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Die kleine Tonfigur

 

 

„Toll! Verpiss dich einfach! Arschloch.“ Wütend tippte ich die Wörter in mein Handy. Sunny-T hatte mich drei Monate meines Lebens gekostet. Ich hatte mir die Lippen für ihn aufspritzen lassen, weil er das so geil fand. Aber so ließ ich nicht mit mir umspringen. Auch wenn er mir gerade geschrieben hatte, dass er mich von all seinen Frauen am hübschesten fand. Das war sogar ein Originalzitat aus seiner letzten Nachricht. Entweder war ich seine Freundin, oder nicht. Ich hatte es satt, immer wieder eindeutige Fotos von ihm auf Insta zu finden. Er dachte wohl, ich ließe mir alles gefallen. Da hatte er sich getäuscht! Es war mir egal, ob er der größte Showman des Universums war, oder nicht.
„Was ist los, mein Spatz?“ Versehentlich hatte ich wohl die Wörter, die ich so nachdrücklich in die digitalen Tasten gehämmert hatte, laut ausgesprochen. Mein Vater hatte mir von Anfang an abgeraten, mich auf Sunny-T einzulassen, genauso, wie er mich zuvor vor Big-L, Rick Rock und Cool Dan gewarnt hatte.
„Ach nichts.“ Vermutlich interessierte es ihn sowieso nicht.
„Probleme mit Sunny-T?“ Wie immer hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich seufzte resigniert, was ihm wohl Bestätigung genug war, denn er sagte: „Du ziehst auch immer nur solche Looser an. Dabei bist du so hübsch, ja über alle Maßen schön, aber viel zu oberflächlich. Geh doch zur Abwechslung mit einem Mann aus, der kein gefeierter Instagram-Star ist.“
„Ach Daddy, du immer mit deinen Warmduschern. Muss ich dich wirklich an den einen Typen erinnern, mit dem du mich vor Sunny-T verkuppeln wolltest?“ Mit Grauen erinnerte ich mich an diesen gelackten Schnösel, der dachte, einen geflochtenen Bart und rote Turnschuhe zum Anzug zu tragen, wäre cool. Dem hatte ich gehörig meine Meinung gegeigt.
„Nein. Ich weiß, wen du meinst. Wenn ich mich richtig erinnere, hast du ihn King Drogo genannt, bevor du ihm die Tür vor der Nase zugeworfen hast und seine Blumen in den Abfalleimer gewandert sind.“ Mein Vater seufzte leise. „Er war einer meiner erfolgversprechendsten Geschäftspartner.“

 

*

„Was? Sie wollen mich wohl verscheißern? Ich bin für die Sparte Beauty und Style zuständig. Sie können mich nicht einfach für eine ganze Woche zu so Ökofuzzis schicken!“ Ich funkelte meinen Chef wütend an. „Sie haben wohl vergessen, wem diese Zeitschrift gehört?“ Normalerweise reichte so eine kleine Andeutung, um meinen Willen durchzusetzen. Immerhin war ich die Tochter des Firmenbosses.
„Es geht zumindest um Kosmetik und einen gesunden Lebensstil ...“
Ich unterbrach meinen Chefredakteur ätzend: „Naturkosmetik! Das hat mit Beauty und Style nicht das geringste zu tun!“
„Die Tickets sind bezahlt. Der Flug geht in drei Stunden.“ Er sah mich von oben bis unten an. „Sie sollten vielleicht schnell noch ein paar bequeme Sachen einkaufen.“
Na gut. Dann würde ich wohl meinen Vater anrufen müssen.
„Ach, der Vorschlag für diesen Artikel kam übrigens von Mister Grimm persönlich und er hat ausdrücklich darauf bestanden, dass er von Ihnen geschrieben werden soll.“
Ich erschrak. Warum tat mir Daddy so etwas an? Er wusste doch genau, dass das nichts für mich war.

 

*

 

Der Flug hatte zwei Stunden gedauert und ich litt, wie jedes Mal, unter Migräne. Die Propellermaschine war ein Stück vom Flughafengebäude entfernt zum Stehen gekommen, doch kein Zubringerbus wartete auf mich und die anderen vier Personen. Mürrisch stöckelte ich auf meinen High Heels zu Fuß auf die Ankunftshalle zu. Mein Trolley verfing sich immer wieder in einem der Schlaglöcher, die sich über den rissigen Asphalt zogen. Meine Laune hatte ihren Tiefpunkt erreicht.

