Cover

Die Modenschau

 

 

Es kam nicht oft vor, dass ich nicht wusste, was ich tun sollte. Doch jetzt genau war so ein Augenblick. Und ich fühlte mich erbärmlich!

Selma ging hoch erhobenen Hauptes in ihren Stilettos auf den Laden zu, in dem sie noch etwas besorgen wollte. Ich hatte keine Ahnung! Sollte ich ihr folgen, oder nicht? Sie trug einen breitkrempigen schwarzen Hut, den sie bei sich zu Hause gefunden hatte. Dabei hatte ich ihr immer wieder gesagt, wie toll ihr die kurzen Haare stünden. Es war also egal, was ich sagte, sie schien mir nicht zu glauben! Warum sollte ich ihr also jetzt folgen und ihr erklären, weshalb ich ihr das mit Cem und Sonja verheimlicht hatte? Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie ich aus diesem Schlamassel wieder herauskommen sollte. Sicher fühlte sie sich jetzt verletzt, verloren und einsam.

Mir wäre lieber gewesen, sie hätte zu Schreien und Toben begonnen. Das war wenigstens ein Terrain, in dem ich mich sicherer gefühlt hätte. Wohingegen ich noch nie einer Frau nachgelaufen war.

Ich legte das verdammte Buch zurück in das Handschuhfach und knallte es zu. Dann atmete ich einmal tief durch und folgte ihr langsam in den Laden.

Ich fand sie nicht sofort. Dichtgedrängte, vollgestopfte Regale mit Stoffen jeglicher Konsistenz und Farbe füllten das gesamte Geschäftslokal aus. Dann sah ich sie im Gespräch mit einer älteren Frau, die offensichtlich hier arbeitete. Aus sicherer Entfernung beobachtete ich sie.

Sie wirkte so zart und verletzlich wie ein kleiner Kanarienvogel. Und auch so schön. Ohne böse Absicht hatte man das Bedürfnis, sie zu ihrer eigenen Sicherheit in einen Käfig zu sperren. Cem, dieser Esel hatte das so gemacht! Er hatte nicht erkannt, dass Selma ihre Flügel ausstrecken musste, um sich voll entfalten zu können. Wozu das geführt hatte, war bekannt!

Mich hatte sie vom ersten Tag unseres Kennenlernens an nur überrascht! Auf eine überaus faszinierende Weise.

Langsam ging ich auf die beiden fachsimpelnden Frauen zu und stellte mich in sicherer Entfernung hinter Selma, die meine Anwesenheit geflissentlich ignorierte. Die ältere Frau nickte mir freundlich zu. Unser Verhalten schien ihr offensichtlich nicht komplett  abstrus zu sein. Sie zogen verschiedenste Stoffe aus den Regalen und verglichen deren Konsistenz und Verarbeitungsfähigkeit. Endlich, als es darum ging einen Ballen aus einem der oberen Regale zu begutachten, kam meine Gegenwärtigkeit wieder ins Spiel. Selma wandte sich zu mir um und gab mir lautlos mit einem energischen Schwung ihres Blickes den Befehl, mich nützlich zu machen. Obwohl sich kein Muskel rund um ihren Mund dabei bewegte, bewies es immerhin, dass sie noch bereit war, mit mir zu kommunizieren. Das war zumindest einmal etwas! Einigermaßen erleichtert kam ich ihrem Auftrag nach.

 

Als wir wieder ins Auto gestiegen waren, griff ich nach ihrer Hand und versuchte die ganze beruhigende Kraft, die mir mein Vater hoffentlich in diesem Moment schicken würde, in diese Berührung zu legen. Sie zog ihre Hand nicht weg, aber ihre Augen sahen auf meine hinab, als könnte ihr Blick meine Finger mittels Laserstrahl zu Staub zerfallen lassen. Vorsichtshalber zog ich meinen Arm zurück.

