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Ent-täuscht

 

 

Es wurde inzwischen schnell dämmrig am Nachmittag. Ich wollte den Geschirrspüler ausräumen und machte deshalb das Licht an. Automatisch ging ich danach zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Dabei musste ich mich etwas über Ben beugen, der am Küchentisch saß und eine Tageszeitung vor sich ausgebreitet hatte.
„Treiben wir es jetzt auf dem Tisch, oder auf der Anrichte?“, fragte er mich spöttisch.
„Spar dir die perversen Träume für jemanden, den deine Sadomaso Nummern anmachen“, entgegnete ich patzig.
Seine Mundwinkel zuckten belustigt. „Honey, Du brauchst mir nur offen sagen, was dir gefällt!“
„Glaub nur nicht, dass ich mich deiner „therapeutischen Nummer“ ein weiteres Mal aussetzen werde. Da ist es ja erotischer einen Rosamunde Pilcher Film anzuschauen!“
„Lass uns doch nackt im Schlafzimmer deswegen weiter streiten!“
Er schaffte es immer wieder, mich in seiner Nähe lebendiger zu fühlen. Ich genoss die Reibung, die jedes Mal zwischen uns entstand, wenn wir alleine waren. Jede Berührung von Ben, egal ob absichtlich oder unabsichtlich, elektrisierte mich. Natürlich vermied ich es, ihm das zu zeigen, es würde sein albernes Machogehabe nur noch belohnen. Es war peinlich genug, dass ich jedes Mal an Sex dachte, wenn er mich mit seinen schwarzen Augen auszog. Ich kümmerte mich weiter um den Geschirrspüler und ignorierte seine Anspielungen.
Insgeheim fragte ich mich, woran das liegen konnte? Er war geistreich. Er war spontan. Er half mir tatsächlich dabei, mich selbst zu befreien, auch wenn ich ihm dieses Zugeständnis nie auf die Nase binden würde.
Sitara kam mit zwei vollen Einkaufstaschen zur Tür rein.
„Heute koche ich uns ein würziges Dum Aloo! Ich hoffe, ihr Beiden mögt Curry?“, verkündete sie gut gelaunt und verdonnerte Ben sofort zum Kartoffelschälen und mich zum Zwiebelhacken.
Als Sitara die eingekauften Lebensmittel verstaut hatte, verschwand sie zum Umziehen im Schlafzimmer. Mir flossen die Tränen über die Wangen von den frischen Zwiebeln, als Ben hinter mich trat. Fragend drehte ich mich um.
„Ich brauche eine Schüssel für die Kartoffeln“, gleichzeitig fasste er nach dem Griff der Küchenschranktür neben meinen Beinen. Als er in mein verheultes Gesicht aufsah, entschlüpfte ihm ein schadenfrohes Lachen. „Ich liebe es, wenn Frauen nach einem Streit weinend zu mir herabsehen!“, prustete er.
„Pass auf! Ich habe ein scharfes Messer in der Hand und die 10-20 Jahre Gefängnis wären mir den Spaß wert!“
Er hatte sich mit der Schüssel in der Hand wieder aufgerichtet und beugte sein Gesicht ganz nahe an meines. Ich konnte seinen warmen Atem auf meinen Lippen fühlen. Instinktiv schloss ich die Augen. Mein Herz klopfte so stark, dass ich es bis in den Hals spüren konnte.
„Ich weiß genau, was du willst, Lady“, flüsterte er mir ins Ohr, dann setzte er sich in aller Seelenruhe wieder an den Tisch und widmete sich dem Gemüse.
Ich hasste es, wenn er am Ende Recht behielt. Laut sagte ich: „Ich hasse es, wie du ständig versuchst, mich zu therapieren.“ Über die Schulter gewandt versicherte ich mich, dass er mich ansah. „Und ich hasse diese Frisur! Wie du mich anglotzt!“
„Du bist wunderschön! Der Haarschnitt täuscht nur darüber, dass du nicht halb so mutig bist, wie er es einem vorgaukelt!“
Es läutete an der Haustüre.
Seit dem Vorfall am Tag von Dr. Adlers Begräbnis, ließ mich dieses Geräusch immer zusammenzucken. Fragend sah ich Ben an, doch der widmete sich dem Zerkleinern der Kartoffeln und machte keine Anstalten aufzustehen. Sonjas Haustüre hatte keine Gegensprechanlage oder einen Spion, deshalb ging ich in mein Schlafzimmer und sah dort aus dem Fenster. Unser Wagen stand vor dem Haus. Schnell ging ich zurück in den Flur und schloss die Tür auf.

