Nichts im Leben geschieht zufällig. Cem war nicht ohne Grund in meinem aufgetaucht. Unsere Beziehung hatte nichts mit Glück oder Pech zu tun. Es geschah, weil eine Kraft es verursacht hatte. Eine mächtige Kraft. Die größte Kraft des Universums hatte bewirkt, was wir fühlten und bestimmt, dass diese Begegnung geschehen konnte.
Alles ist nichts, ohne die Liebe.
Mit dem Rückzug, den ich in unserer Beziehung gemacht hatte, hatte ich mich doch nur selbst bestraft. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als Cems Nähe.
Am Anfang hatten wir uns selbst belogen. Wir dachten, weil wir beide verheiratet waren, könnten wir mit einer kleinen Affäre besser umgehen.
Cem war für mich ein Traum, der lebendig geworden ist. Das, was ich mir schon immer heimlich gewünscht hatte, ein Mann der klug und zärtlich ist, leidenschaftlich und stark, lebenslustig und verantwortungsbewusst.
Unbewusst hatte ich wohl nach ihm gesucht, und er nach mir. Wenn ich an etwas glaubte, dann daran, dass alles miteinander verbunden ist. Wenn du jemanden suchst, so gibt es auch jemanden auf der Welt, der Dich sucht. Wenn das nicht der Fall wäre, würde man gar nicht suchen, denn es gibt keinen Impuls, der ins Leere geht.
Noch gestern war ich der Meinung gewesen, das Richtige getan zu haben. Heute sah ich dem Tod ins Auge und stellte mir die Frage, ob ich die falsche Entscheidung getroffen hatte?
Ich klemmte mir die große Einkaufstasche, die ich aus dem Kofferraum genommen hatte unter den Arm und verstaute den Schlüsselbund in der Handtasche, während ich auf das Geschäft zuging, als jemand ganz in der Nähe meinen Namen rief:
„Frau Adler?“ Reflexartig, ein überraschtes Lächeln auf den Lippen, drehte ich mich um, um zu sehen, wer meinen Namen gerufen hatte. Das Lächeln erstarb, als ich zwei unbekannte, bedrohlich wirkende Männer auf mich zukommen sah. Panisch sah ich mich um, ob von irgendeiner Seite Hilfe zu erwarten wäre. Ich holte tief Luft. Wahrscheinlich machte ich mich gerade selbst verrückt.
„Ja?“, sagte ich gezwungen und blieb mutig stehen. Es war die falsche Entscheidung gewesen! Aber wer läuft einfach so auf einem Parkplatz davon, wenn jemand seinen Namen ruft?
„Wir sind Bekannte Ihres Mannes“, sagte der Kleinere der Männer. „Es geht um einen Gefallen, den er uns schuldet.“
An seiner Stimme erkannte ich sofort, dass er log. Jetzt überwog der Drang zur Flucht und ich wollte mich, ohne Zeit auf eine Antwort zu verschwenden, schleunigst davonmachen, doch der zweite Mann hielt bereits meinen Ellbogen fest! Kopflos versuchte ich mich aus seinem Griff zu winden. Im Nacken spürte ich einen scharfen Einstich. Bevor ich um Hilfe rufen konnte, fühlte ich, wie meine Beine mir den Dienst verweigerten. Wahrscheinlich wäre ich wie ein Sack umgefallen, doch die Männer hatten mich zwischen sich eingeklemmt und zogen mich auf einen schwarzen Lieferwagen zu, dessen seitliche Schiebetür geöffnet war. Unsanft bugsierten sie mich in den Wagen und stießen mich in eine Ecke. Sie waren beide mit ins Innere des Fahrzeugs geklettert und schlossen die Schiebetüre. Außer einer kleinen Lichtquelle, war es dunkel wie in einem Kerker. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich spürte, wie die Substanz, die sie mir injiziert hatten, meinen Kopf erreichte. Meine Lieder fielen zu und ich fühlte, wie ich in eine bodenlose Leere stürzte.
Ich erwachte mit einem Gefühl von Desorientierung. Bevor ich noch meine unbequeme Körperhaltung registrierte, suchte mein Gehirn verzweifelt nach einer Antwort, wer ich war, wo ich war und wann ich war? Ich war Sonja, ich war gefangen in einer großen Lagerhalle, in der es nach Maschinenöl und Staub roch. Es war Nacht, denn es gab kleine Oberlicht-Fenster, durch die jedoch keine Helligkeit in den Raum drang. Die Halle um mich lag in unschönes Neonlicht getaucht, als sich meine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, bemerkte ich, dass sie größer war als vermutet. Der größte Teil war unbeleuchtet. Die Grenzen verschwammen im Halbdunkel. Ich saß am Boden gegen eine nackte Wand gelehnt. Meine Handgelenke waren im Rücken zusammengebunden. Ich vermutete mit einer Art Klebeband. Mein Nacken und meine Schultern schmerzten. Anscheinend befand ich mich schon eine ganze Weile in dieser unbequemen Stellung. Ich konnte ein schmerzerfülltes Stöhnen nicht unterdrücken.
„Sie ist wach! Gib dem Boss Bescheid!“, hörte ich eine männliche Stimme sagen.
Ich sah, dass es einer der Männer vom Parkplatz war. Der Kleinere. Der Größere entfernte sich bereits aus meinem Blickfeld. Mir war übel und mein Schädel dröhnte.
Fieberhaft versuchte ich die Gedanken, die mir durch den Kopf schossen zu ordnen. Was war passiert? In was war ich geraten? Ich war zu aufgewühlt, um zu einem klaren Resultat zu gelangen. Voller Angst starrte ich den Mann an, der mich nicht aus den Augen ließ. Sein Gesicht lag im Schatten, doch ich konnte erkennen, dass es keinerlei Gefühlsregung zeigte. Irgendwoher hörte ich das altmodische Geräusch einer Analog-Uhr. Das und meinen Herzschlag. Und erst einige quälende Minuten später Schritte von mehreren Personen, die sich der Halle näherten und sie durchquerten. Nervös wanderte mein Blick von einem zum anderen. Zu den zwei Unbekannten vom Parkplatz waren zwei weitere hinzugekommen. Ein Schlägertyp mit Glatze und Lederjacke hielt eine Maschinenpistole in der Hand. Der Lauf zeigte zu Boden. Mein Magen zog sich trotzdem furchtsam zusammen. Der andere Mann schien das Sagen zu haben. Er trat nun vor mich.