„Ich bin ein Idiot! Zumindest habe ich mich so wie einer verhalten“, korrigierte ich ein wenig nach. „Du bist jetzt enttäuscht, aber ist das nicht besser, als weiterhin getäuscht zu werden? Man kann im Leben nicht alles kontrollieren, auch wenn man es noch so sehr will.“

„Komm mir jetzt ja nicht mit deinem Psychoquatsch!“ Zynisch rollte sie die Augen. „Außerdem bin ja wohl ich hier die Idiotin, oder warum hast du es gewusst und ich nicht?“

„Cem hat es meinem Vater gebeichtet. Oder vielmehr, er es hat ihm in der Nacht, als mein Vater starb, sagen müssen. Zuvor hatte er anscheinend gedroht die Polizei einzuschalten. Wegen Sonjas Verschwinden. Da musste dann mein Dad zugeben, dass sie gekidnappte wurde. So ähnlich hat Cem es wenigstens zu Protokoll gegeben. Die beiden haben dann gemeinsam diesen Rettungsplan ausgeheckt.“

Selma sah mich mit aufgerissenen Augen an. „Welchen Rettungsplan?“

„Cem ist uns heimlich, mit einem Motorrad meines Vaters, zu dem Versteck gefolgt, an dem wir Sonja festhielten. Ich habe Glück noch am Leben zu sein! Er hat zwei Profikiller, die auch an der Entführung beteiligt waren, mit bloßen Händen ermordet, um Sonja zu befreien!“

„Was? Er hat jemanden getötet?“ Selma war bleich geworden. „Wird er dafür ins Gefängnis kommen?“

„Nein! Es wurde als Notwehr eingestuft! Er hat wegen Gefahr im Verzug schnell handeln müssen. Ich habe das im Protokoll auch bereits bestätigt. Außerdem hat er zuvor die Polizei verständigt.“

Jetzt, wo es raus war, konnte ich Selma auch gleich die restlichen Details jener Nacht verraten.

Als ich ihr alles erzählt hatte, gab ich kleinlaut zu: „Ich war sauer auf Cem! Und Sonja. Immerhin hatten sie meinem Vater Hörner aufgesetzt! Als ich realisiert hatte, dass du Cems Frau bist, kam mir dieser blöde Rachegedanke. Es ihm heimzuzahlen, indem ich, stellvertretend für meinen Vater, dich verführe ...“ Mein Mund war trocken geworden. Ich registrierte, wie bescheuert sich das anhören musste. „Ich war an diesem Tag nicht ich selbst! Ich war wütend und stand unter Schock!“, versuchte ich, es zu erklären. Ich musste es auch für mich selbst erst zusammenfassen.

Selma schüttelte ungläubig den Kopf.

Schnell setzte ich nach: „Das hat nichts, gar nichts, damit zu tun, was sich seither zwischen uns entwickelt hat!“

„Da hat sich nichts entwickelt! Mach dir keine Sorgen!“ Bitter zog Selma ihre Unterlippe vor.

Ich fühlte mich wie versteinert. Wie konnte sie nur so kaltherzig reagieren? „Doch das hat es! Mach das jetzt bitte nicht schlecht!“, bat ich eindringlich. „Ich habe noch nie eine Frau wie dich gekannt! Es kommt nicht oft vor, dass ich darüber rede, wie ich mich fühle.“

„Wie du dich fühlst?“

Schweigend sah sie mich an und alles um uns herum verblasste in diesem Augenblick. Ich fürchtete mich davor, was sie als Nächstes sagen würde.

„Du bist nichts, als ein ... Experiment!“ Sie lachte höhnisch über ihre eigene Wortwahl.

„Du hast mich nicht verführt! Wie denn auch?“ Jetzt schüttelte sie verächtlich den Kopf.

„Es war eine Mutprobe, die ich mir selbst auferlegt hatte! Ich wollte nur mir selbst etwas beweisen! Und das ist mir gelungen. Ich brauche keinen Helden! Auch kein Ungeheuer! Ich wollte einzig und alleine mir selbst etwas beweisen. Nämlich, dass ich tun und lassen kann, wonach mir gerade der Sinn steht! Dein Vater ist allerdings auch an meiner Version der Dinge nicht ganz unschuldig!“

Sie wollte mich verletzen! Unwillkürlich musste ich lächeln. Genau diese Art von Kleinkrieg führten wir doch seit dem ersten Tag unseres Kennenlernens. Nur wo vorher Funken fliegen, kann sich ein leidenschaftliches Feuer verbreiten. Ich dachte an Sitaras weise Worte, dass man einer Frau immer das letzte Wort überlassen sollte, und ließ deshalb ihre Beleidigung unkommentiert stehen. In aller Ruhe startete ich den Wagen und parkte aus.