 

Cem war mit den Kindern auf der „Fridays for Future“ Demo gewesen und hatte wieder einmal alle drei dafür Schule schwänzen lassen. Er sah aus wie ein kanadischer Holzfäller. Sicher hatte er sich seit einer Woche nicht rasiert und dieses karierte Hemd hätte ich längst zur Altkleidersammlung geben sollen! Er trug es lässig offen über seinem „Planet Earth First“-Shirt. Die Cargo-Hose war ausgebeult und die Arbeitsschuhe, die er anhatte, waren dreckig. Meine zum Himmel verdrehten Augen ließen ihn verärgert die Stirn runzeln. Schnell gab ich ihm einen Kuss und stimmte ihn damit wieder milde.
„Die neue Frisur steht dir wirklich gut!“, er strich mir über den Rücken, „und du fühlst dich auch viel besser an!“
Ich hatte tatsächlich ein paar Kilos zugenommen und auch der ganze Sport hier tat mir gut. Ich fühlte mich wieder wohl in meinem Körper.
Die Kinder begrüßten mich mit Küssen und sagten ebenfalls, dass ihnen die kurzen Haare gefielen.
Sami hatte unter dem Anorak sein Lieblings-Star-Wars Pyjama-Oberteil an!
Jasmin trug eine alte Army-Jacke und ihr Haar war zu einer abenteuerlichen Dread-Lock-Frisur geflochten. Fehlten nur noch ein paar Piercings im Gesicht! Zu Hause herrschte seit meiner Abwesenheit anscheinend totale Anarchie. Sogar Dilara trug mitten unter der Woche ihre Wanderschuhe und hatte sich einen alten Norweger-Pullover von Cem übergezogen.
Noch vor wenigen Wochen wäre so ein Anblick undenkbar gewesen. Cem wusste, dass ich großen Wert auf den äußerlichen Eindruck legte. Wenn wir gemeinsam das Haus verließen, hatten sich die Leute anerkennend nach uns umgedreht. Ich hatte gedacht, das wäre selbstverständlich. Führ ihn und für die Kinder. Ein ungeschriebenes Gesetz. Ich hatte gedacht, das mit Cem und mir würde ewig dauern. Das perfekte Paar, bis das der Tod sie scheidet. In was für einer Welt hatte ich überhaupt gelebt?
„Sitara hat mir ein Whats App geschickt, dass wir zum Abendessen kommen sollen!“, unterbrach er meine stille Grübelei.
Ich dachte an das letzte gemeinsame Abendessen hier. Was führte Sonjas Mutter heute wieder im Schilde?
Ich sah mir meine Familie noch einmal an. Alle drei Kinder wirkten insgesamt gesund und glücklich, was immerhin bewies, welch guter Vater Cem war. Die letzten Wochen waren für uns alle nicht einfach gewesen.
Mit den Vieren im Schlepptau ging ich zurück in die Küche. Sitara hatte sich etwas Bequemes angezogen und werkte bereits am Herd. Ben stand auf, als er Cem wie einen Kumpel begrüßte. Die beiden zusammen zu sehen, hatte zur Folge, dass mir schlecht wurde.
„Mama! Gehts dir gut?“ Jasmin betrachtete mich mit dem besorgten Blick einer Erwachsenen. Sie war dreizehn! Ein Teenager in den schwierigsten Zeiten ihres bisherigen Lebens. Und ich war nicht da, um mich um sie zu kümmern! Es fühlte sich falsch an, dass sie sich um mich sorgte. Meine Hände umklammerten eine der Sessellehnen.
„Selma Kleines! Du solltest dich ein wenig ausruhen! Du bist kreidebleich.“ Sitara musterte mich besorgt. „Ich habe hier doch genug helfende Hände, meine ich?“ Sie blickte fragend in die Runde.
Jasmin zog ihre Jacke aus und schob die Ärmel ihres Sweatshirts hoch. „Was kann ich tun Sitara?“
Dilara zog ein gelangweiltes Gesicht, schickte sich aber auch an, sich nützlich zu machen. Die Männer verzogen sich in Bens Zimmer.
Sami zog mich mit sich: „Mama, soll ich dir erzählen, was sie in der Schule gesagt haben, wie ich ihnen erzählt habe, dass ich eine Bombe gehalten habe?“ Ich ging mit ihm in Sonjas Wohnzimmer hinüber und setzte mich mit ihm auf die bequeme Couch. Ich zog ihn auf meine Knie und lächelte ihn erwartungsvoll an. Es tat gut ihn wieder einmal so nahe bei mir zu haben. Mit den Fingern versuchte ich, seine Haare zu ordnen.
Er plapperte wie ein Wasserfall und berichtete mir, wie toll es war, der Star der Klasse zu sein und dass er nach der Schule zum FBI gehen wollte. Das fehlte gerade noch, dass aus ihm auch so ein gefühlloser überheblicher Säufer wurde! Schonend versuchte ich ihm beizubringen, dass es bei uns kein FBI gab.
Anjali und Sonja standen in der offenen Türe und grüßten zu uns herein, bevor sie sich zu den anderen in die Küche gesellten. Es würde heute eng werden am Tisch. Würziger Curry-Geruch zog bereits durch die gesamte Wohnung. Ich konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. Irgendwie würde ich den ganzen Trubel hier wohl auch vermissen, wenn meine Therapie nächste Woche zu Ende ging. Es hatte so gut getan, so viel Zeit für mich selbst gehabt zu haben. Die Zukunft erschien mir so beunruhigend wie eine mit Nadeln gespickte Vodoopuppe.