„Frau Adler!“, sagte er mit starkem Akzent und in süffisantem Tonfall. „Bitte verzeihen Sie uns diese widrigen Umstände! Ich habe seit Wochen versucht, ihrem Mann durch gutes Zureden klarzumachen, dass es Folgen haben wird, wenn er nicht zur Zusammenarbeit bereit ist. Doch er wollte mich nicht ernst nehmen. Er hat uns leider zu diesem drastischen Schritt gezwungen!“, der Mann hatte ruhig gesprochen, so wie es oft Psychopathen in diversen Krimis taten.
„Was wollen sie von uns?“ Meine Stimme krächzte.
„Bring Frau Adler ein Glas Wasser!“, befahl der Mann dem Größeren der Kidnapper.
Wieder zu mir gewandt sagte er: „Wir haben Ihrem Mann einen mittleren sechsstelligen Betrag an Fördermittel angeboten, im Austausch für sein neuestes Patent. Leider hat er sich bisher geweigert, unseren Vorschlag anzunehmen. Gerne hätten wir seinen wissenschaftlichen Aufwand angemessen gewürdigt, doch seine Reaktion war immer ... wie sagt man? Halsstarrig?“, er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht können wir ihn jetzt umstimmen? Ihnen zu liebe? Was meinen Sie?“
Der Kidnapper kam mit einer kleinen Plastikflasche mit Mineralwasser zurück und öffnete sie, begleitet von einem zischenden Geräusch. Dann hielt er mir die Flasche an den Mund. Gierig trank ich, bis mich die ungewohnte Kohlensäure zwang aufzuhören. Etwas Wasser tropfte mir aus den Mundwinkeln. Ich versuchte, es an meiner Schulter abzuwischen.
„Für wen arbeiten Sie?“, verlangte ich zu wissen. „NCI? FDA?“ Ich vermutete es aufgrund seines amerikanischen Akzentes ins Blaue hinein. „Die interessieren sich doch sonst nicht für unsere pflanzlichen Mittel?“
„Beleidigen Sie bitte nicht meine Intelligenz, Frau Adler. Gerade Sie als Bio-Chemikerin müssen doch wissen, dass man jeden Wirkstoff chemisch umwandeln kann!“ Meine Fragen ignorierte er.
„Wie auch immer. Sie werden jedenfalls über Nacht unser Gast sein und morgen früh werden wir gemeinsam versuchen, Ihren Mann zu überzeugen, seine Meinung zu ändern.“ Er drehte sich um und verließ mit dem Glatzköpfigen im Schlepptau den Raum.
Ich wandte mich an den Mann, der mir das Wasser gebracht hatte. „Darf ich zur Toilette gehen?“ Ich spürte keinen besonderen Drang, doch vielleicht konnte ich so feststellen, wo ich mich befand?
Er half mir beim Aufstehen und führte mich durch die Halle zu einem Vorraum und zu einer als WC ausgewiesenen Tür. Der Gang war nur leicht beleuchtet, viel konnte ich nicht erkennen. Am anderen Ende des Flures vermeinte ich aber, eine Tür ins Freie auszumachen. Vorsichtig löste der Mann mit einem Werkzeugmesser meine Fesseln und dirigierte mich in die mittlere der drei Kabinen. „Nicht abschließen!“, warnte er unaufgeregt. Ich nickte und bewegte vorsichtig die tauben Schultergelenke. Danach ließ ich mir auf der Toilette Zeit und massierte ausgiebig meine schmerzenden Arme. Sicher würde man mich sofort wieder fesseln. Eine Rolle des dicken Klebebandes war auf einer der Ablagen gelegen. Ich sah, wie meine Knie zitterten. Das Telefonat! Julius hatte mit jemanden am Telefon geschrien, obwohl das überhaupt nicht sein Stil war. Wurde er schon so lange von diesen Männern bedrängt?
Die sich aufdrängende Einsicht war ernüchternd. Ich war mit meinen Gedanken ganz wo anders gewesen, als dass mir seine Probleme hätten auffallen können. Julius hatte schon immer die Tendenz gezeigt, sich keinem wirklich mitzuteilen, und noch geringer war die Bereitschaft, seine Sorgen mit mir zu teilen. Sicher hatte er mich schützen wollen. Dieser Schuss war nach hinten losgegangen!
Ich beendete mein Geschäft und drückte die Spülung. Mit einem langen Atemzug wappnete ich mich und verließ den kleinen Raum, riss mich los, von diesem bescheidenen Stück Privatsphäre. Der Kidnapper sah mir zu, wie ich mir die Hände wusch und ein paar Haarsträhnen hinter die Ohren schob. Er war groß, dunkelhaarig und breitschultrig, doch es lag etwas Vertrauenerweckendes in seinem Blick. Anscheinend hatte er sich schon einige Tage nicht rasiert.
„Wieviel kriegen Sie für den Job? Ich gebe Ihnen das Doppelte, wenn Sie mich gehen lassen!“ Ich hatte leise gesprochen.
„I’d be dead before you could get the money.“ Seine geflüsterte Antwort ließ mir einen kalten Schauer den Rücken hinunter rieseln. Er schien ebenfalls Amerikaner zu sein.
„Who is behind it?“, versuchte ich es noch einmal.
„I´m not allowed to talk to you.“ Er fesselte inzwischen meine Hände mit dem Klebeband, allerdings nicht ganz so eng wie zuvor. Trotzdem würde ich mich nicht befreien können. Ich nahm außerdem nicht an, dass sie mich unbewacht lassen würden.
Aufmerksam brachte er mich wieder zurück in die Halle.
„Das hat lange gedauert!“, meckerte der kleinere Kidnapper. Er wirkte bullig und hatte schütteres blondes Haar.
