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Das Adler Patent

 

Was stimmt nicht mit der Gesellschaft?
Der Alltag so vieler Menschen ist derart abgestumpft, dass ein lustiges Katzenvideo einen emotionalen Höhepunkt bedeutet. An jeder Ecke wird retuschiert, gelogen und betrogen, bis am Ende niemand mehr zwischen Fiktion und Wahrheit zu unterscheiden vermag. Egal, ob im Krieg, oder bei meinen zahlreichen Einsätzen gegen diverse Verbrechersyndikate, war es meist diese Frage, die mein Leben beherrschte. Wenn ich eine Antwort darauf finden könnte, würde sie mir vielleicht helfen, herauszufinden, was mit mir nicht stimmte. Die Unfähigkeit, genau das zu tun, hatte mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute war.
Im Grunde genommen hatte ich die Gebote und Verbote, Normen und Ideale, die uns die Gesellschaft auferlegt, satt. Ich würde gerne anders leben, doch es reißt mich immer wieder hinein, in diesen Sumpf, aus dem es kein Entrinnen gibt. Je nachdem, in welchem Umfeld ich mich bei meinen Undercover-Missionen bewegte, hatten Moral und Konvention gänzlich andere Bedeutungen. Ich benahm mich dann genauso surreal wie mein Umfeld und es wurde jedes Mal schwerer, wieder normal zu denken.

Ich betrachtete das gut gefüllte Glas Scotch in meiner Hand. Mein Vater hatte einen exzellenten Geschmack bei Alkohol gehabt. Der intensive Duft nach Rauch und regenfeuchtem Torf umspielte den 16 Jahre alten Lagavulin Single Malt.
Ich nahm einen Schluck. Das scharfe Brennen auf Zunge und Mundschleimhaut löste ein angenehmes Gefühl von Betäubung aus. Zwei Minuten dauerte es in der Regel, bis der Alkohol begann mein Gehirn zu benebeln. Schneller als jedes andere Medikament. Das ausgeschüttete Dopamin würde mir dabei helfen, jeglicher Moral und Konvention zu entfliehen.
Warum hatte ich das getan?
Natürlich! Ich war selbstsüchtig und gewissenlos! Meine Liebeserlebnisse führten entweder zu größten leidenschaftlichen Höhen, oder ins Verderbnis. Das war schon immer so gewesen. Doch diese Frau passte nicht in mein übliches Beuteschema. Selma war krank und schwach, obwohl diese Einschätzung so gar nicht zu ihrem Verhalten von soeben passte. Stolz und eine eigenartige Variante von Triumph hatten ihren Abgang begleitet. Dafür zollte ich ihr meinen Respekt.
Ich befand mich in einem Ausnahmezustand und das bereits seit Wochen. Genauer gesagt, seit ich erkannt hatte, wer das Ziel meines kriminellen Auftraggebers war und auch jetzt noch, stand ich unter Hochspannung. Wie verrückt war es, auf den eigenen Vater angesetzt zu werden?
Rimmer ahnte natürlich nichts von dieser dramatischen Konstellation, doch Meyer, mein Vorgesetzter beim FBI, hatte es herausgefunden. Er wollte mich von dem Fall abziehen, doch ich hatte mich geweigert. Wenn jemand meinen Vater retten konnte, dann war das ich und sonst niemand. Doch ich hatte versagt! Ich leerte das Whisky-Glas mit einem Zug. Nichts würde mir dabei helfen, diesen Schmerz zu betäuben. Nicht der Alkohol und auch nicht diese zierliche hübsche Frau.
Ich war lange genug in dem Geschäft, um zu wissen, dass es mit Rimmers Tod nicht vorbei war. Wir hatten der Medusa ein Haupt abgeschlagen, hatten ihr eine Wunde zugefügt, doch niemand wusste besser als ich, wie trügerisch dieser Sieg war.
Ich musste an die Geschichte von Perseus und Andromeda denken, die ich Selma heute erzählt hatte. In der Vorgeschichte hatte eben dieser Perseus der Medusa das Haupt abgeschlagen und aus der Wunde war das geflügelte Pferd Pegasus entsprungen. Sonja hatte mich heute Nachmittag aufgeklärt, wer Selma war und warum die Ehefrau ihres Geliebten in ihrer Wohnung wohnte. Es war wohl ziemlich kompliziert.
Cem stand in dieser Geschichte die Rolle des Phineus, des Verlobten von Andromeda, zu. Nur hatte ich bei ihm nicht den Eindruck, dass er so vehement um seine Braut kämpfen würde, wie das seine Rolle vorsah. Er hatte sein Leben riskiert um Sonja zu retten. Es gab also für mich derzeit keinen Grund ihn mit Hilfe des Medusenkopfes in meinem fiktiven Beutel zur Salzsäule erstarren zu lassen, außer dem, dass er meinem Vater Hörner aufgesetzt hatte. Doch Sonja war nur ein paar Jahre älter als ich. Man konnte ihr nicht verdenken, dass sie sich einen jüngeren Liebhaber gesucht hatte. Dass sie meinen Vater aufrichtig geliebt hatte, stand für mich außer Zweifel. Sie hatte wohl einen ausgeprägten Vaterkomplex.
Was kümmerte es mich, ich war ohnehin eher das Ungeheuer als der Held. Außerdem wusste ich aus leidvoller Erfahrung, wie schnell die abgeschlagenen Häupter der Medusa nachzuwachsen pflegten.
Gorgonen und Verbrechersyndikate waren rachsüchtige Gegner, vor denen man sich in acht nehmen musste. Sicher war bereits ein Gegenschlag geplant. Ich wusste nur noch nicht, auf wen sie es abgesehen hatten. Ich zählte mich selbst zu ihren Hauptangriffszielen, doch auch Sonja und die Klinik schwebten nach wie vor in Gefahr. Ich würde alles aufs Spiel setzen, das Erbe meines Vaters zu verteidigen. Alles oder nichts, wie immer – sollte doch der Teufel den Verlierer holen!