 

Während des Essens griff Sitara ihr derzeitiges Lieblingsthema auf.
„Ich versuche schon seit Tagen, Selma zu einer Modeschau hier in der Klinik zu überreden. Ich dachte, zum Abschluss wäre ein solches Highlight genau die richtige Ablenkung nach all dem Trubel der letzten zwei Wochen!“
Erwartungsvolle Blicke aus allen Richtungen durchbohrten mich. Ich hob abwehrend die Hände. „Die Entwürfe für eine neue Kollektion gibt es derzeit nur auf dem Papier!“
„Was ist mit den Stücken, die du letztes Jahr in deinem Blog präsentiert hast?“, erinnerte mich Cem.
„Genau Mama! Da waren tolle Teile dabei!“, stimmte Dilara begeistert zu.
„Ich kann doch keine Modeschau mit alten Entwürfen machen ...“, verhallte mein neuerlicher Einwurf unter der allgemein ausgebrochenen Euphorie.
„Das ist hier doch nicht die Fashion Week!“, stimmte Sonja dem Vorschlag ihrer Mutter zu. „Ich halte es für eine großartige Idee!“
„Du hast die Männerhose, die ich für dich geschneidert habe, bisher kein einziges Mal getragen!“, erinnerte ich Cem spitz.
„Gab ja auch noch keinen geeigneten Anlass dafür.“
„Du hast gesagt, der Stoff erinnert dich an einen Ausreibfetzen!“
„Was verstehe ich schon von Mode – deine Worte!“
„Ich habe extra einen soliden Stoff gewählt. Den könnte man zehn Jahre tragen“, erklärte ich den anderen. „Naturfaser eben!“
„Sieh es doch als Training für deine nächste Modeschau mit den ganzen neuen Entwürfen!“, mischte sich jetzt sogar Ben in die Diskussion ein.
„Hast du auch etwas in Bens Größe? Ich würde ihn so gerne einmal auf dem Laufsteg sehen!“, Anjali warf mir einen flehenden Blick zu. Mir war nicht entgangen, wie heftig sie Ben den ganzen Abend über angeflirtet hatte.
„Seid still! Ich sehe mich außerstande eure Phantasiegebilde Wirklichkeit werden zu lassen!“ Ungerührt widmete ich mich weiter dem Verzehr des Currys.
Die anderen überlegten bereits, wer aller als Models in Frage käme. Sitara fragte, ob ich etwas hätte, was ihr passen könnte. Anjali hatte jedenfalls die ideale Figur für den Laufsteg und auch Jasmin und Sonja würden sich eignen. Bis zum Nachtisch hatten sie mich so hartnäckig bearbeitet, dass ich stöhnend zustimmte.