„Jetzt sind wir wieder da, oder?“, antwortete der Größere unwirsch in passablem Deutsch.
Unschlüssig stand ich im Raum. „Hinsetzen!“, herrschte mich der Bullige an.
Ich rutschte an der Wand vorsichtig wieder in eine sitzende Haltung. Wie es aussah, würde ich die Nacht so verbringen müssen. Ich zog die Beine zum Scheidersitz an.
„Ich übernehme die nächsten vier Stunden!“, blaffte der Kleine seinen Kollegen an. „Du kannst eine Runde schlafen!“
Der Angesprochene setzte sich etwas abseits im Dunkeln ebenfalls auf den Boden, halb an der Wand und der Ecke eines Schrankes gelehnt und schloss die Augen. Zumindest konnte er seine Hände bewegen. Ich fragte mich, wer der Mann war? Wie war er dazu gekommen, die Drecksarbeit für irgendwelche Verbrecher zu machen? Ich kam ins Grübeln. Keiner der vier Männer hatte eine Maske getragen, obwohl das bei Entführungen eine unausgesprochene Regel ist. Das weiß jedes Kind! Ich würde sie identifizieren können. Ein kalter Klumpen schloss sich um mein Herz. Sie hatten nicht vor, mich lebend davonkommen zu lassen!
Ich konzentrierte mich auf ein Mantra, um nicht hysterisch zu werden: Ich bin verbunden, mit allem, was ist. Ich fühle mich verbunden. Wenigstens mein Atem beruhigte sich dadurch. Das Neonlicht strahlte hell auf mich herab. An Schlaf war nicht zu denken. Mein Bewacher schaute durch mich hindurch, wie durch eine offene Tür. Was für ein Mensch war das? Julius und ich hatten in all den Jahren nichts anderes versucht, als so viele Leben wie möglich zu retten. Nicht immer war es uns gelungen. Dieser Typ sah mich an wie ein Ding. Ich spürte, es hatte keinen Sinn, ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Ich konzentrierte mich auf das Ticken der Uhr. Die Zeit verging nur schleppend. Als würde ich auf eine Uhr ohne Zeiger blicken. Mit jeder Sekunde, die verstrich, hatte ich das Gefühl tiefer in ein Loch zu fallen. Ich war zu schwer, so schwer, dass ich nicht mehr aus diesem Loch herauskommen würde.
Ich dachte an meinen Vater. Seit seinem Tod hatte ich immer das Gefühl gehabt, er wacht als Schutzengel über mir. Auch jeder Gedanke ans Sterben war deshalb nicht schlimm gewesen. „Lass vergehen, was vergeht! Es vergeht um wiederzukehren.“ Diese Worte hatte meine Mutter seiner Todesanzeige hinzugefügt. Damals dachte sie noch, sie würde uns beide verlieren. Inzwischen hatten wir Zwei zu einer Gewissheit gefunden, dass es da ein Band gibt, durch das wir mit unseren Seelenverwandten und Ahnen immer verbunden sind, egal wie weit diese von einem entfernt sind. Ob Cem wohl spürte, in welcher Gefahr ich mich befand? Konnte man sich danach sehnen, einem einzigen Menschen die ganze Liebe zu schenken, die in einem steckt?
Lilly hatte schon viel früher erkannt, wie ernst die Beziehung zwischen Cem und mir geworden war: „Das was ihr zwei habt, ist längst keine Affäre mehr. Er ist dein ,Geliebter´“. Sie hatte den Mittelteil des Wortes extra in die Länge gezogen und mich mit eindringlich hochgezogenen Brauen gemustert. „Denk einmal darüber nach!“
Ich hatte gerade viel Zeit zum Nachdenken. Sie hatte Recht gehabt. Gleichzeitig hatte ich jetzt aber vielleicht nie wieder eine Chance, Cem zu sagen, wie sehr ich ihn liebe. Zulange hatte ich mir eingeredet, ich sei für ihn nur eine Flamme.
Diese Affäre war anfangs ein Spiel, das ich blind gespielt hatte. Die Spielregeln waren scheinbar klar. Eine Affäre ist eine Beziehung, die extremen Einschränkungen unterworfen ist. Sie bietet keinen Platz für Zukunftspläne und für Hoffnungen. Auch wenn ich diesen Sommer etwas falsch gemacht hatte, ich bereute es nicht.
Irgendwann hatte mein Bewacher den dunkelhaarigen Kidnapper mit einem Fußtritt geweckt und ihn angehalten die Wache zu übernehmen. Ich fühlte sofort, wie ich unter seiner Aufsicht gleich viel ruhiger wurde. Kurz darauf musste ich sogar eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal die Augen öffnete, war es bereits hell in der Halle.
Er gab mir wieder Mineralwasser zu trinken. Der zweite Mann schlurfte mit einem großen Pappbecher Kaffee auf uns zu.
„Du kannst jetzt frühstücken gehen. Ich passe auf.“
„Was ist mit ihr?“
„Mir doch egal.“ Er grinste mir dreckig ins Gesicht.
Mir war nicht wohl, als der Größere mich mit diesem Widerling alleine ließ.
Wenigstens die Silberfische, die ich in der Nacht beobachtet hatte, blieben jetzt im Tageslicht in ihren Ritzen. Ich zog die Beine nahe an mich ran und ließ das Kinn zur Brust sinken. Das dehnte etwas meine schmerzenden Schultern. Ich schloss die Augen, als könnte ich so ausblenden wo ich mich befand. Es gelang mir nicht. Der Kidnapper schlürfte unappetitlich an seinem Kaffee. Mein Magen knurrte. Meine Sinne waren inzwischen so geschärft, dass mir nichts entging, was in der Halle geschah. Die leisesten Geräusche, wie das Trommeln einer gefangenen Fliege gegen die Fensterscheibe, wuchsen zu einem dröhnenden Inferno an.
Nach einiger Zeit kam der Dunkelhaarige mit einer weißen Tüte zurück und hockte sich neben mich.
„Hier. Breakfast!“ Er stellte die Tüte vor mir ab. Ich konnte erkennen, dass sie Sandwiches und eine Banane enthielt. Er fasste nach meinen Handgelenken und wollte gerade die Fesseln lösen.
