<
>> Gibt es denn auch andere Dinge, die diese Substanz enthalten? <<
>> Nein, also. Als die Tabletten hergestellt wurden, konnten die Wissenschaftler noch nicht wissen, dass es sich bei dieser Substanz um so ein Mittel handelt. Doch als das Produkt vom Markt genommen wurde, haben sich natürlich viele Forscher darum gerissen, es zu untersuchen. Und ein Physiker ist dann zu dieser Lösung gekommen. <<
>> Wie heißt der Physiker? <<
>> Tom Gaukert. <<, Jan schaute auf die Internetseite, auf der er all diese Informationen gefunden hatte.
Ich nahm mir einen Zettel und einen Stift und schrieb mir vorsichtshalber Name, Adresse und Telefonnummer von diesem Herrn Gaukert auf. Man konnte ja nie wissen, wozu das noch einmal gut war.
>> Du hast gesagt, dass die Substanz sich mit dem Material ergänzen muss. Stimmt das denn bei Metall? <<
>> Ich weiß nicht, was für eine Art Metall das war. Aber ich habe im Internet schon nachgeschaut. Ich kann nichts finden. Das müssen wir irgendwie anders rausbekommen. <<
>> Glaubst du, dass dieser Physiker das wissen könnte? <<
>> Das ist schon gut möglich, immerhin hat er die Substanz bis ins kleinste Detail erforscht. <<
>> Also er wohnt nicht so weit von hier entfernt. Mit dem Zug wären wir in einer Stunde dort. Sollen wir mal zu ihm fahren? <<
>> Ich weiß nicht. Also heute klappt das nicht. Es ist Sonntag, da können wir ihn nicht so überrumpeln und außerdem glaube ich gar nicht, dass heute regelmäßig Züge fahren. <<
>> Stimmt. Und morgen müssen wir ins Seniorenheim. Aber am Dienstag können wir doch fahren, oder? <<
>> Okay, abgemacht. Dann treffen wir uns Dienstag am Vormittag hier bei mir und fahren dann zu diesem Gaukert. <<
>> Und jetzt muss ich dir noch was erzählen. Und was fragen! <<
>> Na klar, schieß los. <<
>> Du hast doch gesagt, dass sich Bernhard Baskin selbst das Leben genommen hat. Vor ein paar Tagen, als wir über die Scheidung von Marks Eltern geredet haben. Das war damals, als ich zum ersten Mal bei dir zu Hause war. <<
>> Ja, das war die Geschichte, die Gabrielle Baskin jedem erzählt hat. <<
>> Aber hast du damals schon gewusst, dass er erschossen wurde? <<
>> Also, ich wusste, dass er umgebracht wurde, aber ich wusste nicht, von wem. <<
>> Okay, aber wieso hast du mir das damals nicht gesagt? <<
>> Ich dachte, es wäre nicht wichtig. <<
>> Aber es war doch später noch wichtig. Außerdem hast du mich angelogen. Das war nicht in Ordnung! <<
>> Ja, ich weiß. Tut mir leid. <<
>> Schon verziehen! Aber mir ist noch was aufgefallen. <<
>> Wow, du wirst ja noch eine richtige Detektivin. <<
>> Ja, das kann schon sein. Weißt du, heute Morgen ist mir ziemlich viel im Kopf rumgegangen. <<
>> Na gut, dann lass mal hören. <<
>> Die Polizisten haben doch Mr. Corpse schon gesehen, als Bernhard Baskin erschossen wurde, nicht wahr? <<
>> Richtig. Und? <<
>> Und er hatte doch gesagt, dass er die Beerdigung abgehalten hat. Da waren doch auch zwei Polizisten. Die müssen ihn doch erkannt haben. Wieso haben sie dann nichts gesagt. Immerhin wussten sie ja dann auch, dass dieses Vermisstengrab das Grab von Bernhard Baskin war. Und da es in der Gemeinde nicht üblich war, die Leute so zu bestatten, konnten sie sich daraus schließen, dass Mr. Corpse auch für die anderen >anonymen Leichenbestattungen< zuständig war. Sie hätten ihn verraten können. Aber sie haben es nicht getan, wieso? <<
>> Vielleicht wussten sie, dass Mr. Corpse sonst auch ausgepackt hätte, mit dem, was in der einen Nacht passiert ist. <<
>> Aber Mr. Corpse hätte keine Zeugen gehabt. Niemand hätte ihm geglaubt und im Gericht hätte er die Polizei gegen sich! <<
>> Du meinst, Mr. Corpse hat die Beamten bestochen? <<
>> Was anderes kann ich mir nicht vorstellen. Immerhin hat er doch zu uns gesagt, dass die Polizei ihn schon einmal beinahe drangekriegt hätte, aber er konnte sich rausreden. Nun hätten sie aber einen handfesten Beweis gegen ihn. <<
>> Mit was soll er denn die Polizei bestochen haben? So, wie sein Laden aussieht, hat er wohl nicht viel Geld zu bieten! <<
>> Das habe ich mir ja auch überlegt. Aber vielleicht hat er etwas, was die Polizei brauchte. Vielleicht hat er etwas gesehen und hat sozusagen seine Aussage verkauft. <<
>> Das könnte möglich sein. Aber wieso schaust du denn so nachdenklich? <<
>> Als wir gestern in seinem Laden waren, hat er gefürchtet, dass wir von der Polizei wären. Hätte er eine Abmachung mit ihnen, wieso sollte er Angst vor ihnen haben? <<
>> Vielleicht dachte er, dass den Polizisten die Aussage nicht mehr als Gegenleistung genügt und sie mehr haben wollen. <<
>> Das ist auch eine Möglichkeit. Aber ich glaube eher, etwas anderes steckt dahinter. <<
>> Und was soll das sein? <<
>> Vielleicht hat die Polizei ihn bestochen? <<
>> Aber wieso sollte sie denn das tun? <<
>> Das weiß ich doch auch nicht! <<
>> Sieh es doch mal so. Beamte wissen, dass Bestechlichkeit strafbar ist! Wieso sollten sie dann das Risiko eingehen? Sie wären ihren Job los! <<
>> Okay, aber wenn Mr. Corpse die Polizei nicht bestochen hat, sondern vielleicht andersrum, was hätte dann die Polizei dann dazu gebracht, Mr. Corpse nicht zu verraten? <<
>> Die Frage habe ich mir noch gar nicht gestellt! Meinst du, dass Mr. Corpse den Bullen gedroht haben könnte? <<
>> Nein, das hätte er sich doch niemals getraut! <<
>> Aber nehmen wir doch mal an, er hat einem Beamten, der bei der Beerdigung dabei war, vielleicht sogar dem Beamten, der Bernhard Baskin erschossen hat, einen Drohbrief geschrieben. Und der hat sich nicht getraut, es seinem Kollegen zu sagen, warum auch immer. Das klingt doch möglich, oder nicht? <<
>> Also echt, Xenia, ich glaube, du fantasierst ein bisschen! Niemand traut sich, die Polizei zu bestechen. <<
>> Ja, schon, aber das würde doch wenigstens erklären, wieso Mr. Corpse Angst vor der Polizei hat. <<
>> Klar, aber trotzdem! <<
>> Na gut, konzentrieren wir uns jetzt erst einmal auf die Medikamente und das alles. Hast du auch schon andere Sachen untersucht, bei denen du noch was rausgefunden hast? <<
>> Nein, nicht wirklich. Aber ich bin auch noch nicht fertig. Du kannst mir helfen, die anderen zu untersuchen. <<
>> Klar, gern. Auf geht’s! <<
Wir untersuchten an diesem Tag noch drei andere Proben von Medikamenten. Augentropfen, Hustensaft und Globuli. Es war sehr lehrreich, letzteres zu untersuchen. Niemand will wissen, aus was diese unschuldig aussehenden Kügelchen bestehen. Ich war zwar noch nie ein Fan von diesen Dingern, aber jetzt wusste ich, dass ich auch nie einer werden würde. Das war echt widerlich. Aber vielleicht war das bei den Dingern auch von der Wirkung abhängig, die sie auslösen sollten. Die, die Mark bei sich im Zimmer hatte, waren gegen Atemnot. Wie konnten denn bitteschön Globuli gegen Atemnot helfen? Half da nicht nur Asthmaspray? Na ja, wie auch immer. In keinem der Medikamente konnten wir etwas finden, was uns noch in irgendeiner Weise weiterhalf.
Außerdem hatten wir heute noch einen Zugfahrplan ausgedruckt und unsere Fahrt markiert. Außerdem noch einen Stadtplan, damit wir wussten, wo wir Tom Gaukert finden würden. Dann war es schon sechs Uhr abends und ich beschloss, heute mal früher nach Hause zu gehen. Ich verabschiedete mich und verabredete mich für den nächsten Tag für halb sieben vor seinem Haus. Wir mussten wieder ins Seniorenheim und unsere Sozialstunden abarbeiten. Ich konnte gar nicht fassen, dass morgen schon wieder Montag war. Das Wochenende ging so unglaublich schnell rum. Aber was soll’s. Jan und ich hatten wirklich noch einiges vor. Und dazu nur noch knapp eineinhalb Wochen Zeit. Und wir brauchten unbedingt die Kleidung von Marks Sprung, sonst konnten wir die Sache gleich vergessen.
Ich war echt müde, als ich zu Hause ankam. Trotzdem setzte ich mich noch vor den Fernseher. Doch es kam nichts, was mich wirklich interessierte. Obwohl es erst halb acht war, beschloss ich, schon ins Bett zu gehen. Morgen hatte ich nämlich einen langen Tag vor mir.
Sechstes Kapitel
Um halb sechs klingelte mein Wecker. Zum Glück war ich gestern so früh ins Bett gegangen. Sonst hätte ich jetzt nicht aufstehen können. Ich ging unter die Dusch, putzte Zähne, zog mich an und ging frühstücken. Allerdings hatten wir nichts mehr im Haus außer hartem Brot. Ich aß trotzdem eine Scheibe, da es noch eine Zeit dauern würde, bis ich Mittagspause hatte.
Dann packte ich meine Tasche. Ich nahm mein Handy mit, mein Portemonnaie und schmierte mir noch zwei Scheiben von dem Brot. Etwas fehlte noch. Ach ja, eine Flasche Wasser. Es war schon zwanzig nach sechs. Jetzt musste ich mich beeilen. Aber ich kam trotzdem noch pünktlich bei Jan zu Hause an. Er stand schon auf der Straße und wartete auf mich.
>> Guten Morgen <<, begrüßte er mich. Er wirkte vollkommen ausgeschlafen.
>> Morgen <<, ich dagegen hörte mich so an, wie ich mich fühlte. Zwar nicht so sehr müde, wie ich das erwartet hatte, aber trotzdem nicht geeignet für einen langen Arbeitstag. Aber ich hatte ja keine andere Wahl.
>> Ich habe gestern Abend noch bis in die Nacht hinein Medikamente untersucht. Jetzt habe ich alle durch! <<
Jan sprühte geradezu vor Enthusiasmus.
>> Was? Bis wann warst du denn dann auf? <<
>> Bis um halb eins oder so. <<
>> Oh! Ich bin um halb acht ins Bett gegangen. Ich war hundemüde. <<
>> Ich konnte einfach nicht warten, bis ich wieder einmal Zeit haben würde, weiter zu forschen. <<
>> Hast du denn noch etwas rausgefunden? <<
>> Nein, leider nicht. Wir müssen unbedingt bei dem Physiker morgen was rausfinden, sonst kommen wir wieder nicht weiter! <<
>> Das stimmt. <<
>> Na los. Lass uns gehen! <<
Auf dem Weg zum Seniorenheim redete keiner von uns sonderlich viel, da wir beide mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt waren.
Als wir durch die Eingangshalle gingen verabschiedeten wir uns und verabredeten uns für die Mittagspause auf Jans Station.
Dann nahm er den Aufzug auf Station 3 und ich ging die Treppe zu meiner Station 1. Dort lief ich zu der Schwester, die diesen Vormittag zuständig war. Die hatte ich am Freitag noch nicht kennengelernt. Sie war freundlicher als die anderen Schwestern. Vermutlich arbeitete sie noch nicht so lange hier. Sie gab mir einen weißen Kittel, der mich ein bisschen an Krankhäuser denken ließ. Ich zog ihn mir über und machte mich auf den Weg zu Martha. Mit ihr war es so, wie am Freitag auch schon. Zuerst bat sie mich, ihr doch bitte einen Kaffee zu holen. Dann fragte sie mich, was ich in meinen Ferien so machte. Ich erzählte ihr, dass ich sehr oft bei einem Freund war. Und sie schaute mich mit einem wissenden Gesichtsausdruck an. Ich versuchte ihr zu erklären, dass es nicht so war, wie sie jetzt vielleicht vermuten würde, doch sie ließ sich nicht von ihrer Fantasie abbringen und ich konnte ihr ja auch schlecht erklären, wieso ich so viel mit Jan zusammen war. Also beließ ich es dabei. Und Martha erzählte mir irgendwelche Geschichten von ihrem ersten Freund und ihrem verstorbenen Mann. Ich hörte ihr zu und fragte ab und zu nach, wenn ich etwas genauer wissen wollte. Dann war es acht Uhr und ich verabschiedete mich bis zum Mittwoch.
Als nächste war Katrin an der Reihe. Ich freute mich nicht auf sie. Eigentlich hatte ich am Freitag insgeheim gehofft, dass sich im Laufe der Zeit, die ich bei ihr war, herausstellen würde, dass sie nicht so schlimm war, wie es auf den ersten Blick schien, aber leider wurden meine Hoffnungen und Stoßgebete ignoriert.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendjemand Katrin leiden konnte.
Trotzdem machte ich mich auf den Weg zu ihrem Zimmer und klopfte an. Wie erwartet, bat sie mich nicht herein, sondern fragte nur: >> Wer ist da? <<
>> Xenia Eckert. Ich habe Sie schon letzten Freitag besucht. <<
>> Ich will keinen Besuch! <<
>> Es tut mir leid, aber es gehört zu meiner Pflicht, nach Ihnen zu sehen und Zeit mit Ihnen zu verbringen, also würden Sie mich bitte hineinlassen?! << Langsam wurde ich echt sauer. Ich konnte doch auch nichts dafür, dass ich hier meine Sozialstunden bei dieser griesgrämigen Frau ableisten musste, die sowieso jeden Menschen auf der Erde hasste. Und auch wenn ich die Leute, die keinen Besuch wollten, in Ruhe lassen sollte, würde ich Katrin diesen Gefallen nicht tun.
Widerwillig öffnete Katrin mir die Tür. Ich trat ein.
>> Und, worauf haben Sie heute Vormittag Lust? <<, fragte ich, um freundliche Ton bemüht.
>> Sie wollen mir Ihre Gesellschaft aufdrängen, also werden Sie doch wohl auch wissen, was Sie hier wollen! <<
Katrin hingegen, hielt wohl nicht sonderlich viel von gutem Ton.
>> Alles klar. Können Sie Handarbeiten? <<
>> Nein, kann ich nicht. Wieso? <<
>> Na ja, ich kann ziemlich gut häkeln. Wenn Sie möchten, kann ich es Ihnen beibringen! << Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie einverstanden sein würde.
>> Wieso sollte ich denn häkeln wollen? <<
>> Dann könnten Sie zum Beispiel Topflappen machen. Das ideale Geschenk für Ihre Kinder oder anderen Verwandten zu Geburtstagen oder zu Weihnachten. <<
>> Ich habe keine Kinder. Und meine Verwandten wohnen weit von hier weg. Ich habe keinen Kontakt zu ihnen. << Ich hatte es doch gewusst! Niemand konnte diese Frau leiden.
>> Sie müssen mir schon sagen, auf was Sie Lust haben. Aber wenn Sie es unbedingt darauf anlegen, können wir uns auch nur stumm gegenüber sitzen. << Jetzt riss mir endgültig der Geduldsfaden.
>> Na schön, dann zeigen Sie mir eben, wie man häkelt. <<
>> Alles klar. Ich vermute, Sie haben keine Wolle? <<
>> Nein. <<
>> Okay, ich bin gleich wieder da. << Ich machte mich auf die Suche nach einem Knäuel Wolle. Drei Minuten später hatte ich bei der Handarbeitsgruppe Erfolg und ging zurück zu Katrins Zimmer. Die fragte sofort neunmalklug: >> Braucht man denn zum Häkeln keine Nadel? <<
>> Heute brauchen wir noch keine. Ich möchte Ihnen erst einmal zeigen, wie man Luftmaschen häkelt. Dazu benötigt man nur Wolle. <<
Ich machte ihr vor, wie sie die Wolle halten musste und durch die Finger zu ziehen hatte. Anfangs stellte sie sich dumm, da sie keine Lust auf Häkeln hatte. Doch nach einiger Zeit sah sie ein, dass es keinen Sinn machte, sich gegen mich zu wehren, da ich nicht locker lassen würde. Und als sie das begriffen hatte, stellte sie sich auf einmal auch ganz schlau an und schaffte es, die Luftmaschen so zu häkeln, wie ich es ihr gezeigt hatte. Doch Tatsache war, dass diese ganze Prozedur weder ihr noch mir Spaß machte. Aber wenigstens hatten wir etwas, womit wir uns beschäftigen konnten, auch wenn das ganze ziemlich aufgesetzt war. Meine Höflichkeit und ihre gespielte leichte Begeisterung. Manchmal gähnt sie zwischendurch, aber sie gab sich keine Mühe, es vor mir zu verbergen. Vermutlich wollte sie, dass ich sah, dass ich sie langweilte, doch das war mir egal. Ich hätte meine Zeit auch lieber anders verbracht, aber ich war nun einmal hier. Und sie auch. Also mussten wir das Beste daraus machen. Denn, wenn ich nicht bei ihr sein würde, dann würde ich Ärger mit der Schwester bekommen. Immerhin machte ich hier so eine Art verpflichtendes Praktikum und da konnte man nicht einfach nach Lust und Laune die Menschen vernachlässigen, um die man sich kümmern sollte.
Aber glücklicherweise ging die halbe Stunde schneller rum, als ich mir das erhofft hatte. Ich verabschiedete mich, ließ aber die Wolle in Katrins Zimmer, damit sie bis Mittwoch noch gut üben konnte. Dann würde ich eine Nadel mitnehmen und ihr das richtige Häkeln beibringen. Zum Glück hatte meine Mutter mich als kleines Kind dazu überredet, mir das Handarbeiten beibringen zu dürfen. Jetzt wusste ich wenigstens, dass sich die Folter einmal gelohnt hatte.
Jetzt war Helmut an der Reihe. Und sobald ich an ihn dachte, hatte ich schon wieder freundlichere Gedanken. Aber mir viel ein, dass ich vergessen hatte, Martha über ihn auszufragen. Na ja. Dann würde ich eben Helmut ausquetschen. Vielleicht würde ich so auch vorwärts kommen. Also klopfte ich an seine Tür, wie ich es schon gewohnt war. Er öffnete mit einem freundlich singenden >> Herein! << Vermutlich wusste er schon, dass ich es war, der da vor seiner Tür stand. Oder er hatte anderen Besuch erwartet?
>> Hallo, Xenia, ich habe Sie schon erwartet! <<
>> Guten Morgen. Wie geht es Ihnen denn heute? <<
>> Hervorragend. Und Ihnen? <<
>> Mir auch, danke der Nachfrage. Aber wie kommt es, dass Sie so früh morgens schon wieder so fit sind? <<
>> Ich habe eben gut geschlafen. << Helmut hatte ein Schmunzeln in seinem Gesicht. Ich wusste, dass ich schon gleich auf der richtigen Spur war. Doch ich konnte nicht mit der Tür ins Haus fallen. Also ging ich erst einmal mit Helmut in sein Zimmer und setzte mich auf einen der Stühle, während er auf seinem Bett Platz nahm.
>> Hatten Sie denn einen schönen Traum? <<, wollte ich wissen.
>> Allerdings! <<
>> Sie strahlen ja richtig. Haben Sie etwa von einer Frau geträumt? <<
>> Ja, das habe ich. Allerdings! << Sein Grinsen wurde breiter.
>> Kenne ich sie vielleicht? <<
>> Allerdings! <<
>> Ist sie hier auf Ihrem Gang? <<
>> Allerdings ist sie das. <<
>> Und Sie finden sie bezaubernd? <<
>> Ja, ich bin schon seit Jahren in sie verliebt, doch ich weiß nicht, wie es bei ihr steht. <<
>> Reden wir hier gerade über Martha? <<
>> Tun Sie doch nicht so, als wüssten Sie nicht genau, von wem wir hier reden, Xenia! << Helmut lachte.
>> Okay. Gibt es denn irgendwelche Anzeichen, dass Martha Sie auch mag? <<
>> Das weiß ich nicht. Ich habe mit ihr noch nicht sonderlich viel gesprochen. Dabei melde ich mich immer in allen Kursen ein, in denen sie auch drin ist. <<
Und so ging das Gespräch noch weiter. Jetzt war es amtlich. Helmut war verliebt in Martha. Und meiner Meinung nach, schien sie auch nicht sehr uninteressiert an ihm zu sein. Ich durfte auf keinen Fall vergessen, Martha am Mittwoch auf Helmut anzusprechen um zu sehen, wie sie reagieren würde.
Ich unterhielt mich volle eineinhalb Stunden mit Helmut über Martha und versucht, ihm Tipps zu geben, unter anderem, was Frauen gefiel und wie er sie am besten ansprechen sollte. Beispielsweise sagte ich ihm, dass er ihr einen kleinen Blumenstrauß schenken sollte um sie somit zum Essen einzuladen. Das war ein erfolgreiches Gespräch und ich hoffte inständig, dass die beiden zusammenkamen.
Nun verabschiedete ich mich von Helmut und ging zum Zimmer von Gerhard Baskin. Ich war noch unentschlossen darüber, ihm zu erzählen, dass wir neue Sachen herausgefunden hatten, weil es ihn eigentlich nichts anging, aber trotzdem hatte er irgendwie ein Recht darauf, zu erfahren, ob wir bei dem Fall um seinen Neffen weitergekommen waren. Und außerdem wollte ich ihn noch über Mrs. Smith ausfragen. Seine angebliche Cousine, die Jan am Freitag auf seiner Station getroffen hatte und die Gerhard gesucht hatte.
Wieder einmal klopfte ich an die Zimmertür und Gerhard bat mich hinein. Er begrüßte mich freundlich, als würden wir uns schon lange kennen. Er einmal redeten wir den üblichen Small-Talk. Dann fragte er nach seinem Neffen. Ich hatte beschlossen, ihm keine Dinge zu erzählen, über die wir uns noch nicht im Klaren waren. Also sagte ich nur, dass wir noch keine weiteren Informationen hätten.
>> Aber ihr seid noch an dem Fall dran, oder? <<
>> Aber sicher, Herr Baskin. <<
>> Xenia, nennen Sie mich doch einfach Gerhard. Mit so vielen Baskins, wie Sie es momentan zu tun haben, kommen Sie doch irgendwann durcheinander. <<
>> Alles klar, Gerhard. Es tut mir leid, wenn ich jetzt in Ihre Privatsphäre eindringe und Sie müssen mir auch nicht erzählen, aber ich habe durch einen Zufall mitbekommen, dass Sie am Freitag Besuch von einer gewissen Mrs. Smith hatten, die gegenüber Marks Freund, der auf Station 3 Praktikum macht, gesagt hat, dass sie Ihre Cousine sei. <<
>> Ja, es war für mich auch sehr überraschend. Immerhin wusste ich nicht, dass ich noch irgendwelche Verwandten hatte. Aber ich habe mich natürlich gefreut, sie zu sehen. Wir haben uns alte Familiengeschichten erzählt und auch über Mark gesprochen. Sie hat mir ihr Beileid versichert und dann auch nicht mehr darüber geredet, weil sie gemerkt hatte, dass es mir doch sehr nahe ging, vor allem, weil ich nicht so viel Zeit mit meinem Neffen verbracht habe, wie ich hätte verbringen wollen. Und das meine Schwester mich von ihm ferngehalten hat, werde ich ihr nie verzeihen. <<
>> Entschuldigen Sie, falls ich Ihnen zu nahe getreten bin. Das wollte ich nicht. <<
>> Nein, nein. Ist schon gut. <<
Wir redeten noch eine Weile über Mrs. Smith und auch noch eine Weile über Mark. Dann war meine Zeit bei ihm vorüber und ich ging zum nächten Zimmer. Dort wohnte Bernd. Das letzte Mal hatte ich mit ihm Karten gespielt. Mal schauen, wie es heute werden würde.
Ich musste gar nicht klopfen. Bernd stand schon in der Tür. Offensichtlich hatte er auf mich gewartet. Ich war gerührt. Er hielt wieder sein Kartenspiel in der Hand, weswegen ich lachen musste.
Er bat mich freundlich in sein Zimmer und begann, die Karten auszuteilen. Er war begeisterter Spieler. Als wir mehrere Runden Schafkopf und Mau-Mau gespielt hatten, bestand er darauf, mir noch einige Kartentricks zu zeigen. Ich staunte, wie gut er mit den Karten umgehen konnte. Doch dann war es auch schon Zeit, zum Mittagessen. Er stand auf und ich begleitet ihn zum Aufzug. Dort waren schon die ganzen anderen aus diesem Gang. Ich nahm, wie das letzte Mal auch, die Treppe und fing Bernd unten wieder ab. Dann brachte ich ihn noch in den Speisesaal und verabschiedete mich von ihm. Er bedankte sich, für die nette Partie Karten und ich musste lächeln.
Ich ging wieder zurück zum Aufzug und fuhr auf Station 3 zu Jan. Endlich eine Stunde Mittagspause. Doch die ging leider viel zu schnell rum. Ich redete die ganze Zeit mit Jan über unseren Vormittag und über morgen. Da wollten wir ja zu diesem Physiker fahren. Kaum hatten wir also unsere Brote gegessen und ein bisschen geredet, mussten wir schon wieder an die Arbeit.
Also machte ich mich schweren Herzens und mit guten Aussichten auf Schichtende in vier Stunden, wieder auf den Weg zu meiner Station. Dort sollte ich jetzt Rosa besuchen. Sie hatte mir am Freitag versichert, dass sie mir heute Zeichenunterricht geben würde. Darauf freute ich mich schon. Immerhin konnte ich so meine Kunstnote endlich verbessern.
Der Unterricht machte mir riesigen Spaß und ich brachte es sogar fertig, eine Rose zu zeichnen, die einigermaßen echt wirkte. Dann war es auch schon zwei Uhr und ich musste mich verabschieden. Rosa bestand allerdings darauf, dass ich das Bild, was ich gemalt hatte, mitnehmen sollte. Ich freute mich und nahm es mit.
Dann machte ich mich auf den Weg zu Georg. Der Marathonläufer.
Ich klopfte an die Tür und er öffnete mir. Er war fertig angezogen und hatte sich eine Mütze und eine Jacke angezogen.
>> Gehen wir spazieren! <<, sagte er, ohne dass ich eine Möglichkeit gehabt hätte, ihm zu widersprechen. Er hatte mich schon sehnlichst erwartet und auch ich hatte nichts gegen ein bisschen Füße vertreten. Also liefen wir ein Stück und er erzählte mir dabei aus seinem Leben einige Geschichten. Und ehe ich mich versah, waren wir schon wieder vor dem Seniorenheim. Wir waren einen Rundweg gelaufen. Offensichtlich war Georg hier schon oft unterwegs gewesen.
>> Ich glaube, Sie müssen weiter, Xenia. << Mit einem Blick auf meine Uhr stimmt ich ihm nickend zu.
Ich begleitete ihn noch hoch auf seine Station, weil ich dort ja auch weiterarbeiten musste. Im nächsten Zimmer, wo ich hinmusste, wohnte Katharina. Die Esoteriktante. Heute sollte ich ja von ihr lernen, wie man Tarotkarten legte.
Nachdem ich angeklopft hatte und ihr Heim langsam betrat, weil ich mich an den ganzen Krempel immer noch nicht gewöhnt hatte, wies sie mir herzlich meinen Platz auf einem der beiden Stühle zu. Sie selbst setzte sich auf den anderen. Und kaum saßen wir, begann sie zu reden, wie ein Wasserfall. Sie erklärte mir alle Bedeutungen von jeder Karte. Was sie in welchem Kombinationen für Bedeutungen hatten und was besonders gut war.
Das war vielleicht anstrengend. Dann forderte sie mich schließlich auf, ihr die Karten zu legen. Ich versuchte es, und sie leitete mich an. Deshalb bekam ich es hin. Doch wie sich zeigte, konnte ich ihr kein gutes Schicksal legen. Mit ihrer überschwänglichen Hilfe deutete ich die Karten. Na ja, es gab wirklich besseres, als >> kurz vor dem Tod zu stehen << und >> nie die große Liebe zu finden <> Esoterik <<, dass wir die drei Wochen, in denen ich bei ihr sein würde, damit füllen konnten. Für heute waren wir jetzt aber glücklicherweise fertig. Ich bedankte mich dafür, dass Katharina mir das alles beigebracht hatte und hoffte insgeheim darauf, dass wir am Mittwoch etwas machen würden, was nichts mit Tarotkarten zu tun hatte. Immerhin hatte ich mir so gut wie nichts gemerkt.
Da es schon vier Uhr war, musste ich jetzt nur noch eine Dreiviertelstunde mit Erwin verbringen und konnte dann um fünf Uhr mit Jan nach Hause.
Ich klopfte an Erwins Tür. Er bat mich freundlich herein. Da er sich nicht die Mühe machte, von seinem Stuhl aufzustehen, setzte ich mich einfach auf den Stuhl, der neben seinem stand. Er hatte den Fernseher eingeschaltet. Es lief irgendeine amerikanische Serie. Ich konnte mir eigentlich nicht vorstellen, dass ich interessierte, was er sich da anschaute. Und meine Vermutungen stellten sich als richtig heraus.
>> Es tut mir leid, dass ich heute nicht besonders ansprechbar bin. Ich würde eigentlich lieber schlafen, da ich sehr müde bin. Sie können gerne hier bleiben und etwas fernsehen. Damit die Schwestern nicht denken, dass Sie nicht arbeiten würden. Und wenn eine Schwester kommt, dann hören wir das ja. Dann werden wir uns schon was ausdenken. << Erwin lachte. Ich stimmte ein.
>> Vielen Dank. Ich bleibe gerne hier. Eine Stunde frei haben tut auch ganz gut. <<
>> Okay. Dann viel Spaß! << Erwin schloss die Augen und war ein paar Minuten später schon eingeschlafen. Ich zappte erst durch die Programme und entschied mich dann für >>Two and a half men < Als es Zeit war, zu gehen, wollte ich Erwin nicht wecken. Also schrieb ich einen Zettel, auf dem stand, dass ich jetzt leider losmüsse und ihn nicht hatte wecken wollen. Dann noch >> Bis Mittwoch, Xenia. < Doch Jan wollte sich vorbereiten. Er rannte in seinem ganzen Zimmer auf und ab und warf irgendwelche Dinge in seinen Rucksack. Schreibblock, Stift, Diktiergerät, die Tabletten, einen Bericht im Internet über die Substanz, seinen Geldbeutel, seine Busfahrkarte, sein Handy, Haustürschlüssel. Das war es im Großen und Ganzen an den Sachen, die ich sehen konnte. Und noch den Stadtplan. Wir waren also gerüstet für morgen. Ich wies Jan darauf hin, dass es auch durchaus möglich sein konnte, dass der berühmte Physiker nicht zu Hause war. Aber diese Möglichkeit gab es für Jan offensichtlich nicht.
Doch irgendwann hatte ich ihn doch davon überzeugt und da im Internet eine Nummer stand, brachte ich Jan dazu, dort anzurufen. Er wählte und stellte schließlich auf Lautsprecher, sodass ich mithören konnte. Eine Frau ging ans Telefon.
>> Gaukert? << Wir hatten die richtige Nummer. Nur wussten wir nicht, wer das war. Toms Schwester, seine Frau, vielleicht auch seine Tochter?
>> Hallo. Hier spricht Jan Gößner. Ist denn Tom Gaukert zu Hause? <<
>> Ja, wieso? <<
>> ich würde ihn gerne sprechen. <<
>> Wer sind Sie? Von der Presse? <<
>> Nein, bin ich nicht. Ihr Mann kennt mich nicht, aber es ist wichtig. <<
>> Na gut. Ich hole ihn. << Die Stimme entfernte sich. >> Schatz? Telefon für dich! <<
Tom war am Telefon. >> Gaukert? <<
>> Hallo. Hier spricht Jan Gößner. <<
>> Wer sind Sie? <<
>> Sie kennen mich nicht. Aber ich habe im Internet einen Artikel über Sie gelesen, Und ich denke, dass Sie mir und meiner Freundin sehr weiterhelfen könnten. <<
Er hatte >>meine Freundin<< gesagt. Das war das erste, was mir durch den Kopf ging, doch ich hatte vorerst keine Zeit, darüber nachzudenken. Immerhin musste ich das Telefongespräch verfolgen.
>> Was wollen Sie von mir? <<
>> Es geht um einen Kriminalfall. <<
>> Sind Sie von der Polizei? <<
>> Nein. Wir ermitteln sozusagen selbstständig. Und wir brauchen Ihre Hilfe. <<
>> Wofür? <<
>> In dem Artikel stand, dass Sie eine Substanz untersucht haben. <<
>> Meinen Sie Opioid? <<
>> Ja, genau. Das meine ich. <<
>> Woher kennen Sie das? <<
>> Hören Sie. Wir haben Tabletten gefunden, in denen dieses Opioid enthalten ist. <<
>> Es hat ja auch die Wirkung eines Schmerzmittels. <<
>> Ja, aber es macht auch abhängig. Und das ist das Problem. Ich habe recherchiert, was Sie alles rausgefunden haben. Das mit der Atomverdopplung. Das ist echt brillant und es ist wichtig für den Fall, in dem wir ermitteln. Also würden Sie uns bitte helfen? <<
>> Wie kann ich Ihnen denn helfen? <<
>> Wir hatten vor, Sie morgen zu besuchen, damit wir Ihnen das alles erklären können und wie nehmen auch die Tabletten mit. Den Rest würde ich Ihnen dann morgen erklären. <<
>> Okay. Morgen bin ich zu Hause. Wann kommt ihr? <<
>> Wir würden um halb zwei Uhr am Nachmittag bei Ihnen sein. Ist das in Ordnung? <<
>> Selbstverständlich. Dann bis morgen. <<
>> Vielen Dank, Herr Gaukert. << Jan legte auf.
Wir verabschiedeten uns und ich machte mich um halb neun auf den Weg nach Hause. Wir machten aus, dass wir uns morgen um halb zwölf bei Jan treffen würden. Unser Zug ging um zwölf Uhr mittags. Dann hatten wir noch genug Zeit, zum Bahnhof zu laufen und noch einmal den Ablauf durchzugehen.
Als ich zu Hause war, ging ich in die Küche, machte mir was zu essen und setzte mich damit vor den Fernseher. Irgendwann um elf Uhr oder etwas in der Art, ging ich nach oben in mein Zimmer und legte mich ins Bett und las noch eine Stunde oder länger. Dann schlief ich sofort ein.
Siebtes Kapitel
Am nächsten Tag schlief ich aus. Gegen elf Uhr stand ich schließlich doch auf. Doch ich fühlte mich schon gleich viel besser als gestern. Und das musste auch so sein. Immerhin würden Jan und ich heute wieder einen Schritt weiter im Fall >>Mark<< kommen. Zumindest hofften wir das inständig. Jetzt musste ich mich allerdings beeilen, da ich nur noch eine halbe Stunde Zeit hatte, bis ich bei Jan sein musste. Also hatte ich nur noch zwanzig Minuten um meine Sachen zu packen und zu frühstücken. Geduscht hatte ich zum Glück noch am Vorabend. Immerhin wollte ich nicht mit dem Geruch nach Seniorenheim ins Bett gehen.
Als alles gepackt war und ich gefrühstückt hatte, hartes Brot, was auch sonst, machte ich mich auf den Weg zu Jan. Ich war mir sicher, dass ich diese Strecke schon so oft gegangen war, dass ich sie im Schlaf laufen könnte. Doch das war nur einer von den merkwürdigen Gedanken, die mir unterwegs durch den Kopf gingen. Gestern Abend allerdings kam ich endlich dazu über die Worte >>meine Freundin<< von Jan nachzudenken. Doch ich kam zu dem Schluss, dass er so gut wie keine andere Bezeichnung hätte finden können und sie somit keine Bedeutung hatten. Immerhin waren es nur Worte. Und bekanntlich war zwischen dem, was man sagte, und dem, was man meinte, ein großer Unterschied.
Als ich bei Jan ankam, stand er wie immer schon auf der Straße und wartete auf mich. Er begrüßte mich und fragte, ob ich gut geschlafen hätte.
>> Ja, bis um elf. Ich wäre fast zu spät gekommen. <<
>> Oh! Na ja, du hast es aber noch geschafft. <<
Das war die einzige Unterhaltung bis zum Bahnhof. Wir mussten zehn Minuten auf den Zug warten und auch währenddessen hing jeder seinen eigenen Gedanken nach und wir sagten dementsprechend nicht viel.
Dann endlich kam der Zug und wir stiegen ein.
Während der einstündigen Zugfahrt tauten wir endlich ein bisschen auf und konnten uns unterhalten. Zwar nur über Belangloses und nichts, was mit heute oder den anderen Dingen aus unserem Fall zu tun hatte, da sonst unter Umständen noch die Leute aufmerksam geworden wären, aber immerhin eine Unterhaltung. Doch irgendwann wussten wir nicht mehr, über was wir reden sollten, und ich ergriff die Initiative.
>> Wir haben doch damals im Internet die Schlagzeile gefunden, wo der Artikel dazu gefehlt hatte, erinnerst du dich? << Ich hoffte, dass er sich erinnerte, weil ich kaum präziser werden konnte.
>> Ja, ich erinnere mich. Was ist denn damit? <<
>> Es stand doch auch der Name der Zeitung dabei. << Die Leute neben uns schauten schon unauffällig zu uns hinüber. Jan nickte nur.
>> Wir wollten doch bei der Zeitung anrufen und fragen, ob sie den Artikel noch haben. Du weißt, das mit dem Einbruch im Laden deiner Mutter. << Okay, das war keine gute Idee, jetzt schauten die Leute nämlich noch mehr.
>> Stimmt. Das wollten wir. Das können wir ja immer noch machen, wenn wir heute wieder zu Hause sind. Morgen geht nämlich wieder nicht, weil wir Praktikum machen. Das war eine dumme Entscheidung! <<
Hoffentlich saßen im Zug nicht irgendwelche Schwester aus dem Seniorenheim oder andere Leute, die uns kannten und wussten, dass wir nie im Leben freiwillig Praktikum machen würden.
>> Okay, einverstanden. << Damit war diese Angelegenheit erst einmal geklärt und wir hatten wieder keinen Gesprächsstoff. Ich schaute auf meine Uhr. Nur noch eine Viertelstunde und zwei Haltestellen, dann würden wir da sein. Die Zeit ging doch schneller vorbei, als sich das angefühlt hatte. Die meisten Leute, die um uns herum saßen, stiegen an der nächsten und an der übernächsten Station aus. Wir fuhren noch eine Station weiter und stiegen dort schließlich auch aus. Jan holte seinen Stadtplan aus dem Rucksack und murmelte leise vor sich hin. Dann wusste er, wo wir waren und wo wir hinmussten und wir liefen los. Noch zwanzig Minuten, bis wir uns mit Tom Gaukert treffen sollten. Ich lief neben Jan her, weil er den Stadtplan hielt und ich nicht wusste, wo wir langlaufen mussten. Irgendwann standen wir in einer Straße. Kein Mensch vor dem Haus, alle Autos in der Garage, die Bäume akkurat von einem Gärtner geschnitten, aus allen Häusern ein guter Duft nach leckerem Essen. Das war also der typische Lebensraum reicher Leute. So etwas hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Obwohl meine Eltern viel arbeiteten und viele Geschäftsreisen machten, hatten wir nie so viel Geld gehabt, dass wir uns eine Putzfrau oder einen Koch, oder Gärtner leisten könnten. Doch diese Leute, die hier lebten, konnten das offenbar. Ich war gespannt, in welchem Haus Tom Gaukert wohnte. War es der Palast auf der rechten Seite oder doch die Villa auf der linken? Es schien weder das eine noch das andere zu sein. Jan lief mit mir im Schlepptau, die Straße weiter entlang, schaute sich jedes Haus ganz genau an. Die meisten Hausnummern waren so versteckt, dass man sie kaum sehen konnte. Doch der Kontrast dazu waren riesige Hausnummern aus echtem Gold, die als Aushängeschild mitten am Tor hingen, durch das man in den prunkvollen Garten kam.
Als wir endlich bei Tom Gaukerts Haus angekommen waren, traf mich beinahe der Schlag. Es war eins der letzten Häuser in der Straße, aber mit Abstand das größte und edelste. Es war zwar kein Palast, aber es war eine riesige Villa. Ungefähr dreimal so groß wie unser Haus. Wow! Ich konnte nicht glauben, dass ich ein solches Haus irgendwann einmal betreten würde. Heute war wirklich ein großer Tag.
Wir klingelten am Gartentor und hörten die Glocke durch das ganze Haus schallen. Es war kein blecherner Klang, wie man ihn von alten Kirchturmglocken gewohnt war, sondern ein helles Läuten. Wenn bei jedem Haus in dieser Straße gleichzeitig die Klingel gedrückt werden würde, dann wäre es wie ein Glockenspiel.
Das Gartentor summte und wir konnten eintreten. Auf einer Säule, die ungefähr eineinhalb Meter hoch war, war eine Freisprechanlage befestigt worden, durch die wir nun Toms Stimme hörte, die uns bat, doch bitte ins Haus zu kommen. Durch den Garten, der einem Schlosspark glich, führte ein langer Weg, der mit Sand und Kieselsteinen besetzt war bis zum Haus. Dort erwartete uns ein Türsteher, der die große Holztür mit einem Knopfdruck öffnete. Ich fragte mich, wofür man hier wohl einen Türsteher brauchte. Selbst das Gartentor war verschlossen und vermutlich auch mit einer Alarmanlage ausgestattet, sodass es keinem ermöglicht wurde, unangekündigt und vor allem unbemerkt bis zu diesem Haus zu kommen.
Als die Tür offen stand, zeigte sich uns eine prachtvolle Eingangshalle, von der aus eine Wendeltreppe aus weißem Marmor in den nächsten Stock führte. An der Seite standen Säulen, die hier jedoch bis zur Decke reichten und an den Wänden sah man Gemälde von allen berühmten Malern wie Picasso und van Gogh. Schon alleine diese Bilder mussten ein Vermögen gekostet haben. Und dann noch der Marmor bei der Treppe. Sagenhaft! Und eben diese Treppe kam nun eine Frau hinunter. Sie hatte einen grauen Hosenanzug an und sah aus, als würde sie auf eine Hochzeit gehen oder zu einem wichtigen Treffen. Stattdessen kam sie aber auf uns zu und begrüßte uns freundlich.
>> Ich bin Sara, Toms Frau. Er wird gleich hier sein. Wer seid ihr doch gleich? <<
>> Ich heiße Jan. <<
>> Und ich bin Xenia. <<
>> Jan, Xenia, es freut mich, euch kennenzulernen. Wir können schon einmal ins Wohnzimmer gehen und dort auf Tom warten. << Gerade, als sie das gesagt hatte, kam eine Frau aus einem Zimmer, das die Küche sein musste. Sie hatte eine Schürze an und ein Outfit, dass ich von den Zimmermädchen in amerikanischen Hotels kannte.
>> Gretel, bringen Sie doch bitte einen Teller mit Gebäck und etwas zu trinken für uns drei und meinen Mann! << Die Frau, der Sara das aufgetragen hatte, war vermutlich die Haushälterin.
>> Jawohl, Ma’am. << Sie antwortete mit einer leisen hohen Stimme. Vermutlich ließ sie sich von Sara und ihrem Mann immerzu einschüchtern. Aber sie schien zufrieden mit ihrem Job, denn kaum saßen wir auf den Wildledersesseln im Wohnzimmer, kam Gretel herein und stellte einen Teller mit Gebäck, vier Gläser und einen Korb mit unterschiedlichen Getränken auf den Hartholztisch. Ich konnte mich nur wundern, wie viel Geld Tom mit seiner Forschung verdient haben musste.
Sara forderte uns auf, von dem Gebäck zu nehmen und fragte, was wir den trinken wollten. Ich entschied mich für Cola und Jan trank Spezi. Sara schenkte sich und ihrem Mann nur ein Glas Wasser ein. Das Gebäck allerdings, war wirklich lecker. Es war noch warm. Gretel musste es erst vorhin gebacken haben. Dabei sah es so aus, als wäre es gekauft. Wirklich lecker!
Nach zehn Minuten kam Tom. Er hatte einen Pullunder und eine Jeans an. Er sah schon normaler aus, als seine Frau. Er war ebenfalls sehr freundlich und gab Jan und mir zur Begrüßung die Hand.
>> Entschuldigt, dass ich so spät bin, ich musste noch ein wichtiges Telefonat führen. <<
>> Das ist kein Problem, wir konnten die Wartezeit gut überbrücken. << Jan deutete auf das Gebäck.
>> Das freut mich. Also, was kann ich für Sie tun? << Tom wollte offensichtlich keine Zeit verschwenden.
>> Wir haben die Tabletten dabei. Und in denen ist die Substanz erhalten, die Sie erforscht haben. <<
Sara und ich saßen nur stumm daneben und hörten zu, während Tom und Jan sich unterhielten.
>> Dann zeigen Sie mal die Tabletten. << Jan holte die Dose aus seinem Rucksack und legte sie auf den Tisch. Tom öffnete die Dose und holte eine Tablette heraus.
>> Ja, diese Tabletten kenne ich. Anhand von ihnen habe ich das Opioid erforscht. <<
>> Das wissen wir. Wir haben im Internet recherchiert und haben auch viel rausgefunden. <<
>> Und was kann ich dann für Sie tun? <<
>> Also. Das Opioid ermöglicht es, laut ihrer Forschung, die Atome eines Körpers zu verdoppeln. <<
>> Genau. <<
>> Und somit wird der Körper doch dann schwerer, oder? <<
>> Ja, doppelt so schwer. <<
>> Okay. Aber ob das funktioniert, hängt ja davon ab, ob sich das Material des Körpers mit dem Opioid ergänzt. <<
>> Das ist richtig, aber worauf wollen Sie hinaus? <<
>> Nun ja, also uns würde interessieren, ob sich Metall mit Opioid ergänzt. <<
>> Metall. Hmm… Um das sagen zu können, müsste ich wissen, um welche Art Metall es sich handelt. <<
>> Das kann ich Ihnen leider nicht genau sagen. <<
>> Dann kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, tut mir leid. <<
>> Doch, das können Sie. Ich kann Ihnen helfen. <<
>> Na, dann lassen Sie mal hören, wie Sie mir helfen wollen! <<
>> Also. Ich habe ja schon gesagt, dass wir in einem Kriminalfall ermitteln. Jemand ist von einer Brücke gesprungen und dabei ums Leben gekommen. Haben Sie davon gehört? <<
>> Nein, das habe ich nicht. Ich höre nicht so viel Nachrichten. << Puh, da hatten wir ja noch mehr Glück, als erhofft. Ich atmete durch.
>> Auf alle Fälle wurde nachher festgestellt, dass in seiner Kleidung Metallplatten eingenäht waren, die ihn unter Wasser gehalten haben. Und auch wenn das, was in die Kleidung eingenäht war, Schwermetall wäre, dann hätte es immer noch nicht genug gewogen, um einen Menschen unter Wasser zu halten. Und deshalb müssen wir wissen, ob es möglich ist, Metall mit Opioid zu präparieren. <<
>> Ich verstehe. Also. Was wissen wir denn? Es muss Metall sein, dass wenn es doppelt so viel wiegt, fähig ist, einen Menschen unter Wasser zu halten. Von wie viel Kilo sprechen wir ungefähr bei diesem Menschen? <<
>> Äh… Sagen wir, 75 bis 80. <<
>> Okay. Ich nehme an, dass dafür dann auch im verdoppelten Zustand Schwermetall nötig ist. Das können wir untersuchen. <<
>> Das wäre ja super! << Als Jan und Tom aufstanden, wussten Sara und ich nicht, ob wie ihnen folgen sollten. Aber da Sara sagte, dass sie noch etwas zu tun habe, beschloss ich, mich Jan und Tom anzuschließen.
Tom lief uns voraus, weil wir bestimmt Stunden gebraucht hätten, um uns in diesem riesigen Haus zurechtzufinden. Doch nach circa 50 Metern standen wir in einer Art Labor. An drei Wänden des Raumes standen Schränke, die bis obenhin vollgestellt waren. Unter anderem mit Reagenzgläsern und Zubehör für Mikroskope. An der vierten Wand stand ganz hinten ein Schreibtisch mit zwei Stühlen. Offensichtlich gab es jemanden, der Tom bei seinen Forschungen half. Aber das war ja jetzt auch unwichtig. Tom steuerte auf eines der Regale zu und holte einen dicken Ordner aus dem Schrank. Damit ging er zu dem Schreibtisch, wohin Jan ihm folgte und dort die Tabletten abstellte. In dem Ordner waren alle möglichen Berichte und Bilder eingeheftet, die vermutlich Toms Forschung bezüglich des Opioids betrafen. Irgendwann nach geschätzten hundertfünfzig Blättern und einem Drittel des Ordners, hatte Tom wohl gefunden, wonach er gesucht hatte. Es handelte sich um eine Tabelle, in der verschiedene Werte eingetragen waren. Ich wusste nicht, ob Tom sie selbst entwickelt und erforscht hatte, aber wenn er das ganz alleine durchgezogen haben sollte, dann verdiente dieser Mann wirklich eine ganze Stange Respekt. Das war alles hochkarätig wissenschaftlich und nur für Kernphysiker zu verstehen. Deshalb gab ich mir gar keine Mühe in die Tabelle mit reinschauen zu können. Für Jan schien das allerdings interessanter. Vielleicht kannte er sich ja doch mehr damit aus, als ich gedacht hatte. Konnte doch möglich sein, dass er irgendwelche verborgenen Talente bei sowas entwickelte. Auf jeden Fall unterhielten sich Jan und Tom über die Inhalte der Tabelle. Das ging etwa eine halbe Stunde so, in der sie verschiedene Werte mit denen einer anderen Tabelle verglichen und einige offensichtlich wichtigen Dinge herausschrieben. Als sie fertig waren, ging Tom zu dem Regal, aus dem er den Ordner geholt hatte und stellte ihn wieder zurück. Dann suchte er den Schrank der gegenüberliegenden Wand nach einem Mikroskop ab. Es musste wohl ein besonderes sein, denn er hatte eine große Auswahl zwischen sieben verschiedenen. Dann zerbröselten die beiden eine der Tabletten und legten sie auf den Objekttisch. Zuerst schaute Tom durch das Okular. Dann bestand Jan darauf, auch einmal hindurchsehen zu dürfen. Tom hatte nichts dagegen und als beide etwas gesehen hatten, glichen sie ihre Ergebnisse ab und schrieben sie zu den Werten aus der Tabelle auf das Papier.
>> Jetzt kommt der schwere Teil. << Tom zog eine Augenbraue hoch.
>> Richtig. Wo kriegen wir eine Probe von Schwermetall her? << Jan machte ebenfalls ein ratloses Gesicht.
>> Ich weiß es nicht. <<
>> Wir brauchen irgendetwas, das aus Schwermetall besteht, oder es zumindest enthält. <<
>> Okay, was wissen wir denn über Schwermetall? <<
>> Einiges. Aber Sie sind der Forscher! <<
>> Ich hatte aber mit Schwermetallen noch nie sonderlich viel zu tun. Sie waren wenn dann, immer nur Nebenerscheinungen in meinen Arbeiten. <<
>> Na gut. Also, Schwermetalle sind alle Metalle deren Dichte über 4,5, beziehungsweise 5 Gramm pro Kubikzentimeter liegt. Es sind Bestandteile der Erdkruste und es gibt ungefähr sechzig verschiedene Arten Schwermetalle. Dazu zählen Eisen, Nickel und Kupfer. <<, Jan beendete seine Rede.
>> Beeindruckend. Woher wissen Sie das alles, Jan? <<
>> Chemie in der Schule und noch ein bisschen Allgemeinbildung. Also nicht der Rede wert. <<
>> Das sehe ich aber anders. Was wollen Sie denn später für einen Beruf ergreifen? <<
>> Ich möchte unbedingt in die Wissenschaft. Nicht so berühmt werden, wie Sie, aber trotzdem forschen. <<
>> Ja, das kann ich mir durchaus vorstellen. <<
>> Vielen Dank. Aber wir sollten nicht von den Schwermetallen abkommen. <<
>> So jung, und schon so zielstrebig. Okay, dann mal weiter im Text. <<
>> Wir wissen nicht, um was für eine Art Schwermetall es sich handelt, aber ich würde aus Prinzip mal auf eins der schwersten setzen. <<
>> Und was kommt da zum Beispiel infrage? <<
>> Also, das schwerste Schwermetall ist Iridium. Es hat eine Dichte von 22,7 g/cm³. <<
>> Aber wir wissen nicht, welche Produkte Iridium enthalten. <<
>> Ich habe mal gehört, dass Iridium in Zusammenhang mit Zündkerzen verwendet wird. <<
>> Na dann, nichts wie los zu meinem Auto. <<
Wir rannten förmlich aus dem Labor. Jan und Tom schienen ganz in ihrem Element zu sein. Tom zeigte uns den Weg in eine riesige Garage. Dort standen drei Luxuswagen. Wow!
>> Wissen Sie, Jan, wie man die Zündkerzen aus einem Auto rausbekommt? Ich habe keine Ahnung von Mechanik. <<
>> Klar, das bekommen wir hin. <<
Jan hob die Motorhaube und drei Minuten später hielt er eine Zündkerze in der Hand. Ich bekam den Mund beinahe nicht mehr zu, weil ich keine Ahnung hatte, wozu Jan fähig war. Offensichtlich war er nicht nur unheimlich gebildet und talentiert, sondern auch noch praktisch sehr gut veranlagt. Das konnte mitunter auch ein Grund gewesen sein, wieso er es sich leisten konnte, mir Mark so oft die Schule zu schwänzen. Aber ich war schon wieder viel zu sehr in meine Gedanken vertieft, um zu merken, dass Jan und Tom sich bereits auf den Weg zurück ins Haus gemacht hatten. Also lief ich ihnen schnell hinterher.
Wieder im Labor angekommen, schnappte sich Tom eines der anderen Mikroskope, die in seinem Regal standen. Ich kannte den Unterschied nicht und um ehrlich zu sein, gab es Dinge, die mich weitaus mehr interessierten als die Verwendung von Mikroskopen, aber Jan fragte ganz genau nach um auch ja den Durchblick zu behalten. Tom legte die Zündkerze auf den Objekttisch und ließ Jan jetzt zuerst durch das Okular schauen. Offenbar konnte man damit noch nicht sonderlich viel anfangen, denn als Jan seinen Kopf wieder hob und mich ansah, war seine Miene unverändert. Auch Tom schien nicht sonderlich begeistert zu sein. Trotzdem war ihre Arbeit noch nicht beendet.
>> Dann wollen wir doch mal sehen, ob die beiden Stoffe sich anziehen oder Abstoßen << Tom ging wieder zu dem Regal mit den Mikroskopen und stellte ein weiteres auf seinen Schreibtisch. Doch der Tisch war groß, weshalb auch drei Mikroskope genug Platz darauf fanden. Nun legte Tom die Zündkerze und einige Krümel der Tablette auf den Objektträger. Jetzt wollte er allerdings zuerst durchschauen. Als er seinen Kopf hob, hatte er ein Strahlen in den Augen, wie es in einem solchen Zusammenhang nur bei begeisterten Wissenschaftlern möglich war. Doch er sagte nichts. Vermutlich wollte er, dass Jan sich das Ganze selbst anschauen sollte. Ich konnte mir aber schon jetzt denken, was er gesehen haben musste. Schließlich hatte auch Jan gesehen, was sich da auf dem Objektträger abspielte. >> Wow! <<
Jetzt war ich neugierig geworden und bat die beiden, mich auch einmal durchschauen zu lassen. >>Selbstverständlich. << Tom war wirklich sehr freundlich. Ich hatte vermutet, dass er arrogant und eingebildet sein musste, denn ich kannte niemanden, der in einem solchen Haus mit eigenen Bediensteten wohnte, und sich nicht fühlte, als wäre er etwas besseres als die restliche Welt. Doch Tom war da wohl mit seiner Frau zusammen, eine der wenigen Ausnahmen. Wobei seine Frau wohl doch schon ein bisschen arrogant war.
Was ist da allerdings durch das Okular des Mikroskops sah, verblüffte mich. Es war ganz scharf eingestellt, so dass man alle Atome ganz genau sehen konnte. Und auch wenn sich die Zündkerze äußerlich nicht veränderte, sah man, dass alle Atome, die vermutlich Iridien waren, zu den Atomen aus der Tablette, die vermutlich Opioid waren, hingezogen wurden. Das war vermutlich der Grund, wieso Jan und Tom so verblüfft waren. Denn es veranschaulichte deutlich, dass sich die Substanz Opioid und Iridium ergänzten. Volltreffer!
>> Aber was ist, wenn jedes Schwermetall mit Opioid ergänzt werden kann? << Ich hatte Zweifel.
>> Das können wir untersuchen. Wir brauchen nur noch einen anderen Stoff, der eine andere Art Schwermetall enthält und müssen die beiden Stoffe testen. << Tom war immer noch zuversichtlich.
>> Das einfachste, was dafür in Frage kommt, wir vermutlich Eisen sein. Schrauben oder Nägel bestehen aus Eisen. Wenn wir einfach so einen Nagel mikroskopieren, wissen wir mehr. <<
>> Gute Idee, Jan. Dann gehe ich mal in mein Büro und sehe, ob ich einen Nagel finden kann. Sie beide können so lange hier bleiben. << Schon war Tom zur Tür draußen.
>> Das ist echt faszinierend, Jan, findest du nicht? <<
>> Ja, ja. Schon. << Er schien nicht zufrieden zu sein.
>> Was hast du denn? <<
>> Ich weiß nicht. Aber kommt dir das hier alles nicht auch ein bisschen verdächtig vor? <<
>> Verdächtig? Aber wieso denn das? <<
>> Schau doch mal. Vor drei Stunden wusste er noch nicht einmal, wer wir sind. Trotzdem hat er uns in sein Haus gelassen. Und dann hat er uns geholfen, ohne etwas zu wollen, und ohne uns richtig zu kennen. <<
>> Wir haben ihm doch gesagt, wieso wir seine Hilfe brauchen. Er will uns vermutlich nur helfen! <<
>> Aber jetzt lässt er uns ganz alleine in seinem Labor! Ohne zu befürchten, dass wir irgendwas von diesen ganzen wertvollen Sachen mitgehen lassen könnten. Das ist doch merkwürdig. <<
>> Mal nicht gleich den Teufel an die Wand, Jan. Hauptsache, wir finden heute das raus, was wir an Informationen brauchen, um einen Täter zu stellen und dann kann es uns doch eigentlich auch egal sein, was ein Tom Gaukert von uns denkt, oder? <<
>> Theoretisch schon. Aber stell dir doch mal vor, dass er mit all dem, was wir ihm heute so erzählt haben, zur Polizei geht. Was machen wir denn dann? Dann sind wir dran. Hast du vergessen, wir haben Bewährung?! <<
>> Wieso sollte er denn bitteschön zur Polizei gehen. Dazu hat er erstens keinen Grund und zweitens ist er dazu viel zu nett. <<
>> Freundlichkeit kann man spielen. Denn, ist dir schon einmal aufgefallen, dass er viel mehr weiß, als er eigentlich zugibt? <<
>> Wie meinst du das? <<
>> Na, er hat doch gesagt, dass er noch nie sonderlich viel mit Schwermetallen zu tun hatte. Dabei hat er aber eine Tabelle, in der sämtliche Werte eingetragen sind, bezüglichen verschiedener Stoffe, die er in Zusammenhang auf Opioid getestet hat. Unter anderem eben auch Schwermetalle. <<
>> Stimmt. Was waren das denn für Werte? Und noch etwas. Es stehen doch zwei Stühle hinter dem Schreibtisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Tom das alles alleine erforscht hat. Er hatte bestimmt jemanden, dem ihm geholfen hat. <<
>> Ach ja? Und wer sollte das sein? Das wäre ziemlich unwahrscheinlich, denn immerhin hätten wir dann im Internet irgendwelche anderen Namen finden müssen. Haben wir allerdings nicht. Das bedeutet, dass es auch niemand anderen gab. <<
>> Vielleicht wollte derjenige unbekannt bleiben. Sozusagen ein anonymer Komplize. Was ist denn zum Beispiel mit seiner Frau? <<
>> Mit seiner Frau? Die hat doch zu dir gesagt, dass sie nichts von Kernphysik versteht! <<
>> Ja, schon. Aber, da du der Meinung bist, dass uns Tom etwas vorspielt, dann kann doch auch seine Frau daran beteiligt sein, oder nicht? <<
>> Vielleicht. Das halte ich persönlich allerdings für unwahrscheinlich. <<
>> Und wie kommst du darauf? <<
>> Das sagt mir mein Bauchgefühl. <<
>> Jan, ich möchte dich nur ungern daran erinnern, dass wir hier in einer polizeilichen Angelegenheit vorankommen müssen. Und es geht immerhin um deinen besten Freund! Da können wir uns doch nicht auf irgendein Bauchgefühl verlassen. <<
>> Du hast ja Recht, Xenia. Aber was soll ich denn machen? <<
>> Das kann ich dir … <<
Ich brach ab, denn Tom kam wieder zur Tür herein. Er hielt zwei Schrauben und einen Nagel in der Hand.
>> Na dann geht’s mal wieder weiter! <<
>> Alles klar, Tom. Ist das beides Eisen, was Sie da haben? << Jan hatte wieder eine ganz andere Stimme aufgesetzt. Offenbar waren Tom und seine Frau nicht die einzigen potenziellen Schauspieler in diesem Haus.
>> Ja, ich denke schon. Auf alle Fälle sind es Schwermetalle. <<
>> Wieso sind Sie sich denn da so sicher? <<
>> Das sagt mir mein Bauchgefühl. -<< Jan sah mich wissend an. Das hätte sich Tom jetzt echt sparen können. Das trieb meinen Blutdruck nur weiter in die Höhe.
>>- Und sind nicht außerdem alle Nägel und Schrauben aus Schwermetallen? << Jan sah mich wieder an. Okay, Tom wusste vermutlich wirklich mehr, als er zugeben wollte. Doch das musste noch lange nichts heißen.
>> Ja, ich denke schon. << Jan stimmt Tom mit hochgezogenen Augenbrauen zu.
>> Gut. Dann legen wir mal los! << Tom war Feuer und Flamme.
>> Also gut. Wir können es uns ja sparen, die Nägel und Schrauben einzeln anzuschauen. Wenn Sie einen Nagel einfach auf das Mikroskop zu der Tablette legen, werden wir sehen, was passiert. <<
Tom machte, was Jan ihm vorgeschlagen hatte. Dann schauten die beiden nacheinander wieder durch das Okular und ließen mich auch noch einmal hindurchsehen. Es war genau das Gegenteil von dem, was sich vorhin mit der Zündkerze abgespielt hatte. Die Atome im Körper des Nagels versuchten, soviel Abstand, wie irgend möglich von dem Opioid in der Tablette zu nehmen. Als wir alle den Nagel begutachtet hatten, legte Tom eine Schraube auf den Objekttisch. Da war es das Gleiche. Entweder waren Schraube und Nagel aus dem gleichen Material oder es war wirklich so, dass nur ganz bestimmte Schwermetalle mit dem Opioid ergänzbar waren. Doch um das herauszufinden müssten wir noch viel zu viele Stoffe prüfen und das wollte keiner von uns. Außer vielleicht Tom. Aber dann müssten wir googlen, um herauszufinden, welche Dinge die bestimmten Stoffe enthielten. Also ließen wir es bleiben und vertrauten auf das, was wir gesehen hatten.
Nachdem Tom wieder alles an seinen Platz gestellt hatte und wir das Labor zum letzten Mal heute verließen und wieder in die ausladende Eingangshalle traten, forderte uns Sara auf, noch zum Kuchen ins Wohnzimmer zu kommen. Gretel hatte eine riesige Platte mit bestimmt drei verschiedenen Torten und Kuchen gebacken und auf den Tisch gestellt. Außerdem noch eine Kaffeekanne mit Tee und eine mit Kaffee. Wir setzten uns an den reich gedeckten Tisch und bedienten uns von dem großzügig angerichteten Kuchen. Sara und ich tranken jeweils zwei Tassen Kaffee. Jan und Tom bevorzugten Tee. Als wir fertig waren und ich wieder auf die Uhr sah, war es schon beinahe halb sechs. Ich sah Jan an und er schaute zu mir zurück. Wir waren uns einig, dass wir hier endlich weg wollten. Also bedankten wir uns für die Gastfreundschaft und den leckeren Kuchen und gingen. Sara bestand darauf, uns noch bis zur Tür zu begleiten, wo sie uns die Hand gab und der Türsteher uns mit einem neutralen Nicken verabschiedete. Wir waren froh über die Ergebnisse des heutigen Tages, aber auf eine Wiederholung dieses Nachmittags konnten Jan und ich sehr gut verzichten.
Wir würden eine Viertelstunde auf den nächsten Zug warten müssen. Nach zehn Minuten waren wir am Bahnhof. Außer uns standen da noch eine ältere Dame mit einem Hund, ich tippte auf einen Dackel, doch ich kannte mich mit Hunderassen noch nie sonderlich gut aus. Bei mir lag der Unterschied nur in der Größe und der Farbe ihres Fells. Außer der Dame und ihrem Begleiter standen noch drei Punks an dem Bahnhof, die jeder eine Kippe im Mund hatten und zwei von ihnen hielten jeweils eine dieser kleinen Wodka Fläschchen in der Hand. Alle drei hatten einen Irokesen mit viel Haarspray aufgestellt. Der des einen war grün, der andere blau und der letzte dunkellila. Alles in allem ein echt bunter Haufen. Wir konnten beobachten, wie die Oma die drei Punks immer ganz neugierig und zugleich beängstigt von der Seite anstarrte. Es gefiel ihr wohl nicht, wenn sich junge Menschen Stachelhalsbänder anzogen, die für einen Hund geeigneter wären, und sich die Haare aufstellten, zwanzig Zentimeter in die Höhe. Aber das war vermutlich nur Geschmackssache. Während wir die Oma und die Punks beobachteten, fiel uns gar nicht auf, dass der Zug bereits in den Bahnhof einfuhr. Als er hielt, stiegen wir ein und suchten uns einen Vierersitz. Jan setzte sich mir gegenüber und wir legten unsere Taschen auf die jeweiligen freien Plätze neben uns.
Während der Zugfahrt unterhielten wir uns über Tom und alles, was wir heute rausgefunden hatten. Jetzt war es uns egal, ob die Leute komisch schauten, oder ob sie uns überhaupt zuhörten. Immerhin würde es schon spät sein, wenn wir wieder zu Hause waren. Also zumindest so spät, dass ich nicht mehr zu Jan gehen, sondern mich gleich auf den Weg nach Hause machen würde. Denn morgen wartete wieder ein Tag im Seniorenheim auf uns. Die Aussicht darauf weckte bei mir nicht gerade Glücksgefühle, aber wir hatten uns die Suppe wohl selbst eingebrockt. Und wir hatten nur noch circa eine Woche, um den Fall >>Mark<< zu lösen. Die Polizei durfte uns einfach nicht zuvorkommen. Wir mussten schneller sein. Das waren wir Mark schuldig. Denn obwohl wir es nie besprochen hatten, war ich mir sicher, dass ich mit Jan einer Meinung war, wenn ich sagte, dass die Polizei sich keine solche Mühe geben würde, wie wir und den Fall >Mark< mit Selbstmord abstempelte, sodass es wie der Fall seines Vaters in den Akten verschwände, bis sich irgendjemand mal wieder an ihn erinnerte und wissen wolle, was aus ihm geworden war. Vielleicht noch ein Verwandter der Familie Baskin. Vielleicht Gabrielle. Wir wussten es nicht, aber wenn sich jemand danach erkundigen wollte, was mit Mark geschehen war, würde es demjenigen so gehen, wie Jan und mir, als wir mehr über den Tod von Bernhard Baskin herausfinden wollten. Apropos Bernhard Baskin. Gabrielle hatte immer noch seinen Namen behalten. Ob die beiden sich wohl nie hatten scheiden lassen? Das wäre wirklich ungewöhnlich, aber auch, wenn sie rechtlich bis zu dem Tod von Bernhard Baskin verheiratet waren, wieso hatte Gabrielle den Nachnamen behalten, wenn sie ihren Mann doch offenbar so sehr gehasst hatte? Oder hieß sie auch Baskin mit dem Mädchennamen? Das allerdings war noch ungewöhnlicher.
Kurz bevor wir bei dem Bahnhof in unserer Stadt ankamen, hatten wir alles über den heutigen Tag besprochen und ich fragte Jan nach Gabrielle Baskin und erzählte, was mir durch den Kopf ging.
>> Du hast Recht. Da muss irgendetwas faul sein… <<
>> Und wie finden wir das raus? <<
>> Wenn wir auf dem Standesamt nachfragen würden, wüssten wir, wie Mrs. Baskin vor ihrer Hochzeit mit Nachnamen hieß. <<
>> Geben die auf dem Standesamt denn so eine Auskunft? <<
>> Wir könnten es zumindest versuchen und uns als irgendwelche Verwandten ausgeben. <<
>> Und als welche Verwandten? <<
>> Keine Ahnung, Cousin und Cousine zweiten Grades? Wir könnten doch sagen, dass wir herausgefunden haben, dass eine gewisse Gabrielle Baskin mit uns verwandt sei. Dann haben wir sie beim Einwohnermeldeamt unter diesem Namen gesucht, aber sie wurde nicht gefunden. Jetzt brauchen wir den Mädchennamen. <<
>> Klingt zwar nicht sehr glaubwürdig, aber die Chance, dass sie uns glauben, besteht dennoch. <<
>> Also, dann machen wir es so. Aber ich würde einfach nur anrufen. Wenn du noch mit zu mir kommst, können wir es noch heute erledigen. <<
>> Ich weiß nicht. Wir müssen doch morgen wieder arbeiten und da will ich ausgeruht sein…<<
>> Ach komm schon. Das dauert auch bestimmt nicht lange. Und wer weiß, vielleicht wären wir nachher wieder einen Schritt weiter? <<
>> Na gut, überredet. Dann suchen wir im Internet eine Nummer. Oder im Telefonbuch. <<
>> Ich bin dafür, dass wir im Telefonbuch nachschauen. Da finden wir dann auch das Standesamt, das hier am nächsten in der Umgebung liegt. Hoffentlich haben wir Erfolg. <<
Kaum hatten wir unseren Dialog beendet, hielt der Zug an unserem Bahnhof. Wir stiegen aus und gingen zu Jan nach Hause. In seinem Zimmer stand immer noch der Laptop auf dem Boden. Er schaltete ihn an und holte eine Flasche Wasser und zwei Gläser.
>> Hast du auch Hunger? <<
>> Nein, ich mache mir nachher zu Hause was. <<
>> Wie jetzt? Komm, wir machen uns schnell was zu essen. <<
>> Alles klar. Und was gibt’s? <<
>> Keine Ahnung, ich weiß nicht, was wir dahaben. <<
>> Na gut, dann gehen wir mal schauen, oder? <<
>> Du scheinst ja doch ganz schön hungrig zu sein? << Jan grinste.
>> Nein, bin ich nicht. Aber ich denke, du hast vielleicht Hunger und dann will ich dich ja nicht unnötig aufhalten. <<
>> Ist klar! << Jetzt lachten wir beide los. Dann gingen wir in die Küche und schauten ins Gefrierfach. Nichts außer einer Packung Gemüse.
>> Wann um Himmels Willen, hast du das letzte Mal eingekauft?! << Ich war erschüttert.
>> Ich habe gar nicht eingekauft. Meine Eltern sind vor sechs Tagen, nach Marks Beerdigung weggefahren. Seit dem habe ich nicht mehr aufgefüllt. <<
>> War die Truhe denn voll, als deine Eltern weggefahren sind? <<
>> Ja, so ziemlich. <<
>> Oh mein Gott. Okay, und was essen wir jetzt? <<
>> Wir haben noch Eier im Kühlschrank. Du kannst schon mal in mein Zimmer gehen und nach einer Telefonnummer suchen und ich kann uns Rührei mit Speck machen. Ist das okay? <<
>> Aber sicher. Ich liebe Rührei! Aber ich wusste gar nicht, dass du sowas kochen kannst. <<
>> Ach, das ist doch keine große Kunst. <<
>> Na ja. Warten wir wohl erst einmal ab, wie es schmeckt. <<
>> Du brauchst gar nicht so zu grinsen. Mein Rührei schmeckt klasse! Dann mal bis gleich. <<
>> Okay, bis dann. << Lachend ging ich wieder in Jans Zimmer und rief Google als Suchmaschine auf. Wieso hatten wir uns jetzt plötzlich doch für Internetrecherche entschieden? Hatten wir im Zug nicht was von Telefonbuch gesagt? Na ja, wie auch immer. Wir waren eben High-Tech Kinder. Ich musste lächeln bei dem Gedanken. High-Tech Kinder … Na ja, wie auch immer. Ich gab als Suchbegriff >Standesamt< ein. Okay. 8,6 Millionen Treffer. Ich musste das Ganze schon ein bisschen eingrenzen. Aber wie? In unserem Dorf gab es sicher kein Standesamt. Also >Standesamt Nordrheinwestphalen Tatsächlich war er schon fertig und war gerade dabei, das Rührei auf zwei Teller zu verteilen. Als er mich in die Küche kommen sah, sagte er: >> Das ging aber schnell. <<
>> Und stell dir vor, ich war sogar erfolgreich! <<
>> Super! Aber jetzt setz dich erst einmal hin und iss was. << Er hatte wieder dieses Jan-Lächeln auf den Lippen.
>> Mhmm… Das Rührei schmeckt wirklich gut! <<
>> Hab ich doch gesagt. <<
>> Ich wusste wirklich nicht, dass du kochen kannst. Ich dachte, du bist auch mehr der Mensch für Tiefkühlkost. <<
>> Bin ich sonst auch, aber wenn wir nichts haben, dann muss ich mir eben anders weiterhelfen. <<
>> Und wie kommst du dann die nächsten Tage über die Runde? <<
>> Mit Rührei und Speck? << Er lachte. Ich stimmte ein.
>> Gute Idee, wirklich. <<
>> Ja, ich weiß. Also, was hast du? <<
>> Was? <<
>> Was du rausgefunden hast. <<
>> Achso. Hier in der Nähe ist ein Standesamt. Ich hab auch die Telefonnummer und man kann dort rund um die Uhr anrufen, also es ist immer jemand da. <<
>> Perfekt. Dann können wir ja jetzt noch in Ruhe weiteressen. <<
>> Genau. Aber ich muss schon noch irgendwie vor Mitternacht nach Hause, weil wir ja morgen wieder früh raus müssen. <<
>> Schon klar. Bis Mitternacht hatte ich auch gar nicht gedacht, dass du bleibst. <<
>> Okay, dann gehe ich, wenn wir fertig sind, oder wenn du mich wegschickst. Je nach dem. <<
>> Ich schicke dich nicht weg, keine Sorge. <<
>> Ich habe nicht gesagt, dass ich mir darüber Sorgen mache. <<
>> Gut. << Der Rest von unserem Abendessen verlief schweigsam und still. Als wir fertig waren und ich auf die Uhr schaute, war es schon zehn nach acht. Na ja, wir hatten ja Ferien, die musste ich auch einmal genießen können. Von daher beschloss ich, heute Abend nicht mehr auf die Uhr zu schauen und mit Jan das durchzuziehen, was wir noch erledigen mussten. Und dann nach Hause gehen, schlafen und morgen früh pünktlich aufstehen und ins Seniorenheim gehen. Nachdem wir gegessen hatten, räumte Jan den Tisch ab und wir gingen wieder in sein Zimmer. Er nahm sein Telefon aus der Büchse und wählte die Nummer, die ich aufgeschrieben hatte. Da er wieder Lautsprecher eingeschaltet hatte, konnte ich alles mithören, was er mit dem Mann besprach, der sich nach dem dritten Klingeln am Telefon meldete.
>> Standesamt Nordrheinwestphalen, Schmitt am Apparat. Was kann ich für Sie tun? <<
>> Hallo, hier spricht Markus Becker. << Gut improvisiert, musste ich zugeben.
>> Ja, was kann ich für Sie tun, Herr Becker? <<
>> Achso. Also, meine Frau und ich haben gestern durch einen Zufall festgestellt, dass wir mit Gabrielle Baskin verwandt sind. Da wollten wir uns natürlich mal mit ihr in Verbindung setzen. <<
>> Und wieso rufen Sie mich an? Das ist doch ein Fall für das Einwohnermeldeamt. <<
>> Das weiß ich und wir haben dort auch angerufen. <<
>> Und wo liegt das Problem? <<
>> Unter Gabrielle Baskin konnten sie niemanden finden. <<
>> Was soll ich denn da machen? <<
>> Wir dachten uns, dass Gabrielle Baskin vielleicht unter ihrem Mädchennamen vermerkt ist. <<
>> Woher wissen Sie denn, dass sie verheiratet ist? <<
>> Ich weiß es nicht, … aber … wir wissen ja, dass es sie gibt und dann liegt es doch nahe, dass sie unter einem anderen Namen vermerkt ist. Verstehen Sie, was ich meine? << Das war zwar sehr unlogisch, aber wenigstens etwas.
>> Ja, ich verstehe. <<
>> Könnten Sie vielleicht in ihren Akten nachschauen, wann Gabrielle Baskin geheiratet hat und wie sie vorher hieß? <<
>> Eigentlich geben wir hier solche Informationen nicht weiter. <<
>> Aber das ist doch ein Notfall. <<
>> Als Notfall würde ich das aber nicht gerade bezeichnen. << Mist, Jan schaute hilflos zu mir. Ich konnte nur die Achseln zucken.
>> Okay, ich wollte das zwar nicht erzählen, aber es ist ein Notfall. Meine Frau ist seit einigen Monaten schwer krank und sie möchte Gabrielle Baskin unbedingt kennenlernen. Sie müssen wissen, dass die beiden früher zusammen gespielt haben. Das würde Erinnerungen bei meiner Frau wecken. <<
>> Wenn Ihre Frau Gabrielle Baskin noch von früher kennt, dann müsste sie doch auch wissen, wie sie damals mit Nachnamen hieß. <<
>> Nein, das weiß sie nicht. Sie kennen doch bestimmt kleine Kinder. Die interessieren sich doch nicht dafür, wie jemand mit Nachnamen heißt. Die siezen sich ja nicht. <<
>> Das ist wohl wahr. Und das mit Ihrer Frau tut mir auch wirklich leid, aber diese Informationen sind wirklich strengstens vertraulich. <<
>> Kommen Sie. Es wird doch niemand erfahren. <<
>> Das ist egal. Ich darf das nicht. Es verstößt gegen meine Berufsgrundlagen. <<
>> Zu Ihrem Beruf gehört es doch nicht, nur Leute zu verheiraten und zu bestatten, oder? <<
>> Nein, das ist richtig. <<
>> Sie sollen doch auch Auskünfte geben, hab ich recht? <<
>> Ja, Sie haben recht. <<
>> Und jetzt bitte ich Sie darum, mir eine Auskunft zu geben und Sie tun es nicht. Sind Sie nicht auch der Meinung, dass das viel mehr ihrem Beruf widerstrebt, als die Tatsache, dass Sie mir weiterhelfen? <<
>> Der Ansicht bin ich durchaus nicht, da ich einen Vertrag unterzeichnet habe, indem steht, welche Auskünfte ich geben darf und welche nicht. Aber wieso erzähle ich Ihnen das überhaupt? <<
>> Sehen Sie? Das ist genauso etwas, was eigentlich niemanden etwas angeht und sie sagen es mir trotzdem. Und was mit Gabrielle Baskin ist, geht mich und meine Frau sehr wohl etwas an und Sie sagen es mir nicht. Das hat keine Logik und auch keine Prinzipien. << Ich bezweifelte, dass Jan wusste, was er da redete, aber er machte das durchaus gut.
>> Okay, ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber Sie verwirren mich. <<
>> Ach ja? Wenn Sie sich durch so eine Ansprache schon verwirren lassen, dann sind Sie vermutlich nicht geeignet, so einen Beruf auszuüben, bei dem man andauernd mit Menschen reden muss, die einem irgendetwas erzählen wollen. <<
>> Also, ich muss mich von Ihnen ja nun nicht beleidigen lassen. <<
>> Nein, das müssen Sie nicht. Aber der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist, dass Sie einen Job zu verlieren haben, wenn Informationen darüber, wie Sie mit einem Menschen umgehen, der lediglich eine Information von Ihnen haben wollte, an Ihre Chefetage gelangen. <<
>> Wollen Sie mich jetzt etwa erpressen? <<
>> Will ich das? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. <<
>> Ich lasse mich nicht erpressen. <<
>> Der Gesprächsstoff, den Sie mir für eine Unterhaltung mit Ihrem Vorgesetzten liefern, wird immer pikanter. <<
>> Ich warne Sie. Sie können doch keine Lügen über mich verbreiten. <<
>> Sie warnen mich? Soll das etwa eine Drohung sein? << Jan war echt gut. Aber ob das noch zu etwas führen würde? …
>> Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht habe ich einen Job zu verlieren, aber Sie haben auch eine ganze Menge zu verlieren. Immerhin habe ich auch eine ganze Reihe von Informationen über Sie. <<
>> Okay, also das, was Sie gerade gesagt haben, lässt sich nur als eine Drohung auffassen. Und Sie wissen rein gar nichts über mich. Meinetwegen, gehen Sie zu ihrem Chef. Erzählen Sie ihm von diesem Gespräch. Was glauben Sie, wenn ich auch zu ihrem Chef gehe und ihm genau das Gegenteil von Ihrer Geschichte erzähle, gegen wen wird er etwas unternehmen? Gegen mich, einen unbekannten Mann, mit dem er nichts zu tun hat, oder gegen Sie, einen seiner Mitarbeiter, der gerade dazu beiträgt, dass Image seines Standesamtes zu ruinieren? <<
>> Okay, Sie haben gewonnen. Sie bekommen die Information, aber das kann eine Weile dauern. Ich würde Sie bitten, in der Warteschleife zu bleiben. Ich werde mich melden, sobald ich die gewünschte Auskunft geben kann. <<
>> Alles klar, ich werde warten. Vielen Dank. << Jan legte erschöpft das Telefon aus der Hand und grinste mich an. Ich war sprachlos und brachte keinen Ton heraus.
>> Na, wie war ich? <<, fragte Jan lachend.
>> Ehm .. wow! <<
>> Dankeschön, ich hoffe doch, dass das so etwas wie ein Kompliment sein sollte. <<
>> Äh, ja klar, sollte es. << Ich hatte meine Stimme wiedergefunden.
>> Jetzt müssen wir nur noch hoffen, dass er uns nicht bescheißt. <<
>> Wieso sollte er das tun? Ich glaube, du hast ziemlichen Eindruck auf ihn gemacht. Aber was, wenn er jetzt doch zu seinem Chef geht? <<
>> Das kann er ruhig machen. Immerhin bin ich nicht Markus Becker, oder? <<
>> Stimmt. Das war übrigens auch sehr schnell improvisiert. <<
>> Ja … Ich hab in sowas ein bisschen Übung. <<
>> In was? <<
>> Na ja. Mit einer anderen Identität bei Menschen anrufen und sie solange zu bearbeiten, bis ich das kriege, was ich wollte. <<
>> Okay, und wann hast du das schon mal gemacht? <<
>> Ach, mit Mark hab ich allerlei krumme Dinger abgezogen und, nun ja, meistens haben wir dann irgendwelche Namen von Leuten gebraucht oder gefälschte Ausweise, all sowas eben. <<
>> Oh, das wusste ich nicht. Ich dachte immer, du bist so jemand, der nie irgendetwas Schlechtes macht. <<
>> Wieso hast du denn bitte sowas gedacht? <<
>> Keine Ahnung. Manchmal habe ich auch dran gezweifelt, Gründe genug hatte ich ja. <<
>> Ja, das ist wohl wahr. Aber da hattest du vermutlich wirklich ein total falsches Bild von mir. <<
>> Aber immerhin war das Bild gut. Wer weiß, hätte ich gewusst, was für ein schlimmer Kerl du bist, vielleicht hätte ich mich nie darauf eingelassen, diesen Fall mit dir zu lösen. <<
>> Stimmt, dann hatte das ja auch seine guten Seiten. <<
>> Genau. Ich bin mal gespannt, wie lange der Typ vom Standesamt braucht, bis er wieder zurückruft. <<
>> Ja, bin ich auch. Aber ich denke mal, das wird noch eine Weile dauern. <<
>> Und was machen wie so lange? <<
>> Keine Ahnung, aber bitte irgendwas, wobei man nicht denken muss oder so. Ich bin echt kaputt. <<
>> Alles klar, ich bin einverstanden. Aber, wenn du willst, kann ich auch nach Hause gehen und du kannst dich dann ausruhen. Du kannst ja auch alleine mit dem Mann vom Standesamt reden. <<
>> Nein, nein. Bleib ruhig hier. <<
>> Okay, wie du meinst. <<
>> Wollen wir einen Film schauen oder so? <<
>> Gute Idee. Was hast du denn für Filme? <<
>> Kommt drauf an, worauf du Lust hast. Eher Actionfilme oder Komödie? Es tut mir leid, ich hab nämlich keine Schnulzen. << Jan zwinkerte.
>> Das ist kein Problem, ich bin sowieso nicht so ein Schnulzenfan. Das ist wohl auch nur eines von so vielen Klischees. Aber ich bin eher für Komödie. Immerhin hatten wir heute schon genug Action, meinst du
nicht? <<
>> Klar, bin dabei. <<
Wir gingen ins Wohnzimmer und blieben vor dem Fernseher stehen. Der stand auf einem kleinen Schränkchen, das randvoll war mit DVDs und Videos. Na, das konnte ja erstmal eine lange Suchaktion werden. Jan holte erst einmal um die zwanzig Filme heraus, die Komödien waren. Der Rest, der noch übrig bleib, waren ungefähr um die vierzig Actionfilme. Wer die wohl alle anschaute? Nachdem wir alle Filme vor uns ausgelegt hatten, sortierten wir. Nachher hatten wir drei Haufen. Den ‚Ja-Haufen‘, den ‚Nein-Haufen‘ und den ‚Vielleicht-Haufen‘. Die Filme vom ‚Nein-Haufen‘ konnten wir gleich aussortieren. Das waren allerdings nur vier Stück. Jetzt schmissen wir die Filme wieder alle zusammen und machten erneut Haufen. Auf den ‚Ja-Haufen‘ kamen nur Filme, die wir beide schauen wollten, der ‚Vielleicht-Haufen‘ wurde abgeschafft und auf den ‚Nein-Haufen‘ kamen Filme, die nur einer von uns oder doch gar keiner schauen wollte. Das alleine machte schon Spaß und wir lachten die ganze Zeit über unsere eigenen Argumente, wieso wir den Film nicht schauen wollten, oder eben doch. Die meisten Filme kannte ich noch nicht, aber vom Titel und vom Cover her konnte man ja schon entscheiden, ob einem der Film gefallen würde oder nicht. Selbst Jan hatte noch nicht alle Filme angeschaut, wie er mir sagte. Nachdem noch ungefähr sieben Filme übrig waren, gingen wir nach dem Kriterium, welche Filme wir schon kannten, die wurden aussortiert und welche wir noch nicht kannten. Schließlich mussten wir uns noch zwischen zwei Filmen entscheiden. Das eine war eine romantische Komödie und das andere war ein Film, den man in keine Kategorie einordnen konnte. Beide waren aus Amerika. Der eine Film, die romantische Komödie war in der Hauptrolle mit Hugh Grant. Jan hasste diesen Typen, aber er fand den Film trotzdem nicht schlecht. Obwohl er ihn noch nie gesehen hatte, das gab mir zu denken … Der Film hieß ‚Mitten ins Herz – Ein Song für dich. Klang ja schon mal sehr romantisch … Der andere Film war ‚Hangover‘. Davon hatte ich schon viel gehört, aber ich hatte den Film noch nicht gesehen. Also war ich dafür. Doch Jan war aus unerfindlichen Gründen voll und ganz für den Hugh Grant – Film. Na gut. Da wir bei ihm zu Hause waren, beschloss ich also, nachzugeben und mir den Film anzuschauen. Eigentlich war ich ja auch ganz gespannt auf den Film, weil Hugh Grant einer meiner Lieblingsschauspieler war. Also gut.
Jan schaltete den DVD-Player an und legte die DVD ein. Als er gerade auf dem Weg zum Lichtschalter war, um das Licht auszumachen, hörten wir eine Stimme laut „Hallo?!“ sagen. Wir erschraken, weil wir nicht wussten, was das war. Doch dann sahen wir den Telefonhörer auf dem Tisch liegen aus dem die Stimme des Mannes vom Standesamt kam. Das war ja mal ein perfektes Timing. Jan schaute ganz trüb und irgendwie niedergeschlagen. Ich wusste echt nicht, was er so toll an diesem Film fand, den er noch nicht einmal kannte, dass er unbedingt darauf bestand, ihn zu schauen. Doch da jetzt eben kein Weg daran vorbeiführte, stoppte er die DVD, nahm den Hörer in die Hand und meldete sich mit >>Markus Becker? <<
>> Hallo, Schmitt hier, vom Standesamt, Sie wissen? <<
>> Ja, ich weiß. Wie schön, dass Sie sich doch dazu entschlossen haben, meiner Frau und mir mit der Information weiterzuhelfen. <<
>> Ist doch kein Problem, solange diese vorherige Eskapade unter uns bleibt. <<
>> Aber selbstverständlich. Vorausgesetzt, Sie konnten etwas herausfinden, ansonsten muss ich das nochmal überdenken. <<
>> Doch, doch. Ich habe tatsächlich etwas rausgefunden. Noch mehr, als Sie vermutlich wissen wollten. <<
>> Da bin ich aber gespannt. Lassen Sie mal hören. <<
>> Also, der Mädchenname von Gabrielle Baskin ist Gabi Maria Bianca. Sie hat sich umbenennen lassen in Gabrielle. Eigentlich ist sie nämlich Italienerin. Dann hat sie das erste Mal geheiratet und hieß Gabrielle Corpse. Und schließlich hat sie nochmal geheiratet und hieß Baskin. Die Ehe mit Bernhard Baskin wurde auch geschieden, aber Gabrielle hat den Namen dennoch behalten. Wieso, das konnte ich leider nicht herausfinden. << Jan hatte alle Informationen mitgeschrieben und obwohl man ihm deutlich den Schock ansehen konnte, versuchte er, sachlich und locker zu bleiben.
>> Vielen Dank, Mr. Schmitt. Sie haben meiner Frau und mir wirklich sehr geholfen. Auf Wiederhören. <<
>> Gern geschehen. Tschüss. << Mr. Schmitt war deutlich um einen freundlichen Ton bemüht. Dennoch konnte man die Abscheu im Unterton seiner Stimme heraushören.
Okay, das war eine große Überraschung, um nicht zu sagen ein Schock. Gabrielle Baskin war Italienerin, hatte sich umbenennen lassen und geheiratet. Und es gab viele Gründe, die dafür sprachen, dass ihr erster Mann Mr. Corpse, der Bestatter war. Es gab in dieser Gegend nämlich nicht so viele Leute, die Corpse hießen. Oh man. Aber wieso wusste das niemand, oder wieso stand das nirgendwo? Aber das könnte auch ein guter Grund sein, wieso sie den Namen von Bernhard Baskin behalten hat. Immerhin hätte sie sonst nur ihren italienischen Namen oder den von Mr. Corpse. Aber wieso hatte sie sich eigentlich umbenennen lassen? Das wurde wirklich alles immer verstrickter. Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass Jan inzwischen vor sich hin geredet hatte.
>> Entschuldige, was hast du gesagt? << Das war jetzt wirklich peinlich.
>> Ach nichts, ich kann das alles nur irgendwie nicht glauben. Anstatt dass sich hier irgendwas in diesem Fall auflöst, kommt immer mehr Stoff, den wir nachforschen müssen. Irgendwann können wir uns nicht mal mehr merken, was wir schon alles rausgefunden haben. Und außerdem haben wir nur noch eine Woche. Und wir müssen auch noch ins Seniorenheim. Mein Gott, ist das alles vertrackt… <<
Ich war genau Jans Meinung und er redete immer weiter, hörte gar nicht mehr auf. Aber zum Glück hatte ich ja bemerkt, dass er eigentlich nicht mit mir sondern mehr mit sich selber redete. Dann musste ich wohl auch nicht zuhören. Also versuchte ich, mir auszumalen, wieso sie ihren italienischen Namen nicht behalten hatte. Ich schätzte mal, dass Jan auch gerade darüber philosophierte, weil ich den Namen Gabi Maria Bianca heraushören konnte.
Okay, also. Vermutlich war sie in Italien aufgewachsen und müsste eigentlich auch folglich italienische Eltern haben. Wussten wir irgendetwas über ihre Eltern? Nicht, dass mir das jetzt einfallen würde. Vielleicht hatte sie aber auch deutsche Eltern, denn sie sah nun wirklich nicht wie eine Italienerin aus. Wie sehen denn Italiener aus? Auf jeden Fall eine gebräunte Hautfarbe. Hatte Gabrielle Baskin die? Na ja, irgendwie schon, aber das konnte auch am Solarium liegen. Mark war jedenfalls nicht braun. Und Bernhard Baskin war das auch nicht, ich hatte Bilder gesehen im Internet. Und wenn Mark der Sohn von Gabrielle Baskin und Bernhard Baskin war, dann müsste er wenigstens einen leicht bräunlichen Teint haben. Immerhin setzte sich doch die dominante Farbe durch, hatte ich mal irgendwo gelesen. Also dann hatte Gabrielle Baskin also wohl keine italienischen Wurzeln. Doch wieso ging sie ins Solarium, wenn sie sich schon hatte umbenennen lassen, um nicht mit Italien in Verbindung gebracht zu werden? Das entsprach dann wohl ihrem Schönheitsideal. Okay, das war mal geklärt.
Blieb aber immer noch die Frage, wieso sie einen italienischen Namen hatte. Vielleicht hatte sie deutsche Eltern, die sie aber zur Adoption freigegeben hatten und sie wurde rein zufällig von einer italienischen Familie adoptiert, die kein Kind mit einem deutschen Namen haben wollten. Deshalb hatten sie sie umgetauft. Zwar nicht wirklich glaubhaft, aber in diesem Fall, was war das schon? Dann war Gabi Maria Bianca also volljährig und ist nach Deutschland gekommen. Irgendwann erfuhren die Kinder doch auch, dass sie adoptiert worden sind und wollen ihre leiblichen Eltern finden. Gut, dann kam sie also nach Deutschland und hat ihre Eltern gefunden. Daraufhin wollte sie deren Namen aber nicht annehmen, sondern wollte lediglich einen deutschen Vornamen. Sie ließ sich umbenennen und heiratete ein paar Jahre später. Vielleicht aber auch nicht so viel später. Vielleicht heiratete sie ja auch gleich nach ihrer Einreise in Deutschland. Das wussten wir nicht. Auf jeden Fall hielt die Ehe nicht ewig und sie trennte sich von Mr. Corpse.
Irgendwann lernte sie Bernhard Baskin kennen und heiratete ihn. Dann trennten sie sich, er starb und sie behielt seinen Namen. So einfach war das wohl. Na, ob das aber auch so stimmte, ließ sich bezweifeln. Trotzdem hatten wir so ziemliche keine Anhaltspunkte. Jan war jetzt offenbar auch fertig mit seinem Monolog und hatte ebenfalls eine Lösung gefunden.
>> Lass uns Gabi Maria Bianca mal in Google suchen <<, schlug er vor.
>> Gute Idee. << Vielleicht konnten wir so noch etwas über ihre Vergangenheit finden.
>> Ich kann meinen Laptop hier ins Wohnzimmer bringen, dann kannst du hierbleiben. <<
>> Das musst du doch nicht. Wir können in dein Zimmer gehen. <<
>> Nein, kein Problem. Bleib ruhig hier. <<
>> Na gut, wie du willst. <<
Nach zwei Minuten war Jan wieder mit seinem Laptop im Arm wieder zurück. Er steckte das Ladekabel in die Steckdose und stellte den Laptop auf den Boden. Dort lag ein schöner flauschiger dicker Teppich. Ich setzte mich neben Jan vor den Bildschirm und er ließ den Laptop hochfahren. Dann ging er ins Internet und gab Gabi Maria Bianca ein. Was dann kam, überraschte mich. Nur zwanzig Suchergebnisse. Das war ungewöhnlich. Aber wenigstens konnten wir uns so alle geordnet ansehen.
Ein Link führte zu einem Vornamenregister für Babies, ein anderer zu einer kirchlichen Seite, wieder ein anderer zu Wikipedia. Den klickten wir an. Dort stand:
Gabi Maria Bianca (geboren am 15.08.1970) wuchs in Italien bei ihren Adoptiveltern Giovanni und Maria Bianca auf. Sie stand wegen Bankraub und Drogenmissbrauch unter Beobachtung der italienischen Polizei. Im Alter von 21 Jahren und nach einem weiteren Raub, den man ihr erst Jahre später nachweisen konnte, verschwand sie spurlos. Bis heute wurde sie nicht mehr gesehen.
Das war ein harter Brocken. Und noch mehr Informationen, die uns eher einen Schritt nach hinten anstatt vorwärts brachten. Sie wurde vermisst. Sie hatte Banken überfallen und mit Drogen gedealt. Wenn ich jetz so das Gesicht von Gabrielle Baskin vor mir sah, konnte ich es gar nicht glauben, dass die Frau, die ich sah und die Frau, die hier beschrieben wurde, die gleiche Person ist. Ich hatte mal wieder komplett vergessen, dass Jan neben mir saß. Der starrte auch nur unbewegt auf den Bildschirm, vermutlich ging ihm in etwa das gleiche durch den Kopf wie mir. Damit wir uns nicht weiter anschwiegen, ergriff ich das Wort.
>> Weißt du, was ich nicht verstehe? Wenn Gabrielle Baskin doch ihre Identität gewechselt hat, dann hat sie doch auch bestimmt mal gesehen, dass über sie ein Eintrag ins Internet gestellt wurde. Wieso hat sie ihn nicht gelöscht, das kann doch jeder, oder? <<
>> Ich hätte da eher eine andere Frage. Wer hat den Eintrag überhaupt geschrieben? <<
>> Wie meinst du das? <<
>> Na, wenn doch jeder die Einträge löschen kann, dann kann auch jeder diesen etwas hinzufügen oder selbst eigene Einträge verfassen. Wer hat dann diesen hier geschrieben? <<
>> Vielleicht irgendein Bekannter aus Italien? <<
>> Dann wäre er doch auf Italienisch. <<
>> Das kann man doch übersetzen, oder? <<
>> Theoretisch schon. Aber wenn bei Wikipedia oder Google irgendetwas von seiner Ursprungssprache in eine andere übersetzt wird, ist meistens nicht alles grammatikalisch gesehen richtig. Hier aber schon. Es muss also entweder jemand gewesen sein, der den Text absichtlich ins Deutsche übersetzt hat, oder der einen eigenen deutschen Text verfasst hat. <<
>> Bei Wikipedia kannst du doch auch in einer anderen Sprache suchen, oder? Gib doch mal das ganze beim Italienischen ein. <<
Jan tippte es ein. Keine Treffer gefunden. Also musste es doch jemand aus Deutschland gewesen sein.
>> Wer sollte das denn tun? << Ich hatte keine Ahnung, was Jan dachte.
>> Ich hätte da schon so eine Vermutung. <<
>> Was denkst du denn? <<
>> Gabrielle Baskin. <<
>> Was, wieso sollte sie das denn tun? << War Jan jetzt völlig übergeschnappt?! Das konnte ich mir beim besten Willen und bei aller Freundschaft nun wirklich nicht vorstellen.
>> Na ja, ist doch gar nicht mal so unwahrscheinlich. Immerhin kann sie doch versucht haben, durch diesen Eintrag mit der Sache abzuschließen. Und sollte man irgendwann herausfinden, wer diesen Eintrag geschrieben hat, dann kommt man ja auch nicht auf die Idee, dass die Frau, die ihn geschrieben hat, die gleiche Frau ist, über die sie geschrieben hat. Außer natürlich, man geht der Sache nach, aber wer macht das schon? Verstehst du jetzt, was ich meine? <<
>> Ja, ich denke schon. Aber, wer das geschrieben hat, kann man doch irgendwo nachschauen, oder? <<
>> Ja, kann man schon. Aber ich kann das nicht. Ich bin nicht so der Computerspezialist … <<
>> Okay, aber wenn du doch weißt, dass man das kann, dann musst du doch auch ungefähr wissen, was man machen muss, oder? <<
>> Weiß ich schon. <<
>> Wie gut. Dann versuchen wir das jetzt. <<
Und dann waren wir circa eine Stunde damit beschäftigt, herauszufinden, wer diesen Eintrag über Gabi Maria Bianca geschrieben hatte. Nebenbei bemerkt, >> Bianca << war schon ein ungewöhnlicher Nachname. Selbst für Italiener.
Irgendwann hatten wir es dann gefunden. Zum Glück war Jan so ordentlich und hatte sich jeden einzelnen Schritt, den wir gemacht hatten, mit geschrieben. Vermutlich hatte er nur so, so viele nützlichen Dinge gelernt, die er beherrschte. Einfach alles mitschrieben und die Zettel zu Hause lernen.
Auf alle Fälle stand da der Name. Gabrielle Baskin. Schwarz auf weiß. Das einzige Problem war, es bewies lediglich, dass sie den Eintrag geschrieben hatte. Und wir wussten, dass sie Gabi Maria Bianca war. Doch wir hatten keinen handfesten Beweis dafür. Der Mann vom Standesamt? Zu leicht erpressbar. Einen alten Personalausweis? Vermutlich verbrannt. Die Unterlagen im Standesamt? Fälschbar. Ihre Adoptiveltern? Keine Garantie, dass sie sie erkennen würden und auch viel zu viel Zeitaufwand um sie ausfindig zu machen.
Das war’s. Wir hatten keine Beweise. Das war hoffnungslos. Aber wir brauchten den Beweis. Das war ein sicheres Ticket, dass Gabrielle Baskin unter jeden Umständen ins Gefängnis musste.
Doch wir hatten einen wichtigen Punkt vergessen. Nämlich die Tatsache, dass es noch einige andere Websites gab, die auf den Suchbegriff ‚Gabi Maria Bianca‘ zurückzuführen waren. Das sagte ich Jan und wir machten weiter und durchforsteten jede Seite nach irgendwelchen Informationen. Nichts. Verdammt.
Na ja. Vielleicht konnten uns die Informationen, die wir bis jetzt hatten, auch irgendwann noch von Nutzen sein. Doch das, was wir unbedingt brauchten, hatten wir immer noch nicht. Und zwar die Kleidung von Mark. Um jemanden überführen zu können, mussten wir doch erst einmal feststellen, ob es sich überhaupt um Iridium handelte, bei dem, was da eingenäht wurde. Zwar hatten wir, hypothetisch gesehen, allerlei Theorien, doch wir hatten beinahe nichts hundertprozentig bewiesen. Genauso wie bei Tom Gaukert auch. Wir wussten nicht, ob nur ganz bestimmte Stoffe mit dem Opioid reagierten. Wir nahmen es an, aber wir wussten es nicht. Und genauso war es jetzt auch mit Gabrielle Baskin. Also brauchten wir, um endlich mal handfeste Beweise zu bekommen, die verdammten Klamotten. Doch wie sollten wir an die rankommen? Zwar hatte Mr. Corpse gesagt, dass er uns helfen würde, doch wenn es stimmte, dass er mit Gabrielle Baskin verheiratet war, wollten wir uns lieber nicht darauf verlassen. Immerhin wussten wir ja nicht, in welchem Kontakt die beiden noch standen. Es konnte auch sein, dass er ihr von dem Gespräch mit Jan und mir erzählt hat. Das wussten wir eben auch nicht. Langsam sah ich wirklich schwarz. Jan war da offensichtlich nicht anderer Meinung.
In einem stillen Moment, wo ich nicht mal mehr nachdachte, musste ich meinen Vorsatz brechen und auf die Uhr schauen. Ich viel fast um vor Schreck. Es war kurz nach elf. Ach du Schande. So lange kam es mir gar nicht vor, dass wir hier schon herumsaßen. Jan merkte meinen Blick und ihm stockte ebenfalls der Atem. Da hatten wir wohl beide ein bisschen die Zeit vergessen.
>> Oh man. Ich muss dann wohl auch mal los. <<
>> Aber du kannst doch jetzt im Stockfinsteren nicht nach Hause laufen. <<
>> Was soll ich denn sonst machen? <<
>> Bleib doch einfach hier. Wir haben ein großes Gästezimmer und morgen früh stehen wir auf und gehen zu dir nach Hause, da kannst du dich dann fertigmachen. Ganz einfach. << Das Angebot überraschte mich.
>> Wirklich? <<
>> Klar, wieso nicht. Ich kann dich doch jetzt unmöglich nach Hause gehen lassen. <<
>> Alles klar, dann bleibe ich hier. Dankeschön. <<
>> Ach, kein Problem. Aber wenn du sowieso hier bleibst, dann können wir ja noch ein bisschen weitermachen, oder? <<
>> Mhmm, ja. Ich komme wahrscheinlich sowieso nicht so wirklich zum schlafen diese Nacht. Dafür ist heute den ganzen Tag viel zu viel passiert. <<
>> Da hast du wohl recht. Okay, mal sehen. Was wissen wir und was müssen wir noch wissen. <<
>> Wir wissen, dass Marks Mutter früher eine Kriminelle war. Das sind doch schon mal gute Grundlagen. <<
>> Schon, aber daraus können wir ja noch nichts auf heute schließen. <<
>> Stimmt… Aber warte mal, Jan. Weißt du, was mir grade einfällt? <<
>> Nein, schieß los. <<
>> Also, wenn doch Gabrielle Baskin als Kind oder als Kleinkind zur Adoption freigegeben wurde, dann musste sie doch vor der Adoption einen Namen gehabt haben, oder? <<
>> Eigentlich schon, aber es gibt auch Fälle, bei denen schon das Baby, bevor es zur Welt gekommen ist, zur Adoption freigegeben wird. Dann hat die Adoptionsfamilie alle Rechte und kann dementsprechend dann auch die Namenwahl treffen. <<
>> Okay. Aber denkst du, wir kriegen irgendwoher raus, wieso sie überhaupt adoptiert werden sollte? <<
>> Nein, ich denke, das könnte schwer werden. <<
>> Das ist doof. Aber für uns ist das eigentlich auch gar nicht von Bedeutung, oder? <<
>> Na ja. Ich glaube nicht. <<
>> Also, was wir aber unbedingt wissen müssen, ist, ob es sich bei dem Metall in Marks Kleidung wirklich um Iridium handelt. <<
>> Stimmt, aber dafür brauchen wir die Kleider. <<
>> Und an die kommen wir nicht ran. <<
>> Richtig. Außer jemand anderes holt sie für uns. Aber wer sollte das denn sein? <<
>> Keine Ahnung. Die geben die Kleidung ja nicht jedem. Unser Plan müsste bombensicher sein. Mist. <<
>> Na ja. Bombensicher muss es ja nicht unbedingt sein. Ein Vorschlag würde ja schon reichen. Den kann man ja dann noch ausarbeiten. <<
>> Okay, dann hab ich einen Vorschlag. Mit den ganzen Informationen, die wir haben, könnten wir doch Gabrielle Baskin ein bisschen unter Druck setzen, damit sie für uns die Kleidung holt. <<
>> Also wirklich, Xenia. Erpressung wäre jetzt aber etwas von den Dingen, die ich dir am allerwenigsten zugetraut hätte. <<
>> Man muss ja auch ein bisschen über sich hinauswachsen. << Ich schmunzelte.
>> Aber du weißt, dass es sehr riskant werden kann, wenn wir Gabrielle Baskin erpressen. Immerhin war sie früher auch nicht unbedingt ein begeisterter Anhänger des Gesetzes. <<
>> Ja, das ist mir schon klar. Aber wir haben doch so gut wie nichts mehr zu verlieren. <<
>> Na ja. Wir haben schon noch eine ganze Menge zu verlieren. Außerdem ist Gabrielle Baskin die Mutter von Mark. Denkst du nicht, dass sie im Moment auch ziemlich fertig mit ihren Nerven ist? <<
>> Und? Dann kann sie uns doch wenigstens helfen, etwas wegen dem Tod ihres Sohnes zu unternehmen. <<
>> Okay. Aber dann müssen wir vorsichtig sein. <<
>> Wie meinst du das? <<
>> Wir müssen das, was wir Gabrielle Baskin sagen, so aussehen lassen, als würden wir sie nicht erpressen wollen, sondern als würde sie sich aus dem, was wir sagen, schließen, dass sie die Kleidung holen soll. Und wir sagen dann noch ganz lieb. >>ja!<<, sodass das alles wie eine harmlose Bitte aussieht. Na ja, mehr oder weniger harmlos. <<
>> Und wieso müssen wir das unbedingt machen? <<
>> Nimm doch mal an, dass Gabrielle, nachdem sie die Kleidung geholt hat, aus irgendeinem Grund vor Gericht landet. Entweder weil sie es will, oder weil sie von der Polizei dazu gezwungen wird. Und dann sitzt sie also vor Gericht und erzählt, dass wir beide sie erpresst haben. Dann sind wir doch in jedem Fall dran. <<
>> Ja und weiter? <<
>> Na ja. Wenn wir dann also auch bei Gericht vorgeladen werden, dann können wir bezeugen, dass wir sie nicht erpresst haben. <<
>> Aber wer sagt denn, dass der Richter und die Polizei uns glauben? <<
>> Das müssen sie. Wir werden das Gespräch mit Gabrielle Baskin aufzeichnen. <<
>> Aufzeichnen? <<
>> Ja, du kennst doch sicher diese Diktiergeräte. Die gibt es in allen Größen. Wenn wir dann bei Gabrielle Baskin auftauchen, drücken wir auf Start und unterhalten uns dann so mit ihr, dass es eben nicht wie eine Erpressung klingt. <<
>> Aber dann kann doch der Richter denken, dass wir das Gespräch so zusammengeschnitten haben. <<
>> Das kann er denken. Unsere Aussage muss dann natürlich noch von Gabrielle Baskin bestätigt werden. Und da man ja vor Gericht die Wahrheit sagen muss, denke ich nicht, dass sie das leugnen wird. <<
>> Okay, das klingt dann doch vielversprechend. Dann lass uns mal anfangen, das vorzubereiten, was wir sagen wollen. <<
>> Stopp, stopp. Du weißt schon, dass es ein immer größeres Risiko ist, je mehr Leute in unsere Ermittlung mit hineingezogen werden, oder? <<
>> Ja klar. Also willst du gar nicht, dass wir Gabrielle Baskin dazu bringen, die Kleidung zu holen? <<
>> Na ja, eine Option wäre es schon, aber … <<
>> Aber, was…? <<
>> Ich hatte eigentlich noch eine andere Idee. <<
>> Und die wäre? <<
>> Sie ist noch riskanter, als die mit Gabrielle Baskin. << Das überraschte mich, denn das hatte ich Jan nun nicht zugetraut.
>> Dann lass mal hören. <<
>> Das Gute daran ist, dass kein anderer außer uns beiden daran beteiligt ist. <<
>> Mann, Jan. Mach’s doch nicht so spannend. <<
>> Wie wäre es denn, wenn wir einfach ins Polizeipräsidium einbrechen und die Kleidung selbst holen? << Bei aller Freundschaft, aber diese Idee war wirklich bescheuert und für Jans Verhältnisse sogar extrem bescheuert.
>> Nimm’s mir nicht übel, Jan, aber die Idee ist bescheuert. <<
>> Ich hab mir schon gedacht, dass du nicht sehr begeistert davon sein wirst, aber ich dachte, da du gerade so risikofreudig drauf bist, war es ja wenigstens mal einen Versuch wert, es dir vorzuschlagen. <<
>> Ist ja auch in Ordnung, dass du es mir gesagt hast. <<
>> Aber du möchtest das nicht machen, oder? <<
>> Ich brech doch in kein Polizeipräsidium ein. Ich meine, wir hatten das doch schon einmal, dass da überall Kameras und Alarmanlagen sind, oder? <<
>> Stimmt schon. Aber ich dachte, wenn wir vorsichtig sind oder so, dann könnten wir das schon irgendwie schaffen. <<
>> Nein, Jan, tut mir echt leid. Aber bitte, bitte nicht. Ich hab zwar gesagt, dass wir nichts mehr zu verlieren haben. Aber immerhin, wenn wir in ein Polizeipräsidium einbrechen, so ein paar Jahre Jugendknast sind da schon drin, oder? <<
>> Ja, so zwei oder drei Jahre, wenn sie einen gnädigen Tag haben. Und natürlich Vorstrafe. <<
>> Und diese ganzen Risiken willst du eingehen? <<
>> Also, jetzt, wo du das sagst. Eigentlich war das wirklich eine blöde Idee. Also lassen wir das. Jetzt müssen wir aber wirklich gut durchplanen, was wir Gabrielle Baskin so alles erzählen. <<
>> Also, wir gehen zu ihr und Mark nach Hause und dann… << Jan unterbrach mich mitten im Satz.
>> Wie wäre es, wenn wir nicht zu ihr nach Hause gehen. <<
>> Wieso denn das? <<
>> Vielleicht hast du schon einmal davon gehört, dass man sich zu Hause immer am sichersten fühlt. Das wollen wir doch wohl vermeiden, dass sie sich von vorneherein sicher und überlegen fühlt, oder? <<
>> Ja, und wie soll das gehen? <<
>> Wie wäre es, wenn wir versuchen, sie nach dem Einkaufen abzufangen? <<
>> Und woher wissen wir, wann sie einkauft? <<
>> Also, du müsstest es doch wissen. Die meisten Frauen gehen ja mehrmals die Woche einkaufen. <<
>> Sollen wir dann etwa jeden Tag zum Supermarkt gehen und solange warten, bis Gabrielle Baskin zufällig mal vorbeikommt? <<
>> Na ja, so in etwa. Wir sollten es vielleicht noch weiter einschränken. Gehen die meisten nicht immer vormittags oder mittags einkaufen? <<
>> Nein, nicht wirklich. Das sind die Mütter, die das machen. Und Gabrielle Baskins Sohn ist gestorben. <<
>> Okay, das ist schlecht. Wissen wir denn, was sie arbeitet? <<
>> Jan, ich weiß so viel wie du und du weißt es nicht. Oh, doch. Alles, was wir wissen ist, dass sie ehrenamtlich bei der Stadt engagiert ist. <<
>> Na gut. Aber dann können wir es doch schon eingrenzen. Wann hat denn die Stadt offen? Auch nur nachmittags. Also kann sie nur vormittags einkaufen gehen. Oder zum Mittag, was aber eher unwahrscheinlich ist, da sie ja auch irgendwann etwas essen muss. Also vormittags. <<
>> Aber die Stadt hat doch nicht jeden Tag offen. Woher wissen wir denn, dass sie nicht an einem Tag, an dem die Stadt, oder besser gesagt, das Rathaus, nicht offen hat, am Nachmittag einkaufen geht? <<
>> Wenn wir so weitermachen, dann kriegen wir ja unseren Fall nie gelöst. <<
>> Oh man. Ich weiß es doch auch. Aber auch eben, weil wir nur noch so wenig Zeit haben, sollte das, was wir unternehmen, wenigstens richtig geplant sein. <<
>> Da gebe ich dir ja recht. Aber sollen wir uns jetzt an irgendeine wage Information klammern und ihr nachjagen? <<
>> Nein, das können wir ja eben nicht machen. Deshalb habe ich ja auch vorgeschlagen, dass es viel einfacher ist, wenn wir von keinem anderen Menschen abhängig sind, sondern uns nur auf uns alleine verlassen müssen. Deshalb ja die Idee mit dem Polizeipräsidium. <<
>> Aber wenn wir da wieder erwischt werden? <<
>> Das Risiko werden wir wohl oder übel eingehen müssen. <<
>> Nein, das müssen wir nicht. Ich würde sagen, wir versuchen das mit Gabrielle Baskin. Oder, noch besser. Wir versuchen, Mr. Corpse zu erpressen. Immerhin wissen wir, dass er mit Gabrielle Baskin verheiratet war. <<
>> Schon, aber wir wissen doch nicht, wer das außer uns noch alles weiß. Kann doch sein, dass das gar kein großes Geheimnis ist. <<
>> Aber das schien noch anders, als wir bei ihm waren und mit ihr gesprochen haben. <<
>> Na ja, er hat ja nur gemeint, dass sie ihn angefleht und bestochen hatte. Also schien es, dass er keine so tolle Meinung von ihr hat. Aber wieso hätte er ihr denn dann mit dem Grab von Bernhard Baskin helfen sollen? Und wie kam es überhaupt, dass er dabei war, als Bernhard Baskin erschossen wurde und auch noch eine gewisse Schuld daran hatte? Das ist doch alles ein bisschen zu extrem um nur Zufall zu sein, findest du nicht? <<
>> Doch schon. Aber wir können vermutlich auch ihm nichts nachweisen. Und wie gesagt, wir wissen nicht, ob er immer noch mit Gabrielle Baskin in Kontakt steht. Wenn wir wieder zu ihm gehen würden um ihn zu erpressen oder meinetwegen auch nur, um ihn um Hilfe zu bitten, dann wissen wir nicht, was davon alles auch Gabrielle Baskin zu Ohren kommt. <<
>> Also ist das eigentlich ein genauso großes Risiko, wie wenn wir gleich zu ihr selbst gehen. <<
>> Dann ist deine Idee mit dem Einbruch doch gar nicht so absurd. << Jan musste grinsen, vermutlich wusste er, dass ich irgendwann seiner Meinung sein würde. Aber er hatte auch wirklich gar nicht so schlechte Argumente.
>> Aber wenn wir das wirklich durchziehen wollen, dann müssen wir das alles ganz haargenau planen. Und wir sollten vielleicht morgen nach dem Tag im Seniorenheim mal zum Polizeipräsidium gehen und Ausschau nach Kameras halten. Vielleicht können wir ja schon irgendwas sehen, auf das wir besonders aufpassen müssen. <<
>> Denkst du nicht, dass es auffällt, wenn wir vor dem Präsidium rumlungern, nachdem wir schon Sozialstunden ableisten müssen? <<
>> Es wird nicht auffallen, wenn wir uns unauffällig verhalten. Komm schon, Xenia. Du weißt, wie ernst die Lage ist. Sogar ich bin jetzt risikofreudiger. Wir haben doch keine andere Wahl. <<
>> Ist ja schon gut, ich bin dabei. <<
>> Das freut mich zu hören. Okay, Moment. Heute ist noch Dienstag, der Tag ist wohl schon gelaufen. Morgen ist Mittwoch, da sind wir dann im Seniorenheim und gehen nachher zum Präsidium. Und am Donnerstag? Hatten wir da schon irgendwas geplant? <<
>> Nein, ich denke nicht, wieso? <<
>> Na ja, je schneller wir an die Kleidung kommen, desto schneller haben wir die Informationen, die wir brauchen. <<
>> Du willst also am Donnerstag schon einbrechen? <<
>> Ja, klar, wieso nicht? Dann haben wir noch den ganzen Tag Zeit, um das Ding zu planen und weiter zu forschen und am Abend, wenn es dann dunkel geworden ist, dann können wir die Aktion starten. <<
>> Okay, wie du meinst. Ich hab ja schon gesagt, ich bin dabei. Und da wir ja jetzt plötzlich Risikos eingehen… <<
>> Plötzlich?! Wären wir damals kein Risiko eingegangen, dann müssten wir morgen nicht ins Seniorenheim und Sozialstunden ableisten. <<
>> Das ist aber nun wirklich kein gutes Omen. Aber es wäre auch wirklich schön, wenn zur Abwechslung mal etwas klappen würde. <<
>> Wir werden sehen. <<
>> Aber, was machen wir, wenn das bei der Polizei nicht hinhaut. Wir brauchen doch auch einen Plan B. <<
>> Das wird dann wohl die Sache mit Gabrielle Baskin werden. <<
>> Okay. Dann ist es doch nicht schlecht, wenn wir auch schon mal vorbereiten, was wir zu ihr sagen wollen. Damit wir dafür nicht auch noch unnötig Zeit vergeuden. Das können wir ja dann auch am Donnerstag machen, oder? <<
>> Ja, können wir machen. <<
>> Wie schön, dann wissen wir ja jetzt zur Abwechslung endlich wieder mal, was zu tun ist. <<
>> Das finde ich echt gut. Aber jetzt ist es schon spät und wir haben keine sechs Stunden mehr, dann müssen wir uns schon auf den Weg machen. Also würde ich vorschlagen, dass wir ein bisschen Schlaf tanken, damit wir den alten Leuten morgen nicht in die Arme fallen vor lauter Müdigkeit. <<
Ich sah auf die Uhr. Zwanzig vor eins. Na super! Und ich musste morgen früh auch noch zu mir nach Hause, duschen und mich umziehen. Also musste ich noch vor sechs Uhr aufstehen. Okay, also noch gute fünf Stunden Schlaf. Also folgte ich Jan aus dem Wohnzimmer, er knipste das Licht aus und wir gingen den Weg zu seinem Zimmer. Genau gegenüber davon war nämlich das Gästezimmer, wo ich heute schlafen durfte. Insgeheim nahm ich mir vor, mich dafür irgendwann auf irgendeine Weise mal zu revanchieren.
Ich lag noch lange wach, doch irgendwann in dieser Nacht schlief ich schließlich ein.
Achtes Kapitel
Am nächsten Morgen wurde ich von einer leisen, vorsichtigen Stimme geweckt, die mir bedeuten wollte, dass ich aufstehen musste. Es war Jan. Stimmt, ich war ja nicht bei mir zu Hause. Und ich hatte auch keinen Wecker. Wie lieb, dass er mich geweckt hatte. Ich schaute auf die Uhr neben mir. Halb sechs. Wow, so ein Morgenmensch. Er sah noch nicht einmal müde aus. Kein bisschen mitgenommen von der Nacht. Wir hatten viel geredet und zwar bis spät in die Nacht hinein und er sah frisch aus wie immer. Wie konnte das denn sein? Ich war das genaue Gegenteil davon. Ein absoluter Morgenmuffel. Und genauso fühlte ich mich auch. Mein Kopf brummte und meine Augenlider wurden von einer noch stärkeren Gravitationskraft angezogen als sonst. Ich wollte nicht aufstehen. Aber ich konnte mich hier ja auch nicht wie ein bockiges Kleinkind dagegen wehren. Also nahm ich alle meine übrigen Kräfte zusammen und setzte mich auf. Schon wurde die Erdanziehungskraft noch stärker, da sie jetzt senkrecht nach unten wirken konnte und meine Augen fielen wieder zu. Somit hatte ich auch keinen Gleichgewichtssinn mehr und ich kippte seitlich um und landete wieder in den weichen Daunen des Kissens. Kurz führte mich mein verschlafenes Ego in Versuchung, einfach weiterzuschlafen. Doch es war noch früh am Morgen, deshalb waren die meisten meiner Gehirnzellen noch im Ruhemodus. Doch plötzlich spürte ich eine Kraft, die mich an meiner Hand nach oben zog. Und eine andere Kraft, die meinen Rücken sanft nach oben in die Sitzposition schob. Diese Kraft stütze mich und rüttelte mich wieder in den Wach-Modus. Es war Jan. Schon wieder. Er stand die ganze Zeit neben mir während ich mit meinem inneren Selbst und mit dem Schlaf kämpfte. Schließlich konnte ich mit Jans Hilfe aufstehen. Wir gingen ins Wohnzimmer, wo wir gestern Abend gesessen und geredet hatten. Auf dem Esstisch standen zwei Teller, zwei Tassen, ein Brotkorb, Milch, Kaffee, Butter, Marmelade und Messer. Wow! Jan hatte schon Frühstück gemacht. Ich war beeindruckt und freute mich darüber. Wir setzten uns hin.
Ich war immer noch todmüde, da ich nur um die vier Stunden geschlafen hatte, vielleicht auch nur dreieinhalb, doch nach zwei Tassen starkem Kaffee ging es mir schon wieder viel besser. Jan trank keinen Kaffee, nur Milch, was mich wunderte.
>> Wieso trinkst du denn keinen Kaffee? << So konnte ich wenigstens ein Gesprächsthema beisteuern.
>> Oh, ich hab schon zwei, drei Tassen getrunken. Was glaubst du denn, wieso ich so wach bin? Ich bin normalerweise überhaupt kein Morgenmensch. Eigentlich reicht mir auch immer nur eine Tasse Kaffee, aber heute ist wohl mal ein Sonderfall… << Wir mussten lachen. Schon ging es mir wieder ein bisschen besser, denn die Erschütterung meines Lachens, weckte weitere Gehirnzellen auf und langsam konnte ich wieder klare Gedanken fassen und mich an letzten Abend, beziehungsweise letzte Nacht erinnern und an das, was wir alles besprochen hatten. Zu dem Film waren wir gar nicht mehr gekommen. Das fiel mir ein, als ich die DVD-Hülle auf dem Tisch liegen sah. Jan folgte meinem Blick und meinte nur: >> Das können wir ja mal nachholen. << Ich nickte nur, aß stumm weiter mein Brot und trank meinen Kaffee.
Als wir mit dem Frühstücken fertig waren, machten wir uns auf den Weg zu mir nach Hause. Wie immer war niemand da und irgendwie gefiel es mir auch ganz gut, so ohne Überwachung. Wenn ich ehrlich war, fragte ich mich gar nicht, wo meine und Jans Eltern eigentlich die ganze Zeit über abblieben. Es passte uns nämlich ganz gut in den Kram, dass sie nicht da waren. Ich sagte Jan, dass er es sich ruhig irgendwo bequem machen konnte, während ich duschte und mich fertig machte.
Dann ging ich nach oben und duschte mich erst einmal schön warm ab. Danach zog ich mich an und machte mich noch ein bisschen zurecht. Anschließend ging ich wieder nach unten und sah, dass Jan vor dem CD Regal meiner Eltern saß. Da waren auch viele CDs von mir dabei. Jan holte einige raus und schaute sie sich genau an. Ich wusste nicht, ob das Interesse daran nur gespielt oder echt war, aber ich tippte auf echt, da er mich vermutlich gar nicht die Treppe hinunterkommen gehört hatte. Ich ging zu ihm. Da drehte er sich plötzlich um und ich bekam so einen Schrecken, wieso wusste ich nicht, dass ich völlig das Gleichgewicht verlor und nach vorne direkt in seine Arme umkippte. Das war schon die zweite Situation am heutigen Morgen, in der Jan mir geholfen hatte, mich aufzurappeln, weil mein Kreislauf versagt hatte. Irgendetwas stimmte da nicht. Aber ich ging einfach mal davon aus, dass es nur an dem Schlafmangel lag. Jan half mir schließlich, aufzustehen und fragte mich, ob mit mir alles in Ordnung sei.
>> Ja, ja, klar. Alles bestens. <<
>> Wirklich, du siehst auch ein bisschen blass aus. Sicher, dass du das heute hinbekommst? <<
>> Na klar, was soll ich denn sonst machen? <<
>> Keine Ahnung, aber wenn wir im Seniorenheim anrufen und sagen, dass es dir nicht gut geht, vielleicht kannst du die Sozialstunden dann an einem anderen Tag ableisten. <<
>> Nein, schon okay, mir geht’s gut. Außerdem kann man die Stunden nicht aufschieben. Dann müsste ich morgen hin oder so. Und da hatten wir doch was anderes vor. Also muss das heute hinhauen. <<
>> Na schön, wie du meinst. Können wir dann los? <<
>> Ja, ich bin fertig. <<
>> Okay, dann lass uns mal gehen. Schön wohnst du übrigens. <<
>> Dankeschön. Also, gehen wir! <<
Ich schloss hinter uns die Tür und wir machten uns auf den Weg zum Seniorenheim. Der Anfang des dritten von zehn langen Tagen an diesem Ort.
Als wir durch die Eingangstür gegangen waren und schon einige Menschen an der Rezeption oder im Eingangsbereich begrüßt hatten, gingen wir weiter zum Treppenhaus. Ich musste ja auf die unterste Station. Also verabschiedete ich mich von Jan und wir verabredeten uns für die Mittagspause.
Es war gleich sieben Uhr und mein erstes Zimmer war wie bei immer das von Martha. Heute wollte ich eigentlich einen Plan haben, wie ich sie mit Helmut verkuppeln konnte. Aber das hatte ich im Chaos des gestrigen Tages leider vergessen. Na ja, vielleicht war ja Helmut selber auf die Idee gekommen, sie zu fragen, ob sie mal zusammen spazieren gehen wollten oder irgendetwas anderes machen, essen gehen oder so.
Ich klopfte an die Tür. >> Ja, bitte? << Vorsichtig machte ich die Tür einen Spalt breit auf. Martha saß auf dem Stuhl an ihrem Tisch und löste Kreuzworträtsel. >> Ach, hallo Liebes! <<
>> Hallo Martha, wie geht es Ihnen? <<
>> Ach, mir geht es wie immer gut. Und Ihnen, Xenia? <<
>> Bestens, bestens. Ich hatte nur ein bisschen wenig Schlaf. <<
>> Ach ja, was hast du denn die ganze Nacht lang gemacht? << Martha hatte den Hauch von einem Grinsen im Gesicht.
>> Na ja, ich war gestern mit einem Freund unterwegs, der hier auch Praktikum macht, aber auf der dritten Station und dann bin ich noch bei ihm zu Hause gewesen und wir haben geredet. Und dann wurde es ein bisschen spät. Er war dann zum Glück so gastfreundlich und hat mich dort im Gästezimmer schlafen lassen. <<
>> Gastfreundlich nennt man das also heutzutage? << Jetzt grinste sie mich über das ganze Gesicht an.
>> Was wollen Sie denn damit sagen? <<
>> Sie können mir ruhig sagen, wenn Sie einen Freund haben, Xenia, stellen Sie sich nicht so an. <<
>> Aber ich stelle mich doch überhaupt nicht an. Ich bin nicht mit Jan zusammen! <<
>> Ach, Jan heißt der Gute also. Ich habe schon gehört, dass so einer auf der dritten Station arbeitet. <<
>> Okay, gut. Können wir denn dann jetzt das Thema wechseln? <<
>> Das ist Ihnen wohl unangenehm, was? <<
>> Das habe ich nicht gesagt, aber ich habe Ihnen doch widersprochen, doch das scheint Sie allerdings nicht zu stören, da Sie nicht von Ihrer Theorie abkommen wollen. <<
>> Na, na, na, Kindchen. Ganz ruhig. Wenn Sie sagen, dass ich Unrecht habe, dann wird es wohl so sein. <<
>> Ja, genau. Und wenn wir das Thema jetzt beendet haben, dann können wir ja mal über Sie reden. <<
>> Was sollen wir denn über mich reden? <<
>> Na ja, Sie und Helmut. <<
>> Da muss ich Ihnen jetzt aber widersprechen! <<
>> Ach kommen Sie schon, Martha, Sie sind doch nicht von gestern. Das denken doch viele Leute hier. <<
>> Na gut. Und was denken viele Leute? <<
>> Na ja, das zwischen Ihnen beiden etwas läuft. <<
>> Also da muss ich Sie leider enttäuschen. Das stimmt nun wirklich nicht. << Während sie das sagte, bekam Martha plötzlich einen ganz traurigen melancholischen Gesichtsausdruck. Also doch, ihr lag etwas an Helmut, ich hatte es gewusst. Jetzt musste ich es nur noch hinbekommen, dass er endlich die Initiative ergriff. Aber ohne dass es so aussah, als hätte ich die ganze Sache eingefädelt.
Die übrige Zeit, die ich bei Martha war, unterhielten wir uns über ihre Verflossenen und darüber, dass sie ihre große Liebe nie gefunden hatte.
Dann war die Stunde auch schon um und ich machte mich auf den Weg zu den Handarbeitsdingen, die ich dann mit in Katrins Zimmer nahm. In dieser halben Stunde bei ihr hatte ich das Gefühl, dass sie immer mehr und mehr auftaute und gar nicht mehr so eine undankbare, gereizte Schrulle war, als die ich sie kennengelernt hatte. Das freute mich und machte mich auch gleichzeitig ein bisschen stolz. Immerhin hatte ich es geschafft, irgendwie zu ihr vorzudringen. Auch wenn sie die Handarbeit und das, was ich ihr erzählte, immer noch nicht wirklich interessierten, zeigte sie das wenigstens nicht mehr so deutlich. So ging dann auch die Zeit bei Katrin schnell rum.
Jetzt kam mein großer Moment. Ich klopfte an Helmuts Tür: Ich hatte mir nämlich vorgenommen, dass ich ihn unbedingt davon überzeugen musste, dass Martha ihn mochte und dass er endlich etwas unternehmen sollte. Aber das sollte er sich dann nach Möglichkeit für morgen aufsparen, damit es nicht ganz so offensichtlich wirkte, dass Helmut da nicht von selbst draufgekommen war. Er bat mich mit seiner freundlichen, warmherzigen Stimme in sein Zimmer und ich schloss die Tür hinter mir. Als ich mich wieder zu ihm umdrehte, musste ich lachen. Er saß auf seinem Stuhl an seinem Schreibtisch und löste Kreuzworträtsel. Das Schicksal war schon ein guter Teamkollege und eine große Hilfe. Nur brauchte ich eine Überleitung, denn auch wenn ich dank meiner schrecklichen Müdigkeit nicht so verklemmt war wie sonst, konnte ich doch nicht einfach so mit der Tür ins Haus fallen. Doch ich musste gar nicht weiter nachdenken, denn Helmut hatte schon angefangen, Konversation zu führen.
>> Na? Ein guter Arbeitstag bis jetzt? <<
>> Ja, ganz gut. <<
>> Sie sehen müde aus! <<
>> Na ja, ich hatte ziemlich wenig Schlaf letzte Nacht. Aber das ist halb so schlimm. <<
>> Das ist gut. << Er schaute verlegen an die Zimmerdecke. Offenbar wusste er auch nicht so recht, was er sagen sollte. Also musste ich wohl die Initiative ergreifen.
>> Wissen Sie, ich habe heute schon mit Martha gesprochen. << Plötzlich war Helmut wieder vollständig anwesend.
>> Ach ja, über was haben Sie denn mit ihr geredet? <<
>> Nun ja, über dies und das. <<
>> Oh .. << Der gleiche Gesichtsausdruck wie bei Martha vorher.
>> Wir haben unter anderem über Sie gesprochen. <<
>> Über mich? Wieso denn das? <<
>> Jetzt tun Sie doch nicht so, Helmut. Sie wissen doch sicher, was ich meine. <<
>> Na ja, schon. Aber wieso sprechen Sie darüber denn mit Martha? <<
>> Ich habe ihr nur gesagt, dass doch viele Leute hier denken, dass zwischen Ihnen beiden etwas läuft. <<
>> Also so kann man das ja nun wirklich nicht ausdrücken. <<
>> Aber Sie wissen doch, worauf ich hinauswill. <<
>> Ja. Und was hat sie gesagt? << Jetzt schien er richtig nervös zu sein.
>> Na ja, sie meinte, dass das nicht stimmen würde. << Helmut schaute betrübt auf den Boden vor seinen Füßen. >> Doch als sie das gesagt hat, hatte sie den gleichen Gesichtsausdruck, wie Sie jetzt. <<
>> Denken Sie, das ist ein gutes Zeichen? <<
>> Also, ein schlechtes wird es wohl auf keinen Fall sein. Ich würde mich aber wirklich mal ranhalten. << Ein Augenzwinkern meinerseits.
>> Ja, aber was soll ich denn um Himmels Willen tun? <<
>> Keine Ahnung, laden Sie sie zum Essen ein, oder zu einem Spaziergang. Egal. Hauptsache, Sie tun etwas! <<
>> Sie haben Recht, Xenia. <<
>> Aber bitte warten Sie damit bis morgen! <<
>> Klar, wieso denn? <<
>> Na ja, vielleicht könnte Martha sonst denken, dass das alles nicht Ihre, sondern meine Idee war. Und das wollen Sie doch nicht, oder? Und wenn Sie sie morgen erst fragen, dann bringt sie unser heutiges Gespräch vielleicht nicht unbedingt mit Ihrer Einladung in Verbindung. <<
>> Na, da wäre ich mir aber nicht so sicher. Martha ist eine kluge Frau. << Helmut lächelte. Süß, verliebte Senioren.
>> Aber einen Versuch ist es doch allemal wert, finden Sie nicht? <<
Die restliche Zeit, die uns noch übrigbleib, schmiedeten wir einen Plan, was Helmut sagen sollte und wie er sie möglichst direkt aber dennoch nicht aufdringlich zum Essen einladen konnte. Als ich gehen musste, waren sowohl Helmut als auch ich recht zufrieden mit unserer Arbeit.
Ansonsten passierte an diesem Tag nicht sehr viel Erzählenswertes. Mit Gerhard unterhielt ich mich wieder über Mark, was für eine Beziehung er zu Gerhard hatte. Über Marks Mutter und ihren neuen Freund. Ich fragte ihn, ob er Mr. Corpse kenne und er bejahte dies. Dann erzählte ich ihm, was es mit den beiden auf sich gehabt hatte, woraufhin Gerhard genauso geschockt reagierte wie Jan und ich, als wir es herausgefunden hatten. Gerhard war erschüttert, dass Bernhard Baskin der einzige Mann von seiner Schwester war, von dem er gewusst hatte. Doch als ich ihm erzählte, dass Gabrielle adoptiert war, setzte es ihm so richtig zu. Offenbar war er zwar der ältere Bruder, aber er habe von der ganzen Sache nichts mitbekommen. Entweder habe er alle Erinnerungen verdrängt, denn zum Vergessen war er zu jung. Oder er war damals schon ausgezogen, was aber rechnerisch beinahe unmöglich war und außerdem auch logisch gesehen nicht denkbar, denn welcher Mann, der etwa zwanzig Jahre alt ist und auszieht, wundert sich nicht darüber, dass er plötzlich eine Schwester hat. Die einzige plausible Möglichkeit, die ich gegenüber Gerhard allerdings nicht erwähnte war, dass er ebenfalls adoptiert war. Doch das würde ich ihm jetzt nicht auch noch vor die Füße werfen. Der gute Mann hatte vermutlich gerade schon genug damit zu tun, seine gesamte Kindheit und Jugend infrage zu stellen. Vielleicht dachte er auch selber darüber nach, ob er nicht vielleicht adoptiert war.
Mit Bernd schließlich spielte ich Spiele, was auch nicht so ganz neu war und begleitete ihn zum essen.
In der Mittagspause unterhielt ich mich wieder mit Jan, doch dieses mal nur über recht belanglose Dinge.
Rosa verzweifelte beinahe daran, mir weiter das Zeichnen beizubringen. Oder besser gesagt, ich verzweifelte, denn Rosa, das musste man schon sagen, hatte wirklich eine Engelsgeduld mit mir.
Georg überredete mich wieder dazu, mit ihm spazieren zu gehen, währenddessen er mir Geschichten und Intrigen aus dem Leben im Seniorenheim erzählte.
Katharina hatte ihren Spaß daran, mir weitere Einblicke in die Esoterik zu bieten und letztendlich Erwin, der überraschte mich heute wieder einmal. Nachdem er mich das letzte Mal hatte fernsehen lassen, weil er schlafen wollte, dachte ich, dass ich mir heute wieder etwas ausdenken musste, um ihn zu beschäftigen, da wir irgendwie noch nichts gefunden hatten, was wir jede Woche wiederholen konnten, so wie mit den anderen Heimbesuchern. Doch das kam dann doch irgendwie anders. Als ich das Zimmer betrat, saß Erwin wieder vor dem Fernseher, hatte die Augen halb geschlossen, doch er schlief nicht.
>> Setzen Sie sich, Xenia. << Ich war überrascht von dieser Begrüßung. Darum setzte ich mich stumm.
>> Wie geht es Ihnen? Hatten Sie wieder einen anstrengenden Arbeitstag? << Offenbar war es eine rhetorische Frage, denn er schien keine Antwort von mir zu erwarten. >> Letztes Mal, als Sie hier waren, was haben Sie da im Fernsehen geschaut? <<, fragte er zusammenhanglos.
>> Ach, nur so eine Sitcom aus Amerika. Aber ich dachte, Sie haben geschlafen? <<
>> Ja, schon. Aber irgendwie habe ich immer wieder Gelächter gehört und ganz gute Sprüche sind auch zu mir durchgedrungen. << Das überraschte mich. Denn, wer >Two and a half men< kannte, der wusste, dass das weder eine Sitcom für kleine Kinder noch für Menschen über fünfzig war.
>> Achso, ich verstehe. <<
>> Läuft diese Serie denn jetzt auch? <<
>> Ja, müsste sie eigentlich. Wollen Sie sie sehen? <<
>> Sicher, schalten Sie um, Xenia. <<
>> Ich nahm die Fernbedienung und schaltete um. Dann schauten wir zusammen >Two and a half men< und lachten sogar über die gleichen Witze. In der Werbepause musste ich Erwin erst einmal die ganze Handlung erklären und die Personen. Dann ging es weiter. So ging die Zeit schnell und lustig herum. Erwin beschloss kurzerhand, dass er sich diese Sitcom von nun an immer mit mir ansehen wollte. Ich fragte ihn, wieso er das denn nicht alleine machte und er antwortete, dass es immer besser sei, zusammen zu lachen. Dann verabschiedete ich mich glücklich. Jetzt hatte ich auch etwas, was ich immer mit Erwin >unternehmen< konnte.
Um fünf Uhr verließ ich mit Jan das Seniorenheim. Er hatte im Gegensatz zu mir einen richtig anstrengenden Arbeitstag hinter sich. Es gab einige Notfälle auf seiner Station, bei der Heimbewohner nicht mehr aufstehen konnten oder sich übergeben mussten. Und einer musste sogar wiederbelebt werden, nachdem er auf irgendeine Weise einen Stromschlag bekommen hatte. Vermutlich stimmte etwas mit seinem elektrischen Rollstuhl nicht. Keine Ahnung. Jedenfalls gingen wir mit unterschiedlicher Stimmung aus dem Seniorenheim. Doch ich für meinen Teil ließ es mir nicht unbedingt anmerken, dass mir die Arbeit hier, von Mal zu Mal eigentlich mehr Spaß machte.
Heute hatten Jan und ich noch Großes vor. Immerhin mussten wir zum Polizeipräsidium und erst einmal die Lage betrachten. Doch erst einmal machten wir uns auf den Weg zu mir nach Hause. Ich hatte darauf bestanden, dass wir zu mir gingen, denn immerhin hatte Jan mich gestern bei sich übernachten lassen. Und ich wollte meine Gastfreundschaft auch mal unter Beweis stellen.
Zuerst gingen wir in die Küche und ich machte uns was zu essen. Wir hatten beide mächtigen Hunger. Während dem Essen begannen wir schon mal, uns einen Plan zurechtzulegen, wie wir in das Präsidium kommen konnten. Das wiederum erwies sich allerdings als schwieriger als gedacht. Alles, was wir bisher hatten war, dass wir uns, wenn möglich, durch irgendeinen Seiteneingang hineinstehlen sollten. Jan meinte nämlich, dass an Seiten- und Hintereingängen weniger Kameras angebracht waren, als vorne. Sollte er da mal nur Recht behalten.
>> Und wo, glaubst du, wird die Kleidung sein? <<, das sollten wir nämlich auch noch mal ansprechen. <<
>> Ich hab keine Ahnung. Aber ich denke mal, das Archiv können wir ausschließen und in der Eingangshalle wird sie auch nicht sein. <<
>> Na super. Da bleiben aber noch genug andere Räume, wo sie sein kann. <<
>> Das ist schon richtig. Aber ich fürchte, das können wir von draußen auch nicht rausfinden. <<
>> Na ja, aber wenn wir dann morgen Abend schon mal drinnen sind, dann haben wir ja eigentlich alle Zeit der Welt, vorausgesetzt, dass niemand kommt. <<
>> Theoretisch schon, aber hast du auch schon mal dran gedacht, dass auch im Inneren des Präsidiums Kameras an den Wänden hängen? <<
>> Nein, daran habe ich nicht gedacht. Ich bin nämlich keine Kleinkriminelle, die an sowas denkt. <<
>> Hey, ganz locker. Das habe ich ja auch nicht so gemeint. <<
>> Schon gut, war nur ein Scherz. <<
>> Na super, solange du noch Scherze machen kannst, ist ja alles in Ordnung. <<
>> Jetzt sei aber nicht beleidigt oder so. Wir konzentrieren uns jetzt mal wieder und schauen, dass wir vorwärts kommen, was hältst du davon? <<
>> Ich hatte von diesem Abend eigentlich ursprünglich nichts anderes erwartet. Ich find’s also ganz gut. <<
>> Alles klar. Na dann, los. <<
>> Also ich war schon oft nachts beim Präsidium, natürlich nur belanglos dran vorbeigelaufen, aber es brannte immer Licht in der Eingangshalle und manchmal stand auch noch ein Mensch hinter dem Tresen. <<
>> Aber ich dachte, das Präsidium hat in der Nacht geschlossen? <<
>> Ja, das hat es auch, aber vor zwei, drei Jahren gab es mal einen Einbruch und seitdem ist dort nachtsüber immer das Licht angeschaltet. <<
>> Und das sagst du mir erst jetzt? <<
>> Hey, keine Sorge, wir finden schon einen Weg, da unbemerkt rein und wieder rauszukommen. <<
>> Na dann. Hast du auch irgendeinen Vorschlag? <<
>> Klar hab ich einen Vorschlag. Die Hintertür. Das Problem ist nur, noch eine Sache, die ich dir vergessen habe, zu sagen, sie ist abgeschlossen. <<
>> Kannst du nicht Schlösser knacken oder so? <<
>> Wenn das so leicht wäre. Aber das ist es nicht. Man braucht eine Chipcard, um dort reinzukommen. <<
>> Okay, zwei Fragen. Erstens, was ist eine Chipcard? Und zweitens, wo zum Teufel bekommen wir eine Chipcard her? << Ich war wirklich schon kurz davor, auszurasten und, zugegeben, ich wurde auch schon ein bisschen lauter, aber ich versuchte trotzdem, mich unter Kontrolle zu halten.
>> Also, eine Chipcard ist eine Karte mit einem Strichcode, der von einem Scanner erkannt werden muss. Und es gibt eine bestimmte Anzahl von diesen Karten, für jeden Polizisten eine. Und genau soviele Strichcodes gibt es auch. Deshalb kommen auch nur genau diese Leute in das Präsidium hinein, also durch die Hintertür und somit unentdeckt. <<
>> Gut. Ich frage dich jetzt lieber nicht, woher du das alles weißt. Ich will es lieber gar nicht erst wissen. Doch die zweite Frage haben wir immer noch nicht geklärt. Wo kriegen wir das Ding her? <<
>> Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Die eine Möglichkeit ist, dass wir durch den Vordereingang reingehen und ich zum Beispiel mit dem Beamten, der am Tresen steht rede und ihn ablenke, während du die Karte suchst. Oder wir erpressen den Beamten, uns die Karte zu geben, was aber eigentlich sinnlos ist, weil er dann sowieso schon weiß, was wir vorhaben und wir auch gleich durch den Haupteingang gehen können. <<
>> Aber auf jeden Fall müssen wir mit einem Beamten reden? Dann macht es doch gar keinen Sinn, noch durch den Hintereingang zu gehen. <<
>> Doch, macht es schon. Wenn ich als Ablenkung nämlich irgendetwas frage und du die Karte solange suchst, dann schöpft er noch keinen Verdacht. Und wenn wir dann die Karte haben, dann können wir ja gehen und sagen, dass wir wegen dem Fall am nächsten Tag wiederkommen. Dann schleichen wir uns zur Hintertür und kommen unbemerkt und ohne dass irgendjemand Verdacht schöpft, ins Präsidium. <<
>> Aber du hast doch gesagt, dass nur manchmal in der Nacht noch ein Polizist da ist. Was machen wir, wenn grade morgen niemand dort ist? <<
>> Dann müssen wir wohl oder übel zu Plan B übergehen. <<
>> Den können wir ja dann morgen planen, richtig? <<
>> Ja, hatten wir ja so vereinbart. <<
>> Okay. Mehr können wir jetzt aber auch nicht herausfinden oder planen, oder? <<
>> Nein, ich glaube nicht. Deshalb sollten wir uns jetzt vielleicht auf den Weg zum Präsidium machen und uns das Gelände mal ein bisschen genauer anschauen. <<
>> Einverstanden, lass uns gehen. <<
Es war schon dunkel draußen, aber wir kannten ja den Weg. Als wir vor dem Präsidium standen, wusste ich nicht, was zu tun war, doch Jan wusste es offenbar. Und genau, wie er es beschrieben hatte, brannte im Inneren noch Licht. Einen Polizisten konnten wir zwar nicht mehr sehen, doch es war nicht sicher, ob auch wirklich niemand da war. Aber das war heute auch noch nicht so wichtig. Auf jeden Fall machten wir uns auf den Weg zum Hintereingang. Jan sah sich schon sehr fachmännisch um, er hatte wohl Ahnung, was er machen musste. Da ich nicht so verloren herumstehen wollte, fragte ich ihn, wonach er denn suchte.
>> Na, nach Kameras. <<
>> Okay, und was glaubst du, wie die Kameras hier aussehen? <<
>> Also jetzt müssten wir sie sehen, wenn ein rotes Lämpchen blinkt, weil wir ja eigentlich gerade aufgenommen werden müssten. <<
>> Wir werden aufgenommen?! <<
>> Ja, was dachest du denn? Wenn wir nicht aufgenommen werden würden, dann wäre es ja sinnlos, dass es hier überhaupt Kameras gibt. <<
>> Und sehen die Leute drinnen nicht auf einem Monitor das, was sich hier draußen vor den Kameras abspielt? <<
>> Doch schon, aber noch erscheinen wir ja nicht so sehr verdächtig. Und wenn wir wissen, wo sie sind, können wir ja so tun als würden wir weggehen. Dann können wir so wiederkommen, dass die Kameras uns nicht erkennen. Deswegen sind wir ja auch hier. Damit wir morgen wissen, was wir machen sollen. <<
>> Okay, dann suchen wir mal. <<
>> Ach ja, du erkennst sie nicht nur an einem roten Licht, sondern du siehst ja auch die Objektive, einfach eine gewölbte kleine, runde Glasscheibe. Halt einfach danach Ausschau. <<
>> Wird gemacht. << Dann sagten wir eine Zeit lang nichts mehr.
>> Hey, Xenia. Komm mal her. Aber schau nicht zu offensichtlich. << Ich hörte auf ihn und schaute nicht in die Richtung, in die er dezent mit dem Kopf deutete.
>> Wieso redest du überhaupt so laut? Können die uns da drin nicht aus hören? <<
>> Nein, soweit ich weiß, übertragen solche Kameras nur Bilder und keinen Ton. <<
>> Aber wieso denn das? <<
>> Na ja, also ich nehme mal an, die Kameras sind nur da, um vor unerwünschten >Besuchern< zu warnen. Und Leute, die unerwünscht sind, sind meistens auch leise, bei dem, was sie tun. Also würde es keinen Sinn machen, dort Ton zu haben. Außerdem sind die Kameras auch tagsüber aktiv und dort reden ja dann auch Leute vor dem Hintereingang beispielsweise, das würde die Leute, die im Inneren des Präsidiums sind, nur stören. <<
>> Ich verstehe. << Dann suchten wir weiter. Nach einer Weile hatten wir alleine am Hintereingang schon drei Kameras gefunden und mehr waren dort offensichtlich auch nicht, auch wenn mich schon alleine diese drei überraschten. Also gingen wir nach getaner Arbeit, Jan hatte das alles von einem unbeobachteten Standpunkt skizziert, wieder zu mir nach Hause. Denn jetzt ging es daran, wie wir die Karte von einem Beamten bekommen sollten. Einfach geben würde sie uns sicherlich keiner freiwillig. Wir hatten also verschiedene Möglichkeiten. Erstens, wir mussten sie irgendwie stehlen, oder sie uns ausleihen, was weniger kriminell klang. Oder zweitens, wir mussten uns als Beamte ausgeben und ihm die Karte aus den Rippen leiern mit irgendwelchen haarsträubenden Geschichten.
>> Und, was denkst du, was am besten ist? <<, wollte ich von Jan wissen.
>> Nun, ich denke, die Karte zu klauen wird wesentlich einfacher und unauffälliger sein, denn solange er an dem Abend keine Tür mehr auf- oder zuschließen muss, solange wir in dem Gebäude sind, dürfte er eigentlich gar nicht mitbekommen, wenn sie fehlt. <<
>> Okay, also meinst du, es ist weniger riskant, die Karte zu klauen, als dass er sie uns von sich aus gibt?! <<
>> So wie du das sagst, klingt das irgendwie bescheuert. <<
>> Nicht nur so, wie ich es sage. Es ist bescheuert, einen Polizisten zu beklauen. <<
>> Dann lass doch mal deinen Vorschlag hören, was wir ihm so erzählen könnten, damit wir die Karte bekommen und wo wir Polizeiuniformen herbekommen. << Mittlerweile hatte Jan einen genervten Unterton in der Stimme.
>> Also die Klamotten finden wir sicher im Second-Hand-Laden, da hatten wir doch auch das letzte Mal schon Erfolg. <<
>> Ich erinnere dich nur ungern daran, aber beim letzten Mal wollten wir auch keine gefälschte Polizeiuniform kaufen! <<
>> Wir müssen ja auch keine gefälschte kaufen. <<
>> Aber wir haben doch gar kein Geld, uns eine richtige zu kaufen, und außerdem gibt es die nirgends, die müssen extra angefertigt werden, also können wir das schon mal vergessen. Weiter.. <<
>> Okay, dann eben eine gefälschte. Die kriegen wir da doch sicher, und wenn nicht dann auf einem Flohmarkt oder Basar. <<
>> Heute ist Mittwoch, Flohmarkt ist immer samstags und Basar ist nur alle drei Monate. Außerdem brauchen wir die dann morgen schon, das darfst du nicht vergessen. <<
>> Na gut, okay, vielleicht hast du recht. <<
>> Also bleibt es bei dem, was ich gesagt habe? <<
>> Ja..-ein. <<
>> Wie jetzt? <<
>> Muss nicht sein. Wir haben das doch total vergessen, dass wir auch Gabrielle Baskin fragen können. <<
>> Fragen? <<
>> Ja, okay, vielleicht erpressen oder ihr drohen. Aber du weißt doch, was ich meine. <<
>> Klar, weiß ich das. Aber ich finde es immer noch riskanter, jemand anderen da mit hineinzuziehen. Dann müssen wir ihr ja auch erzählen, was wir mit den Kleidern vorhaben. <<
>> Na und? Sie mit ihrer Vorgeschichte und den ganzen krummen Dingern, die sie gedreht hat, wird sicherlich nicht zur Polizei gehen und ihnen sagen, dass wir die Kleider entwendet haben, weil wir möglicherweise etwas mit dem Tod von Mark zu tun haben. <<
>> Das könnte stimmen. Trotzdem ist sie ein unzuverlässiges Ventil. Genauso wie Mr. Corpse. Ich vertrau dem Kerl einfach nicht und wenn er mal was mit Gabrielle Baskin hatte, dann ist das ein Grund mehr, ihr ebenfalls nicht zu vertrauen. <<
>> Okay, okay. Aber wir haben trotzdem noch das Druckmittel gegen sie in der Hand, dass sie adoptiert ist und mit Mr. Corpse verheiratet war, fragt sich nur, wann wir es ausspielen sollten. Denn wir können das ja nicht einfach auf sich beruhen lassen. <<
>> Das können wir in der Tat nicht, aber es wäre auch eine große Dummheit, wenn wir zur Polizei gehen, denn man kann ihr schließlich so gut wie nichts nachweisen. Ich meine, sie war früher eine von der ganz schlimmen Sorte, aber jetzt. Sie ist im Stadtrat, sie ist eine seriöse Frau. Außerdem interessiert es auch gerade keinen, weil es nichts mit dem Fall >Mark< zu tun hat. <<
>> Aber wieso denn nicht? Immerhin ist sie doch seine Mutter. <<
>> Ja, schon. Aber sie hat doch nichts mit dem Fall zu tun. Sie hat ihn nicht auf dem Gewissen, ja, sie war ja nicht einmal hier, als Mark gesprungen ist. Sie war mit Stephen Heather im Urlaub, und hat erst am nächsten Tag vom Tod ihres Sohnes erfahren. <<
>> Na gut, du hast Recht. Und was sollen wir dann deiner Meinung nach machen? Uns morgen Abend komplett schwarz anziehen, irgendeinen Zeitpunkt abpassen, ins Präsidium marschieren, einem Beamten die Karte klauen, durch den Hintereingang wieder ins Präsidium rein marschieren und solange nach der Kleidung von Mark suchen, bis wir sie gefunden haben? <<
>> Klingt doch nach einem Plan, oder? <<
>> Du bist echt ein Spinner. Und ich hoffe, du weißt auch, dass ich diese Idee nicht für gut halte, aber da ich keine bessere habe, die du mir nicht mit Gegenargumenten ausreden kannst, muss ich wohl auf dich hören.<<
>> Wir schaffen das schon, keine Sorge. Ich mache mir nur Gedanken, ob der Polizist seinen Standpunkt einmal verlässt, damit wir lange genug Zeit haben, um die Karte zu holen. Denn wenn er sie zum Beispiel auch immer bei sich trägt, dann haben wir durchaus ein Problem. <<
>> Siehst du? Dein Plan hat eben doch einen Haken! <<
>> Das habe ich doch nie bestritten, oder? <<
>> Ehm .. Wie auch immer. Was schlägst du vor? <<
>> Na ja, wir haben ja morgen nichts zu tun. Also könnten wir morgen früh oder Nachmittag auch schon einmal dort vorbeischauen und uns die Lage mal genauer ansehen. <<
>> Tagsüber sind da doch Leute. <<
>> Na ja, das ist ja nicht unbedingt ein Problem. Dann überlegen wir uns eben auch einen Fall. Nehmen wir an, wir gehen hin und sagen, dass wir einen Notfall haben und unsere Katze auf einem Baum sitzt? <<
>> Das ist doch ein Fall für die Feuerwehr und außerdem kennen die uns doch dort. <<
>> Dann müssen wir uns eben ein bisschen so anziehen, damit wir jünger aussehen und wir müssen uns ja auch nicht vorstellen. Im Notfall nehmen wir einen anderen Namen. Außerdem, das ist doch gerade der Sinn, dass das kein Fall für die Polizei ist. Wir wollen ja schließlich nicht, dass die noch irgendwelche Fakten wissen müssen, oder Aussagen brauchen. Nur etwas ganz harmloses. Wir können es ja so machen, dass du dich als kleines Mädchen ausgibst, dessen Katze eben auf dem Baum festsitzt. Und in der Zeit wo der Beamte mit dir redet, kann ich schauen, ob er die Karte bei sich hat, oder ob ich sie irgendwo anders entdecken kann. Einverstanden? <<
>> Prinzipiell schon, aber wieso willst du das denn unbedingt schon morgen am Tag machen? <<
>> Na, wenn wir morgen Abend erst dort auftauchen und feststellen, dass die Chipcards immer im Besitz von den Polizisten sind, dann haben wir nicht mehr genug Zeit, morgen noch die Kleider zu finden. Aber wenn wir das morgen Nachmittag schon rausfinden, haben wir noch einen halben Tag Zeit, uns einen Plan B auszudenken und ihn in die Tat umzusetzen. Ich würde aber dennoch vorschlagen, dass wir für den Fall uns heute schon überlegen, was das für ein Plan B sein sollte. <<
>> Auf jeden Fall lassen wir uns die Kleidung dann von Gabrielle Baskin beschaffen. <<
>> Okay, dann sollten wir uns jetzt mal überlegen, was wir ihr sagen wollen, damit sie auch das macht, was wir von ihr wollen. <<
>> Wieso willst du das denn jetzt schon machen? <<
>> Wieso denn nicht? Immerhin könnten wir dann morgen endlich mal wieder ausschlafen. Wir hatten echt einen straffen Zeitplan in den letzten Tagen und ich schätze, du bist mindestens auch so müde, wie ich.<<
>> Ja, da könntest du durchaus Recht haben. <<
>> Fragt sich nur, was wir dann morgen zu ihr sagen wollen und wo wir sie überhaupt treffen wollen. Denn beim Einkaufen könnte es von der Zeit durchaus ein bisschen spät werden und wenn wir morgen Abend bei ihr klingeln, wer weiß, ob sie nicht denkt, wir wären Einbrecher und vielleicht ruft sie die Polizei, was ich allerdings nicht glaube, oder Stephen Heather schlägt uns zusammen. Ich kann mir nämlich gut vorstellen, dass die beiden, und vor allem Gabrielle nicht ganz besonders gut auf mich zu sprechen waren. <<
>> Na ja, auf mich aber auch nicht. Immerhin serviere ich erst vor zwei Jahren ihren Sohn ab und schließlich, als er stirbt, tauche ich plötzlich wie von selbst wieder auf und mische mich in ihr und in das Leben ihres Sohnes ein. <<
>> Dann wäre das wohl keine gute Idee. Aber wo sollen wir denn mit ihr reden? Ich meine, wir können uns auch nicht vor ihr Haus setzen und darauf warten, dass sie herauskommt. <<
>> Da hast du Recht, aber ich habe eine Idee, was wir machen könnten. <<
>> Na, dann lass mal hören. <<
>> Mr. Corpse meinte doch, dass er uns helfen würde ... <<
>> Du willst ihn um Hilfe bitten? Dann können wir auch ihn gleich zur Polizei schicken. <<
>> Nein, wieso sollten wir das denn tun? <<
>> Was spricht dagegen? <<
>> Mr. Corpse stand doch sowieso schon einmal unter Verdacht, Grabschänderei, oder so etwas in der Tat zu betreiben, weil er die ganzen Menschen begraben und beerdigt hat, ohne ihre Namen an die Grabsteine zu schreiben. Ich traue ihm zwar auch nicht über den Weg, aber wer weiß, wenn gerade er bei der Polizei auftaucht, sehen die vielleicht noch einmal in ihre Akten und entdecken den Fall mit Bernhard Baskin. Und der wird dann vielleicht wieder von vorne aufgerollt. Denn der hängt ja auf jeden Fall mit Mark zusammen. Beide Baskins sind gestorben, was beide Male eine große Schlagzeile gab. Der Vater von Polizisten erschossen, nach seiner Flucht aus dem Gefängnis uns der Sohn vermeintlich Selbstmord. Da lässt sich doch ein gewisses Schema erkennen. Und wenn die Polizisten herausbekommen, dass Marks Vater gestorben ist, besser gesagt, wenn sie sich daran erinnern, könnten sie es vielleicht so auffassen, dass Mark sich deswegen selbst umgebracht hat. Dann wird der Fall in Ruhe gelassen. <<
>> Ja, aber, Jan. Denk doch mal nach. Das wäre doch perfekt für uns. Die Polizei nimmt keine Untersuchungen mehr vor und wir haben genügend Zeit, den Fall zu lösen. <<
>> Theoretisch stimmt das schon, aber wenn ein Fall einmal in die Akten gelegt wird, sind nach kurzer Zeit die ganzen Fakten vergessen und niemand interessiert sich mehr dafür. <<
>> Aber du kennst doch auch manche Fälle, die erst nach zig Jahren wieder interessant werden. <<
>> Klar, aber das ist nur bei Berühmtheiten. <<
>> Das stimmt doch überhaupt nicht. <<
>> Natürlich stimmt das, oder woher kennst du die Fälle sonst? <<
>> Aus den Nachrichten! <<
>> Ich kann mir kaum vorstellen, dass du in der Tagesschau schon einmal den Fall von jemandem gesehen hast, der in Deutschland oder sonst wo kein bisschen bekannt ist, und dessen Fall schon mindestens fünf Jahre verjährt ist. Hör mal Xenia, nach einer gewissen Zeit und ab einem gewissen unterschrittenen Bekanntheitsgrad interessieren solche Kleinigkeiten, wie der Fall >Mark< keinen mehr. <<
>> Aber das ist doch keine Kleinigkeit! <<
>> Das weiß ich, das weißt du und das wissen alle anderen Leute in diesem Ort. Aber die große weite Welt weiß und will es auch nicht wissen. <<
>> Also gut, dann müssen wir Mr. Corpse eben aus der Sache raushalten. <<
>> Nein, eben nicht ganz. Wir benutzen ihn als Köder für Gabrielle Baskin. Auf ihn wird sie sicherlich mehr hören als auf uns. <<
>> Und wie sollen wir das anstellen? <<
>> Wir gehen zu ihm und sagen, dass wir Gabrielle Baskin noch etwas über Mark fragen müssen. <<
>> Und du denkst, das funktioniert? Er weiß doch gar nicht, dass wir wissen, dass die beiden einmal verheiratet waren. <<
>> Da hast du Recht. Aber wir können ja sagen, dass er einen besseren Draht zu ihr hat, weil er schon ihren Mann beerdigt hat. <<
>> Deswegen hat man doch nicht gleich einen guten Draht zu jemandem! <<
>> Aber das war ja ein besonderer Fall und Mr. Corpse hat ja auch selber gesagt, dass sie sich damals noch über die Sonderwünsche von Gabrielle Baskin und das alles drum herum unterhalten haben. <<
>> Ich denke zwar nicht, dass er dann mitspielen wird, aber einen Versuch ist es wert. <<
>> Du hast ihn doch das letzte Mal gesehen, ich schätze ihn nicht so ein, als wäre er ein ganz helles Köpfchen, ohne ihn beleidigen zu wollen. Aber welcher normale Mensch vertraut schon zwei Jugendlichen, die er nicht einmal kennt, seine ganzen krummen Geschäfte an? <<
>> Vielleicht ist er einfach nur hilfsbereit. Wir haben ihm doch auch die ganze Geschichte von Mark Baskin erzählt, obwohl wir Mr. Corpse nicht kannten. <<
>> Nein, wir haben ihm so gut wie gar nichts erzählt. Wir haben nicht gesagt, was wir schon alles rausgefunden hatten, zum Beispiel. <<
>> Okay, ich schätze, diese Diskussion führt zu nichts. <<
>> Ach, wie kommst du denn darauf. <<
>> Sei nicht so sarkastisch, Jan. Wir haben grade echt andere Probleme. << Jan grinste mich an und schließlich musste ich auch lachen.
>> Na also. <<
>> Super, aber gute Laune alleine hilft uns auch nicht weiter. Wie kommst du denn überhaupt darauf, dass Mr. Corpse das einfach so machen wird? <<
>> Er hat uns gesagt, dass er uns helfen wird. Und ansonsten, wenn er sich trotzdem weigert, dann versuchen wir ihn eben auch mit der Information zu bestechen, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, dass er mit Gabrielle Baskin verheiratet war. Ich denke nämlich nicht, dass wir ihn noch für irgendwelche Forschungen brauchen. <<
>> Toller Plan. Und was soll er dann Gabrielle Baskin sagen? <<
>> Dass es gewisse Komplikationen gibt, wegen dem Grab ihres Mannes und dass die Polizei von der ganzen Sache Wind bekommen hat. Und deswegen wollen sie sich treffen, am besten auf dem Friedhof, um ihre Zeugenaussagen abzugleichen, falls sie vor Gericht gehen müssen. <<
>> Findest du das denn nicht ein bisschen übertrieben? <<
>> Übertrieben? Nein, wieso denn? <<
>> Na ja, ich glaube nicht, dass sie ihm das abkauft. <<
>> Ich nehme aber mal an, dass sie nicht unbedingt viel Lust darauf hat, zum Gericht zu müssen, da muss man doch viel zu viele persönlichen Angaben machen. Also wird sie es vermutlich nicht darauf ankommen lassen, sondern sich dazu bereiterklären, zum Friedhof zu kommen, wo dann allerdings nur vordergründig, damit sie keinen Verdacht schöpft, Mr. Corpse auf sie wartet. Und dann müssen wir sie irgendwie überraschen. Das einzige, was ein Problem werden könnte, ist die Tatsache, dass sie weglaufen kann. <<
>> Wenn sie allerdings wegläuft, dann zeigt sie uns doch automatisch, dass sie etwas zu verbergen hat, oder? <<
>> Schon, aber wenn sie uns zusammen mit Mr. Corpse sieht, dann kann sie sich auch denken, dass wir an dem Fall von ihrem Sohn dran sind. <<
>> Na und? Vielleicht will sie uns ja sogar helfen. <<
>> Gabrielle Baskin uns helfen?! <<
>> Wieso denn nicht? Immerhin ist sie Marks Mutter, ich kann mir schon vorstellen, dass sie nicht tatenlos herumsitzen, sondern ebenfalls herausfinden will, was mit ihrem Sohn passiert ist. <<
>> Dann müsste sie sich aber mit der Polizei anlegen. Denkst du im Ernst, dass sie dazu bereit wäre? Außerdem wird sie auch auf die Beamten vertrauen, die doch auch gerade dabei sind, den Fall zu lösen. <<
>> Na gut, okay. Also müssen wir erst mal Mr. Corpse dazu bringen mitzuspielen, damit er anschließend Gabrielle Baskin überzeugen kann, sich mit ihm zu treffen, damit wir … Ja, was sollen wir ihr denn überhaupt sagen, was sie machen soll? <<
>> Mhmm.. Ich glaube nicht, dass die Polizisten ihr die Chipcard überlassen werden. <<
>> Deswegen frage ich ja. <<
>> Sie kann doch irgendeine Untersuchung vom Stadtrat anordnen. <<
>> Was denn für eine Untersuchung? <<
>> Na ja, ob auch alles mit rechten Dingen zugeht, auf dem Präsidium. <<
>> Ich verstehe nicht, was du meinst. <<
>> Es gibt doch immer mal wieder solche Standarduntersuchungen, wo alles kontrolliert wird. Die ganzen Akten, die Vollständigkeit und Genauigkeit von den Arbeiten. <<
>> Und sowas wird vom Stadtrat durchgeführt? <<
>> Nein, ich glaube nicht, aber das kann sich ja einmal geändert haben. <<
>> Denkst du nicht, die Beamten wissen sowas? <<
>> Kommt drauf an, ob der Chef da ist oder ein anderer, der einfach nur Wache schieben muss. <<
>> Okay .. <<
>> Was ist? <<
>> Ich habe da so meine Zweifel an deiner Idee. Was ist, wenn Gabrielle Baskin doch in letzter Minute einen Rückzieher macht und uns verpfeift? <<
>> Es war doch deine Idee, sie da mit reinzuziehen. <<
>> Ja, schon. Aber .. Ach, ich weiß nicht. Ich habe einfach keine Lust, in den Jugendknast oder sonstwohin gesteckt zu werden. Oder vielleicht noch mehr Sozialstunden im Altenheim. Ich habe in meiner Freizeit echt besseres zu tun. <<
>> Ich doch auch. Deshalb müssen wir doch auch schon im Voraus einen Plan ausarbeiten. <<
>> Na gut, also dann mal weiter. <<
>> Also, ich würde vorschlagen, wir gehen entweder mit ins Präsidium und verstecken uns unbemerkt, oder wir bleiben draußen stehen und beobachten die ganze Szenerie durch ein Fenster. <<
>> Und wie bringt Gabrielle Baskin den Polizisten dazu, ihr die Chipcard zu geben? <<
>> Ich würde vorschlagen, dass sie anfängt, die ganzen Ausstattungen zu kontrollieren. Beamte haben doch auch immer diese Abzeichen und einen Block und Stift und eine Pistole und so bei sich. <<
>> Aber die haben die Pistole doch nicht immer bei sich, oder? <<
>> Kann sein, kann auch nicht sein. Wenn ein einziger Polizist Nachtwache hat, ist es schon gut möglich, dass er eine Pistole bei sich trägt, denn wenn irgendjemand ins Präsidium einbrechen will, kann er sich wehren. <<
>> Oh mein Gott, was machen wir denn dann, wenn er plötzlich auf uns schießt?! <<
>> Die schießen meistens nicht. Die haben das Ding nur, um zu drohen. <<
>> Bist du dir da sicher? Bei Bernhard Baskin haben sie ihm auch nicht nur gedroht, sie haben ihn umgebracht, schon vergessen?! <<
>> Nein, natürlich nicht vergessen. Aber keine Angst, das war ein Ausnahmefall. <<
>> Okay, na gut. <<
>> Also, sie kann sich ja zuerst die Abzeichen zeigen lassen, dann die Chipcard und während sie die noch in der Hand hat, kann sie nach der Pistole fragen, wenn er sie nicht bei sich trägt, oder irgendwelche Akten. Dann geht der Polizist mit ein bisschen Glück schon mal in einen anderen Raum, Gabrielle Baskin steckt die Chipcard ein, folgt ihm, segnet das alles ab und lobt die Beamten für ausgezeichnete Arbeit, sagt, dass das Formular bis morgen ausgestellt sein wird, solange die Sekretärin im Rathaus wieder gesund ist, gibt ihm die Hand, verlässt das Präsidium, gibt uns die Karte und fährt nach Hause. <<
>> Na, wenn das mal so reibungslos verläuft, wie du dir das jetzt ausmalst. <<
>> Mehr als hoffen können wir nicht. Klar, es kann da nicht nur eine Sache schief gehen, aber wir müssen einfach drauf vertrauen, dass wir Gabrielle Baskin genug unter Druck setzen können, damit sie sich nicht zu unserem Nachteil aus der Affäre ziehen kann. <<
>> Dann würde ich aber vorschlagen, dass wir morgen schon am Vormittag ins Präsidium gehen um nachzuschauen, was es mit der Chipcard auf sich hat. Denn wir wissen immerhin nicht, wieviel Zeit und Überredungskunst es uns kostet, sowas Mr. Corpse als auch Gabrielle Baskin für unseren Plan gewinnen zu können. <<
>> Okay, dann wird es wohl doch nichts mit ausschlafen morgen, oder? <<
>> Na ja, wenn wir um elf Uhr beispielsweise gehen, können wir ja trotzdem bis um halb zehn oder zehn Uhr schlafen. <<
>> Okay, dann werde ich jetzt wohl mal besser nach Hause gehen. << Jan sah auf die Uhr. Zehn nach zwölf. Schon wieder hatten wir so viel Zeit damit zugebracht, zu diskutieren und Pläne auszuarbeiten, das war doch nicht zu fassen.
>> Du kannst ruhig hier bleiben, ich durfte doch gestern auch bei die schlafen, weil es schon so spät war. <<
>> Sicher? Ich will keine Umstände machen. <<
>> Du machst doch keine Umstände. Wir haben hier noch ein Gästezimmer und einen gefüllten Kühlschrank. Alles in Ordnung. Apropos, möchtest du was essen? <<
>> Ja, also ich könnte schon was vertragen. << Jan grinste.
>> Sehr gut, ich nämlich auch. Dann schauen wir mal, was wir hier so haben. << Nach einer dreiviertel Stunde hatten wir unsere Hamburger gegessen. Es war echt eine gute Idee von mir gewesen, diese Brötchen zu kaufen. Als wir fertig mit essen waren, konnten wir beide vor Müdigkeit kaum noch die Augen offen halten. Also beschlossen wir, schlafen zu gehen. Ich zeigte Jan das Gästezimmer, dessen Bett glücklicherweise bezogen war und versicherte ihm, ihn morgen um dreiviertel zehn aufzuwecken.
Neuntes Kapitel
Am nächsten Tag stand ich um halb zehn auf und beschloss, Jan mit einer Tasse Kaffee aufzuwecken, so wie er es bei mir gemacht hatte. Also ging ich schnell duschen, kochte anschließend Kaffee und weckte ihn um zehn vor zehn auf. Besser gesagt, ich wollte ihn aufwecken, doch als ich ins Gästezimmer kam, war er schon topfit und packte gerade seinen Rucksack wieder zusammen.
>> Guten Morgen. <<
>> Morgen, Xenia. Ich hatte mir gestern noch meinen Handywecker gestellt, falls du dich fragen solltest, wieso ich schon auf bin. <<
>> Achso, alles klar. Gut geschlafen? <<
>> Ja, sehr gut. <<
>> Na dann, ich hab Kaffee gekocht. <<
>> Alles klar, bin schon da. <<
Während dem Frühstück besprachen wir noch einmal alles, was wir uns für heute vorgenommen hatten. Danach gingen wir zu Jan nach Hause damit er sich fertigmachen konnte und um fünf vor elf standen wir bereits vor dem Polizeipräsidium. Ich hatte mir zwei Zöpfe gebunden, das Make-Up weggelassen und mich in die Kleidung gezwängt, die ich vor vier Jahren das letzte Mal getragen hatte. Es war Ansichtssache, ob ich damit aussah, wie ein junges Mädchen, das um eine auf dem Baum festsitzende Katze trauert. Aber vielleicht hatte der Beamte, mit dem ich gleich sprechen würde ja keine Kinder, oder wenigstens einen Sohn, das wäre hilfreich. Jan hatte sich eine Sonnenbrille aufgesetzt und eine zerschlissene Lederjacke übergeworfen. Wo er die Klamotten herbekommen hatte, war mir ein Rätsel. Aber solange wir nicht aufflogen, war es mir nur recht.
>> Showtime <<, sagte Jan. Und dann gingen wir durch die Glastür ins Präsidium. Im Inneren war nicht so viel los, wie ich angenommen hatte, immerhin war es Donnerstagvormittag, wer sollte da schon regelmäßig aufs Polizeipräsidium gehen? Das war gut, denn so war es einfacher für uns, oder besser gesagt für Jan, sich einen Überblick über die Kleidung der Beamten zu verschaffen. Ab jetzt musste ich da alleine durch, denn wenn wir zu zweit die Beamten auf uns aufmerksam machen würden, dann wäre unsere Tarnung von Anfang an aufgeflogen. Wir hatten uns heute Morgen überlegt, dass ein Polizist zu mir kommen müsste, weil sie ja sonst hinter dem Tresen stehen und man ihren Gürtel nicht betrachten konnte. Also sollte ich mich auf einen Stuhl an den Rand setzen und so tun, als würde ich weinen. Dann würde schon ein Beamter auf mich aufmerksam werden und mich fragen, was mit mir los war. Dann konnte ich ihm die Geschichte von meiner Katze erzählen. Allerdings würde es daraufhin großes schauspielerisches Talent erfordern, ihn solange in eine Diskussion zu verwickeln, bis Jan mir sein >Okay< gab. Denn schauspielerisches Talent besaß ich nun sowas von überhaupt nicht. Das würde vielleicht ein großer Meilenstein zwischen den ganzen kleinen dieser letzten und der darauffolgenden Woche werden. Wenn ich jetzt nämlich gerade einmal so darüber nachdachte, wie sehr sich mein Leben in der letzten Woche verändert hatte. Ich konnte nicht sagen, dass ich Mark oder Jan oder irgendjemand anderem dafür dankbar war, was passiert war, denn das wäre taktlos und menschenunwürdig, aber auf irgendeine Weise hatte es mir die Augen geöffnet und mir gezeigt, dass das, was einem wichtig war, es wert war, sich dafür einzusetzen, auch wenn es, wie in diesem Falle mal wieder gegen das Gesetz verstieß. Wobei, das was wir jetzt gerade noch vorhatten war nicht gesetzeswidrig, jedoch der geplante Einbruch ins Präsidium heute Abend schon etwas mehr. Aber das sollte uns jetzt noch gar nicht beschäftigen, denn wir mussten erst einmal zusehen, dass wir an die Chipcard kamen. Ich setzte mich also auf einen einsamen Stuhl an die Wand und Jan stellte sich unbeteiligt in eine Ecke, zückte sein Handy und tat als würde er telefonieren. Ich stützte meine Ellenbogen auf meine Knie und ließ den Kopf in meine Handflächen sinken. Dann gab ich vorgetäuschte Schluchzer von mir, damit sich mein Rücken auf und ab senkte, so wie wenn ich wirklich weinen würde. Da ich keine Schminke benutzt hatte, konnte ich mir jetzt auch die Augen reiben, damit es wenigstens ein bisschen wirklich so aussah, als wäre ich unendlich traurig. Und der Plan ging auf. Bereits nach vier Minuten Schauspielerei kam einer der drei anwesenden Beamten auf mich zu und fragte, was mit mir los sei.
>> Ach, wissen Sie, es ist etwas Furchtbares passiert! <<
>> Was denn? << Ich schluchzte noch ein bisschen kunstvoll.
>> Ach, wissen Sie, meine Katze. <<
>> Was ist denn mit deiner Katze? <<
>> Ach wissen Sie, meine Katze sitzt auf einem Baum und kommt nicht mehr runter. <<
>> Und was soll ich da tun? <<
>> Na, Sie sollen sie vom Baum runterholen. <<
>> Ich? Aber wir sind hier doch bei der Polizei und nicht mehr der Feuerwehr! <<
>> Aber ich dachte, Sie helfen Menschen! <<
>> Tun wir ja auch, aber um Katzen von Bäumen runterzuholen, dafür sind wir wirklich nicht zuständig. <<
>> Und was soll ich jetzt machen? <<
>> Ruf die Feuerwehr an. <<
>> Welche Nummer? <<
>> Na, hör mal, das weißt du nicht? 112. <<
>> Aber das dauert doch noch ewig, bis die dann kommen! <<
>> Dann wartest du eben ein bisschen. <<
>> Ja, aber meine Katze, verstehen Sie denn nicht, das ist ein Notfall! <<
>> Tut mir wirklich leid, aber deine Katze wird dann auch noch ein bisschen warten müssen. <<
>> Und wie soll ich ihr das erklären? <<
>> Du willst deiner Katze erklären, dass sie auf dem Baum bleiben soll? <<
>> Ja, woher soll sie es denn sonst wissen? <<
>> Okay, hör zu, du gehst jetzt wieder nach Hause, rufst die Feuerwehr, erklärst denen, was passiert ist und wartest, bis sie kommen und deiner Katze helfen, okay? << Jan hatte mir bis jetzt noch kein Zeichen gegeben, also musste ich den Polizisten noch ein bisschen hinhalten.
>> Nein, nicht okay. Was, wenn ihr etwas passiert, bis die Feuerwehr bei uns zu Hause ist? <<
>> Was soll ihr denn passieren? <<
>> Sie kann von einem Vogel angegriffen werden, oder sie kann runterfallen und sich etwas brechen. <<
>> Von einem Vogel? Wenn du an so etwas glaubst, dann weißt du doch auch sicher, dass Katzen sieben Leben haben. <<
>> Aber das ist doch totaler Schwachsinn. <<
>> Ach, auf einmal, ja? <<
>> Was heißt denn hier auf einmal? Ich habe noch nie behauptet, dass Katzen sieben Leben haben. <<
>> Das habe ich jetzt auch nicht gemeint. <<
>> Was haben Sie denn dann gemeint? <<
>> Ach, das ist jetzt nicht so wichtig. Geh doch jetzt besser, hier haben andere Leute noch viel größere Probleme. <<
>> Wollen Sie jetzt damit sagen, dass meine Probleme zu harmlos für die Polizei sind? << Auch wenn das Ganze nicht ernst gemeint war, wurde ich schön langsam durchaus sauer auf den Beamten. So sprach man doch schließlich nicht mit einem besorgten kleinen Mädchen.
>> Nein, das wollte ich damit nicht sagen. Aber deine Probleme wären bei der Feuerwehr besser aufgehoben. Und bis du hier die ganze Zeit mit mir diskutierst, hättest du diese schon längst angerufen und sie wären auf dem Weg zu dir nach Hause, um deiner Katze zu helfen. << Jetzt gingen mir schön langsam die Ideen aus, was ich darauf antworten konnte, aber glücklicherweise machte Jan ein Gesicht, als hätte er etwas entdeckt. Und so war es auch. Kurz darauf gab er mir ein Zeichen, ich willigte dem Vorschlag des Polizisten ein, warf ihm noch einen letzten Böse-Mädchen-Blick zu und verließ kurz nach Jan das Präsidium.
>> Hast du was gefunden? <<
>> Ja, hab ich. Der Polizist, mit dem du gesprochen hast, trägt seine Chipcard an seinem Gürtel. Also nehme ich mal an, dass das für alle Beamten gilt, denn sowohl auf dem Tresen oder auch irgendwo anders für Leute sichtbar, konnte ich keine Karte sehen. <<
>> Mist, also Plan B. <<
>> So sieht’s aus. <<
>> Zum Glück haben wir ja jetzt noch ein bisschen Zeit bis heute Abend. Aber ich muss mich jetzt zuerst einmal umziehen. Diese Kleider gefallen mir überhaupt nicht. <<
>> Aber es war echt erstaunlich, wie gut das funktioniert hat. Ich dachte, wir würden auffliegen. <<
>> Du hast von Anfang an gezweifelt? Wieso wolltest du das denn dann trotzdem durchziehen? <<
>> Na ja, einen Versuch war es doch allemal wert. <<
>> Ach, na dann. Aber ob ich dann vielleicht unter Umständen noch mehr Sozialstunden aufgebrummt bekommen hätte, war dir egal. <<
>> Nein, natürlich nicht, aber wenn ich dir gesagt hätte, dass ich nicht daran glaube, dass unser Plan funktioniert, hättest du dann mitgemacht? <<
>> Vermutlich nicht. <<
>> Na also, aber du bist doch auch der Meinung, dass wir herausfinden müssen, was es mit Marks Tod auf sich hat, oder? <<
>> Ja, schon. <<
>> Siehst du. <<
>> Okay, aber das nächste Mal setzt du mich bitte trotzdem darüber in Kenntnis, wie du zu unserem Vorhaben stehst, alles klar? <<
>> Na schön. <<
Dann trennten sich unsere Wege erst einmal, denn sowohl Jan als auch ich, wollten uns umziehen und noch ein bisschen erholen. Da Jan seinen Kühlschrank immer noch nicht aufgefüllt hatte, verabredeten wir uns um halb zwei bei mir zum Mittagessen. Ich musste mir noch überlegen, was ich da auf den Tisch bringen sollte, denn ich hatte eigentlich keine große Lust, etwas zu kochen, zudem ich auch noch richtig schlecht im Kochen war.
>Home, Sweet Home<, dachte ich, als ich meine Haustür aufschloss und endlich seit vielen Tagen ein paar Stunden ganz alleine und entspannt für mich hatte. Ich beschloss, zuerst einmal ins Bad zu gehen und Wasser in die Badewanne zu lassen, damit ich mich bei einem Schaumbad entspannen konnte. Dann drehte ich laut Musik auf und ließ mich in das warme Wasser sinken. Nach einer dreiviertel Stunde war ich so dermaßen aufgeweicht und versteift, dass ich mich nur mit Mühe wieder aus der Wanne hieven konnte. Als ich wieder frisch und angezogen in der Küche stand, überlegte ich mir, Zwiebelkuchen zum Mittagessen zu machen. Das war das einzige, was ich schon oft gemacht hatte und daher auch relativ gut beherrschte. Ein Rezept musste allerdings trotzdem noch neben mir liegen. Ich hatte noch gut eine Stunde Zeit. Da ich bezweifelte, dass die Zeit ausreichen würde, musste ich mich jetzt damit beeilen, die ganzen Zutaten zu vermischen und auf ein Blech zu streichen, mit den Zwiebelstücken obendrauf. Dann wanderte das Ganze für eine halbe Stunde in den Ofen. Solange hatte ich Zeit, mich auf die Couch zu legen und ein bisschen fernzusehen. Da wurde mir klar, wie sehr ich das vermisst hatte. Dieser ganze Stress und das alles war zwar aufregend, aber auch wahnsinnig nervenaufreibend. Da brauchte man auch mal ab und zu ein bisschen Zeit für sich. Nach einer halben Stunde meldete sich der Ofen und kurz darauf klingelte Jan auch schon an der Tür. Ich bat ihn hinein, deckte noch schnell den Tisch, schnitt den Zwiebelkuchen auf und fertig.
>> Hmm, das sieht ja lecker aus. <<
>> Hoffentlich schmeckt es auch so. <<
>> Da bin ich mir sicher. Was ist das denn eigentlich? <<
>> Willst du mich auf den Arm nehmen? Hast du etwa noch die Zwiebelkuchen gegessen? <<
>> Zwiebelkuchen? Nein, nicht dass ich wüsste. <<
>> Na, dann wird das ja mal höchste Zeit. <<
Während dem Essen widmeten wir uns dann wieder voll und ganz dem, was uns am Nachmittag noch bevorstand. Als wir fertig waren, beschlossen wir, uns auch gleich auch den Weg zu machen um keine Zeit zu verlieren.
Als wir vor dem Bestattungsinstitut standen, wurde es mir dennoch ein bisschen mulmig zumute. Was, wenn er sich nicht dazu überreden ließ oder wenn er die Polizei einschalten würde oder wenn er uns irgendetwas antun würde, ich traute dem Mann kein Stück über den Weg. Was, wenn er was mit dem >Unfall< zutun hatte. Er würde uns ja schließlich nicht helfen, sich selbst an die Polizei zu überliefern. Aber wieso sollte er etwas damit zu tun haben? – Leider ließ mir Jan keine Zeit mehr, meinen Gedanken nachzuhängen, denn er hatte die Tür bereits geöffnet und das leise Glockenspiel hatte auch schon unsere Anwesenheit angekündigt.
>> Hallo, wer ist da? <<
>> Guten Tag, Mr. Corpse. Ich bin Jan Gößner und das hier ist meine Freundin Xenia Eckert. Vermutlich erinnern sie sich noch an uns, da wir vor nicht allzu langer Zeit schon einmal hier waren. <<
>> Was wollt ihr? <<
>> Wir möchten Sie um so eine Art Gefallen bitten. <<
>> Einen Gefallen? << Plötzlich schien er gar nicht mehr so glücklich darüber zu sein, dass wir hier waren.
>> Ja, Sie haben uns das letzte Mal doch Ihre Hilfe angeboten. <<
>> Richtig, das habe ich. Um was geht es? <<
>> Sie sollen eine Nachricht an Gabrielle Baskin überbringen. <<
>> Eine Nachricht? Und wieso Gabrielle Baskin? << Bei dem Namen wurde er schlagartig kreidebleich. Ich beobachtete die Konversation. Die strenge Miene von Jan, der Mr. Corpse, zumindest bis jetzt, noch voll unter Kontrolle hatte. Der machte nämlich keine Anstalten, abzuhauen oder ihm gar etwas an den Kopf zu werfen, im wörtlichen Sinne gesehen.
>> Wir brauchen Gabrielle Baskin für weitere Ermittlungen im Fall ihres Sohnes. <<
>> Aber wozu? <<
>> Das werde ich Ihnen nicht sagen. <<
>> Und wieso braucht ihr dann mich? <<
>> Na ja, sagen wir, auf uns wir Gabrielle Baskin nicht sonderlich gut zu sprechen sein. <<
>> Lass mich raten, den Grund dafür wirst du mir auch nicht sagen? <<
>> Das ist richtig. <<
>> Okay, und welche Art von Nachricht soll ich ihr überbringen? <<
>> Sie sollen sich mit ihr verabreden. << ich beschloss, mich auch in die Konversation einzubringen.
>> Ich soll was?! <<
>> Wie Xenia sagte, Sie sollen sich mit ihr treffen. <<
>> Aber wieso sollte ich das tun? <<
Ich beschloss, doch Jan die Erklärung zu überlassen. Er wirkte einfach viel überzeugender.
>> Wir müssen mit ihr reden, ihr Fragen stellen, Sie wissen schon. Und wenn wir ihr sagen, sie soll sich mit uns treffen, dann wird sie nicht kommen. <<
>> Aber wieso sollte sie bei mir kommen? <<
>> Sie hatten doch einmal Kontakt zu ihr, wegen dem Grab ihres Mannes. <<
>> Wie kommt ihr auf die Idee, dass ich euch helfen werde? <<
>> Nun ja, wir dachten, da Sie uns Ihre Hilfe angeboten haben, werden sie sich auch daran halten. <<
>> Ach, dachtet ihr das? Da habt ihr euch aber geschnitten. Ich will in die Sache nicht mit hineingezogen werden. <<
>> Aber in welche Sache denn? <<
>> Na, in die ganze Mordgeschichte mit Mark Baskin. << Kaum hatte er das gesagt, konnte man sehen, wie ihm seine Gesichtszüge für den Bruchteil einer Sekunde entgleisten, bis er sich wieder gefangen hatte. Er glaubte also daran, dass es sich um Mord handelte. Aber wieso? Das konnte nicht sein, weil wir davon überzeugt waren, da musste noch etwas anderes dahinter stecken. Offenbar hatte auch Jan seinen Fehltritt bemerkt, doch er beschloss, nichts zu überstürzen und Mr. Corpse erst einmal dazu zu bringen, sich uns anzuschließen oder besser gesagt, das zu tun, was wir von ihm verlangten.
>> Okay, sagen wir es so. Wir wissen Dinge über Sie, mit denen wir nur ungern an die Öffentlichkeit gehen würden, um Ihnen nicht zu schaden, doch wenn Sie sich weiterhin weigern, uns zu helfen, wird uns nichts anderes übrigbleiben. <<
>> Ach ja, und was sollen das für Dinge sein? <<
>> Na ja, Sie haben uns bei unserem letzten Treffen einige Dinge über Ihren Beruf erzählt, die wohl nicht haargenau mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch vereinbar sein werden. <<
>> Die Gräber? Damit wollt ihr mich erpressen? <<
>> Erpressung würde ich das nicht gerade nennen. <<
>> Und wie würdest du das nennen? <<
>> Leichte Druckmittelanwendung zum Erreichen des gewünschten Ziels. <<
>> Für euch ist das vielleicht das gewünschte Ziel, sicherlich aber nicht für mich. <<
>> Na, das werden wir ja früher oder später herausfinden. <<
>> Das kann ich dir jetzt schon versichern. Ich halte nichts von euren Spielchen, und Gabrielle da mit hineinzuziehen ist auch nicht wirklich eine gute Idee, denn ihr habt keine Ahnung, mit wem ihr euch da anlegt. << Wieder eine Aussage, die seine Gesichtszüge für einen längeren Moment als vorher entgleiten ließ. Er sollte wirklich mehr darauf achten, was er zu sagen hatte.
>> Aus diesem Satz, den Sie soeben gesagt haben, kann man ebenfalls einige Fakten entnehmen. <<
>> Ach, komm, spiel dich hier nicht so auf. Welche Fakten denn bitte? <<
>> Sie nennen Gabrielle Baskin beim Vornamen und Sie halten sie für gefährlich. <<
>> Das stimmt nicht. Ich nenne sie nicht beim Vornamen, aber ich muss doch nicht immer den ganzen Namen erwähnen, damit ihr wisst, von wem ich rede, oder? Und außerdem halte ich sie nicht für gefährlich. Ich wollte mit der Behauptung nur klarmachen, dass die Frau im Stadtrat ist und einen großen Einfluss hat, auf alles, was in der Stadt so vor sich geht. <<
>> Machen Sie sich deswegen auch Sorgen um sich und wollen sich nicht mit ihr anlegen? <<
>> Anlegen, inwiefern das denn? <<
>> Na ja, unsere Bitte an Sie. Es muss doch noch einen anderen Grund geben, wieso Sie sich so strikt dagegen wehren. <<
>> Nein, ich will nur mit der Sache nichts zu tun haben, um nicht am Ende noch selbst derjenige zu sein, der wegen Mordes verdächtigt wird. <<
>> Sie sind also davon überzeugt, dass es sich bei Mark Baskins Tod um Mord handelt? <<
>> Das seid ihr doch auch, oder nicht? <<
>> Das war nicht unbedingt die Antwort auf meine Frage. <<
>> Schon gut, ja ich bin davon überzeugt. <<
>> Wieso denn? <<
>> Ich bin einfach nicht der Ansicht, dass Mark Baskin einen Grund hatte, sich umzubringen. <<
>> Kannten Sie ihn denn? <<
>> Nein. <<
>> Wie kommen Sie dann zu der Behauptung? <<
>> Na ja, ich habe ein wenig von der Familiengeschichte mitbekommen als ich … <<
>> … als Sie mit Gabrielle Baskin verheiratet waren? <<, unterbrach Jan.
>> Woher weißt du das? <<
>> Ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir Informationen über Sie haben. Wieso halten Sie es geheim? <<
>> Wenn meine geschiedene Ehe mit Gabrielle Baskin bekannt würde, könnte es ein neues Licht auf die Bestattung ihres Mannes werfen und ich würde wieder verdächtigt, krumme Dinger am Laufen gehabt zu haben. <<
>> Aber der Verdacht wäre berechtigt. <<
>> Ja, schon. Aber .. Was wollt ihr denn nun von mir? <<
>> Das haben wir Ihnen doch schon gesagt, Sie sollen sich mit Gabrielle Baskin verabreden. <<, endlich konnte ich wieder mitreden.
>> Und was soll ich ihr sagen? <<
>> Sagen Sie ihr, dass die Polizei heute Morgen bei Ihnen aufgetaucht ist und wieder Fragen wegen des Grabes ihres Mannes gestellt hat. Sie hätten etwas herausgefunden und wollten auch sie heute Nachmittag noch auf das Präsidium vorladen. Deswegen müssten sie beide ihre Aussagen abgleichen. <<
>> Ach du meine Güte, was ihr doch für eine Fantasie habt. Aber ich kann euch jetzt schon sagen, dass das nicht funktionieren wird. <<
>> Und wieso nicht? <<
>> Sie wird die Sache mit mir am Telefon besprechen wollen. <<
>> Dann sagen Sie ihr, dass das nicht funktioniert. Sie wissen nicht, ob Telefongespräche nicht abgehört werden. <<
>> Abgehört? Sind wir wieder in der DDR? Das wird sie nie glauben. <<
>> Versuchen Sie es doch wenigstens mal, ich meine, Sie beide waren doch verheiratet, Sie dürften Gabrielle Baskin doch gut genug kennen, um zu wissen, wie man sie zu etwas überreden kann. <<
>> Okay, ich werde es versuchen, aber die Sache mit der Ehe bleibt unter uns. <<
>> Solange Sie sich an die Abmachung halten, schon. <<
>> Alles klar. Für wann soll ich mich mit ihr verabreden und wo? <<
>> Am besten in einer halben Stunde oder in einer Stunde an der Brücke des kleinen Flusses vor dem Stadtwald. <<
>> Na gut. Werde ich denn auch zu dem Treffen kommen müssen? <<
>> Natürlich, sie muss Sie ja zuerst einmal sehen, um keinen Verdacht zu schöpfen. Sie werden sie begrüßen und dann übernehmen wir. <<
>> Habt ihr ihre Nummer? <<
>> Wir dachten, Sie haben die vielleicht. Immerhin war sie doch einmal Ihre Frau und so etwas wie eine >Kundin >> Ja, ich sehe mal in meinem Adressbuch nach. <<
Nach kurzem Suchen war er offensichtlich fündig geworden. Er wählte die Nummer, atmete tief durch und drückte schließlich auf den grünen Hörer. Wir forderten ihr per Handzeichen auf, den Lautsprecher einzuschalten.
>> Heather? <<
>> Ja, hallo. Ich hätte gerne Gabrielle Baskin gesprochen. <<
>> Wer sind Sie? <<
>> Philipp Kiez. Ich bin mit Gabrielle Baskin im Stadtrat. <<
>> Einen Moment bitte. <<
>> Vielen Dank. << Erste Hürde geschafft. Mr. Corpse hatte wirklich gut improvisiert.
>> Gabrielle Baskin? <<
>> Hallo Gabrielle. <<
>> Wer ist da? <<
>> Ludolf Corpse. <<
>> Was willst du? <<
>> Leg nicht auf, es ist wichtig. <<
>> Was willst du? <<
>> Die Polizei war heute Morgen bei mir. Sie haben Fragen gestellt, wegen dem Grab von Bernhard Baskin. <<
>> Und was habe ich damit zu tun? <<
>> Offensichtlich haben sie den Fall noch einmal aus den Akten heraus gekramt und die anderen unbeschrifteten Gräber ebenfalls. Da du Bernhard Baskins Frau warst, wollen sie dich heute Nachmittag auch noch einmal zu dem Fall befragen. <<
>> Was?! Mich?! <<
>> Ja. Da ich auch noch einmal auf das Präsidium muss, würde ich vorschlagen, wir treffen uns vorher. <<
>> Aber wieso denn das? <<
>> Na ja, wir müssen unsere Aussagen abgleichen. <<
>> Aber das können wir doch auch am Telefon machen. << Mr. Corpse schaute uns mit einem triumphierenden Blick an.
>> Nein, das geht nicht. Weißt du, wie leicht man sich in Telefongespräche einschalten kann? Wenn du Polizei uns zuhört, dann sind wir geliefert. <<
>> Wir sind doch nicht mehr in der DDR. Komm schon, Ludolf. <<
>> Also, ich für meinen Teil will kein Risiko eingehen. <<
>> Okay, wo und wann? << Unfassbar, es klappte.
>> In einer halben Stunde an der Brücke des kleinen Flusses vor dem Stadtwald. <<
>> Gut, ich werde da sein. Bis dann. <<
>> Bis dann. << Er legte auf und atmete wie schon zu Anfang einmal tief durch. Sie hatte es geschluckt. Manche Menschen waren echt gutgläubig. Na ja, gut für uns. Jetzt mussten wir nur noch hoffen, dass sie nicht versuchen würde, abzuhauen, wenn sie uns sah. Das könnte sonst nämlich problematisch werden, weil wir keinen Plan C mehr hatten. Ansonsten musste eben einfach Mr. Corpse hinhalten, obwohl das um einiges schwerer werden würde. Denn was sollte er der Polizei schon erzählen, wieso er die Chipcard brauchte? Aber daran wollte ich jetzt gar nicht denken. Einfach fest davon überzeugt sein, dass dieser Plan hinhauen würde. Nachdem wir uns noch eine Viertelstunde mit Mr. Corpse über den jetzigen Ablauf unterhalten haben und versuchten, noch herauszubekommen, wieso er die ganze Ehe geheim gehalten hatte und was der Grund für die Scheidung war, was er uns jedoch alles nicht beantworten wollte, war es Zeit, dass wir uns auf den Weg machten. Wir wollten nämlich früher da sein als Gabrielle Baskin, damit wir nicht das Risiko eingingen, dass sie Jan und mich schon sehen würde, bevor wir wollten, dass sie uns sah. Doch plötzlich wollte uns Mr. Corpse nicht mehr mitnehmen.
>> Was?! Aber das ist doch der eigentliche Plan, dass wir mit Gabrielle Baskin reden. Was haben Sie jetzt für ein Problem? << Dieser Typ regte mich wirklich auf, deswegen ergriff ich ausnahmsweise auch einmal das Wort.
>> Na, ihr wisst doch gar nicht, ob das überhaupt hinhaut. Ob sie nicht gleich wieder wegfährt. Und auch wenn sie herausbekommen sollte, dass ich etwas mit der Sache zu tun habe, habe ich mir die ganze Situation mit ihr verspielt. Wer weiß denn, ob sie dann nicht wirklich zur Polizei geht und mich verpfeift? <<
>> Das wird sie nicht machen und außerdem sind Sie geschieden. Dann müsste Gabrielle Baskin auf der Polizeiwache schon erklären können, wie sie an diese Informationen kommt und sie wird wohl nicht so dumm sein und sich selber ausliefern, oder? <<
>> Vielleicht habt ihr recht. <<
>> Man muss doch auch einmal ein Risiko eingehen. << Ich war richtig in Fahrt und ließ Jan gar nicht erst zu Wort kommen. Über den Gedanken musste ich schmunzeln. Trotz seinem inneren Kampf musste er uns widerwillig in sein Auto einsteigen lassen. Dabei hätten wir eigentlich nicht einsteigen wollen sollen, da wir Angst haben könnten, dass er uns irgendwohin verschleppt oder etwas in der Art. Aber Jan hatte ihm so viel Angst gemacht, dass er sich das überhaupt nicht trauen würde.
Als wir am Fluss angekommen waren, parkte Mr. Corpse den Wagen auf einem freien Stück Wiese, Jan und ich versteckten uns hinter einen dicken Eiche und Mr. Corpse stellte sich auf die kleine Brücke, die über den Fluss führte. Keine fünf Minuten später hörten wir schon das Tuckern und die quietschenden Bremsen eines zweiten Autos. Das würde dann wohl Gabrielle Baskin sein. Gleich würde es losgehen. Eine Autotür wurde aufgestoßen und wieder zugeknallt. Klang nicht sehr feinfühlig. Dann konnte man nur noch das leise Klackern von Stöckelschuhen auf dem trockenen Waldboden vernehmen. Kurze Zeit später stand sie mit Mr. Corpse auf der Brücke. Diesem konnte man deutlich ansehen, wie unwohl er sich in dieser Situation fühlen musste. Doch da musste er jetzt wohl durch. Er hatte uns sein Wort gegeben.
>> Hallo Ludolf. <<
>> Gabrielle. <<
>> Also, was hat die Polizei genau zu dir gesagt? <<
>> Na ja, sie meinte, sie habe Beweise gegen mich in der Hand, die zeigten, dass du ebenfalls in die unmoralischen Bestattungen der Toten verwickelt bist. <<
>> Aber das bin ich doch gar nicht. Das war doch nur Bernhard. << Mr. Corpse legte seine rechte Hand auf den dünnen Stamm, der das Geländer der Brücke bildete. Das war unser Zeichen. Jan ging voraus und ich folgte ihm dicht auf den Fersen.
>> Mrs. Baskin. <<
>> Jan?! Was willst du hier? Und du, duu?! <<
>> Tut mir leid, Gabrielle, ich musste mitspielen. Sie haben mich erpresst <<, schaltete sich Mr. Corpse ein. Dabei wollten wir Gabrielle Baskin doch nur ein paar Fragen stellen. Doch offensichtlich wollte sie sich nicht befragen lassen, denn während dieser Gedanken, hatte sie schon blitzschnell geschaltet und war losgelaufen. Wir waren da leider nicht so schnell. Doch Jan reagierte früher als ich. Dumm nur, dass er schon nach wenigen Metern über einen Stamm fiel.
>> Xenia, bitte versuch du, sie einzuholen. Überzeug sie davon, dass wir nur mit ihr reden wollen! << Ich nickte und rannte los. Sie war schon fast an ihrem Auto. Ich dache es war zu spät und wir würden nie an die Kleidung kommen, denn sie hatte bereits die Autotür geöffnet und setzte sich in den Wagen. Soweit durfte ich es nicht kommen lassen. Das war ich Mark schuldig. Wir mussten herausfinden, was wirklich mit ihm passiert war und dazu brauchten wir diese Kleidung, um das Metall identifizieren zu können und es zu suchen, wo wir es finden würden. Denn so viele Verdächtige gab es ja nun nicht. Welche Verdächtigen hatten wir überhaupt? Darüber würde ich nachdenken, wenn ich im Auto war. Gabrielle Baskin schaute hektisch auf ihre Schlüssel, die das Auto einfach nicht anspringen lassen wollten. Darin sah ich meine Chance. In letzter Sekunde öffnete ich die Tür vom Kofferraum, kletterte hinein, schloss die Tür wieder vorsichtig und betete, dass sie mich nicht gesehen oder gehört hatte. Doch ich hatte Grund zu hoffen, denn das Radio war laut aufgedreht und kaum saß ich, fuhr Gabrielle Baskin auch schon los. Das hätte sie sicherlich nicht gemacht, wenn sie gewusst hätte, dass ich in ihrem Kofferraum saß. Aus dem hinteren Fenster konnte ich erkennen, dass Jan und Mr. Corpse angerannt kamen und versuchten, den Wagen doch noch zu erreichen. Doch das war zu spät. Jetzt würden sie sich sicherlich fragen, wo ich geblieben war. Jan würde sich vielleicht fragen, ob Gabrielle Baskin mir etwas angetan hatte. Vielleicht aber auch nicht.
Also, da ich jetzt Zeit hatte bis Gabrielle Baskin zu sich nach Hause gefahren war, beschloss ich, die Frage zu klären, wen wir als verdächtig ansahen. War Mr. Corpse verdächtig? Was hätte er denn für einen Grund. Vielleicht Rache an Gabrielle Baskin, weil sie ihn verlassen hatte. Aber was, wenn nicht sie ihn, sondern er sie verlassen hatte, dann hatte er kein Motiv. Aber als Verdächtigen konnte man einen zwielichtigen Typen, der ein Bestattungsunternehmen führte und krumme Dinger in Sachen Grabesführung gedreht hat, schon bezeichnen. Wen gab es noch? Stephen Heather. Eigentlich wäre er schon verdächtig, einfach, weil er so wirkte. Doch er bräuchte ein Motiv oder wenigstens etwas, dass dafür spräche, dass er ein Verdächtiger war. Gerhard Baskin hatte bei ihnen zu Hause angerufen. Und Stephen Heather war immer rangegangen. Er hätte sagen können, dass Mark zu sprechen war, das hatte er aber nicht getan, wieso? Vielleicht hat er es für jemand anderen getan. Vielleicht wollte irgendjemand jemand anderen durch Marks Tod schaden? Aber wem sollte geschadet werden? Bernhard Baskin war schon tot. Bliebe noch Gabrielle Baskin. Oder vielleicht seinen Großeltern? Hatte er überhaupt noch Großeltern? An der Beerdigung waren sie vermutlich dabei, aber bei der Rede, die der Bürgermeister in der Stadt gehalten hatte? Da hatten doch die nächsten Angehörigen auch etwas gesagt. Dass Marks Großeltern dort anwesend waren, das war mir nicht bekannt. Was war mit Gerhard Baskin? Wollte er jemandem schaden und wollte ihm jemand schaden? Vielleicht wollte er seiner Schwester Gabrielle Baskin schaden, da er so wenig Kontakt zu seinem Neffen hatte. Aber würde er deswegen gleich jemanden umbringen, und dann auch noch seinen Neffen selbst? Das ergab keinen Sinn, obwohl er ein Motiv hätte. Aber würde ich Gerhard Baskin wirklich einen Mord zutrauen? Also ich persönlich jedenfalls nicht. Außerdem war er im Seniorenheim. Da konnte man doch nicht einfach mal kurz abhauen, um jemanden umzubringen. Und wenn ihm jemand geholfen hätte? Und wer sollte das sein? Ach, klar. Seine Cousine. Aber die hatte doch behauptet, erst seit kurzer Zeit zu wissen, dass sie verwandt waren. Sollte man das glauben? Na ja, ich hatte Mrs. Smith ja nicht gesehen, aber als Jan sie gesehen hatte, hatte sie immerhin geweint. Ob das Freudentränen waren? Denn Grund sich zu freuen hatte man immerhin, wenn man erst vor Kurzem erfuhr, dass man noch Verwandte hatte. Ob sie auch einen Grund dazu hatte, traurig zu sein? Denn inwiefern war sie mit Mark verwandt? Sie war die Cousine seines Onkels. Also Moment. Sie war die Tochter eines Bruders oder einer Schwester von Gerhards Eltern. Das bedeutete für Mark, dass Mrs. Smith die Tochter eines Bruders oder einer Schwester von seinen Großeltern war. Oder? Ich hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn das Auto wurde langsamer und wir bogen um eine scharfe Kurve in die Einfahrt eines Hauses. Jetzt stellte sich allerdings die Frage, wie ich es schaffen sollte, unbemerkt ins Haus zu kommen. Denn wenn ich erst einmal drinnen war, konnte sie mich ja schlecht hinausschicken. Also können, konnte sie schon, aber ich würde nicht gehen. Vielleicht konnte ich sie ja sogar davon überzeugen, mir vernünftige Antworten zu geben. Aber schön langsam zweifelte ich an dem Plan, dass sie zur Polizei geht und die Chipcard für uns besorgt.
Gabrielle Baskin öffnete die Autotür und stieg aus dem Wagen. Genau in dem gleichen Moment öffnete ich den Kofferraum einen Spalt breit, damit ich nicht im Auto eingeschlossen werden würde. Jetzt musste ich vorsichtig sein. Während Gabrielle Baskin das Auto abschloss und von dem metallenen Klackern ihrer Stöckelschuhe begleitet auf das Haus zulief, kroch ich blitzschnell aus dem Kofferraum und machte die Tür wieder so zu, dass nur ein kleiner Spalt offen stehen blieb, das kümmerte mich jetzt herzlich wenig, ob jemand das Warndreieck und den Erste-Hilfe-Kasten aus dem Kofferraum von Gabrielle Baskin mitgehen lassen würde, immerhin hatte ich eine Mission, die erledigt werden musste, weil Jan sich auf mich verließ, auch wenn er nicht wusste, was wirklich gerade mit mir los war und was ich vorhatte. Aber das wusste ich ja selber auch nicht so genau. Irgendwie musste ich Gabrielle Baskin für unseren Plan begeistern können, sodass sie mitspielen würde. Ob nun durch Erpressung oder einfache Überredungskunst war eigentlich völlig egal. Während Gabrielle Baskin nun damit beschäftigt war, den Haustürschlüssel aus ihrer Tasche zu suchen, stellte ich mich unbemerkt hinter einen Baum, der im Garten der Baskins möglichst nah an der Tür stand. Sie schien den Schlüssel nicht zu finden und schaute noch tiefer in ihrer Tasche. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und stolperte die kleine Stufe vor der Eingangstür hinunter, woraufhin sie sich gerade noch so fangen konnte, ohne umzufallen. Allerdings ihr Schuh kriegte dennoch etwas ab und der Absatz brach ab.
>> Mist <<, fluchte Gabrielle, der Schuh musste ja echt teuer gewesen sein. Ich wettete, solche Schuhe könnte ich mir nicht einmal leisten.
Schließlich fand Gabrielle Baskin den Haustürschlüssel allerdings doch und stöckelte begleitet von dem metallenen Klackern von nun noch einem Schuh und dem Absatz des anderen Schuhs in der Hand ins Haus. Hinter sich gab sie der Tür eine leichten Schubs und ich reagierte schnell, lief zur Tür und ließ sie nur halb ins Schloss fallen, damit Gabrielle Baskin nicht aufmerksam wurde, dass die Tür beim Zufallen überhaupt kein Geräusch von sich gegeben hatte. Jetzt musste ich nur noch abwarten bis Gabrielle Baskin in einem anderen Zimmer war. Das konnte ich leicht feststellen, denn neben der Eingangstür war ein Fenster durch das man den vollen Überblick über das gesamte Arbeitszimmer von Gabrielle Baskin hatte. Und wie es der Zufall wollte, ging Gabrielle Baskin gerade jetzt in das Zimmer, allem Anschein nach mit ihrem Absatz in der Hand, und öffnete die oberste Schublade auf der linken Seite ihres Schreibtisches um das, was sie in der Hand hielt hineinzulegen. Wieso versorgte man einen abgebrochenen Absatz an einer sicheren Stelle in seinem Arbeitszimmer, den brachte man doch lieber mitsamt dem Schuh zum Schuster um ihn flicken zu lassen oder nicht? Na ja, vielleicht hatte Gabrielle Baskin auch einfach noch einen ganzen Haufen von diesen Schuhen, sodass es auf einen mehr oder weniger schließlich auch nicht mehr ankam. Während also Gabrielle Baskin in ihrem Arbeitszimmer zugange war, schlich ich mich ins Haus und versteckte mich im Wandschrank, der halb offen gleich im Eingangsbereich des Hauses stand. Zu meinem Glück wollte Gabrielle Baskin nicht ihre Jacke aufhängen, sondern in die Küche gehen um etwas zu trinken. Deswegen beschloss ich, doch ins Arbeitszimmer zu gehen und den Absatz mitzunehmen, vielleicht war der ja alleine schon ein Vermögen wert. Auch wenn es sich dabei dann wohl um Diebstahl handelte, aber das war mir im Grund völlig gleich.
Ich schlich mich also in das Arbeitszimmer und machte so leise wie möglich die krächzende Schublade auf. Gabrielle Baskin schien glücklicherweise nichts davon mitbekommen zu haben, dass ich in ihrem Haus war und ihr gerade einen Absatz klaute. Da hielt ich den Absatz auch schon in der Hand. Meine Güte, der war aber schwerer, als ich gedacht hatte und ich sah auch, woran das lag. Die Unterseite war mit Metall besetzt. Vermutlich, damit sich die dünne Spitze nicht so schnell abnutzen konnte. Woher nahm Gabrielle Baskin das Geld, um sich solche edlen Schuhe leisten zu können? Ich wusste zufällig, wie die Schuhe meiner Mutter aussahen. Von der Tatsache abgesehen, dass sie nur zwei Paar Stöckelschuhe besaß, aber bei keinem von beiden waren die Absätze mit Metall gefestigt. Na ja, ich war ja nicht hier, um Gabrielle Baskins Schuhe zu untersuchen. Aber weil ich jetzt gerade schon einmal ungestört war, beschloss ich, Jan eine SMS zu schreiben, dass er mit Mr. Corpse zur Polizei gehen sollte, um die Kleidung zu holen und das Metall zu untersuchen, weil ich Gabrielle Baskin ein bisschen befragen wollte, wer denn Grund dazu gehabt hätte, ihren Sohn umzubringen und wieso sie ihre Ehe mit Mr. Corpse geheim gehalten hatte. Und natürlich noch ihre italienische Vorgeschichte. Zwei Minuten später kam auch schon die Antwort von Jan, dass er mit Mr. Corpse alles unter Kontrolle hatte, weil er total verängstigt von der Begegnung mit Gabrielle Baskin war. Deswegen würde es für Jan ein leichtes werden, Mr. Corpse zu erpressen.
Das beruhigte mich und ich entschied, Gabrielle Baskin endlich mitzuteilen, dass ich in ihrem Haus war. Sie war immer noch in der Küche zugange und ich ging noch möglichst leise den Flur entlang und stellte mich in die Küchentür. Gerade hantierte Gabrielle Baskin mit einem Messer, es sah so aus, als wollte sie sich etwas zu essen machen. Dabei wollte ich sie ja nicht erschrecken, dass sie sich letztendlich nicht noch selbst erstach oder etwas anderes dummes passierte. Als sie das, was sie mit dem Messer aufgemacht hatte, in die Mikrowelle gestellt und die Arbeitsplatte aufgeräumt hatte, ohne mich zu bemerken, schaltete ich das Diktiergerät in meiner Hosentasche an und machte sie dann doch auf mich aufmerksam.
>> Kann ich auch etwas zu essen bekommen? << Die gewünschte Reaktion von Gabrielle Baskin, sie zuckte völligst zusammen und schaute mich mit riesigen Augen an.
>> Was machst du hier und wie bist du hier reingekommen? <<
>> Ich möchte nur mit Ihnen reden und die Haustür war offen. <<
>> Wie bist du aus dem Wald so schnell hergekommen? <<
>> Wollen Sie mir nicht lieber das mit den Fragen überlassen, meine Angelegenheiten sind dringender. <<
>> Was willst du von mir? <<
>> Es geht um Mark. <<
>> Das hab ich mir schon gedacht, aber du hast auch keinerlei Anstand. Ich habe vor wenigen Tagen meinen einzigen Sohn verloren, denkst du nicht, dass ich in der Hinsicht noch ziemlich labil bin? <<
>> Doch und es tut mir auch wirklich leid, was mit ihm passiert ist, aber es interessiert Sie doch auch sicher, wer ihn umgebracht hat. <<
>> Ich dachte, es war Selbstmord. <<
>> Das sagt die Polizei und alle anderen, aber Jan und ich forschen schon seit ungefähr einer Woche genauer nach. <<
>> Und du denkst, ihr seid schlauer als die Polizei oder was? <<
>> Nein, das denke ich nicht, aber ich glaube, dass die Beamten sich nicht so viel Mühe geben und sich lieber an das Offensichtlichste halten, weil es für sie am einfachsten ist, wenn sie keine Gerichtsprozesse durchführen und keinen Menschen bestrafen müssen. <<
>> Habt ihr Beweise? <<
>> Indirekt. <<
>> Was heißt das? <<
>> Das kann ich Ihnen nicht sagen, tut mir leid. <<
>> Und was hat Ludolf, ich meine, Mr. Corpse damit zu tun? <<
>> Er hat uns angeboten, uns zu helfen. <<
>> Warum sollte er das tun? <<
>> Weil er damals Ihren Mann begraben hat. <<
>> Das hat er euch alles erzählt? <<
>> Ja, aber keine Sorge. Jan und ich haben nicht vor, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, solange Sie mir jetzt zuhören und mir Fragen beantworten, die für uns von Bedeutung sein könnten. <<
>> Was willst du wissen? <<
>> Wer könnte Ihrer Meinung nach einen Grund dazu haben, Mark umzubringen? <<
>> Niemand. <<
>> Das glaube ich Ihnen nicht. Was ist mit Mr. Corpse? <<
>> Wieso sollte er das tun? <<
>> Ich weiß nicht, vielleicht um Sie zu bestrafen. <<
>> Wieso sollte er mich bestrafen wollen? <<
>> Weil Sie unbedingt Ihre Ehe geheim halten wollten. <<
>> Woher weißt du…? <<
>> Wie gesagt, Jan und ich beschäftigen uns schon eine Weile damit und da konnten wir auch ganz interessante Dinge erfahren. <<
>> Aha. <<
>> Das scheint Ihnen ja ziemlich egal zu sein. Aber jetzt mal Klartext, wieso wollten Sie, dass niemand von ihrer Ehe mit Mr. Corpse erfährt? <<
>> Es hätte meinem Ruf geschadet. <<
>> Ihrem Ruf? <<
>> Ja, ich arbeite doch bei der Stadt. Wie würden denn die Leute darauf reagieren, wenn sie erfahren würden, dass ich mit dem städtischen Bestatter verheiratet war? <<
>> Und als Sie ihn geheiratet haben, haben Sie da etwa noch nicht bei der Stadt gearbeitet? <<
>> Noch nicht so intensiv. Ich habe ab und zu einige Angelegenheiten geregelt, aber jetzt bin ich dort ja fest eingestellt. <<
>> Haben Sie sich deswegen auch von ihm getrennt? <<
>> Nein, nicht deswegen, also, nicht nur. <<
>> Weswegen denn dann? <<
>> Er war ein Idiot. Er wollte immer mit unserer Ehe an die Öffentlichkeit gehen, schon damals, ich musste es immer verhindern. <<
>> Moment, schon als sie verheiratet waren, wollten Sie nicht, dass das rauskam? <<
>> Nein, wollte ich nicht. <<
>> Aber wieso? <<
>> Ihr ward doch sicher schon bei Mr. Corpse und ihr kennt ihn ja nun auch ein bisschen. Ist das jemand, in dessen Gesellschaft man gerne gesehen werden möchte? <<
>> Na ja, das kann ich jetzt nicht wirklich beurteilen. <<
>> Für mich war es damals jedenfalls unvorstellbar, mit ihm in Verbindung gebracht zu werden. <<
>> Wieso haben Sie ihn denn dann überhaupt geheiratet? <<
>> Er hat mir geholfen. <<
>> Wobei? <<
>>Vermutlich habt ihr ja auch herausgefunden, dass ich ursprünglich nicht in Deutschland, sondern in Italien gelebt habe, oder? <<
>> Ja, haben wir. <<
>> Und ich hatte viele Jahre keine Deutsche Staatsbürgerschaft und keinen deutschen Pass. Ich habe mich hier irgendwie durchgemogelt, durch mein Leben. <<
>> Und er hat Ihnen das alles besorgt? <<
>> Ja, er hatte Kontakte. Aber damit konnte er mich die ganze Zeit erpressen und schließlich zwang er mich dann dazu, ihn zu heiraten. <<
>> Wie kann man denn unbemerkt heiraten? <<
>> Wir haben in einem kleinen Dorf, weit weg von hier geheiratet. Aber auch nach unserer Ehe hat er mich immer weiter erpresst. Und schließlich auch mit dem Tod von Bernhard Baskin. <<
>> Wieso hat er Sie damit erpressen können? <<
>> Na, du weißt ja sicher, dass er von einem Polizisten erschossen wurde, als er aus dem Gefängnis geflohen ist. <<
>> Ja, weiß ich. <<
>> Und weißt du auch, wieso er im Gefängnis saß? <<
>> Zeugen hatten ihn mit Aussagen gegen ihn sehr schwer belastet. <<
>> Richtig. Und diese Zeugen waren Stephen Heather und ich. <<
>> Sie haben Ihren Exmann beobachtet, als er sich strafbar gemacht hat? <<
>> Nein, wir haben eine Falschaussage gemacht, um Bernhard Baskin zu belasten. <<
>> Aber wieso? <<
>> Ich konnte ihn nicht mehr ertragen und wollte ihn für sieben Jahre mindestens aus den Augen haben. <<
>> Was ist dann passiert? <<
>> Stephen hat seine Aussage zurückgezogen und Bernhard sollte freigesprochen werden. Doch das wusste er nicht und trat seine Flucht an. Davon wollten ihn die Polizisten abhalten um ihm zu sagen, dass er kein Gefangener mehr war, aber er hörte nicht auf sie und so schoss einer der Polizisten auf Bernhard und er war tot. <<
>> Da hatten Sie ihn dann für immer aus den Augen. <<
>> Ja, aber es ist nicht so, dass ich mich darüber gefreut hätte, immerhin hatte ich ihn mal wirklich geliebt, aber in gewisser Weise kam es mir ganz recht. <<
>> Was war mit dem Grab? <<
>> Ich ging zu Mr. Corpse und ließ ein Grab ohne Beschriftung anfertigen. <<
>> Wieso hat Mr. Corpse das gemacht? <<
>> Ich bin ihm mit seinen krummen Geschäften auf die Schliche gekommen und weil ich ihn nicht verpfiffen hatte, hatte ich noch etwas gut bei ihm. <<
>> Aber das gab ihm doch sicher noch eine weitere Möglichkeit, Sie zu erpressen, oder? <<
>> Theoretisch schon, aber nach einiger Zeit habe ich ihm dann klargemacht, dass ich mich nicht mehr von ihm erpressen lasse. <<
>> Sie haben es ihm klargemacht? Jetzt hat Mr. Corpse doch regelrecht Angst vor Ihnen. <<
>> Okay, vielleicht habe ich ihm ja auch gedroht … <<
>> Vielleicht? <<
>> Okay, ich habe ihm gedroht. <<
>> Was haben Sie ihm gesagt? <<
>> Ich habe ihm gesagt, wenn er mich in irgendeiner Weise auffliegen lässt, mache ich ihn so fertig, dass er nichts mehr hat. Kein Bestattungsinstitut, keine Kunden, keine Selbstachtung, nichts. <<
>> Und wie hatten Sie vor, das zu tun? <<
>> Da ich bei der Stadt bin, habe ich ziemlich gute Beziehungen zu den Leuten bei der Zeitung, die auf meine Anordnung hin auch gerne mal einen interessanten Artikel über einen zwielichtigen Bestatter gedruckt hätten. <<
>> Ach, so ist das. Ich verstehe. Und dann hat Mr. Corpse also einfach klein beigegeben? <<
>> Er hatte ja keine andere Wahl. Es gab schon genug Gerüchte, dass er unsaubere Geschäfte machte, wenn solche Vorwürfe bestätigt worden wären, dann wär sein Geschäft am Ende gewesen. Und er hatte nichts anderes, also hat er mich in Ruhe gelassen. <<
>> Okay, ich verstehe. Aber noch einmal zurück zu diesem Italien-Zeug. Das müssen Sie mir noch mal erklären. <<
>> Ach, komm schon, wieso sollte ich? <<
>> Na ja, Sie haben mir schon genug erzählt, damit kann ich an die Presse gehen, dann sind Sie genauso am Boden wie Mr. Corpse es hätte sein können. <<
>> Du hast keine Beweise, ich kann alles abstreiten. << Von dem Diktiergerät würde ich ihr nichts sagen.
>> Für Presse und Zeitung sind Beweise nicht halb so wichtig wie eine gute Story. Und wenn sie erst einmal eine gute Story haben, werden sich genug Leute finden, die die Geschichte auf ihren Wahrheitsgrad untersuchen. Dann sind Sie aufgeschmissen. <<
>> Fein. Was willst du wissen? <<
>> Wieso wusste keiner davon? <<
>> Ich hatte mit meiner Vergangenheit abgeschlossen. <<
>> Okay, Moment. Sie sind also in Deutschland geboren und wurden von einem italienischen Ehepaar adoptiert, die sie nach Italien mitgenommen haben unter dem Namen Gabi Maria Bianca. <<
>> Ja. <<
>> Und dann? <<
>> Na ja, irgendwann bin ich dann nach Deutschland gekommen, wusste nichts mehr von meinen italienischen Adoptiveltern und hab hier ein neues Leben mit einem neuen Namen angefangen. <<
>> Und außer Mr. Corpse gab es niemanden, der von ihrem Leben in Italien wusste? <<
>> Nein, ich glaube nicht, zumindest hatte mir niemand etwas gesagt. <<
>> Wieso sind Sie nach Deutschland gekommen? <<
>> In Italien war mir das alles zu viel. <<
>> Was, die ganzen Schlagzeilen wegen krimineller Aktionen? <<
>> Woher ..? <<
>> Über Sie gibt es sogar einen Eintrag in Wikipedia. <<
>> Was, wer schreibt denn sowas? <<
>> Das wissen Sie ganz genau. Aber das ist jetzt nicht der Punkt. Haben Sie eigentlich Ihre leiblichen Eltern gefunden? <<
>> Ich habe anfangs nicht nach ihnen gesucht, aber nach einiger Zeit war meine Neugierde doch größer als mein Hass auf sie. <<
>> Wieso haben Sie sie gehasst? <<
>> Sie haben mich zur Adoption freigegeben, als ich noch ein ganz kleines Mädchen war. Wärst du da an meiner Stelle etwa nicht sauer gewesen? <<
>> Doch, ich glaube schon. Und wie war dann Ihre Begegnung mit Ihren Eltern? <<
>> Eigentlich ganz gut. Ich habe ja hier auch noch einen Bruder, Gerhard Baskin und auch noch eine Cousine, das war damals dann ein riesiges Verwandtentreffen. <<
>> Ihre Cousine, wie heißt die? <<
>> Jess Smith. Wieso? <<
>> Nur so, ich glaube nämlich, dass ich schon von ihr gehört habe. <<
>> Wann hast du denn von ihr gehört? <<
>> Nicht so wichtig. Haben Sie noch viel Kontakt zu Jess und Gerhard? <<
>> Nein, nicht wirklich. <<
>> Und Mark, hatte der viel Kontakt zu seinem Onkel? <<
>> Nein, weder zu seinem Onkel, noch zu seiner Mutter… << Gabrielle Baskin hielt sich voller Schrecken eine Hand vor den Mund. Das wollte sie wohl gerade nicht sagen. Gerade wollte ich sie fragen, was es mit ihrer Äußerung auf sich hatte, da klingelte mein Handy, SMS von Jan.
>Wir haben die Klamotten, Mr. Corpse war echt eine große Hilfe und jetzt rate, es handelt sich wirklich um Iridium< Iridium. So, jetzt mussten wir nur noch herausfinden, wer dieses spezielle Metall zu Hause hatte. Metall, Metall. Irgendwas klingelte da in meinem Kopf. Metall! Natürlich.
>> Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben? <<, fragte ich Gabrielle Baskin. Nebenbei dachte ich mir noch, wie schnell Jan und Mr. Corpse doch gewesen waren, dabei schaute ich dann auf die Uhr und stellte fest, dass ich schon über eine Stunde hier bei Gabrielle Baskin im Wohnzimmer saß.
>> Klar, warte mal einen Moment. << Sie ging in die Küche. Solange hatte ich Zeit, meine Tasche zu öffnen und den Absatz zu begutachten, der von Gabrielle Baskins Schuh abgebrochen war. Metall. Unfassbar. Bislang war es nur eine Vermutung, denn man musste das Metall erst einmal untersuchen und dazu musste Jan herkommen, oder ich zu ihm. Denn auf einen anderen Tag konnten wir das nun wirklich nicht mehr verschieben. Wer wusste schließlich, ob die Polizei nicht schon nach einer Woche beschloss, den Fall in die Akten verschwinden zu lassen. Also beschloss ist, Jan eine SMS zu schreiben.
>Hey, ist ja spitze. Ich hab was gefunden, schick Mr. Corpse her um Gabrielle abzulenken, ich komm zu dir<
>Geht klar<
Da kam Gabrielle Baskin auch schon mit meinem Glas Wasser zurück. Sie konnte ja richtig gastfreundlich sein, wenn sie sich in die Enge gedrängt fühlte. Dann konnte die Befragung ja weitergehen.
>> Also, was haben Sie vorhin damit gemeint, als Sie sagten, dass Mark weder zu seinem Onkel, noch zu seiner Mutter Kontakt hatte?! <<
>> Das ist eine komplizierte Geschichte. <<
>> Diese ganze Geschichte ist schon kompliziert genug, versuchen Sie mich zu überraschen. <<
>>Mark ist adoptiert. << Jetzt war ich allerdings überrascht.
>> Was?! Sie haben Mark adoptiert? <<
>> Ja, das wollte ich damit sagen. <<
>> Wer sind seine Eltern? <<
>> Bernhard ist sein Vater. <<
>> Was? Okay, und wer ist seine leibliche Mutter? <<
>> Jess Smith. <<
>> Hä?! << Das war mir jetzt so rausgerutscht, denn das fing jetzt wirklich an, noch ausgesprochen komplizierter zu werden als ohnehin schon. >> Tut mir leid, wie bitte? <<
>> Jess hatte ein kurzes Verhältnis mit Bernhard und ist von ihm schwanger geworden. Aber Bernhard hat sie kurz darauf verlassen. Deswegen hatte sie Drogen- und Alkoholprobleme. Also konnte sie unmöglich ein Kind großziehen und da ich keine Kinder bekommen konnte und mir die ganzen Jahre über sehnlichst ein Kind wünschte, beschloss ich, Mark zusammen mit Bernhard großzuziehen. <<
>> Wieso hieß Bernhard zu der Zeit eigentlich Baskin mit Nachnamen? <<
>> Wir waren doch verheiratet. <<
>> Ja, aber ist es nicht üblich, dass die Frau den Nachnamen des Mannes annimmt? <<
>> Na ja, ich hatte den Namen meines Bruders angenommen, damit keiner mitbekommen würde, dass ich aus Italien nach Deutschland gezogen bin und oder mit Ludolf verheiratet war. <<
>> Und da wollten Sie sich nicht noch einmal die Mühe machen, ein weiteres Mal Ihren Namen zu ändern? <<
>> Genau. <<
>> Okay, das ist alles sehr kompliziert. Aber was ist denn mit den Italienern, die sie aufgenommen hatten, haben die nie versucht, mit Ihnen in Kontakt zu treten? <<
>> Nein, ich habe über die ganzen Jahre nichts mehr von ihnen gehört. <<
>> Okay und was…? << Ich wusste eigentlich gar nicht mehr, was ich noch fragen sollte, ich hatte schon so viele Informationen und genau zu der Zeit klingelte es auch schon an der Tür. Mr. Corpse.
>> Wer ist das? <<, wollte Gabrielle Baskin von mir wissen.
>> Ein alter Bekannter von Ihnen, der sich mit Ihnen unterhalten möchte, während ich mich mal um etwas kümmere. << Gabrielle Baskin ging zur Tür und erstarrte als sie Jan zusammen mit Mr. Corpse davorstehen sah.
>> Ludolf, was willst du hier? <<
>> Die Kinder haben noch etwas zu erledigen. Ich wollte doch nach all den Jahren heute einmal mit dir reden und da uns da leider ein Strich durch die Rechnung gemacht wurde, bin ich jetzt noch einmal hier. <<
Den Text hatte Jan Mr. Corpse sicherlich eingeprügelt und plötzlich sah er auch so aus, als hätte er wieder ein wenig Selbstvertrauen gewonnen. Jetzt konnte ich mir schon besser vorstellen, dass so ein Mann wie er im Stande war, eine Frau wie Gabrielle Baskin zu erpressen.
>> Dann komm rein. << Begeistert klang Gabrielle Baskin nicht, aber wir waren dabei, deswegen blieb ihr nichts anderes übrig.
>> Wir kommen vielleicht später noch einmal, um sie zu besuchen <<, sagte ich mit aufgesetzt freundlichem Ton zu Gabrielle. Unbemerkt stoppte ich die Aufnahme vom Diktiergerät in meiner Hosentasche.
>> ist gut. << Gabrielle Baskin schloss die Haustür vor unserer Nase und man konnte noch die leisen aufgeregten Stimmen und Beschimpfungen aus dem Inneren des Hauses hören. Als Jan und ich die Einfahrt entlangliefen, sah ich, dass Mr. Corpse und Jan die Luft aus den Autoreifen von Gabrielle Baskin herausgelassen hatten, damit sie nicht abhauen konnte. Wie die beiden auf diese Idee kamen, das wusste ich auch nicht.
>> Hast du was rausgefunden? <<, wollte Jan von mir wissen.
>> Ja, eine ganze Menge, aber zuerst musst du mir sagen, wie Mr. Corpse und du es geschafft habt, die Kleidung zu bekommen. <<
>> Das war eigentlich total einfach, Mr. Corpse hätte gute Chancen als Taschendieb. Wir gingen einfach ins Präsidium und ich schrie auf einmal so ein bisschen auf, damit der Polizist auf uns aufmerksam wurde. Dann fragte er mich, was los sei und ich sagte mir, dass ich auf etwas Spitzes getreten und mit meinem Fuß umgeknickt sei. <<
>> Ja, und dann? <<
>> Ich habe den Beamten davon überzeugt, dass er sich unbedingt mal meinen Fuß ansehen sollte, um festzustellen, ob er nicht vielleicht gebrochen ist. Und während er sich nach unten bückte, rupfte Mr. Corpse einfach die Chipcard aus seinem Gürtel. Dann ging es mir natürlich plötzlich schon besser, wir verließen das Präsidium durch den Haupteingang und gingen nach hinten zum Hintereingang. Natürlich haben wir auf die Kameras aufgepasst und sind durch die Tür gegangen. Die schwierigste Arbeit war dann, das Zimmer zu finden, wo die Kleidung aufbewahrt wurde. Das hat auch am längsten gedauert, weil wir fast den ganzen hinteren Flur entlang jedes Zimmer einzeln durchsuchen mussten. Doch schließlich wurden wir fündig, sogar ohne jede Probleme und ohne, dass wir erwischt wurden. Denn es war nur ein einziger Polizist im Präsidium, irgendwie war heute so eine komische Versammlung, weshalb auch keine Nachschicht gewesen wäre, also haben wir echt noch Glück gehabt, dass es erst spät Nachmittag ist. Na ja und dann haben wir die Kleidung geholt und sind durch den Hintereingang wieder nach draußen. Dann zu mir nach Hause und im Mikroskop hab ich dann gesehen, dass die Atome genauso angeordnet waren und die Struktur ebenfalls dieselbe wie bei einem Atommodell von Iridium. Und da alles in doppelter Anzahl vorhanden war, wurde dieses Iridium dann folglich noch mit Opioid präpariert. <<
>> Ist ja super! Und wieso genau habt ihr die Luft aus den Autoreifen von Gabrielle Baskin raus gelassen? <<
>> Du hast doch gesagt, du hast was gefunden und vielleicht würde Gabrielle Baskin auch so als Zeugin von Bedeutung für uns sein. <<
>> Clever. <<
>> Also, was hast du? <<
>> Mark ist adoptiert, seine leiblichen Eltern sind Mrs. Smith, erinnerst du dich? Die Frau, die du im Seniorenheim gesehen hast, die Cousine von Gerhard Baskin, und Bernhard Baskin. <<
>> Was? Oh mein Gott! Was noch? <<
>> Ich weiß nicht genau, noch vieles andere, ich hab das ja alles mit dem Diktiergerät aufgezeichnet, wir können uns das später anhören. <<
>> Okay, und was hast du gefunden? <<
>> Einen abgebrochenen Absatz von Gabrielle Baskin, dessen Unterseite mit Metall besetzt ist. <<
>> Du glaubst doch nicht etwa, dass das das Iridium ist, oder? <<
>> Ich weiß nicht genau und ich hab auch kein erkennbares Motiv an Gabrielle Baskin festgestellt, aber vielleicht kann es ja doch sein, dass es ihr gehört und dass sie … <<
>> … dass sie ihren eigenen Sohn umgebracht hat? <<
>> Adoptivsohn! <<
>> Stimmt, okay, lass uns das mal untersuchen. << Schon standen wir also vor Jans Haus. Ab in sein Zimmer und nichts wir ran ans Mikroskop. Doch zuerst mussten wir das Metall noch von dem Absatz trennen, man konnte ja schlecht einen ganzen Schuhabsatz unter das Mikroskop legen. Jan entschied sich dabei für die einfachste Weise. Spachtel und Hammer und nichts wie draufgeschlagen. Und es funktionierte sogar. Schon hatten wir das kleine Metallstück, das vielleicht endlich das Ende dieses Falls für uns bedeuten konnte, in der Hand und Jan legte es auf den Objektträger des Mikroskops. Er schaute durch das Okular, verstellte ein paar Räder. Schließlich schien er fertig zu sein.
>> Möchtest du auch durchschauen? <<
>> Nein, danke. Ich kann damit sowieso nichts anfangen. Aber was ist denn nun? <<
Erster Epilog
>> Officer Bohne, erinnern Sie sich noch an uns? <<, wollte Jan von dem Vorgesetzten auf dem Polizeipräsidium wissen.
>> Nein, tut mir leid, wieso sollte ich mich an Sie erinnern? <<
>> Sie waren es, der uns zu den Sozialstunden verpflichtet hat. <<
>> Ach, Sie waren das. Und wie läuft es im Seniorenheim? <<
>> Gut, die Senioren sind alle sehr nett <<, jetzt musste ich allerdings einmal einschreiten, wer weiß, was Jan sonst noch für Horrormärchen erzählt hätte.
>> Das ist doch erfreulich. Und was kann ich nun für Sie tun? <<
>> Wir haben den Fall um Mark Baskin gelöst <<, Jan war wieder dran.
>> Das ist jetzt nicht euer Ernst. << Da vergaß er also sogar, uns förmlicherweise zu siezen.
>> Doch, ist es und wir haben Beweise. Beweise, die wir dank Ihnen erst später bekommen konnten, als ursprünglich geplant. <<
>> Aber wie habt ihr … haben Sie das denn so schnell gemacht? Meine Leute sind an diesem Fall schon seit über einer Woche dran. <<
>> Wir hatten ungefähr die Hälfte der Zeit wegen Ihrer Sozialstunden, die wir leisten mussten. Aber wir haben es trotzdem geschafft. <<
>> Eure Beweise würde ich jetzt aber doch gerne sehen und natürlich, wer denn nun der Täter ist, oder war es etwa doch Selbstmord? <<
>> Es war kein Selbstmord, Gabrielle Baskin hat Mark umgebracht. <<
>> Was, seine eigene Mutter? <<
>> Falsch. Da haben Ihre Leute aber wirklich nicht gründlich genug recherchiert. <<
>> Wieso, wovon reden Sie? <<
>> Gabrielle Baskin ist nicht die leibliche Mutter von Mark, sie hat ihn adoptiert. <<
>> Aber woher wissen Sie das denn? <<
>> Sie hat ausgesagt. <<
>> Was, wer? <<
>> Na, Gabrielle Baskin. <<
>> Aber Sie genügen nicht als Zeugen. <<
>> Das ist uns durchaus bewusst, deswegen hat meine Freundin ihr ganzes Gespräch mit einem Diktiergerät aufgezeichnet. << Ich streckte dem erstaunten Beamten das kleine Gerät entgegen. +
>> Das werde ich mir anhören und Ihnen dann mitteilen, ob uns das auch vor Gericht weiterhelfen kann. <<
>> Tun Sie das. <<
>> Und wie ist Mark ums Leben gekommen? <<
>> In seiner Kleidung waren Metallstücke eingenäht. Um genau zu sein Iridium, das schwerste Schwermetall. <<
>> Ein paar Metallplatten verhelfen einem Jungen doch nicht dazu, zu ertrinken. <<
>> Gut erkannt. Deswegen hat Gabrielle Baskin, die studierte Kernphysikerin ist, diese Metallplatten mit einem Präparat namens Opioid präpariert. <<
>> Was ist Opioid? <<
>> Officer Bohne, eine kurze Zwischenfrage, haben sich Ihre Leute wirklich mit dem Fall auseinandergesetzt? <<
>> Ja, das haben sie. Und was ist nun dieses Opioid? <<
>> Das ist eine Substanz, die die Atome und somit auch die Masse eines Gegenstandes, nicht aller Gegenstände, verdoppeln kann. Genug Metallstücke können also dazu führen, dass ein Junge wie Mark untergeht und nicht mehr imstande ist, aufzutauchen. <<
>> Aber Moment, woher wissen Sie das denn alles? Ist das auch hier auf dem Diktiergerät? <<
>> Nein, das nicht. Dass Gabrielle Baskin Kernphysik studierte, hat uns ein Mann namens Tom Gaukert gesagt, der mit ihr zusammen die Uni besuchte. Sie können ihn vor Gericht gerne als Zeugen vorladen. Genauso wie die leibliche Mutter von Mark Baskin. <<
>> Okay, alles der Reihe nach. Woher wissen Sie, dass es sich in der Kleidung von Mark um präpariertes Iridium handelt? <<
>> Wir mussten bedauerlicherweise die Kleidung entwenden, um das herauszufinden, da Sie uns die Beweisaufnahme nahezu unmöglich gemacht haben. <<
>> Ich habe auch meine guten Gründe dafür, immerhin sind Sie nicht die Polizei, das ist unsere Aufgabe. <<
>> Aber offensichtlich machen Sie Ihre Aufgaben nicht in allen Bereichen so gründlich, wie sie zu sagen pflegen. <<
>> Passen Sie mal ein bisschen mehr auf, was Sie sagen, sonst haben Sie gleich eine Anzeige wegen Beamtenbeschimpfung am Hals. <<
>> Okay. Tut mir leid, Officer. <<
>> Was fällt Ihnen eigentlich ein, das größte Beweismaterial in diesem Fall aus dem Präsidium zu
entwenden? <<
>> Sie und Ihre Kollegen haben es doch offensichtlich nicht als ein solches eingeschätzt. <<
>> Das können Sie nicht wissen, Sie kennen unsere Arbeitsweise nicht. <<
>> Okay, stimmt. <<
>> Gut, dann wieder zurück. Wer ist denn die leibliche Mutter von Mark Baskin? <<
>> Eine Frau namens Jess Smith. <<
>> Steht sie irgendwie in Verbindung zu Gabrielle Baskin? <<
>> Sie ist die Cousine ihres Adoptivbruders. <<
>> Wieso denn Adoptivbruder? <<
>> Gabrielle Baskin ist ebenfalls adoptiert worden. Also eigentlich ist der, den ich gerade als Adoptivbruder bezeichnet habe, ihr richtiger Bruder, doch Gabrielle Baskin wurde von Italienern adoptiert und lebte für einige Jahre in Italien unter dem Namen Gabi Maria Bianca, dann kam sie hierher und änderte ihre Identität. Somit ging sie in ihre ursprüngliche Familie zurück und hatte einen Bruder, ihr eigentlicher leiblicher Bruder, aber da die Italiener alle Rechte über Gabrielle Baskin hatten und sie rechtlich gesehen ihre Tochter war, ihr Adoptivbruder. <<
>> Das ist aber eine verwirrende Geschichte. Und hat den Gabrielle Baskin noch Kontakt zu ihren Adoptiveltern in Italien? <<
>> Laut eigenen Angaben nicht. <<
>> Aber ich verstehe nicht, was ist ihr Motiv? <<
>> Genau das wissen wir nicht. Wir haben gehofft, dass Sie mit ihr sprechen könnten, so eine Art Verhör, denn wenn wir das machen, ist das nicht so wirklich glaubhaft. Vielleicht bringen Sie sie zum reden. Und noch ein guter Ansprechpartner ist Ludolf Corpse. <<
>> Der Bestatter? <<
>> Ja, genau. Gabrielle Baskins Ex-Ehemann. <<
>> Was?! Gibt es denn irgendetwas, was in diesem Fall normal ist? <<
>> Ich fürchte nicht. <<
>> Gut. Hey Leute, wir haben zu tun. << Zu seinen Kollegen gewandt kündigte Officer Bohne an, dass Arbeit auf sie wartete.
Am nächsten Tag schaltete ich in der Früh beim Frühstück das Radio an. Jan hatte bei mir geschlafen, weil es gestern Abend noch spät wurde. Gerade war es halb sieben Uhr früh, wir mussten heute nämlich wieder ins Seniorenheim, denn obwohl wir den Fall gelöst hatten, wollte Officer Bohne uns nicht die Sozialstunden erlassen. Der Nachrichtensprecher im Radio tönte:
>> Guten Morgen, Nordrheinwestphalen. Stadtfunk, ich bin Michael Grünling und wir haben Neuigkeiten. Der mysteriöse Fall um den verstorbenen Jungen Mark Baskin ist gelöst. Früher als die Polizei erwartet hatte und mit außenstehender Hilfe zweier Jugendlichen. Es handelte sich nicht um Selbstmord, da der Mörder des Jungen Gabrielle Baskin ist, seine Adoptivmutter. Ihr Motiv beruht auf einem eskalierten Familienstreit. Mehr kann ich dazu vorerst nicht sagen, da die Gerichtsverhandlung erst morgen ist. Danach können Sie alle weiteren Informationen der Zeitung entnehmen. <<
>> Ein eskalierter Familienstreit? Was hat das zu bedeuten? <<, wollte ich von Jan wissen.
>> Ich hab keine Ahnung, aber ich befürchte, dass dir Gabrielle Baskin nicht in allen Punkten die Wahrheit gesagt hat. <<
>> Dann müssen wir wohl bis morgen nach der Verhandlung abwarten. <<
>> Vielleicht auch nicht. Schau mal in deinen Briefkasten. <<
>> Was, wieso? <<
>> Mach das einfach mal. <<
>> Okay, warte. << Jetzt konnte ich sehen, was Jan wollte. Ein Brief von der Polizei, Jan und ich waren zum morgigen Gerichtstermin als Zeugen vorgeladen worden.
>> Als Zeugen vor Gericht, was sollen wir denn da sagen?! <<
>> Na, die Wahrheit. Das wird alles halb so schlimm, Xenia, nur ein bisschen Vertrauen. <<
>> Na klasse. <<
>> Das wird schon alles, aber jetzt müssen wir erst mal los. <<
Zweiter Epilog
Der ganze Gerichtssaal war voll. Außer uns waren noch mindestens fünfzehn andere Zeugen geladen. Das konnte noch ein langer Tag werden. Beispielsweise konnten wir Mrs. Smith und Mr. Corpse sehen und dann noch einige älteren Herrschaften und Gerhard Baskin. Natürlich auch noch Gabrielle Baskin und Stephen Heather. Zuerst wurden die Großeltern von Mark, also die leiblichen Eltern von Gabrielle und Gerhard Baskin nach vorne gebeten.
>> Mr. und Mrs. Baskin, Sie sind die leiblichen von Gabrielle, ist das richtig? <<, begann der Richter die Befragung.
>> Ja, das ist richtig <<, der Mann sprach, da die Frau aussah, als könnte sie keinen Ton herausbringen.
>> Wieso haben Sie Gabrielle Baskin vor vielen Jahren zur Adoption freigegeben? <<
>> Wir waren zu jung und konnten noch kein Kind großziehen, außerdem hatten wir beide eine anspruchsvolle Arbeit und waren fast nie zu Hause. <<
>> Und da haben Sie ihr Kind in die Hände von zwei Italienern gegeben? <<
>> Ja, Herr Vorsitzender. <<
>> Hatten Sie in der Zeit als Gabrielle Baskin in Italien gelebt hat, Kontakt zu ihr? <<
>> Nein, der Kontakt wurde uns verwehrt. <<
>> Von wem? <<
>> Von ihren Adoptiveltern. <<
>> Aber wieso? <<
>> Das wissen wir nicht. <<
>> Und als Gabrielle Baskin dann nach Deutschland gekommen ist? <<
>> Dann hat sie irgendwann mit uns Kontakt aufgenommen. <<
>> Und was war dann mit ihren Adoptiveltern? <<
>> Die wollten natürlich weiterhin Kontakt zu ihrer Adoptivtochter halten. <<
>> Was haben sie gemacht? <<
>> Sie haben oft angerufen und irgendwann sind sie dann hergekommen. << Gabrielle Baskin hatte mich also angelogen, als sie sagte, sie hatte keinen Kontakt mehr zu ihren Adoptiveltern gehabt.
>> Sie waren hier? Aber wie konnten Sie sich denn mit ihnen verständigen? <<
>> Gabrielle spricht Italienisch und ansonsten auf Englisch. <<
>> Was ist passiert als Ihre beiden Familien aufeinandertrafen? <<
>> Es war im Sommer und wir machten einen Grillabend mit der ganzen Familie, also meine Frau, mein Bruder, seine Tochter, Gabrielle und ich. <<
>> Und dann kamen die Adoptiveltern von Gabrielle Baskin dazu? <<
>> So ist es. Sie wollten, dass Gabrielle wieder mit ihnen nach Italien kommt. Natürlich hatten meine Frau und ich etwas dagegen. <<
>> Was ist dann passiert? <<
>> Die Situation eskalierte im Streit und irgendwann mischte sich dann auch mein Bruder in die Sache ein, der Vater von Jess Smith, die die leibliche Mutter von Mark ist. <<
>> Was hatte Ihr Bruder mit der Sache zu tun? <<
>> Nichts, er wollte mir nur helfen. <<
>> Wie wollte er Ihnen denn helfen? <<
>> Ich weiß nicht, was er vorhatte, aber irgendwann brach eben ein riesiger Streit los und mein Bruder griff zu seiner Pistole, die er noch aus dem Schützenverein hatte. Er wollte eigentlich nur in die Luft schießen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und den Streit zu beenden. <<
>> Aber? <<
>> In dem Streit wurden natürlich auch alle handgreiflich, Jess Smith wurde auf ihren Vater gestoßen, und dieser schoss auf Gabrielles Adoptivmutter, sie war sofort tot. <<
>> Was ist mit Ihrem Bruder passiert? <<
>> Er starb wenige Wochen später an den Folgen einer schweren Depression, auch wenn es nur ein Unfall war, war er trotzdem unendlich bestürzt darüber, einen Menschen umgebracht zu haben. <<
>> Okay, ich danke Ihnen, das reicht uns fürs Erste. <<
Die beiden gingen wieder zurück zu ihrem Platz. Gabrielle Baskins Mutter hatte das gerade eben aber ganz schön zugesetzt, sie war kreidebleich im Gesicht. Als nächstes wurden der Adoptivvater von Gabrielle Baskin und sein Dolmetscher aufgerufen.
>> Guten Tag Mr. Bianca. <<
>> Buongiorno. <<
>> Das mit Ihrer Frau tut mir wirklich Leid. << Der Dolmetscher übersetzte.
>> Vielen Dank. <<
>> Ihnen war Gabrielle Baskin sehr ans Herz gewachsen in der Zeit, als sie in Italien gelebt hat, oder? <<
>> Sì, Gabi Maria. <<
>> Wieso wollte sie wieder nach Deutschland? << Wieder die Antwort über den Dolmetscher.
>> Sie wollte ihre leiblichen Eltern finden, was auch verständlich ist. <<
Die Befragung ging noch eine ganze Weile weiter, aber es kamen keine Erkenntnisse dazu, die wir bis jetzt noch nicht hatten. Interessant war auch die Befragung von Jan und mir nicht, da wir einfach nur unsere Geschichte erzählen mussten und Jan die meiste Sprecharbeit übernahm. Neue Infos gab uns jedoch die Aussage von Mrs. Smith.
>> Jess Smith, würden Sie bitte nach vorne treten? << Mrs. Smith stand auf und ging zum Zeugenpult.
>> Guten Morgen, Herr Vorsitzender. <<
>> Wir haben ja jetzt mittlerweile gehört, dass Mark Baskin Ihr leiblicher Sohn war, mein herzliches Beileid für ihren Verlust. <<
>> Vielen Dank. <<
>> Wieso haben Sie ihn damals weggegeben? <<
>> Ich hatte schwere Drogen- und Alkoholprobleme zu der Zeit, da Bernhard Baskin mich verlassen hatte. <<
>> War das der einzige Grund? <<
>> Nein, ich hatte vor Mark eine Fehlgeburt. <<
>> Das tut mir abermals leid. <<
>> Danke. <<
>> Wieso haben Sie Mark gerade Gabrielle Baskin gegeben? <<
>> Bernhard Baskin wollte sein Kind unbedingt behalten und er war mit Gabrielle verheiratet. <<
>> Sie hatten also eine Affäre mit Bernhard Baskin während dieser noch mit Gabrielle verheiratet war? <<
>> Ja, das ist richtig. <<
>> War Gabrielle Baskin da nicht unheimlich sauer auf Sie? <<
>> Anfangs schon, aber wie man so schön sagt, Zeit heilt viele Wunden. <<
>> War Bernhard Baskin auch bei diesem vorher besagten Grillabend dabei? <<
>> Nein, zu dieser Zeit kannten sich Gabrielle und er noch nicht. <<
>> Woher wissen Sie das so genau? <<
>> Damals war ich noch mit ihm zusammen. <<
>> War von ihm auch Ihre Fehlgeburt? <<
>> Ja. <<
>> Wie erging es Ihnen bei dem Streit zwischen Ihrer Familie und den beiden Italienern? <<
>> Eigentlich hatte ich mit der ganzen Sache nichts zu tun, aber mein Vater wollte seinen Bruder verteidigen, also hat er sich eingemischt und als dann der Schuss fiel, woraufhin mein Vater einige Zeit später starb, hatte ich mit der ganzen Sache natürlich auch etwas zu tun. <<
>> Ich verstehe. Aber dann war Gabrielle Baskin doch sicherlich noch wütender auf Sie, immerhin hat Ihr Vater ihre Adoptivmutter erschossen. <<
>> Es war ja nicht meine Schuld. <<
>> Das war nicht die Antwort auf meine Frage. <<
>> Richtig, natürlich war sie sauer, sie hat mir auch anfangs immer gedroht. <<
>> Gedroht? Inwiefern? <<
>> Na ja, sie hat gemeint, dass sie jetzt nichts mehr hätte, was ihr wichtig sei, da ihre leiblichen Eltern irgendwann aufgehört haben, sich für sie zu interessieren. <<
>> Aber wieso haben sie sich nicht mehr für sie interessiert? <<
>> Sie konnten Bernhard Baskin nicht leiden. <<
>> Ich verstehe. Aber Gabrielle Baskin hatte doch noch ihren Sohn, beziehungsweise Ihren Sohn. <<
>> Schon, aber es passte ihr auch nicht, dass ich Mark gelegentlich besuchen wollte. <<
>> Aber wieso denn nicht? <<
>> Weil sie nicht wollte, dass ich ihr noch das letzte wegnehme, was sie hatte. <<
>> Aber wieso hat sie ihn denn dann umgebracht? <<
>> Ich weiß es nicht. <<
>> Vielen Dank, dann bitte ich jetzt Tom Gaukert nach vorne. << Den hatte ich gar nicht gesehen. Er hatte sich in der letzten Ecke des Gerichtssaals versteckt. Jetzt trat er zögerlich nach vorne.
>> Tom Gaukert, Sie haben also mit Gabrielle Baskin Kernphysik studiert? <<
>> Ja, das ist richtig. <<
>> Haben Sie da auch mit Metallen und Präparaten gearbeitet? <<
>> Natürlich, das gehörte doch dazu. <<
>> Wären Sie auch in der Lage gewesen, Iridium mit Opioid zu präparieren? <<
>> Theoretisch schon, aber es ist sehr schwer, diese Stoffe zu bekommen. <<
>> Nun, laut der Aussage der Zeugen Jan Gößner und Xenia Eckert war das Opioid in Tabletten von Bernhard Baskin enthalten, die später Mark Baskin gehörten und in seinem Zimmer verstaut waren. <<
>> Okay, aber das Iridium bekommt man auch nicht so leicht. <<
>> Dazu werde ich Gabrielle Baskin gleich befragen. <<
>> Okay. <<
>> Wussten Sie, dass Gabrielle Baskin so etwas in der Art vorhatte? <<
>> Nein, Herr Vorsitzender. <<
>> Danke, das genügt. <<
Danach kamen noch einige Zeugen, wie Mr. Corpse, Gerhard Baskin und Stephen Heather. Stephen Heather wusste von alle dem und ist zur Deckung seiner Freundin am Tattag mit ihr in den Urlaub gefahren, als Alibi. Als letzte wurde nun Gabrielle Baskin befragt.
>> Gabrielle Baskin. Sie sind in diesem Prozess die Hauptverdächtige und laut den Beweisen und Aussagen auch die Täterin. Könnten Sie uns zuerst die Frage beantworten, wie Sie das Iridium bekommen konnten? <<
>> Nun ja, ich hatte in Italien viele kriminellen Geschäfte am laufen und kannte daher auch einige zwielichtigen Persönlichkeiten. Zu einem von ihnen hatte ich regelmäßig Kontakt und er hat mir das Metall besorgt. <<
>> Den Namen bitte? <<
>> Werde ich Ihnen nicht sagen. Sie können meinetwegen mich verhaften, aber ich werde keine anderen Leute ins Gefängnis bringen. <<
>> Das ist zwar sehr ehrenhaft von Ihnen, aber wir werden es sowieso herausfinden. <<
>> Tun Sie sich keinen Zwang an. <<
>> Okay, jetzt die wichtigste Frage überhaupt. Wieso haben Sie Mark Baskin umgebracht? <<
>> Anfangs, als Jess ihn bekommen hat und ich ihn aufgenommen habe, war ich total begeistert über die Vorstellung, einen Sohn zu haben. Aber mit der Zeit wurde er größer und er bekam immer mehr Ähnlichkeiten mit seinem Vater und seiner leiblichen Mutter. <<
>> Und deswegen haben Sie ihn umgebracht? <<
>> Nein, habe ich nicht. Ich habe versucht, zu verdrängen, dass mein Mann mich betrogen hat. Dann habe ich ihn verlassen, doch es wurde nicht besser. <<
>> Deswegen haben Sie ihn mit einer Falschaussagen ins Gefängnis gesteckt? <<
>> Ja, zuerst kam es mir vor, wie eine gute Idee. Aber dann wurde er erschossen. <<
>> Dann hatten Sie also nur noch Mark, der aussah wie eine andere Frau und wie ihr toter Mann. <<
>> Und dann kam dieser Grillabend. Ich wollte damals nicht wegen meinen Adoptiveltern aus Italien weg. Sie waren immer gut zu mir und ich hatte sie wirklich gern, aber ich habe dort so viele illegale Dinge getan, dass ich beschloss, zu fliehen und in Deutschland ein neues Leben anzufangen. <<
>> Und dann? <<
>> Dann sind meine Adoptiveltern hier gewesen und dieser Streit. Meine Mutter wurde erschossen. Von dem Vater der Frau, die ich auf den Tod nicht ausstehen konnte. <<
>> Haben Sie Mark denn auch gehasst? <<
>> Anfangs nicht, aber ich musste jeden Tag mit ansehen, wie er sich immer mehr zum Kind seiner Eltern entwickelte und das konnte ich nicht ertragen. <<
>> Und außerdem hatte der Vater von Jess Smith Ihre Mutter erschossen. <<
>> Ja, und ich dachte, Mark sei das einzige was sie hat und ich hatte nichts mehr, weil mir Mark nicht mehr viel bedeutete, also wollte ich, dass es Jess genauso schlecht geht wie mir selbst. <<
>> Okay, das reicht. <<
Damit war der Prozess beendet und die Strafen standen fest:
Gabrielle Baskin bekam lebenslänglich ohne Bewährung wegen Mord.
Stephen Heather bekam ein Jahr und zwei Monate wegen Mitwisserschaft und Deckung einer Straftat.
Mr. Corpse bekam acht Monate wegen illegalem Leichenmissbrauch.
Am nächsten Tag stand ein riesiger Artikel auf der Titelseite der Zeitung:
>Gabrielle Baskin (40) manipulierte die Kleidung ihres Adoptivsohnes Mark Baskin (1g), da sie von seinem Vorhaben wusste, eine Mutprobe durchzuführen. Laut eigener Aussage tat sie das um die leibliche Mutter Jess Smith (41) von Mark für eine frühere Affäre mit ihrem verstorbenen Mann Bernhard Baskin zu bestrafen, woraus Mark entstand. Außerdem wollte sie Gleichberechtigung, da der Vater von Jess Smith die italienische Adoptivmutter von Gabrielle Baskin erschossen hatte. Somit war Gabrielle Baskin der Ansicht gewesen, nichts mehr zu haben, was ihrem Leben einen Sinn gab und genau das gleiche wollte sie für Jess Smith. Natürlich bekam Gabrielle Baskin eine lebenslängliche Gefängnisstrafe wegen Mord.
Der Bürgermeister selbst äußerte sich gestern Abend noch folgendermaßen zu dem Fall: >> Ich möchte noch einen großen Dank an Xenia Eckert und Jan Gößner aussprechen, die den Fall auf eigene Faust gelöst haben und, schneller als die Polizei, zu einem Schluss gekommen sind, der die ganze Stadt erschüttert hat. Ebenfalls möchte ich den beiden als gute Freunde von Mark mein herzliches Beileid aussprechen. << <
Dritter Epilog
Im Seniorenheim gibt es auch noch Neuigkeiten zu vermelden. Martha und Helmut sind schließlich doch noch ein Paar geworden und haben sich sogar schriftlich mit einer schönen Karte bei mir bedankt und mich auf ihre Hochzeit eingeladen. Wieso sollten ältere Menschen auch nicht noch einmal von ganz von vorne anfangen können? Ich werde selbstverständlich mit Jan zusammen auf die Hochzeit gehen.
Wen es interessiert, Jan und ich sind bisher noch kein Paar, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Beste Freunde sind wir jedenfalls geworden.
Als seine und meine Eltern schließlich irgendwann wieder nach Hause gekommen sind und mitbekommen haben, was sie alles so verpasst haben, während sie weg waren, waren sie natürlich auch ganz aus dem Häuschen und fürchterlich stolz auf uns.
Officer Bohne hat uns ebenfalls ein kleines bisschen in sein Herz geschlossen und uns angeboten, in den Ferien bei der Polizei zu arbeiten, da wir eine große Hilfe für sie sein könnten. Natürlich konnten wir so ein Angebot nicht ausschlagen und sind jetzt jede Ferien und auch undercover während der Schulzeit bei der Polizei tätig. Auch wenn meine Mutter nicht so ganz damit einverstanden ist, aber ich konnte sie beruhigen, dass wir ja keine Waffen benutzen dürfen. So ganz überzeugt ist sie immer noch nicht, aber ich denke, der Stolz übertrifft die Angst.
Das war vielleicht die aufregendste Woche meines Lebens, doch jetzt fängt der Spaß erst richtig an. Und der Grund dafür, was ich auf ewig in Erinnerung behalten werde, ist Mark Baskin.
Texte: whateverbaby.
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2012
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