 

Nachdem Cem und die Kinder heimgefahren waren, verabschiedete sich auch Anjali. Sitara begleitete sie, um sich eine besondere indische Massage von ihr geben zu lassen. Sonja gähnte und teilte mit, sie würde ausnahmsweise einmal früher schlafen gehen.
Ich ging in mein Appartement und zog mir meine grau schimmernde Satin-Freizeithose und die kurz geschnittene cremefarbene Seidenbluse an. Ich mochte das Gefühl, wie die edlen Stoffe meinen Körper warm, wie eine zweite Haut, umflossen. Ich hatte Feuer im Kamin gemacht und setzte mich, mit dem Handy in der Hand, in den altmodischen Fauteuil davor. Mir war eine Idee für die Modeschau gekommen und ich wollte im Internet recherchieren, wie ich sie am besten umsetzen konnte.
Neben dem leisen Knistern des Feuers hörte ich, wie Ben ins Badezimmer ging und die Dusche anstellte. Sofort hatte ich die Eindrücke unserer ersten Begegnung wieder im Kopf. Seine ständigen Provokationen weckten zwar in mir eine Lebendigkeit, die ich noch nie zuvor gespürt hatte, doch ansonsten begegnete er mir mit einer coolen Distanziertheit und manchmal fragte ich mich sogar, ob ich mir den Sex mit ihm nur eingebildet hatte. Ich verfluchte mich dafür, dass meine Gedanken ständig um ihn kreisten. Selbst Sitara wurde nicht schlau aus ihm. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit versuchte sie ihn über sein Privatleben auszufragen.
„Ich denke, er ist bindungsunfähig!“, hatte sie nach einem dieser Gespräche resigniert zu mir gemeint.
Und gefühllos! Hatte ich im Stillen ergänzt. Ich hatte ihr nicht erzählt, was ich von ihm über seine Mutter erfahren hatte. Irgendwie gefiel mir der Gedanke, dieses Wissen wie einen Schatz zu hüten, als etwas, das nur uns beide miteinander verband.
Laut hatte ich hingegen geantwortet: „Er liebt eben seine Freiheit! Ich dachte, so etwas befürwortest du?“
„Du hast Recht! Wir sollten uns alle viel mehr aus unseren alten Gewohnheiten befreien!“, hatte Sitara geantwortet.
Er befreit mich aus alten Gewohnheiten!
Der Gedanke erfasste mich und jagte einen wohligen Schauer durch meinen Körper. War es nicht das, was ich von mir selbst erwartete? Was ich meinem Spiegelbild vor der Therapie geschworen hatte?
Ich überlegte, was mein neues Ich von mir erwartete?
Wenn er mich bei jeder Gelegenheit provozieren konnte, würde mir das bei ihm auch gelingen!
Ich stand auf und ging in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Dann wartete ich und verließ sie genau in dem Moment, als Ben aus dem Badezimmer kam. Unser Blick traf sich kurz, doch ich tat gleichgültig, auch wenn es mir schwerfiel. Er trug wieder nur ein Badetuch und roch betörend. Ich konnte fühlen, wie er meinen Bewegungen folgte. Ich wusste, dass sich mein String-Tanga unter der leichten Hose abzeichnete. Vielleicht wiegte ich in diesem Augenblick meine Hüften etwas mehr, als ich es normalerweise tat. Die Laufstegerfahrung kam mir dabei zu Gute.
„Gehst Du auch zu Anjali auf eine Massage?“, fragte ich en passant, ohne mich umzudrehen.
Mit drei schnellen Schritten war er mir gefolgt. Jetzt fasste er mein freies Handgelenk und drehte mich abrupt zu sich um. Ich musste meine Überraschung nicht einmal spielen. Mein Herz klopfte zum Zerspringen.
„Du bist eifersüchtig? Auf Anjali?“