 

Im Gebäude sah ich mich um. Jemand würde mich doch wohl hier abholen? Fehlanzeige. Ich verließ den Flughafen, in der Absicht mir ein Taxi zu nehmen. Fehlanzeige. Schon wieder. Was für ein Kaff war das eigentlich, wenn es nicht einmal Taxis gab?
„Wie komme ich von hier weg?“, blaffte ich das Mädchen hinter dem Schalter an. Ich war zurück ins Flughafengebäude gegangen und spürte, wie ein Schweißtropfen meinen Rücken hinunter rann.
Mitleidig lächelte mich die Dunkelhaarige an und antwortete: „Wo müssen Sie denn hin?“
Wortlos schob ich ihr den Zettel mit der Adresse entgegen.
„Oh!“ Sie sah mich sonderbar an. „Sie müssen Bella Grimm sein.“
Ich zog abwartend meine Augenbrauen nach oben.
„Tom hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass sie mit dem Zustelldienst mitfahren sollen. Warten Sie. Ich rufe schnell einmal in der Spedition an, ob er schon da ist.“
Das Mädchen führte in aller Seelenruhe ein Telefonat und scherzte mit der Person am anderen Ende der Leitung. Inzwischen fühlte ich, wie weitere Schweißtropfen meine Seidenbluse in den Achseln durchnässten. Ich würde nie wieder mit meinem Vater reden.
„Warten Sie draußen. Der Bus kommt in fünf Minuten.“

 

Eine Viertelstunde später rollte ein elektrisch betriebener Lieferwagen um die Ecke und hielt vor mir. Das Fenster an der Beifahrerseite öffnete sich und der Fahrer rief mir zu: „Bella Grimm? Ich bin Tom.“
Ich nickte und wartete, dass er ausstieg und mir mit dem Gepäck half.
„Du kannst deine Sachen hinten reinschmeißen.“ Er winkte dem Mädchen zu, das jetzt auch aus dem Gebäude getreten war und sagte: „Danke Su.“
„Kein Problem. Hab ich gerne gemacht.“ Sie klimperte mit ihren Wimpern und machte dem Fahrer schöne Augen. Ich stand dazwischen und fühlte mich überflüssig. Wie konnte ich auch nur annehmen, diese Hinterwäldler hier wüssten, wer ich war. Da wo ich herkam, hätten mir schon zehn Lakaien die Füße geküsst und mir einen kühlen Cocktail angeboten. Mühsam quälte ich mich mit dem Griff an der Schiebetür. So etwas zu bedienen, war eine gänzlich neue Erfahrung für mich. Ich hob meinen Trolley und stellte ihn zwischen zwei leere Holzkisten. Danach brauchte ich zwei Versuche, bis die Schiebetür wieder fest verschlossen war. Stumm kletterte ich auf den Beifahrersitz.
„Können wir los?“

Ich würdigte den dunkelhaarigen Typ hinter dem Steuer keines Blickes.
Als er endlich checkte, dass ich genervt war, sagte er: „Na dann.“ Er hob den Arm und grüßte das Mädchen vom Flughafenschalter. Wir fuhren los.

 

