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Sonjas Verschwinden

 

 

Kaffee-Entzug ist für viele Menschen undenkbar. Wozu auch? Es gibt genug Studien, die ihm eine positive Auswirkung auf die Gesundheit nachweisen! Ich bildete hier keine Ausnahme. Der Gedanke an einen Morgen ohne den herrlichen Duft nach frisch aufgebrühten gerösteten Bohnen, war erschreckend. Weiters bedeutete er den Verlust der Kicks gegen die gewissen Tagestiefs. Wie sollte man diese denn sonst überstehen?

Dr. Sacher hatte mich eindringlich darauf hingewiesen, dass er den Kaffeekonsum für Patienten in meiner Situation, für bedenklich hielt. Ohnehin bekam ich die ersten Tage nach der Operation nur stilles magenschonendes Wasser. In der nüchternen Umgebung meines Krankenzimmers fiel mir anfangs nicht einmal auf, dass mir etwas fehlte. Ich schlief viel und musste mich sogar am Nachmittag, als Cem mit den Kindern zu Besuch kam, zusammenreißen, dass mir nicht die Augen zu fielen.

Die ersten Tage vergingen daher schnell. Erst als ich nach Hause durfte und mein Blick immer wieder wie magisch von der Espressomaschine angezogen wurde, ging es bergab.

Ich rief mir in Erinnerung, worauf der Arzt mich hingewiesen hatte. Kaffeegenuss begünstigte Blutzuckerschwankungen und diese konnten zu chronischen Entzündungsprozessen führen. Außerdem verursachte er Sodbrennen. Natürlich war an meinem Magenkrebs nicht der Kaffee schuld, obwohl ich es manchmal zugegebenermaßen etwas übertrieben hatte. Ich sollte, auf Anraten des Doktors, einen strengen Diätplan einhalten. Dazu gehörte, Gifte jeglicher Art zu meiden. Neben Kaffee zählte der Dr. Sacher noch Tabak, Alkohol und Medikamente auf. Die drei anderen Punkte betrafen mich nicht, doch alleine der Verzicht auf Koffein rief enorme Entzugserscheinungen hervor!

 Am liebsten hätte ich nach einigen Tagen abgebrochen. Es ging mir richtig schlecht! Dauerkopfschmerzen, Schwindel und diese extreme Müdigkeit. Mein ganzer Körper fühlte sich an wie Matsch. Ich war mir unsicher, ob alleine der Kaffeeentzug schuld war, doch Medikamente nahm ich nicht, also konnte es nur daher rühren. Cem und die Kinder nahmen meine Stimmungsschwankungen zum Glück tolerant zur Kenntnis, aber ohnehin war ich antriebslos und ließ mich nicht oft bei ihnen sehen. Verbrachte fast den ganzen Tag bei geschlossenen Vorhängen im Bett.

Bis zum Beginn meiner Therapie waren es nur noch vier Tage. Ich hoffte, mein Zustand würde sich bis dahin bessern. Cem kümmerte sich rührend um mich und die Kinder. Er hatte Rezepte aus dem Internet ausgedruckt, die meinem Diätplan entsprachen und es gelang uns tatsächlich, einige schmackhafte Gerichte zuzubereiten. Über manch andere Versuche betteten wir allerdings den Mantel des Schweigens und vernichteten die Rezepte, nachdem wir den Inhalt der halbvollen Teller auf den Kompost befördert hatten.

In den Tagen zwischen meinem Krankenhausaufenthalt und dem Beginn der Therapie war unser Familienleben so harmonisch wie noch nie. Die Kinder schlichen auf Zehenspitzen durchs Haus und sogar Dilara hielt sich mit ihren Launen zurück. Ich hatte daher viel Zeit zum Nachdenken.

Versäumte Erziehungsmaßnahmen kann man nicht ungeschehen machen, aber seit die Kinder von meiner bösartigen Krankheit wussten, verhielten sie sich anders.

Auch bei mir selbst bemerkte ich einen Unterschied. Der Blick in den Spiegel diente nicht mehr ausschließlich zur Überprüfung meines Erscheinungsbildes.

Warum ich? Ich war überfordert. Trotz der liebevollen Fürsorge meiner Lieben, fühlte ich mich alleine. Oft stiegen mir Tränen in die Augen, wenn ich mein Spiegelbild betrachtete. In den tiefen, schwarzen Pupillen fand ich eine Ehrlichkeit, die ich früher nicht gesehen hatte. Beim ersten Mal sah ich nur mein zu Tode erschrockenes Ich, doch je öfter ich es tat, desto besser gelang es mir, mich selbst zu erkennen. Mir Fehler einzugestehen. Ich hatte viele meiner Träume so lange zur Seite geschoben, dass sie beinahe in Vergessenheit geraten waren. Als junge Frau hatte ich noch das Gefühl gehabt, über mich hinauswachsen zu können, doch irgendwann hatte die Vernunft das Kommando übernommen.

Jetzt war da plötzlich diese Angst, es könnte zu spät sein.