„Wo willst du als Nächstes hin?“, fragte ich unaufgeregt.

 

Nachdem wir die restlichen Einkäufe erledigt hatten und ich alle schweren und sperrigen Dinge in Selmas Appartement gestellt hatte, nahm sie noch meine Maße. Sie bestand darauf, dass ich mich dafür ausziehen sollte.

„Das reicht!“, stoppte sie meinen Enthusiasmus, bevor ich auch aus der Boxershort schlüpfen konnte.

„Ja, Frau Professor!“, erwiderte ich grinsend. Selma hatte eine Lesebrille aufgesetzt und verkörperte mit ihrer abweisenden Miene das Inbild einer strengen Lehrerin. Aus verkniffenen Augen warf sie mir einen bösen Blick zu. Es war wohl noch zu früh für Scherze dieser Art.

Mit einem Maßband fing sie beim Hals an zu messen und notierte gewissenhaft alles in ein Notizbuch. So verfuhr sie auch mit den Schulter- und Armlängen.

„Wirst du Cem und Sonja zur Rede stellen?“, erkundigte ich mich beiläufig.

Sie atmete genervt aus, beantwortete die Frage aber nicht.

Beim Brustumfang lag das Band eng an meinen Brustwarzen an. Dann wanderte sie weiter hinunter zum Bund der Unterhose. Viele Männer hätten nach so einer Messung genug Stoff für heiße erotische Fantasien auf Lebenszeit, wenn die Schneiderin aussah wie Selma. Ich verbrachte die nächsten zwei Stunden im Fitnessraum der Klinik, und versuchte dort, unter den wohlwollenden Blicken einiger Patientinnen, die aufgestaute Energie loszuwerden.

 

In den nächsten Tagen bekamen wir Selma so gut wie nie zu Gesicht. Sie nahm die Mahlzeiten wieder im Speisesaal mit den anderen Patienten ein und die Tür zu ihrem Appartement blieb immer fest verschlossen. Das ratternde Geräusch ihrer Nähmaschine bis spät in die Nacht, war das einzige Lebenszeichen, das zu uns durchdrang.

Sonja äußerte sich erstaunt über Selmas abweisendes Verhalten. Nachdem sie von allen Models die Maße genommen hatte, ließ sie, außer Sitara, die ihr bei der Planung der Modenschau half, niemanden mehr in ihr Zimmer. Ich konnte mir vorstellen, dass es Selma nicht leicht gefallen war, sich Sonja gegenüber nichts davon anmerken zu lassen, was sie wusste. Manchmal fragte ich mich, was nach der Show passieren würde? Selmas Therapie ging zu Ende. Würde sie wieder ihr altes Leben aufnehmen, als wäre nichts geschehen? Nachdem sie nicht mit mir sprach, malte ich mir die absurdesten Geschichten aus. Eigentlich war die Besichtigung der Wohnung in Wien noch ausständig. Ich machte mir schön langsam Sorgen, vielleicht nie wieder diese Verbindung zu ihr aufbauen zu können, die wir hatten. Der Gedanke daran schmerzte mich seltsamerweise mehr, als ich es jemals vermutet hätte.

 