„Was soll das? Du verschwendest unseren Proviant für sie? Weiß der Boss davon?“ Der Blonde bewegte sich einen bedrohlichen Schritt auf uns zu.
„Shut up!“ Der Größere bedachte ihn mit einem herausfordernden Blick.
„Oh. Ja. Sicher! Genießen Sie es Lady. Es ist Ihre Henkersmahlzeit!“ Der Blonde untermalte die Bemerkung mit einem schäbigen Lachen.
„I said shut up!“ Der neben mir hockende Mann schnellte aus der Hocke hoch und drückte den Dreckskerl unsanft gegen die Wand.
Ich überlegte kurz, ob ich die Gelegenheit für einen Fluchtversuch nutzen sollte, doch meine Handgelenke waren noch immer hinter dem Rücken gefesselt und der Kleinere ließ mich keine Sekunde aus den spöttisch zusammengekniffenen Augen.
„Ich sag ja nur, morgen um diese Zeit können sie und ihr Mann sich die Radieschen von unten ansehen!“ Sein gemeines Grinsen vertiefte sich. Es war ihm egal, dass er noch fester gegen die Wand gedrückt wurde.
„Stop it! Was ist hier los?“ Die beiden anderen Männer hatten anscheinend den Lärm gehört und kamen alarmiert auf uns zu. Der Anführer hatte die Frage gestellt. Der Glatzköpfige hielt seine Waffe einsatzbereit mit beiden Händen. Der Dunkelhaarige ließ den Kleinen mit einem verächtlichen Schnauben los.
„Alles in Ordnung Chef!“, beschwichtigte jetzt der Kleine. „War nur eine kleine Meinungsverschiedenheit.“ Er wischte sich einen imaginären Schmutzfleck von seinem Arm.
„Ich wollte ohnehin gerade Ihren Mann anrufen, Frau Adler! Los helft ihr hoch!“ Der Amerikaner hatte sein Handy hervorgeholt und tippte darauf herum. Die beiden Kidnapper hatten mich inzwischen rechts und links bei den Ellenbogen gefasst und hochgezerrt. Als ich stand, wichen sie einige Schritte zur Seite. Der Anführer hatte die Kamera auf mich gerichtet und kommentierte dabei: „Wie sie sehen, haben wir ihre Frau! Sie haben 24 Stunden Zeit den Vertrag, den wir ihnen geschickt haben, zu unterschreiben, oder ihr wird ein furchtbarer Unfall zustoßen. Es liegt in ihrer Hand!“
In einem aussichtslosen Versuch, ihm das Handy wegzunehmen, bewegte ich mich auf den Amerikaner zu. Der Glatzköpfige stellte sich mir bedrohlich in den Weg, deshalb schrie ich in die Kamera: „Julius! Tu es nicht! Sie wollen uns beide umbringen! Ich habe es gehört, als ...“, weiter kam ich nicht. Eine Faust explodierte in meinem Gesicht und ich verlor das Gleichgewicht. Unsanft landete ich auf dem staubigen Boden. Ich wollte meinen Satz zu Ende sprechen, da versetzte mir der Bewaffnete einen heftigen Fußtritt in die Rippen und ich bekam keine Luft mehr.
„Damned!“ Der Anführer hatte offensichtlich die Aufnahme beendet. „You bloody Fools! Der Doktor wird außer sich sein!“ Ein zufriedenes Grinsen machte sich in seinem Gesicht breit. Er warf mir einen kalten Blick zu, dann drehte er sich um und verließ mit seinem Bodyguard die Halle.
Ich spürte blutigen Eisengeschmack in meinem Mund und mein ganzer Körper schmerzte. Der Dunkelhaarige hockte sich wieder neben mich und löste dieses Mal endlich meine Fesseln. Ich rollte mich am Boden zusammen und wartete, bis der Schmerz abebbte. Er hielt mir eine Serviette aus der weißen Tüte hin und ich presste sie an meine geschwollene Lippe. Als die Blutung gestillt war, kroch ich zurück zur Wand und lehnte mich erschöpft dagegen. Bei jeder Bewegung explodierten kleine Sterne in meinem Kopf. Ich schloss die Augen und hörte den großen Kidnapper fluchen: „You dirty Bastard!“. Ich musste die Augen nicht öffnen, um zu wissen, mit wem er sprach. Hätte der Blonde mich mit seinen provozierenden Bemerkungen nicht so angestachelt, wäre die Situation wahrscheinlich nicht derart eskaliert. Jetzt war es zu spät. Ich machte mir Sorgen um Julius. Sicher war er ohnehin schon unendlich besorgt, wegen meines Verschwindens. Diese Aufnahme würde alles noch schlimmer machen. Nicht nur infolge der Schmerzen liefen mir heiße Tränen durch die geschlossenen Wimpern über die Wangen. Ich zog die Knie an und verbarg mein Gesicht in meinen Händen.
Als ich mich wieder so halbwegs beruhigt hatte, wischte ich mir mit der zerknüllten Serviette übers Gesicht. Der Dunkelhaarige sah mich erschöpft an, der Blonde grinste blöd. Ich warf ihm einen tödlichen Blick zu und griff, mehr um ihn zu ärgern, als aus Hunger, in die weiße Tüte, die noch immer neben mir am Boden lag. Ich erwischte ein Thunfisch-Sandwich und kaute vorsichtig daran herum.
„Kann ich zur Toilette?“, fragte ich, nachdem ich das Sandwich hinuntergewürgt hatte.
Die Frage richtete sich an den Dunkelhaarigen. Doch der Kleinere drängte sich sofort auf und meinte: „Ich gehe dieses Mal! Du hattest ja schon das Vergnügen!“
Verdammt! Ich hätte nur zu gern noch einen weiteren Versuch gestartet mit dem Netteren der Beiden zu sprechen.
Der Blonde trieb mich an und erlaubte mir nicht einmal, die Klotüre zu schließen. Ich hatte ohnehin nicht vor, eine Sekunde länger, als nötig, mit diesem Widerling alleine zu verbringen.