 

„Meine Mutter kommt heute Nachmittag am Flughafen an. Anjali, meine Halbschwester, wird sie abholen.“ Sonja stand verloren im Raum. Sie hatte die Türe geschlossen, also hatte sie noch mehr zu sagen. Ich wartete ab.
„Ich habe Angst!“ Sie ging zur Terrassentüre und schob den Vorhang etwas zur Seite, um besser nach Draußen sehen zu können.
„Vor deiner Mutter?“ Ich wusste nicht, worauf sie hinaus wollte.
„Sie hat Julius vergöttert! Sie darf auf keinen Fall von Cem und mir erfahren! Aber das meine ich gar nicht!“ Sie schüttelte leicht den Kopf. Ihr Haar war zu einem lockeren Knoten hochgesteckt, was ihrem schlanken Nacken einen verletzlichen Ausdruck verlieh. „Du weißt, ich war die letzten beiden Tage bei Cem. Ich hatte das Gefühl, dass mir jemand gefolgt ist.“ Ihre Augen spiegelten ihre Angst wieder. Ein müder Schatten lag darunter.
Ich räusperte mich. „Ich habe Personenschutz für dich beantragt! Es war also sicher nur jemand von der Polizei.“
„Du hast was?“ Sie starrte mich ungläubig an. „Warum hast Du mir das nicht gesagt?“
„Ich wollte dich nicht unnötig beunruhigen. Wo wird deine Mutter schlafen?“ Ich dachte an Selma, die ja in deren Räumen wohnte. Sie war mir seit unserem nächtlichen amourösen Abenteuer aus dem Weg gegangen.
„Meine Mutter wird wahrscheinlich bei mir im Schlafzimmer schlafen. Ich halte es ohnehin derzeit kaum aus, alleine zu sein. Vielleicht kann ich wieder einmal eine Nacht durchschlafen.“
Die Beisetzung würde in zwei Tagen stattfinden. Ich musste Sonja wohl schön langsam davon in Kenntnis setzen, dass ich vorhatte länger zu bleiben.
„Ich kann mich irren. Doch dieses Kartell wird vielleicht noch einmal versuchen dir zu schaden. Ich würde gerne hierbleiben, um sicher zu gehen“, informierte ich sie.
Sonja wirkte erleichtert. „Wird dir die Couch hier denn reichen?“ Sie nickte skeptisch zu meinem provisorischen Bett.
„Keine Sorge! Ich bin bei weitem unbequemere Schlafplätze gewöhnt. Ich fühle mich sehr wohl hier! Irgendwie spüre ich ihn in jedem einzelnen Gegenstand hier im Raum.“
„Ja. Mir geht es genauso.“ Sie sah mich forschend an. „Ben, du gibst dir doch nicht selbst die Schuld an dem, was passiert ist?“
Ich dachte kurz darüber nach, was sie mich gefragt hatte. Schließlich antwortete ich: „Dad hat uns als Kindern immer griechische Sagen erzählt. Wenn meine Mutter und er sich gestritten hatten, weil sie sich Sorgen um sein Leben gemacht hatte, zitierte er immer diesen Satz aus der Ilias: Gegen mein Schicksal wird keiner hinab zum Hades mich senden!“ Ich musste lächeln, weil ich seine Stimme imitiert hatte. „Manchmal hat das Schicksal einfach einen anderen Plan, als den, den wir für den Richtigen halten!“
Sonja war hinter mich getreten und hatte ihre Hände auf meine Schultern gelegt.
„Du bist ihm sehr ähnlich!“
Ich presste die Lippen aufeinander.

 