Ich arbeitete mich indessen in die Arbeiten meines Vaters ein, die er nicht mehr beenden konnte. Bei den medizinischen Punkten half mir Sonja, bei psychologischen Fragen hatte ich sogar einige Male meine Mutter angerufen, die Psychoanalytikerin war. Natürlich wussten sie und mein Bruder inzwischen, dass ich der Geist von Julius Adler war. Das Adler-Patent hatte auch in den Staaten hohe Wellen geschlagen. Beide fanden es gut, was ich getan hatte. Wahrscheinlich hätten sie aber alles gut gefunden, was mich davon abhielt mein Leben beim Geheimdienst zu riskieren. Hier drohte mir immerhin nur aus einer Richtung Gefahr. Das Deutsch meiner Mutter war etwas holprig geworden. Früher hatten wir zu Hause ausschließlich Deutsch gesprochen, ihre Eltern stammten aus München und sowohl meine Mutter, als auch mein Vater hatten großen Wert darauf gelegt, uns Kinder zweisprachig aufwachsen zu lassen. Das war lange her. Das Verhältnis zu meiner Mutter war nicht gerade das Beste gewesen, vielleicht konnten wir ja jetzt, von einem Kontinent zum anderen, versuchen das zu ändern. Viele Freunde und Bekannte meines Vaters hatten mich als eine Art Assistent von ihm akzeptiert und schickten mir weiterhin aktuelle Notizen und Beiträge, die ich mit Sonja durchging. Zeit, um sich mit Cem zu treffen, blieb ihr derzeit sicher nicht viel. Sie leitete das Labor und suchte verzweifelt einen Arzt, der die medizinische Leitung der Klinik übernehmen sollte. Fast jeden Tag kamen Mediziner aus allen Ecken des Landes und dem benachbarten Ausland, um sich für die Stelle zu bewerben.

 

Es war Donnerstag, der Tag, an dem die Modenschau endlich über die Bühne gehen sollte. Mein Handy unterbrach die Musik-Playlist, die ich beim Trainieren hörte und meldete einen eingehenden Anruf von Cem.

„Hey Guy!“, meldete ich mich etwas außer Atem.

„Hallo! Störe ich dich gerade?“

„Kein Problem. Ich bereite mich nur gewissenhaft auf die Modenschau vor. Ich habe ja keine Ahnung, was Selma für mich vorgesehen hat, aber wenn es Unterwäsche ist, will ich eine gute Figur machen!“

Cem schnaubte ins Telefon. Ich konnte nicht abschätzen, ob es ein belustigtes oder grantiges Schnauben war.

„Tja! Das kann ich dir auch nicht sagen, ich erreiche Selma schon seit Tagen nicht auf ihrem Handy! Sie schickt nur schriftliche Antworten auf meine Sprachnachrichten zurück. Gerade hat sie mir geschrieben, ich soll dich heute Nachmittag mit zum Friseur nehmen und es mit dir besprechen!“

„Okay! Mir hat sie vor Tagen die Anweisung gegeben mich nicht mehr zu rasieren, sonst weiß ich von nichts!“

„Paßt es für dich, wenn ich dich um vier abhole? Vorher werde ich es nicht schaffen?“

„Alles klar!“

„Gut. Dann melde ich dort, dass wir zu zweit kommen!“

 

Irgendwie tat mir Cem fast leid. Er war ein netter Kerl. Wenn Selma zu mir schon so zickig war, erwartete ihn heute Abend wahrscheinlich die Hölle. Wie würde die Veranstaltung wohl ablaufen? Meine Fantasie reichte nicht aus, um mir auszumalen wie Selma reagieren würde, wenn sie Sonja und Cem zusammen sah. Ob sie ihnen womöglich vor allen eine Szene machte? Ich dachte wirklich daran, ihn vorzuwarnen. Das würde mir Selma aber nie verzeihen. Ich steckte in einer Zwickmühle.

 

Cem hatte mich sonderbar angesehen, als der Figaro mich endlich aus den Fängen ließ. Er war schon vor mir fertig gewesen. Bei mir hatte es länger gedauert, wegen der Farbe, die einwirken musste. Über das Resultat war ich auch einigermaßen erstaunt gewesen. Der Friseur hatte meine Haare grau gefärbt! Er hatte es zwar Platinum genannt, aber das Resultat war dasselbe. Ich sah aus, wie ein alter Mann. Wenigstens den Bart hatte er dunkel gelassen. Der Style, den er mir verliehen hatte, sah aber insgesamt nicht schlecht aus.

„Was ist?“, fragte ich ihn, „findest du es so scheiße?“

Cem schüttelte den Kopf: „Nein, ich bin nur gespannt, wie Sonja reagieren wird!“

„Wie meinst du das?“

„Du siehst aus, wie dein Vater! Zumindest von den Augen aufwärts!“

Ich klappte den Spiegel über dem Beifahrersitz nach unten und überprüfte skeptisch Cems Aussage. Selbst konnte ich diese Ähnlichkeit eigentlich nicht feststellen, doch wie sich kurz darauf zeigte, sollte er damit Recht behalten.