Ich schloss also einen Pakt mit meinem Spiegelbild. Wenn wir es schaffen würden, den Krebs zu besiegen, musste sich einiges ändern! Ich würde sicher nicht den Kopf in den Sand stecken und meinen Zustand leugnen! So konnte ich nichts ungeschehen machen. Aus diesem teuflischen Alptraum gab es kein Erwachen. So leicht kann man sich seiner Probleme nicht entledigen. Ich war mir der Tragweite der Diagnose vollkommen bewusst.

Ich hatte meine Träume geopfert. Meine Ansprüche ans Leben für die Familie zurückgestellt. Meine Kinder waren das Wichtigste für mich, aber ich selbst war auch wichtig!

 

Für Sami hatten wir eine Nachmittagsbetreuung organisieren können, von der Cem ihn nach der Arbeit abholen würde. Die Mädchen sollten den Bus nehmen, oder bei schönem Wetter mit dem Fahrrad zum Bahnhof fahren. Das hatte in den letzten Tagen schon prima geklappt. Ich war erleichtert, dass alles so reibungslos funktionierte.

Cem brachte mich und meinen Koffer schließlich am Abend vor dem Beginn der Therapie ins Yogamedikum.

„Ich bin nervös! Es fühlt sich komisch an, als würde ich alleine auf Urlaub fahren.“

„Vielleicht ist es sogar gut, wenn du es als Urlaub betrachtest. Immerhin sollst du dich erholen!“ Er hob meinen riesigen schweren Koffer aus dem Wagen.

„Wenn ich es gar nicht aushalte, kann ich notfalls immer noch zu Fuß nach Hause gehen“, scherzte ich.

„Nicht mit dem hier!“, ächzte Cem unter dem Gewicht des Koffers, den er wegen der gekiesten Einfahrt trug. „Hast Du Steine eingepackt?“

„Ein paar Bücher, vielleicht komme ich endlich dazu sie zu lesen.“ Ich trug eine kleine Sporttasche und meinen Kosmetikkoffer.

Sonja hatte mir am Telefon gesagt, wir sollten gleich an ihrer privaten Haustüre klingeln, damit wir das Gepäck nicht quer durchs Gebäude schleppen mussten. Also drückte ich den Klingelknopf. Ein eindringliches „Ding Dong“ und fast zeitgleich ein polterndes Geräusch drang durch die Tür. Kurz darauf öffnete Sonja kopfschüttelnd mit einem grinsenden Gesicht die Tür.

„Hallo. Ich habe schon auf dich gewartet! Was man von Buddha hier nicht behaupten kann.“ Sie hielt eine große weiße Katze im Arm. „Er hat gerade fast einen Herzschlag bekommen, so oft läutet hier niemand. Ich habe ganz vergessen dich zu fragen, ob du eh keine Katzenallergie hast? Wir haben drei Katzen!“, sie hatte besorgt die Stirn gerunzelt.

„Nein, ich glaube nicht. Als Kind hatte ich selbst Katzen“, beruhigte ich sie.

„Dann muss ich mir wohl keine Sorgen machen. Kommt rein!“

Cem berührte mich sanft am Ellbogen. „Schatz! Ich fahre lieber gleich zurück zu den Kindern! Nicht dass sie noch was anstellen.“

Ich war überrascht. Immerhin kannte er Sonja besser als ich. Ich sah ihm allerdings an, dass er sich unbehaglich fühlte, deshalb umarmte ich ihn und gab ihm einen kurzen Kuss. Cem und Sonja nickten sich freundlich zu.

„Ich werde gut auf sie aufpassen, mach dir keine Sorgen!“

Cem räusperte sich. „Ich weiß. Danke noch einmal für deine Hilfe!“

Sonja nahm ihm den Koffer ab und rollte ihn den Flur entlang. „Komm Selma! Ich zeige dir dein Zimmer!“

Ich schloss die Haustüre und folgte ihr. Hier sah es ganz anders aus als im Therapiezentrum. Antike Möbelstücke, alte Deckenlampenschirme und teure Teppiche vermittelten den Eindruck, in einem Schloss zu sein.

Sonja bemerkte meine neugierigen Blicke. „Beim Umbau konnte ich mich von einigen Stücken einfach nicht trennen und habe alles hierher in die Wohnung geschleppt. Das meiste stammt noch von meinen Großeltern!“

Ich war überrascht. War Sonja hier etwa aufgewachsen? Sicher würde sie mir noch mehr darüber erzählen.

Sie öffnete eine Türe. „So, das ist für die nächsten fünf Wochen dein Reich!“

Ich war baff. Das war nicht nur ein Gästezimmer. Wir standen in einem geräumigen Wohnzimmer mit Schreibtisch, Fernseher und offenem Kamin. Eine Tür führte in ein Schlafzimmer, eine weitere in ein komplett ausgestattetes Badezimmer mit Wanne und WC.

„Das ist ja eine richtige Wohnung!“

„Meine Mutter wohnt hier, wenn sie auf Urlaub zu uns kommt.“ Sonja nickte entschuldigend zu den vielen Fotos an den Wänden. „Deshalb hängen hier auch so viele Familienfotos herum.“

Ich sah mir eines der Bilder näher an. „Ist das deine Mutter?“ Das Foto zeigte Sonja und eine Frau, die ihr ähnlich sah. Beide trugen indische Saris.