Nachdem Sonja mich wieder alleine gelassen hatte, rief ich die IP-Adresse der Überwachungskamera im Arbeitszimmer auf. Mein Vater hatte zwar zwei der Spionsonden gefunden und vernichtet, doch diese eine, zeichnete nach wie vor alles auf, was in diesem Raum geschah. Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich dabei, meinem Vater beim Arbeiten zuzusehen. Dann spulte ich nach vor, bis zu der Szene, als Selma zu mir gekommen war. Die Kamera zeichnete nur auf, was hinter dem Schreibtisch passierte. Ich hatte den Ort der Handlung bewusst ausgewählt. Das hätte mein Vater bestimmt nicht gut geheißen. Ich verdiente dieses Ungeheuer auf meinem Rücken! Erregt durchlebte ich die Szene einige weitere Male. Dann kopierte ich sie in eine eigene Datei und sandte sie an Selmas Handy. Ich war gespannt, ob es sie genauso anmachte, wie mich. Ein wenig Ablenkung würde mir gut tun.
Ihre Reaktion folgte eine halbe Stunde darauf. Sie bestand aus einem Wort: ARSCHLOCH!!! Allerdings mit drei Ausrufungszeichen. Die kühle Lady hatte also doch etwas empfunden. Ich musste grinsen.
Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, zum Geist von Julius Adler zu werden.
Zuerst suchte ich aus den Überwachungskameras jene Szenen heraus, wo man eindeutig die, Sonjas Entführung vorangegangenen, Erpressungsversuche hörte. Darunter war auch jene Szene, in der Selma eines dieser Telefonate belauscht hatte. Ich verpixelte ihr Gesicht und schnitt den Teil heraus, wo mein Vater ihren Namen erwähnte. In meiner Anfangszeit beim Geheimdienst hatte ich genug Erfahrung mit solchen Arbeiten gesammelt.
Über das FBI hatte ich auch Zugang zu den überwachten Telefongesprächen und konnte deshalb die auf den Bändern fehlende Stimme Rimmers hinzu schneiden. Das war zwar verboten und würde mich wahrscheinlich meinen Job beim FBI kosten, doch das war mir einerlei.
Auch das Video, nachdem wir Sonja gekidnappt hatten, das Rimmer meinem Vater aufs Handy geschickt hatte, fügte ich hinzu. Insgesamt hatte ich so fünf pointierte Videos gebastelt, die ich nun zu einer Art Dokumentation zusammenfügte.
Den Abschluss bildete eine Zusammenfassung der Todesnachrichten. In allen wurde nur vom unerwarteten Ableben von Julius Adler berichtet, ohne auf die näheren Umstände einzugehen.
Ich gab dem Video den Namen „Das Adler-Patent“ und veröffentlichte es mit einer kurzen Erklärung auf dem Youtube-Kanal meines Vaters, wohl wissend, dass es sich dort möglicherweise nicht allzulange halten würde. Ich postete es auf seiner Facebook-Seite und auf Twitter, in den Foren, die er regelmäßig besucht hatte und ich machte mir den Spaß, die Datei sogar an alle größeren Zeitungen und Magazine des Landes zu senden. Alles im Namen von Julius Adler. Dem Geist von Julius Adler.
Danach saß ich bis in den frühen Morgen und verfolgte mit Genugtuung die massenhaften Reaktionen auf mein Tun. Sobald ein Video gelöscht wurde, ersetzte ich es durch einen neuen Versuch. Ich hatte einen Tsunami ausgelöst.

 