Brutal trat er mir in die Kniekehle, als er mich zurück in die Halle gebracht hatte.
Während der nächsten Stunden, in der die von draußen einfallenden Lichtstrahlen die in der Luft schwebenden Staubpartikel in der Halle tanzen ließen und meine Bewacher sich in unregelmäßigen Abständen dabei ablösten, mich zu beobachten, wie ich dieses Schauspiel verfolgte, wurde nicht ein Wort gewechselt. Zäh zerrann die Zeit, bis es draußen wieder dämmrig wurde.
Der Dunkelhaarige ging zum Eingang der Halle hinüber und probierte dort mehrere Lichtschalter durch, bis er den richtigen fand. Wieder wurde nur der Bereich um uns herum, wie eine Insel, in Helligkeit getaucht. Als er zurückkam, suchte ich seinen Blick. Er sah mich stoisch an, seine Miene blieb verschlossen wie eine Grabkammer. Wir waren alleine im Raum.
„Hat mein Mann diesen Vertrag schon unterschrieben?“, unternahm ich einen weiteren verzweifelten Versuch ihm Informationen zu entlocken.
Zu meiner Überraschung antwortete er knapp: „Das Ultimatum ist noch nicht verstrichen. Wir brechen in einer Stunde auf, um ihn abzuholen.“
„Werden Sie mich mitnehmen?“, erkundigte ich mich leise. Nichts hatte mir in den letzten 24 Stunden mehr Angst gemacht, als die Sorge, keinen vertrauten Menschen mehr um mich zu haben. Ich sehnte mich nach Julius. Auf ihn war Verlass! Ich hatte noch nie gesehen, dass er die Nerven verloren hätte. Er war mein Ruhepol, meine einzige Konstante im Leben.
„Nein. Sie bleiben hier.“ Die Art wie er es gesagt hatte, gab mir zu verstehen, dass das Gespräch beendet war.
Er hatte gesagt „Wir brechen in einer Stunde auf ...“, nachdem das „wir“ mich ausschloss, bedeutete es, er würde mich mit seinem Kollegen alleine lassen. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken.
Als es dann aber so weit war, die Schritte im Flur sich wieder näherten und ich eine angespannte Stimmung bei meinem Bewacher wahrnahm, kam es noch schrecklicher, als ich befürchtet hatte.
„Wir brechen auf!“ Im knappen Befehlston drang die Stimme des Anführers in die Halle. Der Dunkelhaarige warf mir einen letzten Blick zu, dann verschwand er mit schnellen Schritten. Einige Sekunden fragte ich mich, ob sie mich hier alleine zurücklassen würden? Meine vage aufkeimende Hoffnung wurde gleich wieder im Keim erstickt. Der tätowierte Glatzköpfige kam mit stampfenden Stiefelschritten in den Raum und näherte sich mir. Mein Gesicht war noch immer geschwollen, von seinem Schlag heute Morgen. Sie ließen mich mit diesem Schlägertyp alleine? Ich wandte mich schnell ab, atmete flach und betrachtete meine Zehenspitzen. Seinen eiskalten Blick konnte ich nur erahnen. Ich ballte die gefesselten Fäuste hinter dem Rücken. Der Mann stank nach kaltem Zigarettenrauch. Der Geruch verhinderte, dass ich die Anwesenheit des Kerls nicht einfach ausblenden konnte, wie den Anblick des Ungeziefers, das auf dem Fußboden herumkroch.
Der Glatzkopf lief schon seit über einer Stunde nervös auf und ab. Die Maschinenpistole hing an seiner Seite. Ich fragte mich, was ihn davon abhielt, sich hier drinnen eine Zigarette anzuzünden, wenn er offensichtlich so sehr welche brauchte? Bis auf die wuchtigen verstaubten Maschinen befand sich nichts in der Halle. Es musste andere Gründe haben, warum er sich an ein ungeschriebenes Gesetz hielt, hier drinnen nicht zu rauchen. Der Amerikaner hatte es ihm sicher verboten. Er hatte die Männer offensichtlich gut im Griff. Natürlich vermied ich nach wie vor einen Blickkontakt. In seiner gereizten Stimmung brachte ihn wahrscheinlich jedes unbewusste Detail zum Explodieren, darauf wollte ich es nicht ankommen lassen.
Der Mann steckte mich mit seiner Nervosität allmählich an. Erleichtert atmete ich auf, als nach einer Ewigkeit das Geräusch einer sich öffnenden Türe und sich nähernde Schritte die angespannte Situation unterbrachen. Ich hob den Kopf und starrte zum Eingang der Halle hinüber. Im Flur brannte Licht. Undeutlich konnte ich Julius Stimme hören. Tränen der Erleichterung traten in meine Augen.
„Ich will zuerst meine Frau sehen!“, verlangte er.
Die Schritte näherten sich und dann konnte ich die Umrisse der vier Männer im Durchgang erkennen. Die beiden größeren mussten Julius und der Dunkelhaarige sein.
„Julius!“ Ich rief seinen Namen.
„Sonja. Liebes? Ich bin hier!“ Er wollte auf mich zukommen, doch der Anführer gab den Kidnappern mit einer Geste zu verstehen, dass sie ihn daran hindern sollten. Ich konnte nur ihre Schatten sehen, der Bereich beim Durchgang war nicht beleuchtet. Da ich unter dem Neonlicht saß, hatte Julius mich sicher besser gesehen, als ich ihn.
„Kann mich hier mal jemand ablösen?“, mischte sich der Glatzköpfige mürrisch ein. Endlich würde er zu seiner Zigarette kommen.
Der kleine Hellhaarige trat an seine Stelle. Er lehnte sich an die Wand und ließ seine Automatikwaffe nicht aus den Händen. Die anderen Männer verschwanden aus meinem Blickfeld. Das Licht im Flur wurde wieder ausgeknipst, wahrscheinlich waren sie in einen anderen Raum gegangen. Mein Herz schlug wie verrückt. Was würde passieren, wenn Julius diesen Vertrag unterschrieb? Ich biss mir fest auf die Unterlippe, um die quälende Anspannung auszublenden. Mein Kopf fiel zurück an die Wand und ich starrte in die verschwommenen Grenzen der dunklen Halle.