Seine Nähe löste die bekannten Nebenwirkungen aus. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Er drehte mich etwas zur Seite. Wir standen direkt vor dem neuen gigantischen Spiegel, den er besorgt hatte, um die Einschusslöcher in der Wand dahinter zu verbergen.
„Sieh hin! Du bist die Schönste im ganzen Land!“
Ich sah in den Spiegel, doch alles was ich sah, war sein halbnackter Körper, der hinter meinem stand. Ben musste das Begehren in meinem Blick bemerkt haben. Langsam schob er meine Bluse hoch, bis man das leichte Beben meines Bauches im Spiegel sehen konnte.
„Eifersucht bekommt deinem Magen nicht!“, tadelte er mich leise.
Dann schob er die Bluse höher und befreite bei dieser Gelegenheit meine Brüste von dem Spitzen-BH, den ich trug. Fasziniert beobachtete ich, wie er meinen Busen genüsslich knetete.
„Ich muss nicht immer das Ungeheuer sein“, flüsterte er in mein Ohr. „Lass mich beweisen, dass ich ein Held sein kann.“
Ein Held war er für mich, seit er Sami von der Bombe befreit hatte ohnehin.
Langsam drehte er mich zu sich um. Vorsichtig hob er mich, wegen des Wasserglases in meiner Hand, hoch, bis sich mein Gesicht auf derselben Höhe befand wie das seine. Wie von selbst schlangen sich meine Beine um seine Hüfte. Ich bemerkte, wie das Badetuch zu Boden fiel. Mein Arm, der das Glas hielt, stütze sich auf seiner Schulter ab. Mit der freien Hand versuchte ich, ihm mit dem Daumennagel das diabolische Grinsen aus dem Gesicht zu kratzen. Ein vergeblicher Versuch. Dieses Grübchen oberhalb seines rechten Mundwinkels vertiefte sich nur noch mehr bei dem Bemühen. Meine Lippen bewegten sich langsam auf diese verhasste Stelle zu, um sie zu küssen.
Ruhig drehte Ben sein Gesicht eine Spur und traf mit seinem Mund den meinen. Dann trug er mich langsam in mein Schlafzimmer. Das feuchte Badetuch blieb auf dem Boden des Flures zurück.

 

Leises Summen riss mich aus einer seltsamen Vereinigung von Traum und Wirklichkeit. Eine warme Hand lag auf meinem Po, was bedeutete, ich war nackt und lag nicht alleine im Bett! Ich zwang mich die Augen zu öffnen. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, was passiert war.
Schnell griff ich nach dem Wecker, bevor das Signal lauter wurde, und drückte die Stopp-Taste. Vorsichtig wälzte ich mich unter dieser besitzergreifenden Hand aus dem Bett. Mein Morgenmantel hing über dem Fußteil. Ich schlüpfte hinein. Das schöne an diesem Zimmer war, dass es ostseitig lag. Durch einen schmalen Spalt drang bereits Sonnenlicht herein. Ich entschied deshalb, die Vorhänge zu öffnen. Ich liebte es, wenn alles im Raum in der Morgensonne strahlte, wie Bens Lächeln, als er mich jetzt verschlafen angrinste. Er lag auf dem Bauch und sein unfassbares Tattoo stach mir ins Auge. Ich kniete mich auf das Bett und schüttelte mich. Dann beugte ich mich nach unten und küsste ihn zwischen den Schulterblättern.
„Sei froh, dass dir dieser Anblick am Morgen erspart bleibt!“, zog ich ihn auf.
Er drehte sich um und zog mich an sich. Bevor ich Einspruch erheben konnte, hatte er mir den Morgenrock ausgezogen – und schwang sich aus dem Bett.
Sprachlos sah ich ihm zu, wie er das für ihn viel zu kleine Kleidungsstück anzog und bekam einen Lachanfall.
„Warte!“, kicherte ich, „ich hole dir Sachen aus deinem Zimmer!“

