Jede Geschichte eines traurigen Mädchens beginnt mit einer Enttäuschung. Diese auch.
Jede Geschichte eines traurigen Mädchens endet damit, dass es sein Glück findet.
Diese nicht.
Der Vater des Mädchens war krank, doch sie wusste es nicht. Er lag seit Monaten im Krankenhaus, doch sie wunderte sich nicht. Die Mutter war die einzige, die es wusste, doch sie sagte es nicht.
Schließlich starb die Mutter bei einem vermeintlichen Unfall. Es war kein Unfall. Sie war absichtlich in den Baum gefahren. Es war Selbstmord.
Der Vater wusste es, doch er sagte es nicht. Er konnte es nicht. Er war krank. Er war schwach. Er war verzweifelt. Seine Frau war tot. Er sterbenskrank. Was war mit dem Mädchen? Wie sollte man einem 11-jährigen Mädchen sagen, dass seine Mutter nicht mehr leben wollte. Und wie sagte man ihr, dass es ihretwegen war?
Also wusste sie es nicht. Niemand wusste es. Der Vater starb, doch niemanden interessierte es. Er wurde begraben, doch niemand wusste es. Er liebte sein Mädchen, doch niemand glaubte es. Das Mädchen wuchs, doch niemand sah es. Es war allein, denn niemand vermisste es. Es hatte keine Freunde, denn niemand mochte es. Es ging nicht zur Schule, denn niemand wollte es.
Eve lebte in einem Haus ohne Heizung. Sie lebte in einem Haus ohne warmes Wasser. Sie lebte in einem Haus ohne Essen. Doch sie lebte in einem Haus am Waldrand. Sie war ein Mädchen ohne Angst. Sie war ein Mädchen ohne Scheu. Und sie war ein Mädchen ohne Herz. Mit Essen aus dem Wald und Wasser aus dem Brunnen.
Drei Jahre lang. Ohne einen Menschen zu sehen.
Drei Jahre lang. Ohne Hunger und Durst.
Drei Jahre lang. Ein Leben wie ein Tier.
Drei Jahre lang. Ohne Gefühl.
Sie konnte nicht lesen. Sie konnte nicht schreiben. Sie konnte nicht rechnen. Sie konnte malen. Sie malte viel. Tiere, Pflanzen, Gegenstände. Keine Menschen. Sie kannte keine Menschen. Denn sie sah nicht in den Spiegel. Ging nicht hinaus. Nicht unter Leute. Ein einsames Leben. Einsam. Eintönig. Allein. Wertvoll. Alles, was Eve geblieben war.
Sie hatte zwar ein Haus, doch es nützte ihr nicht.
Sie hatte zwar Bücher, doch sie brauchte sie nicht.
Sie hatte zwar einen Fernseher, doch sie wollte ihn nicht.
Sie wollte ihr Glück, doch sie fand es nicht.
Eve hörte ab und an Stimmen im Wald. Von Menschen. Doch sie sahen sie nicht. Und sie sah sie nicht. Sie versteckte sich in der Hecke. In Bauten. In Höhlen. Auf Bäumen. Wie ein Tier. Sie verstand ihre Sprache. Die der Menschen nicht. Sie hatte lange nicht geredet. Mit wem auch? Der Klang ihrer Stimme war ihr fremd. Die Worte der Menschen. Jegliche Zivilisation. Wie konnte man so leben?
Man konnte, wenn man es nicht anders kannte.
Man konnte, wenn man es nicht anders wollte.
Man konnte, wenn es einem nicht möglich war, etwas zu empfinden.
Angst. Trauer. Schmerz. Liebe. Hass. Hunger. Durst.
Eve hatte nach drei Jahren jedes Gefühl verloren.
Sie war unverletzbar, doch sie war schwach.
Sie war unerschrocken, doch sie war scheu.
Sie war am Leben, doch sie wollte es nicht sein.
Eine Statue mit Herzschlag. Eine Statue aus Fleisch. Eine Statue aus Blut. Eine Statue aus Asche. Eine Statue aus Glut. Eine Statue aus Eis.
Lebendig. Brennbar. Zerbrechlich.
Eve wollte nicht leben. Wieso brachte sie sich nicht um? Sie wusste nicht, wie. Sie hatte niemanden, der ihr erzählte, wie das ging. Tiere verstand sie, doch das war eine andere Welt. Sie begegnete keinen Menschen. Betrachtete sich nicht als eine von ihnen. Sie gehörte zu niemandem, deren Sprache sie nicht verstand. Deren Sitten sie nicht kannte. Deren Kleidung sie nicht besaß. Deren Anwesenheit sie nicht ertrug.
Ihre Bilder erzählten Geschichten. Geschichten von Liebe. Geschichten von Hass. Geschichten von Tod.
Nie hatte sie geliebt. Nie wurde sie geliebt. Und nie würde sie imstande sein zu lieben. Drei Jahre lang. Bis zu einem Tag.
Sie ging durch den Wald. Suchte nach Essen. Suchte nach Sinn. Sah eine Schlucht und fiel hin.
Stand wieder auf. Ging zu der Schlucht. Sah einen Mann. Verletzt. Blutend. Allein.
Sie kämpfte mit sich. Diskutierte im Geiste mit sich. Ging zu dem Mann um ihm zu helfen.
Er konnte nicht reden. War bewusstlos. War beinahe tot. Stumm.
Eve war stark. Sie trug den Mann auf ihren Armen zu ihrem Haus. Legte ihn auf den Boden. Stellte ihm zu trinken hin. Er rührte sich nicht. Sie wusste nicht, ob er lebte. Sie kannte keinen Puls. Konnte ihn nicht fühlen. Kannte keinen Atem. Konnte ihn nicht spüren. Konnte nur warten. Wartete lange. Sie hatte Zeit. Saß neben ihm zwei Tage lang. Auch der Gedanke. Er ist tot. Nein. Er wachte auf. Wollte sprechen. Erinnerte sich. Stumm. Eve wollte sprechen. Wusste nicht, wie. Stumm. Sie gab ihm zu trinken. Gab ihm zu essen. Ohne ein Wort. Drei Wochen. Stumm.
Er war ein Mann mit Wunden. Ein Mann mit Herz. Ein Mann ohne Stimme. Ein Mann wie Eve.
Eve konnte seine Wunden nicht pflegen. Sie konnten nicht heilen. Nicht schnell. Sie hatten Zeit. Nach einem Jahr. Stumm. Ein Kuss.
Stumme Liebe. Stark. Unzerbrechlich. Verletzlich.
Ein Spaziergang am Strand. Ein Blick aufs Meer. Einige Schritte. Er wollte sterben. Sie auch. Er wusste, wie. Sie nicht.
Er schloss ab. Schloss ab mit dem Leben. Sie auch. Sie machte Schluss. Er lief ins Meer. Sie hinterher.
Empty Value’s endless.
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2011
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