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Guilty

Zur Abwechslung und zu meiner eigenen Überraschung wachte ich heute Morgen mit einem Lächeln auf meinen Lippen auf. Möglicherweise hatte ich einen guten Traum, doch wie üblich bei guten Träumen, konnte ich mich natürlich nicht daran erinnern. Am liebsten würde ich die Augen noch einmal schließen und weiterträumen und mir fest vornehmen, mir zu merken, was passiert war, doch erstens hatte ich keine Zeit, weil ich arbeiten musste und zweitens konnte man sowieso nicht einen Traum weiterträumen, den man gerade schon geträumt hatte, nur weil man das so gerne hätte. Meine Gedanken waren heute Morgen schon sehr verwirrend, wie ich feststellen musste. Das allerdings war bei mir nichts Neues. Im Allgemeinen war ich nicht sehr durchdacht und organisiert. Doch im Gegensatz dazu war ich eigentlich ganz ordentlich und machte meine Arbeit gut. Ich jobbte aushilfsweise im Café meiner Mutter. Bis ich einen Studienplatz finden würde. Mein großer Traum war es ursprünglich einmal, die jüngste Chefärztin des Landes zu werden. Doch dann kam etwas dazwischen, das Abitur. Ich hatte leider nur mit 1,4 abgeschlossen und der Numerus Clausus verlangte 1,2. Also musste ich warten und hoffen, dass ich irgendwann auf die Uni nachrücken würde. Und in dieser Zeit wollte meine Mutter es nicht zulassen, dass ich untätig zu Hause herumsaß und da ich keine Lust hatte, Bewerbungen zu schreiben und zu Vorstellungsgesprächen zu gehen, hatte ich einfach meine Mutter so lange bearbeitet, bis sie mir einen Job als Bedienung gegeben hatte. Eigentlich könnte man dazu auch einfach Kellnerin sagen, aber für mich waren Kellner eher solche Leute, die wie Pinguine watschelnd von einem Tisch von einem anderen gingen, in einem viel zu überteuerten Restaurant und den Gästen einen Wein schmackhaft machten, den sie selbst nicht einmal benutzen würden, um sich den Mund auszuspülen. Auch wenn meine Vorstellung nun nicht wirklich zutraf, machte es mir trotzdem viel Freude, meine Mutter damit zu nerven, dass ich sie selbst und natürlich auch mich als Bedienung bezeichnete, weil sie das aus irgendeinem Grund an Putzfrauen und Sklaven erinnerte. Wir hatten ja schließlich alle so unsere Macken. Jedenfalls drehte ich mich nun langsam mit einem Grinsen im Gesicht zu meinem Wecker um. Er zeigte eine erschreckende Uhrzeit. 5:20 Uhr. Um diese Zeit stand ich normalerweise nicht auf, sondern exakt sieben Minuten später. Mein Wecker klingelte alle sieben Minuten und ich brauchte immer ein bisschen Zeit, um wach zu werden. Das war genauso, als ich noch in der Schule war. Meine Mutter hatte es nicht leicht mit mir. Doch heute war ich ja erstaunlich gut gelaunt und ebenso ambitioniert, mich schon jetzt zu erheben und fertig zu machen. Immerhin hatte ich einen langen Tag vor mir.
Als ich mich zu meiner Mutter an den Küchentisch setzte, staunte sie nicht schlecht, dass ich sieben Minuten früher dran war als sonst. Es machte vielleicht nach außen hin keinen so großen Unterschied, doch bei uns im Haus gab es morgens immer ein fürchterliches Gehetze und Gedränge. Meine kleine Schwester musste nämlich immer in die Schule. Und sie war in einem Alter, in dem manche Teenies schon leicht abdrehten und um fünf Uhr in der Früh aufstanden um sich die Haare zu glätten. Das hatte ich persönlich in der Schule nie gemacht, aber ich gehörte auch nicht zu den außerordentlich beliebten Leuten in unserer Klasse. Bei meiner Schwester sah das ein bisschen anders aus, zumindest behauptete sie das. Ich konnte es nicht beurteilen, denn sie kam ziemlich zu der Zeit auf meine Schule, als ich sie verließ. Doch eigentlich interessierte es mich auch nicht. Ich hatte mit meinem eigenen Leben genug zu tun. Wenn ich allerdings so darüber nachdachte, hatte ich gar nicht so viel zu tun. Nur ungefähr zehn Stunden jeden Tag arbeiten, dann nach Hause kommen, Essen für meine Mutter und meine Schwester kochen, weil meine Mutter dann immer noch in ihrem Café war und meine Schwester sich ohne fremde Beaufsichtigung von nichts anderem als Tiefkühlkost und Schokolade ernähren konnte. Sozusagen war ich unter der Woche ihre Ersatzmutter. Wenn wir dann gegessen haben, saß ich mit meiner Mutter noch ein bisschen vor