„Ja. Sie lebt seit über zwanzig Jahren in Indien. Sie hat dort ein kleines Hotel für Yoga und Ayurveda.“ Sonja wies auf eine andere Aufnahme. Sie zeigte ein bezauberndes traditionelles Gebäude in einem palmengesäumten Garten. Vor dem Eingang standen wieder Sonja und ihre Mutter und drei Inder. „Das sind ihr Mann und meine Halbgeschwister. Adoptierte Halbgeschwister. Anjali wirst du bald kennenlernen. Sie arbeitet bei uns als Ayurveda-Therapeutin.“

„Warum wohnt sie nicht hier in der Wohnung?“

„Sie hat ein kleines Appartement unter dem Dach. Die jungen Leute haben gerne mehr Privatsphäre.“

Es gab noch viele weitere gerahmte Aufnahmen. Hochzeitsfotos. Familienporträts. Urlaubsbilder. Ich hatte ja genug Zeit, sie mir in Ruhe anzusehen.

Sonja war zum Schreibtisch gegangen. „Hier ist dein Tagesprogramm für morgen! In Zukunft bekommt ihr es immer beim Abendessen.“

„Ich dachte wir werden hier die erste Zeit fasten?“

„Das heißt aber nicht, dass es gar nichts geben wird.“ Sonja lachte. „Es gibt Suppe und Tees. Zum Frühstück auch Smoothies. Am Abend gibt es dafür Vorträge und Zeit sich mit den anderen Patienten zu unterhalten. Apropos Essen! Hast du schon zu Abend gegessen?“

„Ja. Danke.“

„Ich zeige dir noch den Rest der Wohnung. Du sollst dich ja hier wie zu Hause fühlen.“

Ich stellte meinen Kosmetikkoffer und die Sporttasche ab und folgte ihr.

Es gab eine Küche mit Essecke, die allerdings ziemlich unbenutzt aussah. Sonja meinte dazu, sie und ihr Mann würden immer mit den Angestellten im Therapiezentrum essen. Eine Balkontüre führte auf eine geräumige Terrasse, von der man in den Garten gelangte. Durch einen Durchgang ging es in das Wohnzimmer. Eine große bequem aussehende Couch beherrschte den Raum. Auf dem Couchtisch und sämtlichen anderen Ablageflächen lagen Zeitschriften und Magazine gestapelt. Die Regale und Schränke waren mit Büchern vollgestopft. Auch hier gab es viele antike Möbelstücke.

Neben der Küche lag das Arbeitszimmer von Sonjas Mann. Die Türe war nur angelehnt. Dr. Adler saß hinter seinem Schreibtisch und stand auf um mich zu begrüßen und willkommen zu heißen. Wir wechselten einige belanglose Sätze, dann setzte Sonja die Tour fort.

„Wir lassen hier meistens alle Türen offen, wegen der Katzen. Sie sind fürchterlich verzogen. Wenn du sie nicht im Bett haben willst, musst du also deine Türen immer gut schließen! Sie dürfen sonst überall hin, nur nicht auf die Küchenanrichte“, erklärte Sonja den Hausbrauch.

Sonja hatte ebenfalls eine Art Arbeitszimmer. Es war eine chaotische Mischung. Eine Yogamatte lag mitten im Raum. Einige Kissen waren auf dem Boden verstreut. Auf mehreren gespannten Tüchern trockneten Kräuter. Am Schreibtisch stand ein aufgeklappter Laptop. Es gab einen großen Arzneischrank und auch hier waren die Regale mit Büchern vollgestopft. Es roch nach Räucherstäbchen.

„Magst du eine Tasse Tee? Ich stelle mir hier immer meine eigenen Mischungen zusammen. Wie man sieht!“, Sonja wackelte ironisch mit dem Kopf.

Sie goss aus einer Karaffe Wasser in den Kocher und ließ mich an mehreren Gläsern schnuppern.

„Ans Teetrinken muss ich mich erst wieder gewöhnen. In der Türkei trinken wir meistens schwarzen Tee.“ Ich war ein wenig ratlos. Ich entschied mich für eine Mischung, die eher fruchtig roch.

Sonja setzte sich auf eines der Kissen auf dem Boden. Also blieb mir nichts anderes übrig, als es ihr gleichzutun, bis der Tee fertig war. Wir unterhielten uns über die Operation und unsere Kochversuche in der letzten Woche.

Der Tee war ganz gut, obwohl Sonja keinen Zucker da hatte. Sie prophezeite mir eine lange zuckerlose Zeit hier. „Wenn es gar nicht geht, gibt es Honig“, versprach sie zum Trost.

Wir setzten den Rundgang fort. Die anderen Türen führten in das Schlafzimmer, Badezimmer und Toilette der Adlers. Eine Treppe ging in den Keller und durch eine durch ein Magnetschloss gesicherte Türe gelangte man ins Therapiezentrum. Sonja gab mir eine Chipkarte, mit der ich diese öffnen konnte und einen Schlüssel für die Haustüre.