Ich wußte zuerst gar nicht, was passiert war. Plötzlich war alles stockdunkel. Ich hörte meinen Bewacher fluchen und registrierte, dass er sich von mir wegbewegte. Einen Atemzug später flüsterte jemand meinen Namen. Ich fühlte mich wie vom Blitz getroffen. Die Stimme kam von dort, wo diese riesige Maschine stand. Etwa zwei Meter von meiner Position entfernt.
Cem? Ich flüsterte zurück: „Cem? Was machst Du hier? Du musst den Verstand verloren haben!“
„Du hast recht! Das ist eine Möglichkeit, über die ich heute Abend bereits ausgiebig nachgedacht habe. Ich bin deinem Mann gefolgt!“
Das Licht ging nach und nach wieder in der ganzen Halle an. Ich blinzelte in Cem´s Richtung. Seine vertraute Gestalt verschwand gerade in einer schattenhaften Ausbuchtung der riesigen Maschine. Mein Bewacher kam auf mich zu. Misstrauisch beäugte er die Neonröhre über mir, die wieder ganz normal leuchtete.
„Bitte!“, flehte ich stöhnend und wand mich schmerzerfüllt. „Ich habe einen Krampf. Helfen sie mir hoch!“
Als er keine Anstalten machte, mir zu helfen, begann ich laut zu schreien.
„Verdammt! Halt die Klappe!“ Jetzt kam er mir endlich zu Hilfe.
Als er sich zu mir runter beugte, rammte ich ihm mit voller Wucht meine angezogenen Füße in die Schienbeine. Er verlor das Gleichgewicht und ging fluchend zu Boden.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Cem vorwärts schnellte und dem stürzenden Mann seinen Ellenbogen mit voller Wucht ins Gesicht rammte. Der hatte sich mit beiden Händen am Boden abgestützt, um den Fall abzubremsen und hatte diesen weiteren Angriff nicht kommen gesehen. Cem kniete auf einem Bein des Verbrechers und hieb mit einer schweren Waffe, die er in seinen Händen hielt, auf ihn ein. Er traf ihn mit einem dumpfen Laut an der Stirn. Der Mann sackte endgültig in sich zusammen. Schnell riss Cem ihm die Waffe aus den Händen und beförderte sie schlitternd einige Meter in den Raum hinein.
Ich bemerkte wie Cem einen Injektions-Pen öffnete.
„Was ist das?“, flüsterte ich überrascht.
„Gift!“, kam die Antwort. Er hielt dem regungslosen Mann den Pen an den Hals.
„Woher hast du das?“
„Spezialmischung von deinem Mann!“ Mit einem leisen Zischen verströmte der Pen seinen Inhalt.
Cem musterte mich aus verengten Augen. „Leidest du unter dem Stockholm-Syndrom, oder was?“
Ich überlegte. „Kann sein. Aber nicht bei dem da! Aber es gibt noch einen größeren Typ. Bei ihm hatte ich das Gefühl, er wird selbst gezwungen, hier mitzumachen. Vielleicht hilft er uns dabei Julius zu befreien.“
„Was sollte ich sonst machen? Er wird nicht lange so ruhig daliegen! Ich habe die Polizei gerufen, aber wer weiß, wann die eintreffen?“
Cem hatte ein kleines Messer aus seinem Stiefel gezogen und schnitt meine Fesseln durch. Sobald meine Hände befreit waren, fiel ich ihm um den Hals.
„Ich dachte, ich sehe dich nie mehr wieder!“, schluchzte ich mit den Nerven am Ende. „Was machen wir jetzt?“
„Dein Mann ist mit zwei weiteren Männern in einem Büroraum den Gang entlang!“
„Zwei? Dann muss da noch einer in der Nähe sein. Sie waren immer zu viert!“
„Den habe ich bereits draußen vor dem Gebäude erledigt!“, knurrte Cem grimmig. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen.
Daher hatte er also die Waffe. „Du bist tatsächlich komplett verrückt!“ Bei dem Gedanken, welche Gefahr er auf sich genommen hatte um mich zu befreien, musste ich nachträglich zu zittern.
Wir warten am besten ab, bis die Polizei eintrifft, schlug Cem vor. Endlich nahm er mich in den Arm. Ich schluckte und nickte.
„Wie hat der Mann draußen ausgesehen?“, erkundigte ich mich angespannt.
„So ein Hooligan-Typ mit tätowiertem Schädel.“
Ich atmete erleichtert auf. „Wir sollten das Licht hier wieder ausschalten", schlug ich vor. "Wenn sie herüberkommen, werden sie uns nicht gleich sehen."
„Gute Idee.“ Cem befreite sich aus meiner Umklammerung und ging vorsichtig zum Durchgang. Dort schaltete er alle Schalter, bis auf einen aus. Wir verbargen uns hinter einem Regal in einer dunklen Ecke nahe des Ausgangs. Keine Sekunde zu früh! Das Geräusch von Schritten hallte durch den Flur. Julius, flankiert von dem Anführer der Bande und dem dunkelhaarigen Mann, der eine Maschinenpistole trug, kam soeben in die Halle. Cem hob den Lauf der Waffe, die er bei sich hatte.
„What’s going on here?“ Alarmiert zog der Drahtzieher eine Pistole. Er hatte bemerkt, dass die Wache und ich uns nicht auf dem üblichen Platz befanden. Planlos zielte der Lauf der Waffe in den dunklen Raum.
Ich beobachtete die Reaktion des Dunkelhaarigen. Seine Augen schweiften konzentriert durch die Halle. Langsam schwenkte er seine Waffe auf den Befehlshaber. Cem und ich beobachteten atemlos aus unserem Versteck das Geschehen.
„What´s that supposed to mean?“ Überrascht zischte der Amerikaner seinen Handlanger an.
„Drop the Gun!“, sagte der ruhig.