Zwei Tage später musterte Selma mich beim Frühstück in der Küche abschätzig. Ich trug eine schwarze Anzughose meines Vaters. Ein Hemd mit schwarzer Krawatte und darüber eine schwarze, eng sitzende Strickweste. Wir waren alleine im Raum.
„Ihr Vater würde sich im Grab umdrehen! Er hatte ein sehr gut ausgeprägtes Stilbewusstsein.“
„Unglücklicherweise hatte er aber nicht meine Schultern und die einzige Schneiderin hier, die ich kenne, spricht seit Tagen kein Wort mehr mit mir.“ Mein Aufzug war derzeit wirklich das geringste Problem. Wir würden in weniger als zwei Stunden die Verabschiedung meines Vaters zelebrieren. Wenigstens sprach sie wieder mit mir. Ich sah ihr dabei zu, wie sie sich eine Tasse Tee eingoß. Sie trug einen raffiniert geschnittenen schwarzen Hosenanzug und eine passende schwarze Satinbluse, dazu High Heels mit schwindelerregend hohen Bleistiftabsätzen. Sie sah ... definitiv nicht heiß aus! Ihre Hände zitterten. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Ihre tiefliegenden Augen glänzten fiebrig.
„Sie sehen fürchterlich aus!“, rächte ich mich für ihre Stichelei von eben.
„Ich fühle mich heute auch nicht so besonders.“ Selbst ihre Stimme krächzte. „Ich hoffe, Sonja kann sich in den nächsten Tagen einmal meine Blutwerte ansehen, die Ärzte in der Klinik meinten, die Dosierung meines Medikaments gehört angepasst, normalerweise hat sich Ihr Vater darum gekümmert.“ Sie beugte sich nach unten, um ihren Teebeutel im Mülleimer zu entsorgen. Als sie sich wieder aufrichtete, schwankte sie bedrohlich. Ich sprang von meinem Stuhl und konnte gerade noch verhindern, dass sie stürzte. Bleich sah sie mir ins Gesicht, das jetzt nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. „Das macht es auch nicht gerade besser!“, flüsterte sie.
„In diesem Zustand können Sie jedenfalls nicht mit zur Trauerfeier kommen!“, entschied ich überzeugt. Ich hob sie hoch und trug sie in ihr Schlafzimmer. Dort legte ich sie vorsichtig auf dem Bett ab und zog ihr die Stöckelschuhe von den Füßen. Sie atmete schwer. „Ich hole jetzt Sonja!“ Ihr Zustand machte mir wirklich Sorgen.
Sonja schlief noch. Ihre Mutter duschte gerade im Badezimmer. Ich ging zurück zu Sonjas Schlafzimmer und rüttelte an ihrer Schulter bis sie aufwachte.
„Du musst kommen! Selma geht es schlecht!“ Mein Tonfall unterstrich die Dringlichkeit meiner Forderung. Sonja war mit einem Schlag hellwach. Ohne sich um ihr Erscheinungsbild zu kümmern, rannte sie ins Gästezimmer und rief mir zu, das Blutdruckgerät aus der Küche zu holen. Sie beschrieb mir, wo ich zu suchen hatte.
Als ich mit dem Pulsmesser zurück ins Gästeschlafzimmer kam, saß Sonja am Bettrand und fühlte Selmas Puls. Ich half ihr dabei Selma den Blazer auszuziehen. Dann befestigte ich die Manschette des Gerätes. Sonja strich Selma besänftigend das Haar aus der Stirn. „Es ist, glaube ich, nicht so schlimm. Du musst dich nur ausruhen!“
Der Messwert bestätigte Sonjas Aussage. Ihr Blutdruck war zwar hoch, aber nicht bedrohlich.
„Es tut mir leid! Ich wäre so gerne mitgekommen“, seufzte Selma mit geschlossenen Augen.
„Ich weiß, aber deine Gesundheit geht vor!“, beruhigte sie Sonja. „Morgen checken wir vor der Infusion ganz genau deine Werte!“
Es klingelte an der Haustüre. Sonja stand auf.
„Ich muss mich jetzt anziehen! Ben, bist du so lieb und siehst nach?“
Ich nickte, bedachte Selma mit einem aufmunternden Lächeln und ging zum Eingang.
Es waren Cem und drei Kinder. Ich brachte sie ins Wohnzimmer und erzählte ihnen, dass Selma sich gerade ausruhte und nicht mitkommen würde.
„Wir bleiben bei Mama!“, entschieden die beiden Mädchen wie aus einem Mund. Der Junge nickte zustimmend.
Ich schaltete den Fernseher ein und erklärte ihnen die Funktionsweise der Fernbedienung. Die Kids zogen ein Gesicht, als hätte ich ihnen gerade gesagt, dass der Himmel blau wäre. Der Junge starrte mich neugierig an. „Bist du der FBI-Agent?“
„Ja Kumpel, also benehmt euch, sonst werde ich ungemütlich!“, machte ich drohend einen Scherz und brachte den Kleinen damit zum Grinsen.
Cem stand unschlüssig in der Tür. „Dann können wir mit dir fahren!“, stellte ich ihn vor vollendete Tatsachen. Sonjas Mutter war eben hinter ihm aufgetaucht.
„Sie müssen Selmas Mann sein? Freut mich, Sie kennenzulernen!“ Sie hielt ihm die Hand hin. „Möchten Sie eine Tasse Tee?“, nahm sie ihn gleich in Beschlag und dirigierte ihn in die Küche. Ich hörte die beiden miteinander reden.
Ich holte meine Glock 22 aus dem Arbeitszimmer und stopfte sie mir hinten in den Hosenbund. Die alte Waffe meines Vaters hatten wir ebenfalls zurückbekommen. Sie lag seither unter meinem Kopfkissen. Ich entschied, das Arbeitszimmer abzuschließen, wegen der Kinder. Nicht dass sie beim Spielen den Revolver fanden. Den Schlüssel schob ich unter den Teppich vor der Zimmertüre. Mein Mobiltelefon vibrierte. Sicher wieder ein Anschiß von meinem Chef, wegen des „Adler-Patents“.
Ich holte es aus der Hosentasche und las seine Nachricht. Sie hatten ein Telefonat von einem der Mittelsmänner des Pharmakartells zurückverfolgt. Es sah nicht gut aus! Die Nummer gehörte einem, bereits mehrmals wegen Terrorverdacht verhafteten, deutschen Bombenbastler. Das entsprechende Handy wurde seither getrackt und es hatte den Anschein, der Besitzer hatte sich bereits auf den Weg hierher gemacht.
Ich unterdrückte einen Fluch. Meyer hatte mir eine Kontakttelefonnummer eines Interpolbeamten mitgeschickt, der auf diesen Kriminellen spezialisiert war. Ich ging vor die Haustüre und wählte die Nummer. Der Kontakt meldete sich sofort, wahrscheinlich saß er an einem Terminal eines Überwachungswagens. Ich erklärte ihm knapp, wer ich war und warum ich ihn kontaktierte. Er hatte meinen Anruf offensichtlich erwartet, das erleichterte das weitere Vorgehen. Ich teilte ihm mit, dass wir in den nächsten Minuten zur Trauerfeier aufbrechen würden und er informierte mich, dass erhöhter Polizeischutz bereits auf dem Weg dorthin war. Ich bat darum, auch einen Wagen hierher zu schicken, um Sonjas Wohnung zu bewachen und um Durchgabe der Telefonnummer des zuständigen Einsatzleiters. Er schickte mir ein Profil des Verdächtigen und ich überflog es schnell. Dann ging ich zurück ins Haus.
Sonja war noch im Bad. Aus der Küche war nach wie vor angeregtes Geplauder zu vernehmen.
Leise ging ich nochmals ins Gästezimmer, um nach Selma zu sehen. Ich klopfte verhalten gegen die offene Schlafzimmertüre. Sie lag noch immer fertig angezogen auf der Tagesdecke und sah mich aus schimmernden Augen ausdruckslos an.
„Die Kinder sind in Sonjas Wohnzimmer und sehen Sponge Bob!“, berichtete ich ihr. „Sie wollen hierbleiben!“
Außer dem leichten Heben und Senken ihres Brustkorbes zeigte Selma keine Reaktion. Ich ging auf sie zu und sie folgte mir mit diesem ausdruckslosen Blick. Nachdem ich mich an den Bettrand gesetzt hatte, streckte ich meine Hand aus und strich ihr sanft mit dem Daumen über die Schläfe. „Gibt es noch irgendetwas, was ich tun kann? Soll ich die Kinder herüberschicken?“
Sie schloss resigniert die Augen. Dann hob sie langsam eine Hand und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Mir wäre lieber, wenn sie mich so nicht sehen!“ Sie hielt mir die Hand entgegen. Kleine Strähnen ihres langen schwarzen Haares befanden sich darin. Ich nahm ihr die losen Haare aus den Fingern, öffnete die Lade ihres Nachttisches und ließ sie hineinrieseln.
„Die heben wir auf! Vielleicht gibt es ja einen Nachlass wenn wir die mit zum Friseur nehmen, um morgen eine schöne blonde Perücke zu besorgen.“
Ihre Augen schossen einen vernichtenden Blitz auf mich ab. Ihre Mundwinkel hoben sich aber gleichzeitig ein paar Millimeter.
„Können Sie mir bitte die Decke dort geben?“ Sie wies zu einem Sofasessel am anderen Ende des Bettes.
Ich brachte ihr das Gewünschte. „Kann ich noch beim Entkleiden behilflich sein?“
„Raus hier!“
Grinsend trat ich den Rückzug an.