„Ich lasse dich jetzt auspacken und ankommen. Wenn du etwas brauchst, ich bin im Wohnzimmer. Falls du Lust auf eine Liebeskomödie hast, kannst du dich gerne dazusetzen.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich lege mich hin. Der Tee hat mich etwas müde gemacht.“

„Das kann gut sein. Da war Zitronenmelisse dabei. Die wirkt beruhigend. Den Plan für morgen hast du ja bereits. In der Früh starten wir mit Yoga. Den Yoga-Raum kennst du ja schon! Anschließend gibt es Frühstück im Speisesaal. Das wirst du dann morgen alles kennenlernen.“

„Danke Sonja. Für Alles! Gute Nacht!“

Ich ging in mein Gästezimmer, um den Koffer auszuräumen. Im Schlafzimmer war ein Schrank freigeräumt, in dem ich meine Sachen verstauen konnte. Die restlichen Kästen waren voller Kleidung. Wahrscheinlich gehörte sie Sonjas Mutter. Ich schloss die Vorhänge.

 

Die Therapie am nächsten Morgen begann mit einer Atemübung. Bisher hatte ich mir über das Atmen nur wenig Gedanken gemacht. Das erste Mal in der Yoga-Stunde bei Sonja vor zwei Wochen. Sie hatte gewitzelt, dass die meisten Menschen gerade so viel atmeten, dass es zum Überleben reicht. Nun, ich hatte jedenfalls zu diesen Menschen gehört. Sie sprach von bewusstem Atmen und von Prana. Es sollte Körper und Geist zusammenführen und so den Körper mit mehr Energie überschwemmen. Ich fand den Vergleich passend, denn die Atemtechnik fühlte sich wie eine Welle an, die sich durch meinen Körper bewegte. Tatsächlich spürte ich nach wenigen Minuten wieder dieses Kribbeln in Händen und Füssen.

Langsam ging die Atemübung in einfache Bewegungsabläufe über, bei denen man sogar die Augen geschlossen halten konnte. Sonja nannte es den Sonnengruß. Darauf gab es noch Übungen, den Körper zu dehnen. Entspannungsübungen und eine kurze Meditation. Danach ging es zum gemeinsamen Frühstück.

Es gab eine fixe Tischeinteilung. Ich saß an einem Vierer-Tisch mit zwei anderen Frauen und einem Mann.

Maria war etwa in meinem Alter und litt seit Jahren an starkem Rheuma. Doris hatte Brustkrebs und Paul, den ich auf mitte Fünfzig schätzte, Hautkrebs. Ich war anfangs eher ruhig, da ich nicht wusste, wie sie meine türkische Abstammung aufnehmen würden. Doch sie zerstreuten schnell alle Bedenken und behandelten mich ganz normal. Für Intoleranz jeglicher Art hatte ich ein gutes Gespür. Wir verglichen unsere weiteren Programmpunkte und loteten Gemeinsamkeiten aus. So stand bei uns allen ein Waldspaziergang am Nachmittag im Programm.

Jeder von uns erhielt ein großes Glas Smoothie. Ich kannte nur die Sorte aus dem Supermarkt, mit der man sich einredet seinem Körper etwas Gutes zu tun. Die Variante hier schmeckte komplett anders. Viel besser! Viel gesünder! Viel sättigender!

Am Buffet lagen kleine Kärtchen mit dem Rezept dafür. Sie waren wohl dazu gedacht, sie zu Hause nachzumixen. Erstaunt las ich, dass die grüne Farbe von Brennnesseln herrührte. Es wurde auch Kräutertee serviert und jeder von uns bekam seine speziell auf das Krankheitsbild abgestimmte Mischung. Obwohl das Frühstück nur aus Flüssigkeiten bestanden hatte, fühlte ich mich ausreichend gestärkt. Jeder von uns erhielt eine schöne mit stillem Wasser gefüllte Glasflasche, in der ein Edelstein eingearbeitet war. Maria, die bereits das dritte Mal hier war, erzählte, dass man die Flaschen nach der Therapie kaufen und nach Hause mitnehmen konnte. Jeder von uns musste die Flasche bis zur nächsten Mahlzeit ausgetrunken haben. So sollte gewährleistet werden, dass wir genug Flüssigkeit zu uns nahmen.

Zuerst musste ich zur Blutabnahme. Danach stand eine Ayurveda-Behandlung auf dem Programm, auf die ich schon sehr gespannt war. Ich war neugierig auf Sonjas Schwester.

Anjali machte zu Beginn eine Art Test mit mir. Sie erklärte mir, dass es nach Ayurveda verschiedene Typen gäbe, die unterschiedliche Anwendungen erforderten. Zuerst behandelte sie mich, indem sie mit warmen sandgefüllten Beuteln meinen ganzen Körper abklopfte und so massierte. Danach ölte sie mich überall mit einer entschlackenden Mischung ein und steckte mich für zwanzig Minuten in einen Schwitzkasten. Es war komisch aber ungeheuer wohltuend. Ich genoss die ungewohnte Aufmerksamkeit, die meinem Körper zugute kam sehr.

Nach der Behandlung hatte ich bis Mittag Zeit mich zu erholen.

Es war ruhig in der Wohnung. Ich sah aus dem Fenster. Das Wetter war schön, die Sonne schien und der Himmel strahlte in einem wolkenlosen Blau. Ich ging in die Küche und holte mir ein Wasserglas, um den Rest meiner Trinkflasche aufzubrauchen. Dann öffnete ich die Terrassentüre und trat ins Freie. Auf einer altmodischen Hollywood-Schaukel lag eine von Sonjas Katzen. Ich setzte mich neben sie und fing an sie zu streicheln. Sie quittierte meine Zuwendung mit einem zufriedenen Schnurren.