Nach etwa zehn Minuten Fahrt sah ich rechts und links der Straße hohe Bäume. Da wo ich herkam, gab es nur selten ein paar Zierbäume. Ich hatte davon gehört, dass es noch vereinzelt so etwas wie einen Wald gäbe, neugierig sah ich aus dem Fenster und sagte überwältigt: „Ach, wem gehört der schöne Wald?“
„Er gehört uns allen.“
Nach einer Weile lichtete sich der Wald und ich sah eine schöne grüne Wiese. Dazwischen glänzten spiegelnde Wasserflächen.
„Wem gehören die Seen und die schöne grüne Wiese?“
„Die gehören auch uns allen.“
Dann kamen wir zu einem luftig gestalteten Gebäude. Eine Holzkonstruktion überdachte es. Überall sah ich kostbares Wasser über Steine plätschern und dazwischen wuchsen dichte Pflanzen wie in einem Dschungel. Also so, wie ich mir einen tropischen Regenwald immer vorgestellt hatte. Wie er in den Märchen beschrieben wurde, die mir mein Vater als kleines Kind oft vorgelesen hatte.
Wieder fragte ich: „Wem gehört dieses schöne Gebäude?“
„Das gehört auch uns allen.“
Es kam mir komisch vor. Wie konnte etwas von solch unermesslichem Reichtum allen gehören? Aber mit dem Fahrer, der mir mit seinen langen ungekämmten Haaren und diesem wilden Bart doch sehr ungepflegt vorkam, wollte ich mich auf keine Diskussionen einlassen. Immerhin hatte er mir jetzt meinen Koffer aus dem Wagen gehoben und hielt ihn noch immer in der Hand.
„Kommst du?“
Ich folgte ihm. Wir durchquerten das große schöne, nach allen Seiten offene Gebäude. Zwei junge Frauen an einem Tisch im hinteren Teil winkten ihm lächelnd zu. Er zwinkerte ihnen vertraulich zu und wanderte mit mir im Schlepptau einen kurzen verschlungenen Pfad zu einem kleinen Häuschen.
„Ach, Gott, was für ein süßes kleines Haus! Wem gehört das elende winzige Häuschen?“
Mein Begleiter antwortete trocken: „Das ist mein Haus und du kannst hier mit mir zusammen wohnen.“ Er musste sich bücken, damit er durch die niedrige Tür hineinkam.
„Was? Ich soll hier schlafen? Gibt es keine Gästehäuser?“, sagte ich perplex.
„Nein? Hier muss jeder selbst mit anpacken. Du könntest uns zum Beispiel etwas zum Essen machen.“ Er nickte zu einem urigen Herd, der offensichtlich mit Holz betrieben wurde.
„Es gibt nicht einmal ein Restaurant?“, fragte ich zögerlich. Immerhin verstand ich nichts vom Feueranmachen und Kochen. Wohl oder übel half mir der Bärtige.
Während er einen Topf mit Wasser volllaufen ließ, bemerkte ich seine kräftigen Arme. Er trug ein kurzärmeliges ausgeleiertes Shirt und ausgewaschene Jeans. Seine Rückenmuskulatur zeichnete sich durch den dünnen Stoff des Leibchens durch. Die Hose spannte um seinen wohlproportionierten Hintern. Als er bemerkte, dass ich ihn anstarrte, sah er mich mit zusammengekniffenen dunklen Augen an. Woran erinnerten mich diese Augen nur? Ich fühlte plötzlich meinen Herzschlag im ganzen Körper.
„Bei uns muss jeder selbst Hand anlegen. Du kannst die Paradeiser kleinwürfelig schneiden.“
Ich folgte seinem Blick und sah eine getöpferte Schüssel, die mit großen roten Früchten gefüllt war und schluckte. Sah auf meine Fingernägel, die ich heute Morgen frisch maniküren hatte lassen und auf das scharfe Messer, dass mir der Mann entgegenhielt.
„Und du bist sicher, dass hier nicht jemand auf mich wartet? Ich soll einen Artikel über euer Ökodorf schreiben. Außerdem hieß es, man würde mir zeigen, wie ihr eure Kosmetikartikel herstellt.“
Er lachte. „Es ist spät. Jetzt essen wir erst einmal und morgen führe ich dich herum.“

 

*

 

Am nächsten Tag zeigte Tom mir einen riesigen Kräutergarten. Ich hatte vorsichtshalber meine glitzernden Sneakers anstelle der Stöckelschuhe angezogen. Überall arbeiteten emsig Menschen allen Alters. Die Frauen himmelten ohne Ausnahme meinen Begleiter unverhohlen an. Wieder musterte ich ihn näher. Nach einem Friseurbesuch und einer ausgiebigen Rasur mochte wohl tatsächlich ein hübscher Kerl in ihm stecken. Er brachte mich zu einem Tisch, wo eine ältere Frau orange Blütenblätter von geernteten Blumen pflückte und in einer Schüssel sammelte. Man erklärte mir, dass man sie hier zu Seife verarbeitete. Nach einer Stunde Arbeit waren meine Finger braun verfärbt. Meine Kosmetikerin würde der Schlag treffen. Ich beschwerte mich bei Tom.
„Du kannst Reisig hacken, vielleicht kannst du das besser.“


Ich sah skeptisch auf meine zarten Hände. Wohl oder übel hatte ich mir nach der Arbeit die Nägel geschnitten. Meine Freundinnen zu Hause würden mich verspotten, wenn sie mich so sähen.
Am Nachmittag brachte Tom mich in die Töpferei des Dorfes. Hier wurde allerhand nützliches Geschirr hergestellt, aber auch kreative Stücke befanden sich darunter. Ein alter Mann zeigte mir, wie man mit der Töpferscheibe umging. Und, was soll ich sagen? Ich liebte diese Arbeit. Den weichen nassen Lehm in den Händen zu spüren und zu formen lag mir offensichtlich im Blut. Alle Dorfbewohner bewunderten am Abend meine Kreationen. Stolz zeigte ich sie auch Tom.
Er lobte mich und sagte: „Wir werden dafür gutes Werkzeug bekommen.“
Verwirrt erkundigte ich mich. „Ich darf es nicht mit nach Hause nehmen?“
„Du kannst hier dafür gratis wohnen und essen.“
Heimlich ließ ich eine kleine Figur in meiner Hosentasche verschwinden.