In der Wohnung herrschte lautstarker Hochbetrieb. Im Flur, vor dem riesigen Spiegel, übten die Frauen lachend das richtige Gehen für den Laufsteg. Lara mimte dabei die strenge Wertungsrichterin. Als sich eine nach der anderen nach uns umdrehte, wurde es schlagartig ruhig. Sitara schlug die Hände vor dem Mund zusammen und Sonja sah mich mit großen Augen an. Sie waren ebenfalls bereits gestylt, trugen aber noch bequeme Alltagskleidung.

„Wow! Ihr seht toll aus!“, versuchte ich, die plötzlich angespannte Stimmung aufzulockern. An Sitara gewandt, sagte ich grinsend: „Ich wusste gar nicht, dass Sonja eine Zwillingsschwester hat!“ Die Stylistin verstand ihr Handwerk ganz offensichtlich. Geschmeichelt entspannte sich zumindest Sitara wieder. Ich machte mich auf die Suche nach Selma und fand sie in der Küche, wo sie gerade geschminkt wurde. Ein zufriedenes Lächeln umspielte ihren Mund, als sie mich erblickte. Sie hatte das absichtlich geplant!

Selmas kurze Haare waren mit Gel geglättet worden und betonten so, auf atemberaubende Weise, ihre ausdrucksvollen Augen mit den strengen dunklen Brauen. Gerade trug die Kosmetikerin einen blutroten Lippenstift auf. Sie sah wahnsinnig sexy aus. Wie ein männermordender Vamp. Ein unglaubliches Verlangen überkam mich bei ihrem Anblick. In dem Moment drängte mich Cem zur Seite und ging auf Selma zu, um ihr einen Kuss zu geben. Kalt drehte sie sich von ihm weg. „Paß auf mein Make-up auf!“, wies sie ihn schroff zurecht. Er sah sie verdattert an. Ich zuckte mit den Augenbrauen, als er sich verstört zu mir umdrehte. „Geht und übt mit Dilara eure Posen!“, kanzelte Selma uns ab.

 

Laute Musik drang in den Barbereich des Klinikrestaurants, der heute mit Vorhängen vom restlichen Raum abgetrennt worden war und als Garderobe zweckentfremdet wurde. Das fand ich eigentlich ganz praktisch, denn in einer Lade unter der Theke fand ich eine halbvolle Flasche Gin. Genau das Richtige, um meine aufkommende Nervosität in den Griff zu bekommen.

Cem und die weiblichen Models hatten alle schon ihre Outfits an, nur ich wusste noch immer nicht, was ich tragen sollte. Sitara hatte eine der Patientinnen, die normalerweise im Fernsehen moderierte, als Conférencier gewinnen können. Gerade stimmte diese das Publikum auf den Beginn der Show ein. Begeistertes Klatschen begleitete die Eröffnung der Präsentation. Selma schickte Anjali, die einen klassischen Hosenanzug trug, als erste vor den Vorhang.

Die Moderatorin beschrieb den Look und Details zur Beschaffenheit und Herkunft des Materials. Beifälliger Applaus begleitete das erste Model. Sitara und Sonja warteten bereits darauf, als Nächstes in Rennen zu gehen. Sie trugen beide verrückt gemusterte Hosenanzüge und auch, wenn das nicht jeder tragen konnte, ihnen standen sie gut. Sonja trug bauchfrei, Sitara die alltäglichere Variante. Dahinter wartete Selmas ältere Tochter in einem langen durchsichtigen Rock zu dem sie schwarze Schnürstiefel, ein Oversize-Sakko und eine Pudelmütze trug. Unsere Blicke trafen sich. Jasmin bemerkte offensichtlich meine Aufregung, denn sie schnitt eine lustige Grimasse.

Nachdem Selma noch letzte Anpassungen am Sitz der Kleidung der Frauen vorgenommen hatte, kam sie auf mich zu und zog mich mit in den hinteren Teil der provisorischen Garderobe. Sie öffnete einen Kleidersack und hielt mir eine schwarze Hose hin. Ich atmete kurz auf, ich hatte mit etwas Ausgefallenerem gerechnet. Selmas Hosen hatten keinen Reißverschluss, das hatte ich bereits bei den anderen mitbekommen. Alles wurde durch raffiniert versteckte Knöpfe gehalten. Ich hatte mich daher auf dieses, für mich ungewohnte, Detail konzentriert. Als ich den Blick hob, hielt Selma ein naturweißes T-Shirt hoch. Sprachlos starrte ich einige Sekunden das Motiv darauf an. Sie beobachtete dabei aufmerksam meine Reaktion.