Ich war wohl eingedöst, denn als eine aufgebrachte Stimme meine Aufmerksamkeit erregte, fühlte ich mich einen Moment orientierungslos. Man kam von der Küche nach draußen, oder über eine zweite Tür, von Dr. Adlers Arbeitszimmer. Ich hätte mich unauffällig über die Küche wieder zurück ins Haus schleichen können, aber etwas an dem Tonfall der Stimme, die zur geöffneten Terrassentür heraus dröhnte, fesselte meine Neugier. Leise stand ich auf und schlich näher in die Richtung der Quelle der lauten Worte. Es musste sich um ein Telefonat handeln, denn ich bemerkte nun deutlich, dass es sich nur um eine einzige Stimme handelte.

„You know what?“, die Stimme wurde zu einem Fauchen, „you can put your idiotic demands anywhere else!  If you think you can scare me, you’re wrong.“

Natürlich konnte ich nicht hören, was am anderen Ende der Verbindung gesprochen wurde, doch durch einen kleinen Spalt im Vorhang sah ich, wie Dr. Adler wie vom Blitz getroffen innehielt. Fast ließ er die Tasse fallen, die er in der anderen Hand hielt. Es sah aus, als hätte er sich die Hand verbrüht, als der heiße Inhalt überschwappte. Rasch stellte er die Tasse zur Seite und trat einen Schritt näher zu dem Vorhang, hinter dem ich mich verbarg. Offensichtlich wollte er die Hand daran abwischen. Ich hielt die Luft an. Zu spät!

„You dirty scum!“, brüllte er jetzt in das Handy in seiner anderen Hand. Im selben Moment hatte er mich entdeckt.

Dr. Adler stand vor mir, sein Gesicht zeigte Überraschung. In seinen Augen zeichnete sich eine Bestürzung ab, als hätte ich ihn soeben bei einem abscheulichen Vergehen ertappt.

Ich hatte den Mund reflexartig zu einem angestrengten Lächeln verzogen, das mittlerweile erstarrt war. Sicher sah ich aus, wie ein auf frischer Tat ertappter Einbrecher. Mir fiel absolut nichts ein, was ich hätte sagen können, daher bemühte ich mich noch intensiver zu Lächeln.

„Frau Egin?“, sagte er. Seine Frage klang wie ein Vorwurf.

Ich wollte im Erdboden versinken. Den beiden Wörtern folgte eine Stille, die sich unangenehm in die Länge zog. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg aus dieser unbehaglichen Situation. Dr. Adler studierte inzwischen mein starres Gesicht.

„Ich, äh, wollte gerade zum Mittagessen gehen“, brachte ich endlich mühsam hervor.

Unentwegt drang eine leise ebenso erregte Stimme aus dem Handy in Dr. Adlers Hand. Ich kümmerte mich aber nicht mehr darum etwas zu verstehen, sondern suchte mein Heil aus dieser unangenehmen Situation in der Flucht.

 

Mein Englisch hatte ich seit meiner eigenen Schulzeit eher vernachlässigt. Ein wenig hatte ich es durch das Vokabelabfragen bei den Mädchen wieder aufgefrischt, zumindest konnte ich mir einen Reim darauf machen, was ich soeben gehört hatte. Es hatte nach einem handfesten Streit geklungen. Wie peinlich! Ich wohnte noch keine 24 Stunden bei den Adlers und schon hatte ich Dr. Adlers Privatsphäre verletzt. Ich flüchtete regelrecht zum Mittagessen.

Die heitere Stimmung meiner Tischkollegen brachte mich schnell auf andere Gedanken. Wir aßen unsere Suppe aus ausgekochtem Gemüse und tranken unsere Tees. Danach ging es auf zum Waldspaziergang, wo wir unsere Vormittagserlebnisse austauschten. Ich schickte meiner Familie ein Selfie mit meinen neuen Freunden.

Vor dem Abendessen stand wieder Yoga am Programm.

Nach dem Essen, es gab Suppe und Tee, hielt einer der Ärzte einen Vortrag über die Vorteile des Heilfastens. Obwohl es gar nicht nötig war mich zu motivieren, ich fühlte mich überhaupt nicht hungrig und witzigerweise hatte ich kein einziges Mal den Wunsch nach einer Tasse Kaffee verspürt.

„Beim Fasten werden kranke Zellen unseres Körpers geschwächt und ausgeschieden. Außerdem hat das Fasten eine entzündungshemmende Wirkung und es stärkt das Immunsystem“, erzählte der Arzt.

Er sprach unter anderem über Krebs und erklärte, dass dieser nur in einem sauren Bereich wuchs. Mit einer basischen Ernährung konnte man ihm die Wachstumsgrundlage entziehen. Mit einer glukosefreien Ernährung konnte man ihn sogar aushungern. Das erklärte zumindest, warum es im gesamten Haus keine zuckerhaltigen Speisen und Getränke gab! Dann ging er noch auf die lange Tradition des Fastens ein, die in fast allen großen Religionen eine zentrale Rolle spielte.