Als ich im Flur an dem neuen Spiegel vorbeikam, wurde mir erst bewusst, dass es nicht viel weniger verdächtig aussah, falls mir jemand auf dem Weg in Bens Zimmer begegnen würde. Meine kurzen Haare standen in alle erdenklichen Richtungen ab und da ich mich gestern Abend nicht abgeschminkt hatte, trug ich einen Smokey-Eyes-Look zur Schau. Zu allem Überfluss registrierte ich, dass das Badetuch verschwunden war.
„Ich sehe fürchterlich aus!“, stöhnte ich, als ich ihm die Sachen, die ich ihm geholt hatte, überreichte. Er stand in meinem kleinen Badezimmer und schnupperte an einer geöffneten Cremedose. Jetzt stellte er sie zurück und legte die Kleidung am Waschbeckenrand ab.
„Ich habe noch nie ein so vollgestopftes Badezimmer gesehen“, war seine Erklärung.
„Meine Nachbarin arbeitet im Kosmetiksalon, von ihr bekomme ich ständig neue Produktproben, da kann ich nie nein sagen.“
„Deshalb duftest du also jeden Tag anders.“ Er zog mich an sich. „Was hältst du von einem Shower-Quickie?“
„Nichts! Nicht nur, dass ich spät dran bin. Ich finde einfach Sex in der Horizontale entspannender!“ Mit diesen Worten scheuchte ich ihn aus meinem Badezimmer. Leise drang sein Protest durch die Tür. Er hatte recht, hundertprozentig horizontal war nicht alles gewesen, was wir letzte Nacht getan hatten. Ich fragte mich, ob es wohl eine Wiederholung geben würde? Verdammt! Du bist eine verheiratete Frau! Während ich mit einem Abschminktuch mein Gesicht reinigte, suchte ich darin nach Spuren, die verrieten, was ich getan hatte.

 

„Ich müsste einige Besorgungen für die Modeschau machen und die Modelle von zu Hause abholen. Kann mir jemand helfen?“, verkündete ich beim Mittagessen.
„Entschuldige Kleines! Ich bin in einer Stunde mit einer alten Freundin verabredet“, entschuldigte sich Sitara. „Ben ist sicher ein ganz fantastischer Chauffeur, nicht wahr?“
„So wie ich in allem was ich tue fantastisch bin!“, brachte er wieder eine seiner schlüpfrigen Bemerkungen an und entlockte damit Sonja und Sitara ein kopfschüttelndes Schmunzeln. Ich sah ein, dass er die noch immer sehr bedrückte Stimmung auflockern wollte. „Wann willst du los?“, wandte er sich an mich. Ich vermied es, ihn beim Essen direkt anzusehen, weil ich Angst hatte, die anderen könnten an meiner Nasenspitze ablesen, was Ben und ich letzte Nacht getan hatten.
„Nach meiner Therapie! Ich bin um halb drei fertig“, murmelte ich deshalb, während ich mir Salat nachlegte.
„Ich bräuchte den Prius, wegen der Autobahn-Vignette!“ Sitara verzog in einer kleinlauten Geste das Gesicht.
„Ihr könnt die Rücksitze in meinem Wagen umlegen, wenn Euch der Platz ausgeht!“, versuchte Sonja das Dilemma zu regeln.
„Ja. So viel wird es gar nicht sein“, beruhigte ich die Beiden. „Danke. Jedenfalls.“
„Es tut mir wirklich leid!“, schuldbewusst legte Sitara ihre Hand auf meine. „Immerhin habe ich dich erst zu dieser Modeschau überredet! Ich verspreche dir, in den nächsten Tagen nehme ich mir nichts anderes vor, als dich zu unterstützen!“
Ich musste lächeln. „Schon gut! Das ist wirklich nicht schlimm! Bitte mache dir keine Vorwürfe deswegen!“ Jetzt warf ich doch einen verstohlenen Blick zu Ben hinüber und erntete umgehend ein verschwörerisches Zwinkern von ihm.
„Solange ihr keine Waffen mitnehmt, wird doch hoffentlich nichts Schlimmes passieren!“, grinste Sonja.

 

„Es gibt so viel, das ich in den nächsten Tagen noch organisieren muss!“ Ich rieb meine Stirn, während ich in mein Notizbuch starrte.
Ben hatte mir geholfen Nähmaschine und Schneiderbüste in Sonjas Wagen zu verstauen. Die Outfits lagen in einem Kleidersack auf dem Rücksitz.
„Haben wir alles?“ Ben saß neben mir und hob fragend die Stirn.
„Können wir noch in die Stadt fahren? Ich brauche noch Stoffe, Druckfolien und Papier für die Lookbooks.“ Schnell notierte ich noch „Tusche“ in das Heft.
Ben drehte den Zündschlüssel und ein Bereitschaftssignal ertönte.
„Stopp!“ Ich schlug mir gegen die Stirn. „Ich muss Martina ja noch fragen, ob sie uns das Make up macht!“ Ich stieg aus dem Wagen und warf Ben einen fragenden Blick zu.
„Soll ich mitkommen?“
„Klar! Meine Chancen stehen mit dir um einiges höher, dass sie zusagt.“
Ich läutete an der Haustüre meiner Nachbarin, die Visagistin war. Es war ihr freier Nachmittag. Als sie Ben neben mir sah, vielen ihr beinahe die Augen aus dem Kopf.
„Selma? Wow! Ich hätte dich fast nicht erkannt! Steht dir super, die neue Frisur!“ Sie küsste meine Wangen. „Du siehst überhaupt toll aus! Wie geht es dir?“
Wir wechselten ein paar belanglose Sätze und ich stellte ihr Ben vor.
„Ich habe am Donnerstag eine Modenschau und wollte dich fragen, ob du die Models schminken könntest? Du kannst eines der Outfits dafür haben“, machte ich ihr das Ganze schmackhaft.
Natürlich sagte sie zu und ich wusste, ich hatte das vor allem Ben zu verdanken.
Zufrieden summte ich bei einem Lied mit, das gerade im Autoradio lief. Ich musterte ihn von der Seite. Seine Haare waren bereits ein wenig nachgewachsen. Wie immer war er glatt rasiert. „Willst du mein Braut-Modell sein?“
„Was?“ Er warf mir einen kurzen ratlosen Seitenblick zu.
„Die meisten Designer beenden ihre Modenschauen mit einem Braut-Modell. Ich will aber, wenn ich tatsächlich den Durchbruch schaffen sollte, nie wieder Brautkleider nähen, also ...“
„Also ...?“
„Ich brauche etwas einzigartiges! So etwas wie dich!“
„Bevor ich mich geschmeichelt fühle – du willst mich doch hoffentlich nicht in so einen Borat-Badeanzug stecken?“
Kichernd sagte ich: „Auch nicht schlecht, diese Idee, aber eigentlich schwebt mir was anderes vor. Dafür müsstest du dir aber bis Donnerstag einen Bart wachsen lassen und deine Haare färben?“ Neugierig beobachtete ich seine Reaktion.
„Ich habe schon genug Verkleidungen mitgemacht, als das mich das schockieren könnte! Kommt da noch mehr?“ Er blinkte und parkte den Wagen ein. Sein markantes Grinsen jagte mir, wie so oft einen Schauer durch den Körper. Er tastete die Ablage an der Fahrertüre ab.
„Das hier ist eine Kurzparkzone! Kannst Du nachschauen, ob eine Parkscheibe im Handschuhfach ist?“ Er zog die Handbremse an und stieg aus dem Wagen.
