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Die ganze Wahrheit

 

 

Selmas Krebserkrankung setzte alles wieder in die richtige Perspektive. Sie schied mein bisheriges Leben vom Künftigen.

Wie die Liebe überschreitet der Krebs alle Grenzen, überspringt alle Entfernungen, durchdringt alle Barrieren, überwindet alle Hindernisse.

Wie die Liebe macht er vor nichts Halt, dringt in alle Bereiche des Seins, beherrscht das ganze Leben.

Wie die Liebe strebt der Krebs nach Unsterblichkeit, und wie sie fürchtet er dabei nicht einmal den Tod.

Diese tödliche Unmittelbarkeit löste Gefühle in mir aus, die ich weit von mir geschoben hatte. All die schönen Momente des letzten Sommers, Cem und ich, schwebend über den Wolken, als alles rosarot war. Doch tief in mir drinnen, hatten diese Gefühle nur darauf gewartet hervorzubrechen. Mein Ego-Trip musste, konnte nur, im Untergang enden.

Der vergangene Sommer war ein Traum, zu schön, um wahr zu sein. Nun war es an der Zeit aufzuwachen. Nur noch eine Minute, dachte ich bei mir. Doch nicht einmal diese eine Minute sollte mir vergönnt werden.

Ein warmer Handrücken streichelte sanft meine Wange.

„Dein Wecker hat schon vor über zehn Minuten geläutet Liebes! Du wirst wieder einen Stress bekommen!“

In einer mechanischen Reaktion schlug ich nach dieser lästigen Hand, die mir die letzte Minute des sommerlangen Traums nicht gönnte. Wie man nach einer Fliege schlägt, die man nicht töten wollte. Aus meinem Mund drangen unwirsche Laute, die nicht einmal ich selbst verstehen konnte. Widerwillig öffnete ich die Augen.

„Du solltest wirklich in die Gänge kommen! Deine Morgen-Yoga-Einheit beginnt in zehn Minuten!“, tadelte mein Mann an meiner Bettkante sitzend. Er war fertig angezogen. Sicher konnte er es kaum erwarten endlich zum Frühstück zu kommen, in Ruhe die Zeitung zu lesen, bevor die ganze Horde dort eintreffen würde.

„Ist schon gut“, nuschelte ich jetzt undeutlich, „ich bin wach!“.

Er stand auf. Ich streckte und reckte mich. Gähnte. Dann schwang ich die Beine aus dem Bett. Schenkte dem Wäscheberg auf dem Stuhl neben meinem Bett einen resignierten Blick und tapste zum Kleiderschrank, um mir frische Sachen anzuziehen.

 

Als ich eine Stunde später selbst vor einer Schüssel Haferbrei mit Zimt und einer großen Tasse Kräutertee mein Handy einschaltete, stach mir als Erstes eine Nachricht von Cem ins Auge. Mein verräterisches Herz machte einen kleinen Hüpfer, obwohl es längst wissen sollte, was mein Verstand und ich beschlossen hatten. Ich öffnete trotzdem zuerst diese SMS.

„Habe Selma heute ins Krankenhaus gebracht. Können wir uns heute Abend treffen? Zum Reden?“

Ich seufzte und legte das Handy zur Seite. Es war eindeutig noch zu früh am Tag, um eine Antwort auf diese Fragen zu formulieren.

Wie war ich nur in so eine unangenehme Situation geraten? Mein Leben hatte eine verdammt merkwürdige Art zu testen, wie viel ich ertragen konnte. Als das mit Cem und mir begonnen hatte, dachte ich noch an eine glückliche Fügung. Wir fanden uns, obwohl wir uns gar nicht gesucht hatten. Er war mein Wasser, in dem ich mich treiben lassen konnte und ich war das Feuer, das ihn zum Kochen brachte. Jetzt fiel im Hintergrund irgendwo das Schicksal lachend von seinem Stuhl.

So lange unsere heimlichen Verabredungen wie in einem Paralelluniversum stattgefunden hatten, war alles in Ordnung gewesen. Doch plötzlich verstrickten sich unsere beiden Leben unwiderruflich ineinander.

Was wäre passiert, wenn ich damals vor der Wanderung, als Cem unvermutet seine Kinder mitgenommen hatte, einfach Reißaus genommen hätte? Hätte sich das Schicksal betrügen lassen? Eher unwahrscheinlich!

Selma während der Therapie unser Gästezimmer anzubieten, war eine meiner typisch unüberlegten Aktionen gewesen. Getroffen aus der Not heraus, keine bessere Lösung griffbereit zu haben. Aus dem Teufelskreis konnten wir jetzt nur noch entkommen, wenn wir unsere Beziehung konsequent beendeten! Ich gab mir selbst öfters vortreffliche Ratschläge, nur stellte sich oft genug heraus, dass ich unfähig war, sie zu befolgen!