Es war ein durchaus interessanter Vortrag gewesen. Er hatte mir noch einmal bewusst gemacht, welch großes Glück ich hatte, durch Sonja diese Form der Behandlung genießen zu dürfen.

Ich sah auf die Uhr. Es war höchste Zeit zu Hause anzurufen!

 

So abwechslungsreich wie der erste Tag begonnen hatte, ging es die ganze Woche weiter. Jeden Tag wurde mir Blut abgenommen und meine Blutwerte überprüft. Dr. Adler erklärte mir in einem Gespräch das vorübergehende Absinken der Leukozyten. Er  beruhigte mich, dass nur alte Zellen ausgemustert werden und schon bald mit einem ganzen Schwung neuer zu rechnen wäre. Nach einer Woche durfte ich mit dem Fasten aufhören. Nun sollte ich mit gesunder pflanzlich vollwertiger Kost auf die danach folgende Zellgift-Therapie vorbereitet werden.

Ich fühlte mich so gut wie schon ewig nicht.

Seit einigen Tagen ging ich lieber alleine im Wald spazieren. Ich hatte bemerkt, wie mir dabei immer wieder kreative Einfälle im Kopf herumgespukt waren, die ich danach am Schreibtisch in meinem Gästewohnzimmer zu Papier gebracht hatte. So hatte ich schon eine Kollektion von Entwürfen gezeichnet.

Cem hatte mir extra den Skizzenblock vorbeigebracht und mir dabei ein Kompliment über mein Aussehen gemacht. Die Kinder hatte ich am Wochenende zu Letzt gesehen. Wäre ich nicht gerade in so einer Hochstimmung gewesen, hätte ich mich betrübt gewundert, wie wenig ich zu Hause vermisst wurde.

 

Schließlich begann meine eigentliche Krebs-Therapie. Ich nahm an einer offiziellen Studie zu einem neuen Medikament teil. Grundlage war ein natürliches Zellgift, das Dr. Adler weiterentwickelt hatte.

Ich war nervös, als ich die erste Infusion erhielt. Zum Schutz vor den ärgsten Nebenwirkungen musste ich einige Tabletten schlucken. Die erste Behandlung nahm mir dann die meiste Angst. Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt, als es gewesen war. Ich bekam zwar etwas Kopfweh und fühlte mich danach todmüde, aber ansonsten hielten sich die Nebenwirkungen in Grenzen. Dr. Adler hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass wohl nach einiger Zeit mit schlimmeren Nebenwirkungen zu rechnen wäre. Das verabreichte Zellgift würde wohl auch meine Haar- und Hautzellen angreifen. Wobei es sicher nicht so schlimm kommen würde, wie bei einer herkömmlichen Chemotherapie.

 

Nach einer weiteren Infusion ging ich eines Tages zurück in mein Zimmer, um mich niederzulegen. Im Flur traf ich Gertrude, eines der Zimmermädchen. Wir grüßten uns kurz und sie öffnete die Tür zu Dr. Adlers Arbeitszimmer.

„Du lieber Himmel!“, rief sie laut.

Neugierig sah ich ihr über die Schulter. Dr. Adler stand an einem der Bücherregale.

„Wurde hier eingebrochen?“, erkundigte sich Gertrude beim Doktor.

Es sah wirklich übel aus. Bücher lagen verstreut am Boden. Die Vorhänge waren heruntergerissen, sogar Bilder waren von den Wänden abgehängt worden.

Dr. Adler wirkte hektisch. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen.

„Nein. Es ist alles in Ordnung. Ich hatte nur etwas gesucht!“, versuchte er die Reinigungskraft zu beruhigen.

Ich hatte noch das peinliche Zusammentreffen auf der Terrasse an meinem ersten Tag im Hinterkopf, deshalb stahl ich mich unauffällig davon und ging schnell in mein Zimmer. Ich hoffte, er hätte mich nicht gesehen.

Wer suchte etwas in Vorhängen und hinter Bildern? Ich war aufgewühlt. Mein Herz klopfte. Irgendetwas stimmte doch nicht mit diesem Arzt! Ich fragte mich, ob ich Sonja einmal darauf ansprechen sollte, vielleicht hatten sie irgendwelche Probleme? Entschied mich aber dagegen, ich war ihr Gast und sollte mich lieber nicht in ihre Angelegenheiten einmischen, befand ich.

 

Sonja und ihren Mann sah ich hauptsächlich im Therapiezentrum. In der Wohnung liefen wir uns kaum über den Weg. Ich blieb abends meist noch mit meinen Tischkollegen sitzen und danach ging ich sofort in das Gästezimmer. Nur an den Wochenenden sah ich die beiden öfters zusammen in der Wohnung.

So war es nur ein Zufall, dass ich eines Tages Sonja im Flur über den Weg lief und wir einige belanglose Sätze über die Katzen wechselten.

Das Gespräch endete als Sonja in der offenen Haustüre stehend meinte: „Ich habe ganz vergessen Katzenfutter einzukaufen! Ich fahre schnell in die Stadt um etwas zu besorgen. Soll ich dir etwas mitnehmen?“

Ich verneinte dankend und sah ihr winkend nach, wie sie mit ihrem Elektroauto davonrollte.