„Hast du das gemalt?“, brachte ich mühsam hervor. Sie nickte. „Das ist unglaublich! Du bist eine Künstlerin!“

„Es gefällt dir?“

„Mir fehlen die Worte!“ Ich bewunderte noch immer das T-Shirt.

„Los beeil dich, zieh es an!“, drängte Selma.

Aus dem Publikum drang begeistertes Klatschen und Gelächter zu uns in die Garderobe. Selma wackelte etwas mit dem Kopf und seufzte: „Cem ist draußen! Er ist so eine Rampensau!“ Ich zog das Shirt an und steckte es in die Hose. Selma zupfte es zurecht und hielt mir eine Jacke hin.

„Lass mich doch wenigstens kurz schauen!“ Ich hatte den Aufnäher, den sie am Arm befestigt hatte genauer ansehen wollen.

„Du bist gleich dran!“

„Die anderen gehen ja noch einmal zusammen hinaus. So viel Zeit muss sein!“ Ich ließ mich nicht beirren. „Mission Impossible Force?“, sagte ich grinsend. „Echt jetzt? Du enttarnst mich vor dem ganzen Publikum?“

Sie sah mich schelmisch an und wehrte sich nicht einmal, als ich ihr einen Kuss auf die Nasenspitze gab. Dann half sie mir in die Jacke und zeigte mir, welche Posen ich am Ende des Catwalks einnehmen sollte. Sie begleitete mich zum Vorhang und nickte mir aufmunternd zu, als ich besorgt die Stirn in Falten legte.

„Warte!“ Sie hielt mich zurück, obwohl die anderen soeben vom Saal zurückkamen.

Die Moderatorin wartete, bis der stürmische Applaus verhallt war. Dann hörte ich sie etwas vom Adler-Patent erzählen. Schließlich kündigte sie die Überraschung des Abends an.

„Los!“ Selma schubste mich durch den Vorhang. Grelles Scheinwerferlicht brachte mich kurz aus dem Konzept. Dann besann ich mich meiner Aufgabe und lief langsam den roten Teppich entlang. Dilara filmte das ganze vom Ende des Laufstegs. Sie machte mir aufgeregte Zeichen, dass ich nicht auf meine Posen vergessen sollte. „Sexy! Dramatisch!“, soufflierte sie mir lautlos.

Es war ruhig geworden im Publikum. Von den Begeisterungsstürmen, die Cem ausgelöst hatte, war ich weit entfernt. Dafür verfolgte mich leises Raunen, als ich langsam wieder zurückging. Am Ende drehte ich mich noch einmal um, wie wir es vereinbart hatten und nahm zum ersten Mal einzelne Gäste wahr. Sprachlose Gesichter starrten mich an. Manche hatten die Hände davor zusammengeschlagen und die Augen weit aufgerissen. Einige wischten sich verstohlen Tränen von den Wangen. Erst in diesem Augenblick wurde mir klar, welchen Eindruck dieses Outfit auf die Anwesenden machte. Selma hatte mich mit dem Style, den sie mir verpasst hatte, in den personifizierten Geist von Julius Adler verwandelt. Das Porträt meines Vaters prangte gut erkennbar auf meiner Brust, da ich wie geheißen die Jacke ausgezogen hatte und lässig über der Schulter trug.

Glücklicherweise kamen die anderen jetzt zu mir auf die Bühne. Selma trat an meine Seite und endlich brach wieder Jubel im Publikum aus. Obwohl das nicht abgesprochen war, zog ich Selmas Hand an meine Lippen und drückte ihr einen Kuss darauf. Dann behielt ich ihren Arm und gemeinsam liefen wir den Laufsteg noch einmal entlang. Selma posierte am Ende wie ein Profi-Mannequin und genoss sichtlich den Applaus.