Nach dem Mittagessen schrieb ich Cem zurück, und verabredete mich zu einem Spaziergang am Abend mit ihm. Zum Reden!

 

Ich war aufgewühlt, als ich zum verabredeten Treffpunkt aufbrach. Es half alles nichts. Es war nötig mir einzugestehen, dass ich mich hoffnungslos in Cem verliebt hatte! Ich liebte seine Leidenschaft, seinen Humor, seine Naturverbundenheit, seinen Scharfsinn, die Art, wie er mich anschaute. Die Liste der Dinge ließe sich noch ewig fortsetzen. Und trotzdem wusste ich mit Gewissheit, dass ich wegen dieser Liebe nicht mein ganzes bisheriges Leben aufgeben wollte. Das wäre absurd! Mein Mann hatte früher oft Bemerkungen fallen lassen, dass ich ihn eines Tages ja doch wegen eines jüngeren Mannes verlassen würde, doch bisher wäre mir das im Traum nicht eingefallen. Wir waren füreinander zwar nicht geschaffen, aber notwendig.

Allerdings, sollte Cem die drei berühmten Worte aussprechen, „Ich liebe dich!“, dann konnte ich für nichts garantieren.

Wie oft hatte ich meinen Patientinnen schon erklärt, dass wir nicht auf der Welt sind um die Erwartungen anderer zu erfüllen? Die mussten schließlich auch nicht unsere Erwartungen befriedigen. Doch bei uns stand einfach zu viel am Spiel. An erster Stelle Selmas Gesundheit, dann Cems Kinder, Julius und die Klinik. Wir hatten beide zu viel zu verlieren!

Meine Fingern krallten sich fest um das Lenkrad, als ich mein Ziel erreicht hatte.

Ich war normalerweise kein so rational denkender Mensch.

Außerdem lag die Vermutung nahe, dass von Cems Seite meine Gefühle gar nicht in der gleichen Weise erwidert werden.

 

Wir trafen uns auf einem der Parkplätze für Wanderer. Um diese Zeit waren wir aber die Einzigen, die sich hier aufhielten. Cem lehnte an einem Holzstoß, als ich aus dem Wagen stieg. Ich ging wortlos zu ihm. Er suchte meinen Blick. Mein Puls begann zu flattern. Er streckte eine Hand aus und fasste nach meiner. Einen Wimpernschlag später hatte er mich an sich gezogen und seine warmen Lippen streiften sachte meine. Ich stemmte heftig atmend die freie Hand gegen seine Brust.

„Lass uns ein wenig gehen!“ Ich nickte in die Richtung, die mir vorschwebte.

Er stieß sich vom Holzstoß ab, ohne meine Hand freizugeben.

„Wie geht es Selma?“ Ich musste keine Anteilnahme heucheln, ich machte mir wirklich Sorgen.

„Sie wurde heute operiert. Ich habe sie nach der Arbeit mit den Kindern kurz besucht. Die Operation ist gut verlaufen, sagte Dr. Sacher. Sie war noch ziemlich weggetreten.“

Ich holte tief Luft. Drückte die Hand, die meine umschloss.

„Ich muss dir etwas erklären“, dabei sah ich Cem direkt ins Gesicht. „Vielleicht verstehst du dann, warum ich es nicht länger schaffe, Selma und Julius zu hintergehen.“ Ich wollte noch weiterreden, doch Cem fiel mir ins Wort.

„Es ging mir nie darum, Selma zu hintergehen!“, stieß er heftig hervor.

„Ich weiß, das habe ich vielleicht schlecht ausgedrückt, aber trotzdem läuft es darauf hinaus. Hör mir doch bitte einmal zu!“

Er atmete hörbar aus.

Ich ordnete kurz meine Gedanken. Wo sollte ich anfangen?

„Ich war zwölf Jahre alt, als ich an einer besonders agressiven Form von Knochenkrebs erkrankt bin.“ Ich fühlte, dass ich jetzt Cems vollste Aufmerksamkeit genoss. Richtete meinen Blick aber auf den Weg vor uns, um nicht den Faden zu verlieren.

„Zuerst hatte ich einfach nur Schmerzen im Arm und dachte an eine Sportverletzung. Doch es wurde schlimmer und ich konnte nachts nicht mehr schlafen. Der Hausarzt meinte, es könnte ein Überbein sein. Doch meine Mutter ging mit mir zu einem Spezialisten und nach einem Röntgen bekamen wir die Diagnose.