 

Am nächsten Tag saßen wir Patienten bereit für das Morgen-Yoga auf unseren Matten und unterhielten uns. Sonja war noch immer nicht da! Sie war bereits eine Viertelstunde über der Zeit, das war sogar für sie eine ziemliche Verspätung. Wir beschlossen daher, selbstständig mit den Übungen zu beginnen. Immerhin waren wir bestens eingeschult worden. Es war trotzdem komisch, ohne Sonjas Anleitung. Sie ließ sich die ganze Stunde nicht mehr blicken und wir fragten daher bei der Servicekraft im Frühstücksraum nach, ob sie Sonja heute schon gesehen hätte. Fehlanzeige!

Im Laufe des Vormittags, stellte sich heraus, dass das ganze Therapiezentrum in hellem Aufruhr war. Dr. Adler hatte den übrigen Therapeuten anscheinend von einer überraschenden Seminarreise erzählt, an der Sonja ganz kurzfristig teilnahm.

Ich hatte, nachdem ich meine tägliche Infusion bekommen hatte, um zehn Uhr einen Termin bei der Astrologin. Es war bereits mein drittes Mal bei ihr. Ich erinnerte mich an meine erste Begegnung mit ihr. Sie hatte sich mein Geburtshoroskop vorab angesehen und mir anhand einer Grafik erklärt, was die Sterne mir in die Wiege gelegt hatten. Es war faszinierend! Obwohl ich dem Thema äußerst skeptisch gegenüber gestanden hatte, musste ich zugeben, dass sie mit ihren Einschätzungen den Nagel ziemlich genau auf den Kopf getroffen hatte. Als ich ihr von meinem Traum erzählt hatte, Designerin zu werden, wusste sie sofort, welchen Stil ich bevorzugte. Sie konnte mir sogar erklären, warum ich das tat.

In den weiteren Gesprächen hatte sie mir erklärt, warum ich Probleme damit hätte Glück und Lob anzunehmen. Ich erzählte ihr davon, dass ich mich schon in der Schule für jeden Fehler, den ich gemacht hatte, geschämt hatte, obwohl ich meist ohnehin nur Einser schrieb.

„Du feilst so lange an deinen Entwürfen, bis du alles Überflüssige eliminiert hast. Stimmt´s?“, fragte sie mich einmal. Und ich musste ihr Recht geben.

Sie erzählte mir von den auffälligen Planeten in meinem sechsten Haus. Das darin meine unermüdliche Schaffenskraft läge, aber eben auch ein großes Konfliktpotenzial. Sie zeigte mir anhand meines Geburtsbildes eine Drachenfigur, deren Kopf dort lag. Der Schwanz des Drachen lag bei mir im Zeichen Steinbock und beim Planeten Saturn im zwölften Haus. Daher rührte wohl mein überwiegender Realitätssinn. Nach und nach erklärte sie mir, worauf diese Drachenfigur bei mir hindeutete. Dass ich ein großes und ein kleines Talentdreieck besaß. Sie sah innere Stabilität, aber auch einen Entwicklungsauftrag, an meiner Vollkommenheit zu arbeiten, meine Talente zu nutzen und zu leben.

Heute wollten wir eigentlich darüber sprechen, wie ich mit Botschaften aus meinem Inneren und meiner Furcht vor den Gespenstern der Vergangenheit, die an meinem Selbstbewusstsein nagen würden, umgehen sollte. Und wie ich meinen kaum zu bremsenden Arbeitseinsatz kontrollieren könnte. Doch Barbara, so hieß die Astrologin, wollte zuerst alles wissen, was ich über Sonjas Verschwinden wusste.

„Ich weiß eigentlich gar nichts darüber“, sagte ich wahrheitsgemäß zu ihr. „Nur dass sie heute nicht zum Morgen-Yoga kam und dass ihr Mann meinte, sie würde an einem kurzfristigen Seminar teilnehmen.“

„Aber du wohnst doch bei ihr in der Wohnung?“, redete Barbara auf mich ein. „Hat sie das nicht erwähnt? Ihr seht Euch doch sicher regelmäßig?“

Ich erklärte Barbara, dass wir uns eigentlich nur oberflächlich kannten und es ein purer Zufall war, dass Sonja mir ihr Gästezimmer angeboten hatte. Doch sie drang weiter auf mich ein.

„Wann hast du Sonja das letzte Mal gesehen?“

Ich überlegte. Dann erzählte ich ihr, wie ich Sonja gestern Nachmittag nachgewunken hatte, als sie zum Einkaufen aufbrach. Jetzt wunderte ich mich selbst, dass mir das nicht schon längst komisch vorgekommen war. Die Medikamente beeinträchtigten offensichtlich inzwischen mein Denken. Sie hatte da keine Andeutung gemacht, heute nicht im Haus zu sein, obwohl wir einige Minuten miteinander gesprochen hatten.

Ich dachte an den seltsamen Zwischenfall mit dem verwüsteten Arbeitszimmer von Sonjas Mann. Meine Beunruhigung wuchs. Ich konnte das Ende der Sitzung kaum mehr erwarten und beschloss Dr. Adler aufzusuchen und ihn konkret auf Sonja anzusprechen.

 

Ich fand ihn in seinem Arbeitszimmer in der Wohnung. Nachdem ich kurz an die offene Türe geklopft hatte, sah er von seinem Bildschirm auf und bat mich hinein.