Zurück hinter dem Vorhang wurde ich von Sonja und den anderen bestürmt. Sie alle sahen jetzt auch zum ersten Mal genauer das T-Shirt, das ich trug. Es zeigte ein Porträt meines Vaters im effektvollen Che Guevara-Stil. Halb Foto – halb Zeichnung. Den Blick in die Ferne gerichtet mit der unverkennbaren Pfeife in der Hand. Es war mehr als nur ein T-Shirt Aufdruck. Es war ein Markenzeichen! Die Fans meines Vaters würden es lieben!

 

„Natürlich! Es ist wunderschön!“, lobte auch Sonja gerührt das Motiv. Selma hatte sie gefragt, was sie davon halte. Sie würde es nur in die Kollektion aufnehmen, wenn sie damit einverstanden wäre.

Wir saßen an einem der Tische und genossen das zur Feier des Tages arrangierte Galabuffet.

„Ich übertrage die Markenrechte für das Motiv an Ben!“, sagte Selma darauf.

Erstaunt blickten wir sie alle an.

„Du willst doch diese Adler-Patent-Stiftung gründen?“, wandte sie sich an mich. Ich nickte. Wir hatten letzte Woche darüber gesprochen, dass ich vorhatte, den Hype um das Video für einen guten Zweck zu nutzen. Forschungen sollten damit unterstützt werden, aber auch Patienten, die sich eine Behandlung sonst nicht leisten konnten. „Ich möchte, dass der Erlös aus dem Verkauf des Motivs in diese Stiftung fließt!“

Sitara begann zu klatschen und alle anderen am Tisch fielen zustimmend ein. Ich fühlte einen Kloss im Hals. Langsam stand ich auf und ging auf Selma zu. Sie lächelte mich glücklich an. Sie wusste, was das für mich bedeutete. Als ich zu ihr kam, erhob sie sich und ließ sich von mir umarmen.

„Wo ich schon einmal stehe“, wandte sie sich an die Runde, „ich hatte eine echt anstrengende Woche. Entschuldigt mich bitte, ich glaube, ich gehe heute ausnahmsweise früher ins Bett!“

Es hätte mich gewundert, wenn sie es noch länger an einem Tisch mit Cem und Sonja ausgehalten hätte. Sie küsste die beiden Mädchen, die links und rechts von ihr saßen. Cem ging, für mich als einzigen erklärlich, wieder leer aus. Leise flüsterte sie mir zu „Hilfst du mir, die Outfits zurück in meine Wohnung zu tragen?“

Sie und ich trugen noch immer unsere vorgeführten Modelle, die anderen hatten sich nach der Modenschau umgezogen. „Gute Nacht!“, verabschiedete sie sich ein wenig überstürzt.

In unserer provisorischen Garderobe half ich ihr, die Kleidersäcke einzusammeln und auf den Rollständer zu hängen. In dem Spiegel hinter der Bar fiel mein Blick auf das Porträt meines Vaters auf meiner Brust. Danke Dad! Ich hatte endlich das Gefühl, Selma würde mir nicht mehr grollen.

Stumm schoben wir die Outfits durch die Gänge der Klinik. Selma war offensichtlich wirklich müde und ich fand nicht den Mut, etwas zu sagen, in der Angst es könnte sie wieder irgendwie verstimmen.

In ihrer Wohnung verschwand sie sofort ins Badezimmer. Ich hörte das Geräusch der Dusche und machte es mir auf dem Sofa bequem.

„Du bist ja noch da?“, murmelte sie, als sie im Morgenmantel aus dem Bad kam.

„Stört es dich?“

Sie sah mir einen Wimpernschlag lange in die Augen. Dann schüttelte sie den Kopf.

„Ich bin wirklich müde!“, sagte sie, als ich ihr ins Schlafzimmer folgte und das Licht hinter mir ausmachte.

„Das ist OK!“ Ich zog meine Sachen aus und legte mich zu ihr ins Bett. Sie bettete ihren Kopf auf meinen Oberarm.

„Was soll ich morgen tun?“, flüsterte sie müde.

„Wir könnten nach Wien fahren! Uns die Wohnung ansehen?“, schlug ich vor.

„Hm.“ Ich fasste das als Zustimmung auf.