Der Amerikaner blieb ungerührt stehen. Dann bewegte sich der Arm, der den Revolver hielt langsam. Der Dunkelhaarige feuerte eine Salve ab. Der Lärm hallte ohrenbetäubend durch den Raum. Erschrocken war ich zusammengezuckt. Es war offensichtlich nur ein Warnschuss gewesen. Er hatte den Amerikaner an der Schulter gestreift. Der ließ seine Waffe jetzt endlich fallen. Die beiden beäugten sich lauernd. Blut sickerte aus der Wunde des Anführers. Er blickte teilnahmslos darauf, dann verlangte er zu wissen, was hier gespielt wird.
„Dad! Stand behind me!“ Mit Herzklopfen beobachtete ich, wie Julius hinter den Dunkelhaarigen trat. Dad? Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Dieser vertraute Blick! Konnte es sein?
„Sonja?“ Julius hatte jetzt meinen Namen gerufen.
Langsam traten Cem und ich aus unserem Versteck.
„Julius? Was hat das zu bedeuten?“ Ich musterte meinen Mann fragend.
An seiner Stelle antwortete der Dunkelhaarige. „Mein Name ist Benjamin Adler. Ich bin FBI Undercover-Agent. Wir verfolgen diesen Mann hier, er nickte zu dem Verletzten, schon seit Jahren. Es gelang mir, sein Vertrauen zu gewinnen und mich wegen meiner Deutschkenntnisse unter falschem Namen beim Kartell einzuschleichen. Ich wusste nur nicht, dass die Zielperson mein eigener Vater sein sollte!“
Im nächsten Moment geschahen mehrere Dinge gleichzeitig!
Die Fenster in der Halle zerbarsten. Eine Stimme gellte durch das Gebäude: „Polizei! Sie sind umstellt! Ergeben Sie sich!“. Mehrere bis auf Augenschlitze vermummte dunkel gekleidete Polizisten stürmten durch den Flur herbei. Benjamin hob schnell seine Waffe über den Kopf. Cem ließ seine fallen. Ich beobachtete, wie der Amerikaner plötzlich eine neue Waffe in der Hand hielt und damit auf Benjamin zielte. Ich schrie erschrocken, war aber gleichzeitig wie gelähmt. Wie in Zeitlupe beobachtete ich, wie Julius seinem Sohn einen Stoß versetzte und sich vor ihn schob. Zwei schnelle Schüsse lösten sich aus dem Revolver und trafen Julius mitten in die Brust. Eine ganze Salve von Schüssen traf den Angreifer aus mehreren Richtungen. Die Polizisten hatten ebenfalls reagiert. Zu spät! Mit stummen Entsetzen sah ich, wie Julius in den Armen von Benjamin zusammenbrach. Cem hatte mich festgehalten, ich riss mich los und lief zu Julius.
„Benny!“ Er hatte nur Augen für seinen Sohn. Maßlose Verwunderung lag in diesem Blick.
„Dad! What are you doing?“ Benjamin hatte Tränen in den Augen. „No! Please, you can´t!“
„I´m damed lucky you´re my boy!“, flüsterte Julius. Blut drang aus seinem Mund. Er musste husten und noch mehr Blut kam zum Vorschein.
Ich schrie gellend nach einem Arzt. Versuchte das Blut, das aus seiner Brust sickerte mit den Händen aufzuhalten.
„Sonja!" Julius Stimme wurde immer leiser.
„Sch! Sei still. Wir bringen dich gleich ins Krankenhaus!“, flehte ich ihn an.
„... liebe dich.“ Dann verlor er das Bewusstsein.
Ein Arzt und Sanitäter mit einer Bahre kamen herbeigelaufen. Ich machte Platz. Sah ihnen dabei zu, wie sie Julius Hemd aufschnitten, um seine Wunden zu verarzten. Sie drehten ihn auf den Rücken und ich sah, dass dort noch viel schlimmere Wunden zu sehen waren, als auf seiner Brust. Am Boden hatte sich eine dunkle Blutlache gebildet. Ich spürte Cems tröstende Arme um mich.
Wie durch einen Nebel sah ich, wie Julius abtransportiert wurde. Einer der Sanitäter überprüfte meinen Blutdruck. Danach gab er mir eine Beruhigungsspritze, ich war zu geschockt, um es abzulehnen.
Julius Sohn zeigte dem Polizeiverantwortlichen seinen FBI-Ausweis und erzählte von dem Erpressungsversuch und seiner Rolle dabei. Er nannte auch den Namen des Toten, Don Rimmer. Benjamins Abteilung versuchte seit Jahren, ihm seine korrupten Machenschaften nachzuweisen. Mit den von Julius heute unterschriebenen Verträgen, hatten sie erstmals glaubhafte Beweise gegen das Kartell in der Hand. „Glauben Sie mir, wir haben es hier mit Strukturen zu tun, von denen selbst die Mafia noch etwas lernen könnte!“
Der Beamte wollte daraufhin wissen, ob er den Notruf gewählt hatte.
„Nein! Das war ich!“, meldete sich Cem zu Wort.
„Und Sie sind?“
Cem nannte seinen Namen. „Ein Freund der Familie“, fügte er hinzu. „Dr. Adler hat mich ins Vertrauen gezogen. Ich bin den Erpressern heimlich gefolgt und habe Sie dann verständigt.“
„Ist das Ihr Motorrad vor dem Gebäude?“
„Es gehört Dr. Adler, aber ich bin damit gefahren“, stellte Cem richtig.
„Dann geht der Tote vor dem Gebäude auf ihre Kappe?“, erkundigte sich der Beamte.
„Es war Notwehr.“ Cem wies auf die Waffe, die er vorhin fallen gelassen hatte.
„Davon sind wir ausgegangen. Sie waren ganz schön unvorsichtig. Wir haben den Toten überprüft. Er war ein international gesuchter Auftragskiller.“
„Ist die Befragung jetzt so wichtig?“, mischte ich mich ein. „Ich würde gerne zu meinem Mann ins Krankenhaus fahren, wenn es möglich ist.“
„Natürlich. Ein Wagen wird Sie hinbringen. Sie sollten sich auch noch einmal untersuchen lassen.“ Er verzog beim Anblick meines Gesichts mitleidsvoll den Mund.