„Ich wollte nur fragen, wann Sonja zurückkommt? Sie wollte mir gestern etwas aus dem Supermarkt mitnehmen, aber ich habe sie seither nicht gesehen?“, flunkerte ich ihm vor.

Er räusperte sich unbehaglich. „Sonja ist unerwartet ein paar Tage weggefahren.“

„Sie hat ihnen nicht zufällig Bescheid gegeben, wo sie meine Sachen hingetan hat?“

„Nein, tut mir leid.“

„Na gut. Ich werde sie anrufen.“ Ich wartete noch einen Moment, ob er etwas darauf antworten würde. Doch er saß nur unbewegt da und war kreidebleich im Gesicht.

„Geht es ihnen gut?“, erkundigte ich mich besorgt.

„Was?“ Er wirkte irritiert. „Ja. Ja. Mit mir ist alles in Ordnung.“

Es war sonst nicht seine Art zu stottern.

„Sie können es mir sagen, wenn etwas wäre“, startete ich einen letzten Versuch.

„Danke. Das ist sehr nett von Ihnen Frau Egin. Aber wie gesagt, es ist alles in Ordnung.“

Es blieb mir nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten.

 

Auch beim Mittagessen war Sonjas Verschwinden ein Thema. Doris hätte am Vormittag einen Termin bei Sonja gehabt und war sauer, weil ihr niemand sagen konnte, wann der Termin nachgeholt werden konnte. Ich ärgerte mich über ihre abfälligen Bemerkungen. Was wenn Sonja etwas zugestoßen war? Ich wunderte mich selbst über diesen Gedanken. Warum sollte Dr. Adler alle anlügen? Sicher war sie tatsächlich zu einem Seminar gefahren! Ich zwang mich dazu, an etwas anderes zu denken.

 

Kurz vor dem Abendessen kam Cem vorbei. Ich hatte ihn gebeten mir eine warme Weste vorbeizubringen. Er hatte vorher angerufen und ich hatte an der Haustür auf ihn gewartet.

„Kommst du kurz mit rein?“ Fast rechnete ich mit einer Absage. Er war bisher nur wenn die Kinder dabei waren reingekommen. Doch ich hatte mich geirrt. Er ging mir nach ins Gästezimmer und während ich ihm von den letzten Tagen berichtete, sah er sich die Fotos im Wohnzimmer an. Ich saß am Schreibtisch und malte eine meiner Skizzen mit Farbe aus.

„Was gibt´s zu Hause Neues?“, erkundigte ich mich.

Er antwortete nicht sofort und ich drehte mich zu ihm um. Er stand mit hängenden Schultern vor einem Foto von Sonja. Es zeigte sie lachend im Bikini auf einem Segelboot.

„Ich vermisse dich“, murmelte Cem.

„Das ist nicht sehr schmeichelhaft, wenn du es sagst, während du dir eine andere leichtbekleidete Frau dabei ansiehst“, sagte ich. „Ach ja! Sonja ist verschwunden!“

Eins. Zwei. Drei. Ich hatte die Sekunden gezählt.

„Was? Wie meinst Du, sie ist verschwunden?“ Jetzt hatte ich seine Aufmerksamkeit also wieder.

„Ihr Mann sagt, sie wäre kurzfristig zu einem Seminar gefahren, aber niemand sonst im Therapiezentrum wusste davon. Alle waren den ganzen Tag total aus dem Häuschen. Da fällt mir ein, ich wollte sie eigentlich anrufen!“ Ich griff zu meinem Handy und suchte Sonjas Nummer heraus. Ich landete direkt auf der Mailbox. Cem hatte mir mit gerunzelter Stirn zugesehen.

„Komisch. Ich habe extra länger gewartet, damit ich sie nicht bei irgendeinem Vortrag störe, aber um die Zeit müssten doch längst alle Seminare aus sein! Was sagst Du? Ich habe sie gestern Nachmittag das letzte Mal gesehen, da wollte sie nur schnell Katzenfutter besorgen! Sie hat aber nichts davon erwähnt, dass ich die Katzen füttern soll, weil sie wegfährt. Irgendwie ist das alles komisch.“

Ich erzählte Cem von dem Telefonat, das ich zufällig belauscht hatte und dem verwüsteten Arbeitszimmer. Von meinem Gespräch mit Dr. Adler am Vormittag und meinem unguten Gefühl bei der ganzen Sache.

Er lief unruhig im Wohnzimmer herum. Dann nahm er sein Handy heraus und wählte eine Nummer. Ich hörte undeutlich eine Mailbox-Ansage.

„Hast du es selbst bei Sonja probiert?“, erkundigte ich mich.

Er nickte.

„Ich weiß nicht, was wir sonst machen können?“, sagte ich. „Vielleicht probiere ich es nach dem Abendessen noch einmal.“

Er nickte wieder. „Ich fahre dann. Melde dich, falls du etwas von Sonja hörst. Vielleicht ruft sie ja zurück. Du hast mich mit deiner Besorgnis angesteckt.“

Ich begleitete ihn zur Haustür und beobachtete, wie er, während er zum Auto ging, ein weiteres Mal eine Nummer am Handy wählte.

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.07.2020

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