 

„Wie war deine Abschlussuntersuchung?“, erkundigte ich mich. Wir saßen im Auto und waren auf den Weg nach Wien.

„Sonja war sehr zufrieden! Ich soll jede Woche zur Kontrolle kommen und bekomme noch eine Zeit lang immunstärkende Präparate!“ Sie zog ein Etui aus ihrer Handtasche in dem sich ein Injektions-Pen und mehrere Ampullen befanden. „Keine Ahnung, ob ich mir die selbst geben kann?“ Sie starrte ratlos auf das Etui. „Den Diätplan soll ich natürlich auch noch so lange wie möglich einhalten!“

„Wann wirst Du mit Cem reden?“ Ich hatte lange überlegt, ob ich das Thema wieder anschneiden sollte. Hier auf der Autobahn konnte sie mir wenigstens nicht davonlaufen.

Sie schwieg.

Ich riskierte einen schnellen Seitenblick. Sie starrte genervt aus dem Beifahrerfenster.

„Ich weiß es auch nicht!“, fauchte sie mich wütend an. „Du tust so, als ob ich wissen müsste, wie man seinem Ehemann erklärt, dass man hinter sein Verhältnis gekommen ist!“ Energisch hatte sie mir ihr Gesicht zugewandt. Ihre Augen blitzten angriffslustig.

Ich war froh, mich auf die Straße konzentrieren zu müssen.

„Den Kindern zu liebe solltest Du vielleicht kein allzu großes Drama daraus machen“, schlug ich kleinlaut vor. Ich hatte am eigenen Leib erlebt, wie es sich anfühlte, wenn sich die Eltern gegenseitig aufrieben. Selma wusste das.

„Ich weiß. Ich kann ihm ja auch nicht wirklich einen Vorwurf machen! Wo ich selbst im Glashaus sitze!“ Sie seufzte.

Wir beließen es fürs Erste dabei.

 

Die Wohnung war beeindruckend. Selma hatte die Adresse ins Navi eingegeben. Da sie sich in Wien sehr gut auskannte, fanden wir auf Anhieb hin. Jeder Raum hatte Parkettboden, Holzflügeltüren und helle hohe Fenster. Die Hausbesorgerin führte uns herum und zeigte uns alles. Die Einrichtung war alt aber gepflegt. In einem der Räume stand ein Klavierflügel. Neugierig versuchte ich ein paar Takte zu spielen. Es war etwas verstimmt, sonst aber noch gut in Schuss.

„Du spielst Klavier?“, erkundigte Selma sich neugierig. Sie war hinter mich getreten.

„Es gibt noch viel, dass du von mir nicht weißt!“, erinnerte ich sie geheimnisvoll.

Sie stand an einem der Fenster und blickte auf die Straße hinab. Ich stellte mich neben sie. Nach geraumer Zeit sagte ich: „Nicht gerade ein berauschender Ausblick!“ Sie trug einen schwarzen Mantel im Stil der 50er Jahre. Irgendwie passte sie damit perfekt in diese alte Wohnung. Sicher war ihr bewusst, dass ich sie abwartend musterte.

„Was würdest du sagen, wenn ich hierbliebe?“

„Das ist doch der Sinn unserer Besichtigung, oder etwa nicht?“, merkte ich erstaunt an.

„Ich meine jetzt, heute? Ich will nicht mehr zurück in die Klinik! Ich will nicht mit Sonja reden müssen, warum das hier genau das Richtige für mich ist. Glaubst du, ihr schlechtes Gewissen reicht aus, dass sie mir das verzeihen würde?“

Ich fühlte mich überrumpelt. Nachdem ich ihre Worte einigermaßen verdaut hatte, sagte ich: „Hör auf dein Bauchgefühl! Wenn es dir sagt, du sollst bleiben, dann bleib.“

Selma ließ meinen Satz eine Weile sacken. Dann öffnete sie den Gürtel und die Knöpfe ihres Mantels und zog ihn aus. Mit einer schnellen Bewegung warf sie ihn über die Lehne eines Sofas. „Soll ich uns einen Tee machen?“

 

 

Impressum

Texte: T.S. Noir
Bildmaterialien: Gerd Altmann auf Pixabay
Lektorat: nicht lektoriert
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2020

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /