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Sitara

 

 

Der Polizeibeamte, dem ich die geliehene Dienstwaffe seines Kollegen aushändigte, verzog missmutig die Stirn: „Wird Zeit, dass Sie sich einen Waffenschein zulegen!“

Adrenalin rauschte noch immer durch meine Adern und ließ meine Hand zittern, als ich ihm den Revolver übergab. Ich öffnete den Klettverschluss der kugelsicheren Weste und streifte sie ab. Das Anzughemd klebte mir schweißgetränkt unangenehm am Rücken. Rastlos lockerte ich den Krawattenknopf und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Jasmin stand im Türrahmen und sah mich mit großen Augen an. Verdammt! Hatte sie die letzte Bemerkung etwa gehört? Ich ging zu ihr und zog sie fest an meine Brust.

„Alles in Ordnung!“, versuchte ich, sie und mich selbst zu beruhigen.

Was für eine Lüge! Noch vor wenigen Minuten hatte ich mich zu Boden hechtend vor einer nie zuvor erlebten Explosionswelle in Sicherheit gebracht! Die Sekunden davor waren beängstigend gewesen. Wir wussten, es würde etwas Furchtbares geschehen. Mit angehaltenem Atem hatten wir aus sicherer Entfernung beobachtet, wie Benjamin, nur geschützt durch einen Vollvisierhelm und einen Splitterschutz, den man ihm dilettantisch mit Klebeband am Körper befestigt hatte, die Bombe losließ. Beinahe zeitgleich hatte er sich zu Boden geworfen und schon hatte die Luft gebrannt. Die immense Druckwelle hatte uns von den Füßen gerissen. Noch immer spürte ich, von dem ohrenbetäubenden Knall, der darauf folgte, ein schmerzhaftes dumpfes Pfeifen in den Ohren. Gras, Erde und Äste waren über uns hinweggefegt. Am Boden liegend hatte ich, überwältigt von dieser ungebremsten Zerstörungswut, bereits mit dem Schlimmsten gerechnet. Als wir uns aus unserer Deckung hervorgewagt hatten, konnte ich es fast nicht glauben, als Benjamin sich ebenfalls schwerfällig aufgerappelt hatte. Keine zwei Meter von ihm entfernt, war das Erdreich aufgewühlt gewesen, als wäre es umgeackert worden, hatten abgeknickte Äste traurig von den Obstbäumen gehangen. Es grenzte an ein Wunder, dass er nun scherzend, den Dreck von seiner Hose putzend, unverletzt neben mir stand.

Selma tauchte hinter Jasmin auf und lächelte mich erleichtert an. Als sie sah, dass es mir gut ging, wanderte ihr Blick weiter. Ich folgte ihm und sah, wie Benjamin ihr ein vertrautes Zwinkern schenkte. Sein rechter Mundwinkel war, wie meistens, leicht hochgezogen. Er sah gut aus, obwohl dieser Zug um den Mund mich an den Joker aus Batman erinnerte. Mir fiel wieder das Telefonat vom Friedhof ein. Es hatte mir einen Stich versetzt, als ich registriert hatte, dass Selma ihn angerufen hatte und nicht mich und er sie „Honey“ genannt hatte. Unter normalen Umständen würde ich mir einen Freund wie ihn wünschen. Ein cooler Hund, der wusste, wofür er kämpfte! Sein Video hatte die Verbrecher abermals auf den Plan gerufen und er hatte die Konsequenz gezogen. Er hätte sein Leben geopfert um meinen Jungen zu retten!

Ich spürte, wie Selma auf sein Zwinkern reagierte. Wie sie ihn ansah! Ich hatte kein Recht, sie dafür zu verurteilen. Vorher sollte ich besser selbst überlegen, wie ich gedachte, ihr die Wahrheit über Sonja und mich zu gestehen.

Wieder einmal brach das ganze Gefühlschaos über mich herein. Das Adrenalin putschte mein Denken auf. Wie in einer Vision zogen die letzten Tage rasend schnell an mir vorbei.

Sonja war nach ihrer Befreiung jeden Tag zu mir gekommen. Ich wusste jetzt, wie es sich anfühlt, wenn sich ein Ertrinkender verzweifelt an jemanden klammert. Unweigerlich bekommt man selbst Panik unterzugehen. Ich fühlte mich, als trieben wir seit Tagen in einem uferlosen tiefen Ozean und ein Sturm peitscht die Wellen immer höher auf. Noch konnte ich uns beide über Wasser halten. Ein kurzes Aufatmen war uns gestattet gewesen, als Sonjas Mutter eingetroffen war. Sie war der Rettungsring, der mir die nötige Zeit zum Verschnaufen verschafft hatte. Seit sie sich um Sonja kümmerte, hatte ich die Gelegenheit genutzt, mich umzusehen. Wir waren nicht die einzigen Schiffbrüchigen! Selma und die Kinder hielten sich noch selbst tapfer über Wasser, aber es war meine Pflicht, mich um sie zu kümmern! Ich war für die Sicherheit meiner Familie verantwortlich! Doch dann kam dieser verrückte Amerikaner und wühlte das Meer mit seinem „Adler-Patent“-U-Boot noch mehr auf! Die Wellen waren über Selma und die Kinder hereingebrochen und drohten, sie zu verschlingen. Sollte ich jetzt froh darüber sein, dass er Selma eines seiner Rettungsboote ins Wasser gelassen hatte? Dass sie, ohne zu überlegen, die rettende Leiter erklomm? Ich wollte nicht riskieren, dass unsere Familie auseinandergerissen wurde, aber ich musste mir auch eingestehen, dass ich nicht zwei ertrinkende Frauen gleichzeitig retten konnte! Diese beängstigenden Schreckensszenarien, die ich im Geiste erlebte, waren längst Realität geworden!

Es würde nicht mehr lange gut gehen! Dann würde ich das Unaussprechliche aussprechen müssen! Ich konnte schon Jasmins stumme Frage spüren, was mein sonderbares Verhalten in der Nacht vor Sonjas Befreiung zu bedeuten hatte? Warum ich sie so überstürzt zu meiner Schwester gebracht hatte und dann am nächsten Morgen total übernächtigt zur Schule gefahren hatte? Dieses Gefühl, keine Luft zu bekommen, brachte mein Herz zum Rasen. Ich spürte, wie mein rechtes Auge nervös zuckte. Sanft streichelte ich ihr über die Wange und betete darum, dass sie diese Fragen nicht aussprechen würde. Sie presste die Lippen aufeinander, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Ja. Alles in Ordnung Papa!“, murmelte sie leise und wandte sich um.

Ich hatte das Gefühl, als würde mir dieser ganze verdammte salzige Ozean, in dem wir trieben, in die Augen steigen. Krampfhaft schluckte ich die aufsteigenden Tränen hinunter. Ich fühlte mich verzweifelt! Ein Gefühl das ich erst in den letzten Wochen kennengelernt hatte. Und kein Land in Sicht.

„Wir haben sie!“

Der begeisterte Ausruf kam von dem Polizisten, dem ich zuvor die Pistole übergeben hatte. Ich drehte mich um. Er hielt triumphierend sein Handy in der Hand.

„Das Bundesheer hatte wegen einer Manöverübung einen Black Hawk in der Gegend, den haben wir dem Hubschrauber hinterhergeschickt“, ergänzte er erklärend. „Wir haben den Vorfall als terroristischen Angriff eingestuft! Wenn es um die innere Sicherheit geht, funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Heer, wie man sieht, bestens.“

Ben nickte anerkennend. „Ich würde gerne beim Verhör dabei sein, wenn das geht?“ Er fletschte die Zähne, als würde er die Verbrecher am liebsten eigenhändig zerfleischen.

„Das sollte sich einrichten lassen“, meinte der Polizeibeamte. Sicher war er neugierig, wie man beim FBI in so einem Fall arbeitete.

Ich selbst würde die Kerle wahrscheinlich umbringen, wenn ich die Gelegenheit dazu bekäme. Noch vor wenigen Tagen waren solche Gedanken undenkbar gewesen, doch inzwischen hatte sich gezeigt, dass ich dazu in der Lage war. Das Wohl der Menschen, die ich liebte, stand für mich an erster Stelle und jeder, der versuchte ihnen etwas anzutun, musste mit meiner beinharten Rache rechnen.

„Wie haben die euch in dem Schrank finden können?“, wandte Ben sich jetzt an Selma, die bei der Nachricht über die Ergreifung der Verbrecher erleichtert aufgeseufzt hatte.

Ihr Blick pendelte zwischen uns hin und her. „Die Männer haben im Flur geschrien, sie würden mich so oder so kriegen. Dann haben sie mit ihren Maschinenpistolen gefeuert! Als sie die Tür zum Schlafzimmer aufgerissen haben, musste ich etwas tun! Ich hatte Angst, sie würden auf alles im Raum schießen und uns dabei treffen.“ Sie hatte beim zweiten Durchleben der Situation zitternd ihr Gesicht mit den Händen bedeckt.

Ich sah wie Benjamin schnell einen Schritt zu ihr hin tat und ihre Finger umgriff. „Du hast alles richtig gemacht!“, beruhigte er sie.

Die Kinder! Sicher waren sie genauso traumatisiert wie Selma. Schon immer war es meine Aufgabe gewesen, sie zu beruhigen. Ich eilte ins nebenan gelegene Wohnzimmer. Jasmin hatte Sami am Arm, obwohl er eigentlich schon viel zu schwer für sie war. Ich nahm ihn ihr ab und ließ mich mit ihm auf die Couch sinken. Die Mädchen kuschelten sich sofort rechts und links an mich. „Alles gut!“, flüsterte ich und sog gierig Luft in meine Lungen. Langsam blies ich die Luft durch die Nase und fühlte, wie ich endlich ruhiger wurde. Für diesen Moment war die Couch unsere Insel und wir waren in Sicherheit, auch wenn ständig bewaffnete Polizisten des Sondereinsatzteams an uns vorbeiliefen. Das Bombenkommando durchforstete und sicherte mit ihren Hunden die ganze Wohnung.

Mein Handy vibrierte in meiner Hosentasche. Es war Sonja.

„Cem? Was ist passiert? Ist etwas mit Selma?“, drang Sonjas aufgeregte Stimme an mein Ohr.

„Wir sind bei dir zu Hause! Es gab einen Vorfall“, versuchte ich, die Lage möglichst so darzustellen, dass sie nicht in Panik verfallen würde. „Selma und den Kindern geht es gut!“, setzte ich deshalb sofort nach und hielt Sami mit einer Hand den Mund zu. Er hatte eben dazu angesetzt ihr die Ereignisse ins Telefon zu rufen. „Wir erzählen dir später alles genau! Sami will sicher dein Gesicht sehen, wenn er es dir erzählt!“ Ich warf ihm einen drohenden Blick zu.

„Ich hatte mir solche Sorgen gemacht! Auf dem Weg zur Zehrung habe ich immer wieder probiert dich oder Ben zu erreichen!“

„Es war etwas hektisch hier. Die Polizei ist da!“ Besser ich verschwieg ihr die beiden toten Beamten vor ihrem Haus. „Sie haben jetzt alles unter Kontrolle und die Verbrecher wurden verhaftet.“

„Oh mein Gott! Ich komme sofort! Hier wimmelt es auch nur so vor Polizei. Sicher kann mich jemand von denen fahren.“ Sonjas Stimme überschlug sich fast.

„Warte! Du kannst hier im Moment nichts tun! Du solltest die Trauerfeier nicht so überstürzt verlassen!“, versuchte ich sie abzuhalten. „Die ganzen Reporter würden sich an deine Fersen heften!“

Sonja schwieg unschlüssig am anderen Ende der Leitung.

Selma war, während ich telefonierte, ins Zimmer gekommen und hatte sich zu uns auf die Couch gesetzt. Jetzt hielt sie mir auffordernd die Hand hin. Ich gab ihr mein Handy.

„Sonja! Es geht mir besser! Ich werde mich hier um alles kümmern!“, sagte sie bestimmend. Ich bewunderte ihren gelassenen Tonfall. „Wir bestellen jetzt Pizza für alle ... und einen Salat für mich. Und später, werden wir dir alles erzählen! Sami kann es schon gar nicht erwarten.“

Sonja sagte etwas, das ich nicht verstehen konnte.

„Nein, du brauchst wirklich nicht zu kommen!“, sprach Selma noch einmal nachdrücklich ins Telefon. „Bis später!“ Sie beendete das Gespräch und gab mir das Handy mit einem triumphierenden Zucken ihrer Augenbraue zurück.

„Du bestellst die Pizzas!“, befahl sie mir.

Erleichtert seufzte ich aus und umklammerte mein Handy. Selma war aufgestanden und warf mir einen auffordernden Blick zu, bevor sie den Raum verließ. Ich wählte den Pizza-Service und gab unsere Kundennummer durch. Auf Türkisch bestellte ich sechs Riesenpizzas und einen Salat Nicoise für Selma und konnte förmlich den Freudensprung von Ayhan am anderen Ende der Leitung sehen, wegen dieses Großauftrages. Die Menge sollte ausreichen, um die anwesenden Polizeibeamten ebenfalls satt zu bekommen. Ich erwähnte noch, dass sie die Bestellung hierher bringen sollten und nicht an die übliche Adresse.

Als ich fertig war, hüpfte Sami von meinem Schoß und schnappte nach meiner Hand. „Können wir nach draußen gehen?“ Ich ahnte was er vorhatte. Sicher wollte er den Schaden begutachten, den die Bombe im Garten hinterlassen hatte. Ich ließ mich von ihm mitziehen. Mal sehen wie weit uns die Polizei vorlassen würde. Die Mädchen folgten uns neugierig. Ich war froh, dass der verschreckte Ausdruck aus ihren Gesichtern verschwunden war.

 

Als Sonja und ihre Mutter am Nachmittag zurückkamen, hatte ich Selma längst geholfen die Scherben und ärgsten Verwüstungen zu beseitigen, die die Männer mit ihren Schüssen verursacht hatten. Die Polizei war weg und hatte nur einen Wagen vor dem Haus und einen weiteren an der Zufahrt zur Vorsicht hinterlassen.

Sonja war blass, wirkte aber gefasst. Ihre Augen waren leicht gerötet und geschwollen von den vergossenen Tränen des Tages, doch sie ließ sich ihre Trauer nicht anmerken, als die Kinder ihr aufgeregt erzählten, was wirklich passiert war. Bestürzt und vorwurfsvoll sah sie mich an. Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern und presste die Lippen zusammen. Mit vor dem Mund zusammengeschlagenen Händen begutachteten die beiden Frauen die Spuren des Anschlages. Sonja sah anklagend zu Ben, der schuldbewusst den Blick senkte. Uns allen war bewusst, dass sein Rachefeldzug die Situation nicht gerade entschärft hatte. Sicher würden wir noch ewig darüber diskutieren, ob die Veröffentlichung des Videos, zu diesem Zeitpunkt, die richtige Entscheidung gewesen war.

Da das Personal an diesem Tag frei bekommen hatte, waren von der Küche des Klinikums kalte Platten, in ausreichender Menge, für das Abendessen zubereitet worden.

Nachdem ich vergeblich versucht hatte, Selma dazu zu bewegen mit uns nach Hause zu fahren, hatte Sonjas Mutter bestimmt, dass ich mit den Kindern zum Abendessen bleiben sollte. Ich hatte mich am Morgen schon eine Weile mit ihr unterhalten und fand sie bezaubernd. Ihr Haar war kürzer und heller als Sonjas. Ihre von Lachfalten umgebenen Augen strahlten in demselben Blau. Sie nannte sich Sitara. Ein indischer Name, den sie sich selbst gegeben hatte. Ich sollte sie duzen. Sonja wirkte wenig begeistert. Eigentlich hatte sie versucht zu vermeiden, dass wir uns näher kennenlernten. Sie behauptete, ihre Mutter könnte Flöhe husten hören und würde an meiner Nasenspitze ablesen können, dass wir eine Beziehung hätten. Dementsprechend nervös verfolgte Sonja unsere Unterhaltung.

Nachdem Sitara mich am Morgen nach meinem Beruf gefragt hatte und wir beinahe ohne Umschweife auf den Klimawandel zu sprechen kamen, knüpfte sie jetzt direkt an dieses Thema an.

„Papa fährt einmal im Monat mit uns in die Stadt zu den „Fridays for Future“ Demos!“, hatte sich Dilara plötzlich in unser Gespräch eingemischt. Schon zog sie ihr Handy hervor und spielte Sitara ein Video vor, in dem ich auf einer Bühne vor den Demonstranten auf die Gefahr des Hot House Earth-Effekts hinwies.

„Lara! Keine Handys beim Essen!“, tadelte Selma.

Zerknirscht steckte die Kleine das Telefon weg.

„Oh! Das will ich aber auf jeden Fall später noch sehen!“, tröstete sie Sonjas Mutter.

Jasmin wirkte aufgeregt. „Das hätte ich fast vergessen! Meine Biologie-Lehrerin hat mich gebeten, dich zu fragen, ob du bei uns in der Schule wieder einmal einen Vortrag halten könntest?“

Bisher hatte ich das jedes Jahr gemacht. Der Vorschlag kam also wenig überraschend für mich. Ich nickte daher nur zerstreut und wandte mich, bemüht an unser, vor Dilaras Unterbrechung, geführtes Gespräch anzuknüpfen, Sitara zu: „Österreich ist beim Klimaschutz leider unter den Schlusslichtern der EU! Es besteht also kein Grund, sich hierzulande über die Amerikaner und ihren Präsidenten lustig zu machen! So viel besser sind wir dann auch nicht!“ Es machte in meinen Augen keinen Sinn, mit dem Finger auf Länder zu zeigen, in denen es politisch noch schlechter lief als bei uns. „Ich finde es unerlässlich, dass die Jugend um ihre Zukunft kämpft und es ist schön, zu sehen, dass sie es rund um den Erdball tut! So viele wichtige Errungenschaften mussten unter Lebensgefahr erkämpft werden. Das Wahlrecht! Menschenrechte! Heutzutage müssen wir nicht einmal unser Leben riskieren um uns für etwas zu engagieren!“, redete ich mich in Fahrt.

„Jetzt weißt du, warum ich nur nachhaltige Textilien für meine Kollektion verwenden darf!“, schaltete sich Selma lakonisch in unser Gespräch ein.

„Es braucht anscheinend immer erst eine Krise, um die Menschen zum Umdenken zu bewegen. In Indien stecken wir schon in einer Klimakrise! Wir haben Hitzewellen, die tausende Menschen töten. Wir hatten extremen Niederschlag, der in den letzten zwei Jahren viel zerstört hat. Der Regen kommt in Schüben, ein paar Tagen regnet es extrem, dann wieder lange nicht und die Luftverschmutzung ist bei uns ein richtig großes Problem! Allerdings tut sich seit einigen Jahren wirklich viel bei den erneuerbaren Energien.“

„Es ist falsch von einer Klimakrise zu sprechen. Wir sind auf dem Weg zu einer globalen Klimakatastrophe!“, unterbrach ich sie. „Schon bei uns in Österreich sterben mehr Menschen an der Hitze, als im Straßenverkehr! Wir haben 16 der 17 heißesten Sommer seit Aufzeichnungen im 21. Jahrhundert gehabt! Wir haben Borkenkäfer in den Wäldern. Artensterben. Ernteausfälle. Einen Rückgang der Schneedecke. In den letzten fünf Jahren sind die Zahlen explodiert!“

„Wenn ich Euch so reden höre, bin ich beinahe froh, mich nur auf die zwielichtigen Machenschaften der Pharmaindustrie spezialisiert zu haben“, äußerte sich Benjamin grinsend. „Ihr Klimaforscher arbeitet wenigstens weltweit zusammen. In der Medizin kämpft jeder gegen jeden!“

„Egal in welchem Bereich. Für Pessimismus ist es zu spät! Es ist richtig, jetzt zu kämpfen!“ Indirekt nahm Sonja mit dieser Bemerkung Benjamins Aktion in Schutz. Sie ließ einen Löffel Honig über die geschnittene Banane laufen, die sie sich als Nachspeise zubereitet hatte. Danach leckte sie den Löffel sauber. Ich ertappte mich dabei, wie mein Blick an ihren Lippen hängen geblieben war. Schnell schaute ich in die Runde, ob es jemanden aufgefallen war. Sitara taxierte mich aus verengten Augen interessiert. Verlegen lächelte ich sie an und widmete meine Aufmerksamkeit dem eigenen Teller.

„Du bist ein Krieger Benjamin“, nahm sie jetzt zum Glück jemanden anders ins Visier.

„Du willst, dass dir die Welt zuhört. Bisher hast du isoliert gekämpft, doch nun hast du deine Flügel ausgebreitet, und hast mit Gewalt freigelassen, was schon so lange dein Leben beherrscht. Ja. Du bist ein Krieger gegen die schäbigen Geldverdiener und hast es geschafft, die Herzen von so vielen Menschen zu entzünden. Du hast vielleicht nicht den bestmöglichen Zug gemacht, aber einen, der dem Gegner am unangenehmsten ist. Das Netz steht hinter dir und dem Geist von Julius! Nichts wird mehr verhindern können, dass ein Umdenken stattfindet.“ Sie hatte es voller Inbrunst gesagt und uns allen wurde plötzlich klar, sie hatte recht.

„Nicht alle von uns haben ihre Lebensperspektiven so klar definiert, nicht wahr Selma?“, nahm sie sich jetzt meine Ehefrau vor. Selma sah Sitara erschrocken an. Was wusste diese Frau von meiner Frau, das ich nicht wusste?

„Ich weiß nicht, was du meinst Sitara?“, antwortete Selma verlegen.

Die Aufmerksamkeit von allen am Tisch war jetzt auf sie gerichtet. Sogar die Kinder hatten aufgehört mit dem Essen auf ihren Tellern herumzuspielen.

„Jeder von uns Erwachsenen hier am Tisch brennt für etwas. Ben brennt für seinen Kampf gegen das Pharma-Kartell, Cem für den Klimaschutz, Sonja für die Klinik, ich für mein Hotel in Indien. Wofür brennst Du?“

Selma wischte sich verlegen mit ihrer Serviette den Mund ab. Dann sah sie uns der Reihe nach gequält an. Sie holte Luft: „Also vor allem brenne ich für meine Kinder! Das werde ich immer.“ Sie lächelte die drei gerührt an. Dann sprach sie weiter: „Im Moment brenne ich dafür gesund zu werden und wenn mir das gelingt, dann werde ich für meinen Traum brennen, Mode zu machen. Meine eigene Mode!“

„Sehr gut! Ich wollte, dass du das laut aussprichst! Vor uns allen. Man kann nicht oft genug betonen, wofür man brennt! Stimmts?“ Sitara sah in die Runde.

Wir alle nickten und brummten zustimmend.

„Sonja? Würde sich eure Wohnung in Wien nicht ideal für ein Modeatelier eignen?“, verfolgte Sonjas Mutter das Thema weiter.

Sonja sah überrascht zwischen Sitara und Selma hin und her. „Du hast recht! Es war Julius Wohnung! Die seiner Eltern“, fügte sie erklärend hinzu. „Wir haben sie selten benutzt, nur wenn wir Messen oder Seminare dort besucht haben. Es gehört einiges gemacht, aber ja, die Lage wäre ideal. Wenn du willst Selma, kannst du die Wohnung einmal ansehen, ob das etwas wäre. Ich könnte sie dir günstig vermieten.“

Erstaunt verfolgte ich das Geschehen. Selma biss sich aufgeregt auf die Unterlippe. Das Angebot kam für uns alle überraschend. Warum kam Sonjas Mutter auf die Idee, so was vorzuschlagen?

Ich räusperte mich, weil ich mich gedrängt fühlte, etwas zu diesem Thema zu sagen. „Wenn es dich glücklich macht, habe ich natürlich nichts einzuwenden. Wien ist schließlich in nur zwei Stunden mit der Bahn erreichbar. Du könntest jedes Wochenende heimkommen! Ich bin froh, dass eure Wohnung nicht in Paris liegt!“, wandte ich mich scherzend an Sonja. Die Kinder saßen mit großen Augen da und taten mir leid. Der Tag war aufregend genug gewesen und jetzt wurden sie zusätzlich mit dieser, doch einschneidenden, möglichen Veränderung in ihrem Leben konfrontiert. „Das sind nur hypothetische Ideen, wir werden das ein anderes Mal weiter besprechen!“, beruhigte ich sie.

„Also ich finde es toll!“, brach es aus Dilara heraus. „Stellt euch das vor! Wir könnten Mum am Wochenende in Wien besuchen. Das wäre mega!“

Selma war aufgestanden und hatte begonnen den Tisch abzuräumen. „Ja, ja. Wie Papa gesagt hat, wir sprechen ein anderes Mal darüber.“ Ich bemerkte einen träumerischen Ausdruck in ihrem Gesicht, den ich bisher nicht gekannt hatte.

Sonja und ihre Mutter halfen ihr mit dem Geschirr. Die Kinder verzogen sich ins Wohnzimmer. Ben fragte mich, ob ich einen Schluck Whisky mit ihm trinken würde und ich stellte fest, dass mir sein Vorschlag gefiel. Wenn nicht nach einem Tag wie diesem, wann wäre dann der richtige Zeitpunkt einen edlen Tropfen zu genießen?

Plötzlich schrien die Kinder aus dem Wohnzimmer nach uns. Der Fernseher lief. Wir hatten es wieder einmal in die Nachrichten geschafft! Die Frauen kamen aus der Küche und Jasmin ließ mit der Fernbedienung die letzten Sekunden zurücklaufen.

Der Nachrichtensprecher bezog sich auf die inzwischen bekannten Geschehnisse um Bens Video. Man sah kurz Aufnahmen von der Beerdigung, hörte die Ansprache des Präsidenten der Krebshilfe. Dann folgte ein unscharfes Video. Offensichtlich hatte jemand von den Patienten die Flucht der Verbrecher mit dem Hubschrauber gefilmt. Man hörte deutlich Schuss Salven im Hintergrund. Auch die folgende Explosion wurde gezeigt. Kurz war auch ich undeutlich im Bild, als ich das Gummiseil mit Klebeband an der Bombe befestigte. Ein Sprecher hatte die Bilder kommentiert. Jasmin lies die Aufnahme noch einmal zurücklaufen. Die Explosion der Bombe war erschütternd anzusehen. Ich nahm die Fernbedienung an mich und schaltete auf einen anderen Sender um. Dann leerte ich das Whiskyglas in meiner Hand auf einen Zug und hielt es Ben zum Auffüllen hin.

 

Impressum

Texte: T.S. Noir
Bildmaterialien: Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 16.09.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Coverbild: von EliasSch (Pixabay)

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