Ich wurde damals schulmedizinisch behandelt: Radikal-OP, Chemo, Bestrahlung. Das ganze Paket. Ich war mitten im Wachstum. Am Ende der Therapie, die ich nur knapp überlebt hatte, war ich nur noch Haut und Knochen. Zuerst sah es danach aus, als hätte es geholfen. Aber fünf Jahre später kam der Krebs wieder. Man fand Metastasen in meiner Lunge. Also bekam ich noch eine Radikal-OP und das Ganze ging von vorne los. Meine Eltern hatten Geld! Mein Vater hatte eine gut gehende Fabrik. Sie schleppten mich von einem Spezialisten zum Nächsten. Ich war sein einziges Kind.

Papa hatte mit der Fabrik schon genug Sorgen. Ihm ging mein immer schlechter werdender Zustand sehr nahe. Er erlitt einen Herzanfall.“ Ich schluckte, bevor ich weitersprechen konnte. „Er ist gestorben und ich gab mir die Schuld daran.“

Cem legte den Arm um mich. Zog mich fest zu sich ran.

„Damals hatte ich mich selbst aufgegeben. Ich fand es tröstlich, das er auf mich warten würde. Ich hatte keine Angst vor dem Sterben, nur davor, nie gelebt zu haben. Verstehst Du?“ Die Tränen flossen bei den letzten Sätzen in Strömen über meine Wangen.

Nachdem ich mich ein wenig gefasst hatte, sprach ich weiter: „Ich konnte nichts mehr Essen, hatte meinen Geschmackssinn verloren und keinen Appetit. Ich konnte nur noch auf allen vieren Treppen hochsteigen, so geschwächt war ich. Doch eine Chemotherapie war noch ausstehend. Nachdem schon wieder die erste Chemospritze gesetzt worden war, entschied meine Mutter, einen anderen Weg zu gehen. Sie wusste, ich würde es nicht überleben.

Sie hatte von einem meiner Ärzte von Julius erfahren. Er genoss einen zweifelhaften Ruf! Das sollte ich vielleicht noch erklären. Er hatte in den USA in der Krebsforschung gearbeitet. Zuerst in der Mayo-Klinik, wo man ihn gezwungen hatte Experimente durchzuführen, die von Anfang an darauf ausgelegt waren zu scheitern. Damals ist er zum ersten Mal in Kontakt mit krimineller Wissenschaft gekommen. Nicht einmal Universitätslabore sind immun gegenüber den Gewinnen, die sich mit Krebsmitteln erzielen lassen.

Weil er die Zustände dort nicht mehr aushielt, ist er in das Sloan Kettering Cancer Center nach Manhattan gewechselt. Er bekam eine Anstellung als Assistent von Dr. Kanematsu Sugiura, einem anerkannten Krebsspezialisten, der kurz davor stand ein Heilmittel gegen Krebs zu etablieren.

Doch auch dort kam es in dieser Zeit zu einem Kräftemessen zwischen Sugiura und der Krebsindustrie, die seinen Erfolg nicht zulassen wollte.

Julius hat damals erlebt, wie eng Politik und Pharmaunternehmen finanziell miteinander verflochten sind. Auf politischen Druck hin wurde die Wissenschaft benutzt, um wirksame Medikamente vom Markt fernzuhalten! Ärzte wurden damals bei öffentlichen Versammlungen verhaftet und strafrechtlich verfolgt, wenn sie sich widersetzen wollten. Bücher wurden beschlagnahmt. Letztendlich hat die Krebsindustrie gewonnen und wie in jedem Krieg lag die Geschichtsschreibung in der Hand des Siegers.

Julius ist damals an die Presse gegangen und wollte das alles publik machen. Er wollte die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen, was hinter den Kulissen vorging. Dass durch die Lügen der Funktionäre Millionen Menschen starben, die nicht hätten sterben müssen. In seinen Augen war das Völkermord!

Irgendwie ist es denen gelungen ihn mundtot zu machen. Julius war in den USA verheiratet, mit einer Amerikanerin. Sie hatten zwei Kinder. Zuerst hatten sie ihm nur gedroht in zu ruinieren. Ihm seine Lizenz abzuerkennen. Er ließ es darauf ankommen. Schließlich verlor er wegen der hohen Gerichtskosten sein Haus. Seine Frau hat ihn damals verlassen. Er gab aber nicht auf und kämpfte weiter.

Um ihn endgültig loszuwerden, sind sie mit einer Mordanklage auf Julius losgegangen. Ein Kollege von ihm wurde vergiftet und man drohte, ihm den Mord in die Schuhe zu schieben, wenn er nicht auf der Stelle das Land verlassen würde. So ist Julius also zurück nach Österreich gekommen.

Meine Mutter bat ihn, mich zu behandeln. So habe ich ihn also kennengelernt.“

„Das hört sich unglaublich an! Julius hat dich also geheilt?“ Cem blies Luft durch seinen gespitzten Mund. Ich wickelte meinen Poncho fester um mich. Es war kühl geworden.

„Ja. Er ist nach Sigiura´s Methode vorgegangen. Aber es war nicht nur das Medikament alleine. Ich wusste vom ersten Moment an, dass er mich heilen würde!

Ich kann mich gut an unser erstes Treffen erinnern. Ich war so voller Angst, dass ich kaum atmen konnte. Julius setzte sich zu mir ans Bett und berührte mich an der Schulter. Ich weiß nicht genau was er tat, doch er hat die Macht, Menschen durch eine Berührung ihre Angst zu nehmen. Er hatte in Amerika auch Kontakte zu Hypnose und ähnlichen Therapien. Vielleicht liegt es daran. Ich habe mich Hals über Kopf in ihn verliebt. Ich war siebzehn und er sechsundvierzig. Natürlich wollte er nichts davon wissen! Als ich gesund war, habe ich ihn dazu gebracht, mich als seine Assistentin einzustellen, und habe ihn verführt. Meine Mutter hat uns das Anwesen überlassen. Sie ist mit einem Guru nach Indien durchgebrannt, als es mir besser ging. Nach meinem Studium haben wir geheiratet und danach das Institut gemeinsam aufgebaut.“

Cem war stehen geblieben und hatte seine Hände auf meinen Schultern abgelegt. Er sah mir bis auf den Grund meiner Seele. Dann zog er mich fest an seine Brust. Sein warmer Atem streifte meine Wange. Er küsste mein Haar.

„Danke, dass du mir das alles erzählt hast. Ich verstehe jetzt besser, warum dich Selmas Krankheit so berührt.“

„Es war etwas anderes, als ich sie nicht kannte. Doch zu wissen, wie krank und verletzlich sie ist, bewirkt, mich noch schlechter zu fühlen. So kann und will ich unsere Beziehung nicht länger fortsetzen.“

Cems Umarmung wurde fester. Ich hörte ihn schlucken. Die Zeit schien still zu stehen.

„Kann ich dich wenigstens noch ein letztes Mal küssen? Es wäre doch sonst, als hätte mir die Zeit mit dir nichts bedeutet?“ Er drückte mit einem Zeigefinger mein Kinn hoch.

Ich umfasste sein Gesicht fest mit beiden Händen, das ich nur noch verschwommen sah. Drückte meinen Mund auf seinen. Wir verloren uns in diesem letzten Kuss. Heiße Tränen strömten über mein Gesicht und versalzten unsere Lippen. Erst als ich kaum noch Luft bekam, löste ich die innige Umarmung auf. Kramte in meiner Handtasche nach einem Taschentuch.

„Ach komm! Lass uns zurückgehen.“ Ich hängte mich bei ihm ein. Er steckte die Hände in die Jackentaschen.

 

Im Rückspiegel meines Wagens beseitigte ich die Spuren, die meine Tränen hinterlassen hatten. Dieses Gespräch war hart gewesen, aber ich war froh es hinter mich gebracht zu haben.

 

Als ich nach Hause kam, hörte ich Julius laute Stimme aus dem Arbeitszimmer dröhnen. Ich öffnete die Tür neugierig gerade so weit, um meinen Kopf ins Zimmer stecken zu können. Es war nicht Julius Art so herumzuschreien. Er stand hinter seinem Schreibtisch. Als er mich bemerkte, knallte er den Hörer zurück aufs Telefon. Ich stieß die Tür weiter auf und stellte mich in den Türrahmen.

„Was war das denn?“

Julius fuhr sich nervös durch die Haare. „Ach, nicht so wichtig. Mach dir keine Sorgen! Es gibt einfach zu viele Trottel auf dieser Welt!“

Ich konnte regelrecht fühlen, dass er mir in diesem Moment nicht mehr verraten würde, also drehte ich mich um und hatte vor, mir etwas zu trinken zu holen.

„Wo warst du Liebes?“, rief er mir hinterher.

„Nur kurz spazieren! Ist aber schon ganz schön kalt gewesen! Ich mache mir eine Kanne Tee, willst Du auch welchen?“

„Ja bitte. Ich glaube, heute könnte ich vor dem Schlafengehen eine Tasse Baldriantee vertragen.“

Als ich ihm den Tee ins Arbeitszimmer brachte, war er schon wieder in seinen Manuskripten vertieft. Ich stellte die Tasse schweigend ab und ließ ihn alleine.

Danach grübelte ich noch lange nach, wie die Aussprache mit Cem abgelaufen war. Eigentlich genauso, wie ich es geplant hatte. Warum war ich dann so traurig?

Selbst im Bett, vor dem Einschlafen, konnte ich an nichts anderes denken. Das heftige Telefonat von Julius hatte ich längst vergessen.

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.07.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Coverbild: PiXABAY

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