 

Cem und Sonjas Mutter unterhielten sich noch immer. Es ging wohl um die Klimaveränderung. Sonja hatte die letzten Spuren, die die Entführung in ihrem Gesicht hinterlassen hatte überschminkt und brachte eine gefüllte Saftkaraffe und eine Schüssel mit Crackern ins Wohnzimmer zu den Kindern. Danach machten wir uns auf den Weg zur Trauerfeier. Cem saß am Steuer, ich neben ihm am Beifahrersitz. Die beiden Frauen saßen im Fond.
Als wir die Auffahrt in Richtung Ortszentrum verließen, bog gerade ein Streifenwagen zum Klinikum ein. Ich hob grüßend den Arm. Die Polizisten nickten uns zu.

 

Am Friedhof hatten sich bereits Heerscharen von Trauergästen vor der Aufbahrungshalle versammelt, um meinem Vater die letzte Ehre zu erweisen. Das „Adler-Patent“ hatte es inzwischen in die Nachrichten und Zeitungen geschafft. Sonja wollte keine Messe in der Kirche, das war wohl auch der Wunsch meines Vaters gewesen.
Ich ging neben Sonja und fühlte mich von allen Seiten neugierig beobachtet. Sonjas Mutter hatte sich bei Cem untergehakt und wurde von einigen wie eine alte Bekannte begrüßt. Die Angestellten der Klinik hatten sich bereits in der Aufbahrungshalle versammelt. Bei weitem nicht alle Gäste würden Platz finden. Wir setzten uns in die erste Reihe. Ich hielt Sonjas zitternde Hand.
Der Leichnam war bereits eingeäschert worden. Neben der schlichten Urne stand ein altes Foto, auf dem mein Vater so aussah, wie auch ich ihn aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte. Ein Meer von Kränzen und Gestecken fand sich rundum.
Der Ortspfarrer hatte ihn gut gekannt. Er bezeichnete meinen Vater als Freund, sprach ein Gebet und fand bewegende, persönliche Abschiedsworte. Ein Chor untermalte die Trauerfeier. John Lennons „Imagine“ wurde eingespielt. Zahlreiche Ehrengäste, darunter der Präsident der Österreichischen Krebshilfe, der Bürgermeister und einige prominente ehemalige Patienten hielten kurze Reden. Zu meiner Überraschung gingen die meisten auf das Video ein, das der Geist von Julius Adler verbreitet hatte.
Ich zählte zahlreiche Uniformierte, die sich unauffällig unter die Trauergäste gemischt hatten.