Am letzten Abend meines Aufenthaltes war eine Abschiedsparty geplant. Ich hatte mich mit einigen Dorfbewohnern angefreundet und freute mich darauf. Schon von Weitem hörte ich ausgelassenes Lachen und laute Musik. Bunte Lampions leuchteten zwischen den Bäumen. Die Tische im Freien waren mit Blüten geschmückt.
Ich trug meine Jeans und ein schulterfreies Top. Meine Haare fielen offen über den Rücken und dufteten nach der Blütenseife, bei deren Herstellung ich geholfen hatte.
Ich hatte Tom heute den ganzen Tag nicht gesehen. Leider. Inzwischen war ich an seine Anwesenheit gewöhnt. Normalerweise schlief er auf dem Sofa, während er mir sein Bett überließ. Immer häufiger träumte ich nachts davon, er würde zu mir kommen und mich stürmisch küssen. Was für ein alberner Traum. Heute hatte er das Haus bereits verlassen, als ich aufgewacht war.

 

Auf einmal sah ich ihn nur wenige Meter von mir entfernt. Er trug einen hellgrauen Anzug und ein weißes Hemd, dessen oberster Knopf offen stand. Seine Haare hatte er wie ein Sportler zu einem Knoten am Hinterkopf gebunden und den geflochtenen Bart zierten silberne Perlen. Erschrocken wanderte mein Blick zu seinen Füßen. Rote Turnschuhe! Aus dunklen Augen musterte er mich spöttisch von oben bis unten. Ein heißes Gefühl schoß durch meinen Körper. Ich wusste plötzlich wieder, woran mich sein Blick erinnerte. Er war der Mann, mit dem mich mein Vater damals verkuppeln wollte. King Drogo. Dem ich die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Langsam kam Tom auf mich zu. Streckte eine Hand nach mir aus und sagte: „Willst du tanzen?“
Ich schüttelte verwirrt den Kopf und wollte flüchten. Er erwischte mich an meiner Jeans. Ratsch! Die Hosentasche hielt seinem Griff nicht stand und zerriss. Die kleine getöpferte Figur, die ich dort versteckt hatte, fiel heraus. Die Szene hatte Aufsehen erregt und ein Kreis hatte sich um mich und Tom gebildet. Und um den kleinen Gegenstand, der nun zwischen uns am Boden lag.
„Wolltest Du das stehlen?“ Tom sah mich enttäuscht an. Einige Leute fingen an zu tuscheln. Ich fühlte mich ertappt und schuldig. Ich wünschte, ich könnte im Erdboden versinken. Endlich schaffte ich es, mich zu bewegen. Ich versuchte neuerlich wegzulaufen. Nach einigen Metern hatte Tom mich eingeholt. Ich sah ihn an. Ja, eindeutig. Das war der Geschäftspartner meines Vaters. Ich machte mich auf eine Predigt gefasst, doch er sagte freundlich: „Du erinnerst dich an mich, stimmts?“
Ich fühlte Tränen aufsteigen. „Was treibst du hier für ein albernes Spiel mit mir? Du wusstest doch, ich bin ein verwöhntes Biest. Warum hast du mich bei dir wohnen lassen?“
„Ich wollte dir zeigen, wie wir hier leben. Wir glauben an eine postkapitalistische Zukunft ohne Krieg, an einen Systemwechsel und ich wollte, dass du unsere Werte in die Welt hinausträgst.“
„Warum ausgerechnet ich? Ein Highsociety-Girl?“
„Haben wir es in dieser Woche geschafft, dir unseren Lebensstil näher zu bringen? Dir gezeigt, wie jeder seine kreative Kraft zum Wohle aller entfalten kann? Wie wir andere an unserem Leben teilhaben lassen und Entscheidungen gemeinsam treffen? Uns gegenseitig Vertrauen?“ Ich musste schluckend eingestehen, dass all das zutraf. Er öffnete die Hand, in der die kleine getöpferte Figur lag. „Du hättest nur darum bitten müssen.“ Er streckte sie mir entgegen. Ich hob den schamvoll gesenkten Kopf und sah Tom an. Mein Herz öffnete sich. Ich hatte diesen Mann damals enttäuscht und mit Gemeinheiten bombardiert und jetzt wünschte ich mir nichts sehnsüchtiger, als dass derselbe Mann mich in seine starken Arme nahm und küsste. Was er zum Glück endlich tat.
Und wenn wir nicht gestorben sind ...


Und? Märchen erkannt?

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Tag der Veröffentlichung: 19.02.2022

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