„Ich bin OK.“ Das Beruhigungsmittel zeigte bereits Wirkung. Ich fühlte, wie mir das Denken zunehmend schwerer fiel. Ich konnte noch immer nicht fassen, was gerade passiert war. Im einen Moment hatte ich Angst gehabt, Cem könnte den Mann töten, der sich als Julius Sohn entpuppt hatte und jetzt drehten sich alle meine Sorgen um meinen Mann. Warum hatte er sich wissentlich in die Schusslinie begeben? Es musste wohl eine Art von väterlichem Reflex gewesen sein.
„Sie können natürlich auch mit zu Ihrem Vater fahren“, wandte er sich an Benjamin.
Cem begleitete uns bis zu dem Polizeiwagen. Fürsorglich lag sein Arm um meiner Schulter. Er strich mir zärtlich über die Wange, bevor er mir in das Fahrzeug half.
„Ich folge euch mit dem Motorrad", kam er meiner unausgesprochenen sorgenvollen Frage zuvor. „Ich will deinem Mann nicht erklären müssen, dass ich es hier zurückgelassen habe.“ Widerspruchslos nickte ich kurz.
Benjamin saß im Wagen neben mir am Rücksitz. Besorgt hielt er meine zitternde Hand.
„Ich dachte, Julius hätte keinen Kontakt zu seinen Kindern in Amerika?“, sagte ich müde.
„Er wußte stets, wo wir wohnten, und hat uns zu Weihnachten und an den Geburtstagen Geschenke und Geld geschickt. Ich habe alle seine Bücher gelesen.“
„Hat er dich sofort erkannt?“ Ich konnte nicht fassen, wie schrecklich es für Julius gewesen sein musste, seinen eigenen Sohn für einen Verbrecher zu halten.
„Ich glaube nicht sofort. Ich war zehn, als er mich zum letzten Mal sah. Rimmer hat ihm zum Glück nichts angemerkt. Es war meine größte Sorge, er könne meine Tarnung auffliegen lassen. Vorhin, als er die Verträge unterschrieb, erhielt Rimmer einen Anruf und war kurz abgelenkt. Da konnte ich ihm meinen Ausweis zeigen. Deshalb wusste Dad Bescheid.“
„Hätten diese Männer uns umgebracht?“, verlangte ich, endlich die Wahrheit zu wissen.
„Sie wollten einen Autounfall vortäuschen. Aber ja, so war es geplant“, sagte er gepresst.
Mir stellten sich nachträglich sämtliche Haare auf. „Du hättest das nicht zugelassen, oder?“ Ich musste wissen, ob mein Gefühl mich betrogen hatte.
„Mein Plan war, die drei auszuschalten, nachdem Vater die Verträge unterschrieben hatte. Dein ´Freund´ hat mir ja zum Glück die meiste Arbeit abgenommen.“
„Du hattest Glück, dass du ihm nicht in die Quere gekommen bist! Julius hat ihm Giftspritzen gemixt. Gott sei Dank! Er ist ein miserabler Schütze! Nicht auszudenken, er hätte dich mit einer von Julius Injektionen getötet.“
Der Wagen hielt direkt vor der Notaufnahme des Krankenhauses. Ein Polizist begleitete uns und erteilte die Erlaubnis, uns Auskünfte zu geben. Danach versprach er uns, vor dem Gebäude auf uns zu warten. Wir erfuhren, dass Julius notoperiert wurde. Cem war uns inzwischen gefolgt. Zu dritt warteten wir in einem verlassenen Warteraum, in dem nur ein Notlicht brannte. Ich hatte meinen Kopf an Cem´s Schulter gelehnt. Benjamin lief nervös auf und ab. Ich war jetzt froh über das Beruhigungsmittel, das mir gespritzt wurde. Auch so waren meine Nerven zum Zerreißen gespannt.
Als nach einer schieren Ewigkeit eine ältere Ärztin im Operationskittel im Warteraum erschien, brach eine Welt für mich zusammen. In ihrem Gesicht konnte ich die Nachricht ablesen, noch bevor sie ein Wort gesprochen hatte. Sie hatte Julius nicht retten können. Seine Lunge war zu stark geschädigt gewesen. Wie durch Watte, drangen ihre Erklärungen zu mir durch.
Sie erlaubte Benjamin und mir, uns von Julius zu verabschieden.
Inmitten der vielen, jetzt abgeschalteten, Geräte wirkte sein Gesicht friedlich. Als würde er nur schlafen. Ich bat meinen Stiefsohn darum, mich kurz mit ihm alleine zu lassen.
Zärtlich fuhr ich ihm durchs Haar und küsste seine Wange. „Es tut mir so leid! Bitte vergib mir!“, flüsterte ich unter Tränen. „Ich liebe dich!“
Es bedeutete mir nachträglich viel, dass er mir mit seinen letzten Worten seine Liebe versichert hatte.
Im Morgengrauen hielt der Polizeiwagen, der uns heimgebracht hatte, vor unserem Haus. Ich hatte Benjamin gebeten, bis zur Beerdigung bei mir zu wohnen, und er hatte zugestimmt.
Cem stellte das Motorrad in die Garage und verabschiedete sich von uns. Er wollte seine Kinder zur Schule bringen.
Ich richtete Julius Sohn in dessen Arbeitszimmer die Schlafcouch her, danach klopfte ich an Selmas Türe. Ich erklärte ihr in einer Zusammenfassung, was geschehen war. Cems Anteil daran verschwieg ich. Er konnte selbst entscheiden, wie und ob er es ihr sagen wollte. Dann bat ich sie, im Klinikum Bescheid zu geben. Selma umarmte mich unbeholfen. Dann begleitete sie mich bis zu meinem Schlafzimmer und versicherte mir, sich um alles zu kümmern. Erst jetzt erkannte ich, dass ich am Ende war. Die vergangenen Stunden hatten mich all meine Kräfte gekostet. Ich sank ins Bett und fiel in derselben Sekunde in einen traumlosen Schlaf.
Tag der Veröffentlichung: 19.08.2020
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