Im nächsten Moment hielt ich eines von Cems Bilderbüchern in der Hand. Er hatte sie erst vor kurzem erhalten. Offensichtlich hatte er auch Sonja ein Exemplar geschenkt. Ich legte es auf meinen Knien ab und suchte weiter nach der Parkscheibe. Dann stellte ich die Uhrzeit ein und platzierte sie hinter der Windschutzscheibe. Warum ich das Buch nicht einfach an seinen Platz zurückgelegt habe, wusste ich später nicht mehr zu sagen. Irgendetwas zwang mich dazu, den Deckel des Buches aufzuklappen.
„Für meine geliebte Waldfee!“ Was war das für eine sonderbare Widmung? Etwas dröhnte laut in meinen Ohren. Ich konnte den Blick nicht von dem gemalten Herz abwenden, das unter der Widmung stand.
Bens geschulter Instinkt musste ihm sofort gesagt haben, dass etwas von besonderer Bedeutung geschehen war und ließ alle Alarmglocken in seinem Kopf läuten. Wie aus weiter Ferne hörte ich ihn mehrmals meinen Namen sagen. Ich fühlte mich außerstande darauf zu reagieren. Erst als er mich an der Schulter berührte und sich zu mir runterbeugte, drehte ich den Kopf und sah ihn an. Mein Gesicht fühlte sich wie erstarrt an.
„Honey? Was ist mit dir?“, fragte er besorgt.
Wortlos reichte ich ihm das Buch. Er überflog die Widmung und die Art, wie er darauf reagierte, brachte mein Blut zum Erstarren.
„Du hast es gewußt?“, flüsterte ich ungläubig.
Er war rund ums Auto gegangen und ließ sich wieder auf den Fahrersitz fallen.
In meinem Kopf würfelten sich einzelne Puzzlesteine zu einem Muster zusammen. All die Anzeichen, die ich ignoriert hatte! Cems vorzeitige Rückreise vom Urlaub. Die zahlreichen Verabredungen mit Fußballkollegen. Wahrscheinlich war sogar dieses Seminarwochenende ein Vorwand gewesen!
Als ich ihn gebeten hatte die Kinder mit auf die Wanderung zu nehmen, hatte er sich zuerst verzweifelt dagegen ausgesprochen, nur weil ich darauf beharrte, hatte er widerstrebend eingewilligt. Seine Reaktion, als Sonja mir die Diagnose überbrachte! Er hatte dieses Wasserglas an der Wand zerschellen lassen, noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich ihn so aufgewühlt erlebt!
Cem war der harmoniebedürftigste Mensch den ich kannte, dass ausgerechnet er eine Affäre hatte, wollte nicht in meinen Kopf!
Oh Gott! Wie sollen wir das den Kindern beibringen?
Ich wandte meinen Kopf und sah Ben vorwurfsvoll an. „Ist das alles nur ein Spiel für dich?“
Er hatte das Buch auf dem Lenkrad abgelegt und trommelte unruhig mit den Fingern dagegen.
Ich stieg aus dem Wagen, knallte die Beifahrertür zu und ging auf das Textilfachgeschäft zu, wo ich noch etwas besorgen wollte. Fang jetzt bloß nicht an zu heulen!
Ich war so wütend! Ich hätte am liebsten laut geschrien. Dabei wusste ich eigentlich gar nicht, auf wen ich wütender war. Auf Cem? Auf Sonja? Auf Ben? Auf mich selbst?

Impressum

Texte: T.S. Noir
Bildmaterialien: Pixabay
Lektorat: nicht lektoriert
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2020

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