dem Fernseher, bis diese kurz nach neun einschlief, weil sie so fertig war von der Arbeit. Ich schaute dann meistens noch bis um elf weiter und ging dann schlafen, um das ganze am nächsten Tag wieder zu machen. Normalerweise passiert mit den Leuten, die eine Geschichte über sich schreiben oder schreiben lassen immer irgendetwas total Romantisches oder Spannendes. Aber in meinem Leben gab es weder Romantik noch Spannung. Ich vegetierte eigentlich nur so vor mich hin. Als ich noch Schule hatte, war das bei mir auch anders. Ich wurde von zu Hause schon dazu getrieben, immer fleißig zu lernen, damit ich später einmal etwas Richtiges studieren konnte. Nicht so wie meine Mutter, die es nur zu ihrem eigenen Café gebracht hatte, was ich eigentlich ziemlich bewundernswert fand. Oder wie mein Vater. Ja, mein Vater. Der hatte es auch nicht wirklich zu etwas gebracht. Und zu ihm gab es auch eigentlich keine lange Geschichte. Ich hatte einen anderen Vater als meine Schwester. Und meine Eltern bekamen mich ziemlich früh, ich war also folglich kein Wunschkind. Meine Mutter hatte gerade so die Mittlere Reife bestanden und mein Vater hatte eine Lehre als Mechaniker angefangen. Sie waren erst seit einigen Wochen zusammen und es war mehr ein Unfall im Rausch als ein bewusstes Ereignis. Doch als meine Mutter nun schwanger war, wollte sie, dass mein Vater auch Verantwortung übernahm und brachte ihn so dazu, sie nicht zu verlassen. Aber als ich gerade mal eine Woche auf der Welt war, hielt er es nicht mehr aus und nahm sich das Leben. Das gehörte wohl in die tragische Kategorie unserer Familiengeschichte. Doch es gab auch eine erfreuliche und schöne. Meine Mutter hatte nach einem Jahr geheiratet, ein Café eröffnet und schließlich auch meine Schwester bekommen. Ihr jetziger Mann lebte bei uns, aber er war fast nie zu Hause, weil er aufgrund seiner Arbeit sehr viel verreiste. Meine Schwester und ich waren der Meinung, dass sich das nur gut auf die Beziehung von unserer Mutter und ihm auswirkte. Immerhin hatten sie so gut wie keine Zeit und Gelegenheit, sich zu streiten.
Jedenfalls saß ich so am Küchentisch und hing meinen Gedanken nach. Plötzlich tauchten vor meinem inneren Auge Zahlen auf. 27 und 2. Was sollte das denn zu bedeuten haben? 7 war meine Lieblingszahl, entgegen aller Gerüchte und Klischees, aber was sollten diese beiden zweier. Aber eigentlich sah ich ja auch nicht 7, sondern 27. Na ja, es waren nur Zahlen, wieso sollte ich mir darüber den Kopf zerbrechen? Ich musste zusehen, dass ich noch schnell etwas zu essen in unserem Kühlschrank fand, weil ich die sieben Minuten Vorsprung, die ich eigentlich hatte, mit Nachdenken verschwendet hatte. Also wieder die gewohnte Hektik. Vielleicht sollte ich aber dazusagen, dass meine Mutter Hektik nicht ausstehen konnte. Und als ich sagte, dass es in unserem Haus immer sehr hektisch und chaotisch zuging, meinte ich damit eigentlich, dass das nur wegen mir so war. Auf Dauer ertrug mich meine Mutter kaum und deswegen wollte sie anfangs auch nicht, dass ich bei ihr im Café arbeitete. Meine Mutter war einer von den Menschen, die lieber eine halbe Stunde früher aufstanden und weniger schliefen, nur damit sie in der Früh Zeit hatten, ihren Kaffee am Morgen eine Viertelstunde wirken zu lassen. Bei mir sah das anders aus. Ich kam in die Küche, goss mir einen Kaffee in eine Tasse, kippte ihn runter uns half meinem Magen mithilfe eines trockenen Brötchens beim Verdauen. Heute lief das Ganze nicht anders ab. Dann ging ich meiner Mutter hinterher hinunter ins Café. Wir wohnten direkt darüber, was unheimlich praktisch war, wenn ich wieder zu spät kam oder etwas vergessen hatte. Ich ging nach hinten, in die Vorratskammer, nahm meine Schürze mit dem Logo des Cafés vom Haken und band sie mir um. Dann musste ich zur Eingangstür und das »Geschlossen« - Schild umdrehen, sodass die Menschen auf der Straße sehen konnten, dass wir geöffnet hatten. Mittlerweile war es schon sieben Uhr früh und ich wunderte mich jeden Tag aufs Neue, wie viele Leute um diese Zeit schon freiwillig auf den Beinen waren. Meistens waren es zwar eher ältere Herrschaften, die einen Kaffee trinken oder ein Stück Kuchen um diese Uhrzeit bei uns essen wollten, doch immerhin Kundschaft.
Heute hatte es ein Herr ganz besonders eilig bei uns ins Café zu kommen. Er hatte nur ein T-Shirt an, weswegen er womöglich fror. Ansonsten fiel er allerdings nicht wirklich auf. Seine Hose hatte einige Löcher, er hatte eine Halbglatze und graue buschige Augenbrauen. Auf der Nase eine dieser typischen Alt-Männer-Brillen, die er bis beinahe ganz vorne auf die Nasenspitze geschoben hatte. An seiner linken Hand konnte man einen Ringabdruck, erkennen, doch der Ring dazu war an der rechten Hand. Entweder er hatte einmal zwei Ringe getragen oder er hatte die Hand gewechselt. Doch wieso sollte man plötzlich den Ring an der anderen Hand tragen. Zudem war es kein normaler Ring, also wahrscheinlich auch kein Ehering oder wenn, dann sicherlich der seiner Frau. Es war ein Ring mit einem überdimensionalen Edelstein in der Mitte, sodass die Sonne darin reflektiert wurde und an die Wand strahlte, auf der sich schließlich der Stein abzeichnete. All das beobachtete ich heute und ich hatte keine Ahnung, wieso. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich den Mann schon jemals im Café gesehen hatte. Meine Mutter war noch in der Vorratskammer, Kaffeepulver holen, also ging ich zu dem Tisch, an den sich der Mann gesetzt hatte und fragte ihn, was er bestellen wolle. Er wollte einen Kaffee, schwarz, sonst nichts. Da meine Mutter erst das Pulver holen musste, hatten wir noch keinen fertigen Kaffee und ich bot den Herrn, etwas zu warten, doch das war kein Problem für ihn, wie er mir erklärte. Wie mir komischerweise erst jetzt auffiel, hatte der Mann in seiner linken Hand eine Zeitung mitgebracht, die er nun auf den Tisch legte, vor sich ausbreitete und anfing, ausgiebig die Titelseite zu studieren.
Als ich ihm schließlich den Kaffee hinstellte, blickte er kurz auf und legte seinen rechten Arm quer über die Zeitung, um den Kaffee anzunehmen, dachte ich, doch er nahm ihn mit der linken Hand. Vielleicht wollte er nicht, dass ich die Zeitung lesen konnte, doch was sollte das für einen Sinn machen? Ich dachte einfach viel zu viel nach. Heute war so ein guter Tag und ich musste ihn mir wieder mit meinem Misstrauen ruinieren. Doch es war heute ein ruhiger Tag. Außer dem Mann schien sich am Vormittag kein anderer Mensch mehr in unser Café zu bequemen. Doch der Mann machte auch keine Anstalten, zu gehen. Und mit seiner Zeitung kam er auch nicht weiter, immer noch starrte er das Titelblatt an. Um halb elf bestellte er schließlich den zweiten Kaffee. Meine Mutter war, da ja fast nichts los war, kurz in den Supermarkt gefahren, um ein bisschen einzukaufen. Also musste ich dieses Mal wieder einen neuen Kaffee kochen. Bei meiner leichten Tollpatschigkeit, viel mir auch gleich die erste Tasse, die ich in die Hand nahm, auf den Boden und zersprang in Scherben. Sie ordneten sich auf dem Fußboden meiner Meinung nach in Form eines Ausrufezeichens an. Wieso denn ein Ausrufezeichen? Das konnte eine Warnung bedeuten oder einfach nur eine Betonung. Aber was sollte denn betont werden? Und wovor wollte mich eine Tasse warnen, dass ich mir nicht an den Scherben die Hände zerschnitt? Das würde es wohl sein. Was für abstruse Ideen durch meinen Kopf wanderten, überraschte mich irgendwie. Ich holte trotzdem einen Handbesen und eine Schaufel und kehrte die Scherben zusammen. Dann wollte ich aufstehen, doch ich erhob mich zu schnell und es wurde mir kurze Zeit schwarz vor Augen. Und wieder sah ich Zahlen vor meinem inneren Auge. Dieses Mal waren es zwei 9er und eine 19. Hatte das etwas zu bedeuten? Bis jetzt hatte ich also schon eine 2, eine 27, zwei 9er und eine 19 in meinem Kopf plötzlich auftauchen sehen. Das konnte doch nichts mehr mit meinem Traum zu tun haben, an den ich mich nicht mehr erinnerte. Ich musste endlich diesen verdammten Traum vergessen. Doch leider war ich so ein Mensch, der sich manchmal gerne einbildete, dass alles einen tieferen Sinn oder eine Bedeutung hatte. Doch das war Quatsch. Nur weil ich Kreislaufprobleme hatte und Zahlen vor meinem inneren Auge erscheinen sah, musste das nichts bedeuten. Ich widmete mich also wieder den Scherben auf dem Boden und kehrte sie schnell zusammen, damit ich unserem einzigen Kunden wieder eine Tasse Kaffee kochen konnte, damit der nicht auch noch Reißaus nahm, wenn wir sonst schon keine anderen Geldquellen hatten, heute Morgen.
Er bedankte sich für den Kaffee und legte wieder seinen Arm über die Zeitung. Jetzt hatte er mich aber neugierig gemacht, was in dieser Woche für schreckliche Dinge passiert sein könnten, die er mir nicht zumuten wollte. Ich konnte jedoch keinen Artikel sehen, nur am oberen Rand der Zeitung ein Datum. März 1999. Eine Zeitung aus dem Jahre 1999? Wieso sollte man so eine immer noch lesen, und vor allem, wieso immer nur das Titelblatt? Was war mit diesem seltsamen Mann los? Ich drehte mich wieder um, da ich ja schlecht fünf Minuten neben ihm stehen konnte um in seine Zeitung zu schauen, von der er offensichtlich nicht wollte, dass ich sie sah.
Also drehte ich mich wieder um und ging zurück zum Tresen. Plötzlich hörte ich das laute Donnern eines Trucks, der genau vor der Tür zum Stillstand kam. Er war schwarz und irgendwie wirklich furchteinflößend. Bei laufendem Motor sprangen zwei Kerle aus dem Wagen, ebenfalls ganz in schwarz gekleidet, sie stürmten ins Café, zogen den Mann von seinem Stuhl und schleiften ihn mit sich. Ich war so geschockt, dass ich gar nicht realisieren konnte, was da gerade vor meinen Augen passiert war. Das einzige, was ich machen konnte, war, hinter der Theke zu stehen und mir ein Glas Wasser einzuschenken, weil meine Kehle plötzlich unfassbar trocken war. Sowas war mir noch nie passiert, ich hatte es nur in Filmen gesehen, aber die Realität war schlimmer. Irgendwann kam meine Mutter vom Einkaufen zurück und fand mich immer noch am Tresen stehend und mit einem Glas Wasser in der Hand vor. Das Entsetzen war mir noch ins Gesicht geschrieben. Sie drehte das »Geöffnet« Schild um und wir setzten uns an einen Tisch. Sie hatte den Mann nur kurz gesehen, doch ich hatte ihn ungefähr drei Stunden lang beobachtet.
Plötzlich hörte ich wieder das Röhren des Motors, das ich vor einer halben Stunde auch schon gehört hatte. Ich bekam Panik. Was wollten sie denn jetzt noch? Ich versteckte mich schnell hinter der Theke und zog meine Mutter hinter mir her. Wir hatten vergessen, die Tür abzuschließen und ich traute mich gar nicht, über die Theke zu schauen. Der Motor wurde wieder angelassen, wie davor auch. Diesmal stieg allerdings nur einer aus, da ich nur eine Autotür hörte. Nein, da war die zweite Autotür. Er riss die Tür des Cafés auf und es gab einen dumpfen Aufprall. Danach schmiss er die Tür wieder zu und der Truck fuhr davon. Ich streckte meinen Kopf vorsichtig über den Ladentisch. Was ich da sah, verschlug mir die Sprache und ich hatte plötzlich einen wahnsinnigen Druck auf der Brust, sodass ich kaum atmen konnte.
Der Mann lag auf dem Boden, mit einem Messer in der Brust. Lebloser Gesichtsausdruck. Ich stand langsam auf und auch meine Mutter erhob sich, um das Desaster zu begutachten. Auf seiner Stirn stand in roten Großbuchstaben das Wort »GUILTY«. Schuldig, wofür? Keine Ahnung. Doch zwischen seiner Brust und dem Messer konnte ich einen Zeitungsausschnitt entdecken. Er hatte die Überschrift »20-jähriges Mädchen erdrosselt«. Oh mein Gott, der Mann hatte ein Mädchen umgebracht? Dann war das eben ein Racheakt. Doch das war noch nicht alles. Neben ihm auf dem Boden lag sein Ring. Und in ihm fand ich die Zahlen, die ich den ganzen Tag gesehen hatte. Es war ein Datum. 27.2.1999. Zwei Monate vor meiner Geburt. Und neben diesem Datum im Ring eingraviert, der Name meiner Mutter.

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Tag der Veröffentlichung: 01.11.2011

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