Im Anschluss trug ein Bestatter die Urne zum Urnenfriedhof. Dort konnte sich jeder der Anwesenden noch einmal persönlich am offenen Grab von meinem Vater verabschieden. Sonja und ich nahmen geduldig die endlos dauernden Beileidsbekundungen entgegen. Plötzlich vibrierte mein Handy. Es musste etwas Dringendes sein, denn jeder wusste von der Beerdigung! Schnell trat ich ein paar Schritte zurück und nahm das Telefon zur Hand. Selma! Ich nahm das Gespräch entgegen.
„Ben!“ Sie hatte mich zum ersten Mal mit meinem Namen angesprochen! Die Panik, die in ihrer Stimme lag, trübte meine kurz aufgeflackerte Freude darüber.
„Beruhige dich, Honey! Geht es dir schlechter?“ Meine Hauptsorge galt vorerst ihrer Gesundheit.
„Da sind Männer vor dem Haus!“ Ihre Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.
„Welche Männer meinst du? Es müsste eine Polizeistreife da sein, versuchte ich ihr zu erklären.“
„Ich habe einen Knall gehört und bin aufgestanden, weil ich mir Sorgen wegen der Kinder gemacht habe, aber der Lärm kam vom Parkplatz! Da sind zwei Männer, sie kommen jetzt zur Haustür hoch. Sie sind bewaffnet! Ben! Ich glaube, sie haben mich am Fenster gesehen!“
Während sie mir davon erzählte, rannte ich bereits auf einen der Uniformierten zu.
„Schnell! Funken Sie Ihren Vorgesetzten an! Ich brauche sofort eine Verbindung zu der Polizeistreife vor dem Adler-Anwesen!“, befahl ich knapp.
Cem war mir gefolgt. „Was ist passiert?“
„Selma! Geh sofort zu den Kindern!“ Fieberhaft rief ich mir den Plan der Wohnung ins Gedächtnis.
Cem starrte mich entgeistert an. Dann wandte er sich um und kämpfte sich rücksichtslos durch die Trauernden um zum Parkplatz zu sprinten. Ich zog den Uniformierten mit und folgte ihm. Keuchend sprach ich auf Selma ein: „Da ist eine Waffe im Arbeitszimmer, unter dem Kopfkissen! Der Schlüssel ist unter dem Teppich vor der Türe! Versteckt euch in Sonjas Kleiderschrank. In deinem Zimmer werden sie zuerst suchen!“
Ich hörte wie Selma auf die Kinder einredete, doch die schienen nicht zu kapieren, wie erst die Lage war.
„Selma! Schalte das Handy auf laut!“, befahl ich ihr. „Hörst Du?“
„Ja. Ich mache den Lautsprecher an“, schluchzte sie. Ich hörte jetzt den Fernseher.
„Kinder!“, schrie ich autoritär, sofern das im vollen Sprint möglich war. „Hier ist das FBI! Ihr tut jetzt auf der Stelle, was eure Mutter euch sagt! Schaltet den verdammten Fernseher aus und versteckt euch!“
Der Fernseher verstummte. „Mum! Was tust du?“
„Los versteckt euch in Sonjas Schlafzimmer, ich komme gleich nach!“, hörte ich Selma flüstern. Kurz darauf hörte ich sie wieder. „Ben! Ich habe die Pistole! Wir sind jetzt in Sonjas Zimmer!“
„Versteckt euch im Schrank und verhaltet euch absolut still, egal was passiert!“, mahnte ich sie. „Und schalte den Lautsprecher wieder aus!“
Der Lärm einer Salve aus einer Automatikwaffe war zu hören. Mir stockte der Atem. Dann hörte ich Gemurmel und das Klappern der Schranktüren.
„Seid ihr in Sicherheit?“, erkundigte ich mich geschockt.
„Wir sind jetzt im Schrank. Sie haben die Eingangstüre aufgeschossen. Ich höre sie kommen“, flüsterte Selma panisch.
„Weißt Du, wie man den Revolver entsichert?“ Ich erklärte es ihr knapp. „Lass das Handy an, hörst Du? Wir sind auf dem Weg!“ Ich hörte das vertraute Geräusch, als sie die Sicherung löste.
Der Polizist, der mit uns gerannt war, berichtete, dass der Kontakt zur Polizeistreife bei der Klinik abgerissen war. Damit erzählte er mir nichts Überraschendes. Ich drückte Selma auf stumm.
„Schicken Sie sofort ein Einsatzteam dorthin!“, schrie ich ihn an.
„Ist schon unterwegs!“
Wir waren jetzt bei Cems Wagen. Er hatte bereits gestartet und ich schaffte es gerade noch einzusteigen, als er schon aufs Gas stieg.
„Warte!“, schrie ich ihn an. Er machte eine Vollbremsung. Ich verlangte die Waffe von dem Beamten. „Die sind bewaffnet, willst Du mit bloßen Fäusten gegen diese Leute kämpfen!“
Mit quietschenden Reifen rasten wir vom Parkplatz.
„Verrätst du mir, warum meine Frau dich anruft, wenn sie Hilfe braucht?“, knurrte Cem konzentriert.
„Hey, mein Freund! Ich habe dir nur den Rücken freigehalten!“, erinnerte ich ihn wütend. Schließlich spielte er schon länger ein heimliches Spiel.
Verbittert riss er in waghalsigen Überholmanövern das Steuer hin und her.
„Versuch einfach, uns nicht beide hier schon umzubringen!“, bat ich ihn.
Ich schaltete die Verbindung zu Selma wieder frei, doch die Leitung war unterbrochen. Ich stieß einen verzweifelten Fluch aus. Cem sah mich vorwurfsvoll an.

 

Etwa fünf Minuten später trafen wir zeitgleich mit einem Einsatzteam der Cobra ein.
Wie befürchtet, lagen die Leichen der Überwachungsleute neben deren Fahrzeug. Die Haustüre stand einen Spalt offen. Cem wollte sofort drauflosstürmen, ich konnte ihn gerade noch aufhalten.
„Bist du verrückt?“, schrie ich ihn an. „Überlass das den Profis!“
Er sah mich an wie einen Verrückten. „Das ist meine Familie!“ Er fuchtelte mit der Waffe des Polizisten herum.
Ich hörte das laute Knattern eines Helikopters.
„Ist das einer von uns?“, schrie ich den Kommandanten an.
Der schüttelte verwirrt den Kopf.
Der Lärm wurde immer lauter. Der Hubschrauber ging wahrscheinlich auf der anderen Seite des Gebäudes runter. Wir hatten keinen Sichtkontakt.
Jemand hielt Cem und mir schusssichere Westen entgegen. So schnell wir konnten, streiften wir sie über. Die Männer von der Sondereinheit waren jetzt an der Haustüre und machten sich bereit, die Wohnung zu stürmen.
„Du bleibst hinter mir!“, befahl ich Cem und machte mich daran, ihnen mit gezückter Waffe zu folgen.
Der Flur sah aus wie immer. Systematisch arbeiteten sich die Spezialisten durch die Räume. Einer der Cobra-Männer winkte uns kurz darauf zum Arbeitszimmer. Als wir näher kamen, hörte ich das Schluchzen eines Kindes. Hatte ich bis zuletzt gehofft, Selma und die Kinder könnten noch immer in ihrem sicheren Versteck sein, machte dieses Geräusch alle meine Hoffnungen zunichte. Auf das Schrecklichste vorbereitet rannte ich in das Zimmer. Die beiden Mädchen standen eng umschlungen neben dem wuchtigen Schreibtisch. Als sie Cem sahen, liefen sie schreiend zu ihm. Von Selma und dem Jungen fehlte jede Spur!
Das laute Dröhnen der Helikopterpropeller wies darauf hin, dass das Fluchtfahrzeug gerade am Abheben war. Schüsse der Cobra-Polizisten mischten sich zu dem Lärm. Alles woran ich denken konnte, war, dass sie Selma und ihren Sohn mitgenommen hatten! Verzweifelt lief ich zur offenen Terrassentüre und sah dem schnell kleiner werdenden Hubschrauber nach.
Ich wandte mich stumm vor Entsetzen zu Cem um. Sah ihn aber nirgendwo mehr. Die Mädchen standen wieder neben dem Schreibtisch. Blickten auf etwas, was sich außerhalb meines Sichtbereichs befand. Ein Maskierter des Sonderkommandos starrte ebenfalls dorthin. Langsam ging ich auf sie zu. Ich war darauf gefasst, die Leiche von Selma am Boden hinter dem wuchtigen Schreibtisch zu entdecken. Als ich sie bleich und zitternd neben ihrem Sohn an dem Sekräter lehnen sah, hätte ich am liebsten geheult vor Erleichterung. Der Moment währte nur kurz. Cem kniete daneben und starrte entgeistert auf etwas, das sie in den Händen hielten. Ich hastete zu ihnen. Cem machte eine abwehrende Geste und ich näherte mich ihnen vorsichtiger. Dann sah ich es selbst. Eine Bombe!
„Was ist geschehen?“, fragte ich Selma eindringlich.
Ihr Blick blieb starr auf das Ding in ihren Händen gerichtet. Ihre Stimme zitterte. „Sie haben Sami gezwungen den Auslöser zu drücken! Sie hatten gedroht mich zu erschießen!“
Ich begriff allmählich die ganze Tragweite dessen, was ich vor mir sah. Wenn der Junge seinen Finger vom Auslöser nahm, würde die Bombe explodieren! Selma hatte anscheinend, um das zu verhindern, ihre Hand fest um seine geschlungen. Jetzt waren beide dazu verdammt, reglos sitzen zu bleiben.
Ich rief nach dem Einsatzleiter.
„Wir brauchen Bombenentschärfer!“, schrie ich.
„Ist auf dem Weg!“, antwortete er knapp.
„Wie lange?“, schnauzte ich ihn an.
Sein Blick verriet mir, dass er wohl nicht in den nächsten Minuten eintreffen würde.
Ich kroch auf allen vieren vorsichtig näher an die beiden heran. Schob Cem zur Seite und meinte: „Lass mich sehen.“
Widerwillig machte er mir Platz. So vorsichtig wie möglich, checkte ich die Situation ein. Die Bombe war auf jeden Fall stark genug, das gesamte Zimmer zu vernichten, wenn nicht die ganze Wohnung.
„Selma! Kannst du ganz vorsichtig deine Hand wegnehmen?“
Sie sah mich bestürzt an. Dann wandte sie sich an den Jungen. „Sami. Liegt dein Finger noch fest auf dem Knopf?“
„Ja, Mami. Habe ich dir doch gesagt.“ Der Kleine war tapfer. Seine Stimme klang gefasst.
Ich nickte ihr leicht zu. Sie schloss die Augen, eine steile Falte erschien auf ihrer Stirn. Dann löste sie langsam, Finger um Finger, ihre Hand von der des Kindes.
Sami hielt den Auslöser mit dem Daumen gedrückt. Das war gut, der Daumen war der stärkste aller Finger. Er würde sicher noch eine Weile aushalten. Gerade als ich überlegte Selmas Aufgabe zu übernehmen und dem Kleinen zu helfen den Finger nicht vom Auslöser zu nehmen, aktivierte sich mit einem Piepston eine digitale Uhr an der Bombe. In rot leuchtenden Ziffern begann ein Countdown von zehn Minuten zu laufen. Ich stöhnte verzweifelt auf. Nicht das noch!
„Wann kommt dieses verdammte Bombenkommando?“, verlangte ich zu wissen.
„Sie sind in fünfzehn Minuten da!“, kam die Antwort.
Cem und Selma waren beide kalkweiß im Gesicht. Der Junge hatte seine bernsteinfarbigen großen Augen auf mich gerichtet.
„Wir machen das so“, erklärte ich ihm. „Du schiebst deinen Finger ganz langsam und vorsichtig zur Seite und ich schiebe meinen Daumen auf den Knopf. Verstehst du, was ich meine?“
Der Junge nickte tapfer.
Ganz vorsichtig schob ich mit meinem Daumen seinen kleinen Millimeter für Millimeter zur Seite, bis seine Hand frei war. Der Plan hatte funktioniert. Jetzt hielt ich das Ding in der Hand! Langsam stand ich auf und ging vorsichtig damit auf die Terrasse und weiter in den Garten. So weit weg vom Gebäude, wie mir ratsam erschien. Ich lehnte mich an den Stamm eines Obstbaums und ließ mich langsam zu Boden gleiten. In den letzten Sekunden würde ich wohl versuchen, die Bombe so weit wie möglich von mir zu schleudern. Dass dieser Plan misslingen musste, war mir aber bewusst. Ich hatte mit meiner „Adler-Patent“-Schnapsidee diese Situation heraufbeschworen. Wenn jemand daran glauben sollte, dann war das ich. Ich atmete langsam aus. Jemand vom Einsatzkommando setzte mir einen Vollvisierhelm auf und hängte mir kugelsichere Westen um die Beine. Der Countdown stand bei sieben Minuten und fünfzig Sekunden!
Ich schloss die Augen.
Nach einigen Minuten hörte ich Cems Stimme. „Benjamin! Kannst Du aufstehen und hierher kommen?“
Ich öffnete die Augen. Cem stand bei einer Gruppe von Bäumen. Um die Stämme von zwei Bäumen hatte er Expander gespannt. Die Enden des einen Gummis verknüpfte er gerade mit einem Abschlepp-Gummiseil. Ich war vorsichtig aufgestanden und bewegte mich auf ihn zu, jeden meiner Schritte achtsam setzend. Jetzt schlang Cem einen Teil des Gummiseils um die Bombe, die ich mit der linken Hand festhielt. Mit Klebeband befestigte er das Seil, damit es sicher hielt. Kurz kam mir die Idee, den Auslöseknopf mit dem Klebeband zu fixieren, aber ich sah ein, das würde nicht funktionieren! Als die Bombe fest verknotet war, knüpfte Cem das andere Ende des Gummiseils mit dem zweiten Expander zusammen. Langsam kapierte ich seinen Plan. Er hatte ein Katapult gebastelt! Der Countdown stand jetzt bei zwei Minuten!
Cem überprüfte nochmals alle Knoten.
„Du musst jetzt das Seil so weit spannen, wie es geht!“, wies er mich unnötigerweise an.
„Schon verstanden! Netter Plan!“, antwortete ich. „Los bringt euch alle in Sicherheit!“, Cem und einige Beamte, die die Schutzwesten mit Klebeband um meine Beine befestigt hatten, zogen sich auf die Terrasse zurück.
Ich ging langsam Schritt für Schritt im Retourgang los. Die Herausforderung lag darin, das Seil mit nur einer fest zupackenden Hand genug zu spannen um die nötige Zugkraft zu bekommen. Der Countdown stand bei einer Minute. Meine Oberarmmuskeln waren bis aufs äußerste angespannt. Mein Daumen schmerzte, wegen der unnatürlichen Haltung. Ich warf einen Blick zurück zur Terrasse. Cem stand inmitten der Leute des Einsatzkommandos und reckte seinen Daumen nach oben. Wenn der Plan nicht funktionierte, so hatte er mir zumindest Hoffnung gemacht. Ich verspürte ein nagendes schlechtes Gewissen, wenn ich daran dachte, dass Selma seine Frau war.
Dreissig Sekunden. Es war Zeit loszulassen! Ich versuchte, den Zug möglichst gleichmäßig zu verteilen, nicht dass die Bombe an einem der Bäume zerschellte.
Langsam ließ ich meinen Oberkörper zurück. Der Druck auf meine Oberarme steigerte sich ins Extreme. Fünfzehn Sekunden. Ich ließ los. Gleichzeitig warf ich mich zu Boden und versteckte meine ungeschützten Arme unter dem Oberkörper.
Die Druckwelle erreichte mich vor dem Knall. Die Gläser der Fenster im Klinikum klirrten. Dann bekam ich die Hitzewelle zu spüren. Meine Ohren dröhnten. Ich hatte es überlebt. Vorsichtig bewegte ich mich. Es schienen alle Gliedmaßen heil zu sein. Ich rollte auf den Rücken und lachte hysterisch. Ein Sanitäter kam herbeigelaufen. Ich sah ihn grinsend an. „Alles in Ordnung. Mir fehlt nichts!“
Cem kam auf mich zu.
„Danke mein Freund! Du hast mir das Leben gerettet!“ Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie bist du auf diese Idee gekommen?“
„Habe wohl zuviel Mac Gyver geschaut als Kind.“ Er zuckte die Schultern. „Danke, dass du das für Sami getan hast!“
Ich schlug ihm dankbar auf den Rücken. Gemeinsam gingen wir zurück ins Haus.

 

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Tag der Veröffentlichung: 04.09.2020

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Coverfoto: Pixabay

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