Sicher wundert ihr euch über den Titel dieser Geschichte. Ist denn ein Tagebuch nicht immer geheim, werden sich einige von euch fragen. Nun meines ist es schon seit Jahren nicht mehr. Um genau zu sein, seit fünf Jahren. Da kam ich als 16-Jährige, auf die glorreiche Idee mein Tagebuch auf Facebook zu teilen.
Schnell war ich die beste Freundin von mehreren Tausend Facebook-Bekanntschaften. In der Schule, im Café, auf Partys, es gab keinen Ort wo meine zahlreichen Freunde nicht auf Schritt und Tritt wussten, was ich am Vortag gegessen, im Kino gesehen oder gekauft hätte. Mit der Zeit beschwerten sie sich, warum ich noch immer auf Facebook wäre, das wäre ja wohl mega-out.
Damals war ich längst süchtig nach jeglicher Anerkennung.
Ich begann also Videos zu drehen und wechselte auf Instagram. Mein Tagebuch veröffentlichte ich jetzt als täglichen Blog. Der heißt mittlerweile NELLASS. Inzwischen habe ich 3.000.000 Abonnenten auf You Tube und 7.500.000 Follower auf Instagram.
Sicher denkt ihr jetzt, mein Leben sei ein Traum, so glamourös, schön und fröhlich wie es in meinen Beiträgen wirkt. Nun, es gibt keinen Grund neidisch auf mich zu sein, denn nichts aus den Geschichten meines Blogs ist real. Nichts ist unechter, inszenierter als ein Foto auf Instagram. Auf den Fotos trage ich Outfits, die ich niemals außerhalb meiner vier Wände tragen würde. 100 verschiedene Yoga-Posen braucht es, bis ich es erreicht habe meinen Bauch gut aussehen zu lassen und Fotoshop sei Dank kann ich mich auf den Fotos überhaupt erst selbst ansehen.
Ich war verrückt es zuzulassen, dass aus Nellas Tagebuch NELLASS-Blog wurde.
Alles begann mit der Sendung Badass. Ich wollte beweisen, dass auch Mädchen richtige Kerle sein konnten, immerhin gelang es mir, stundenlang High-Heels mit 10cm hohen Absätzen zu tragen und sogar mit ihnen Auto zu fahren. Als wäre das nicht genug trug ich meine 5kg schwere Riesenhandtasche den ganzen langen Tag beim Shoppen lässig über der Schulter und hatte zuvor meine Haare um ein Stück heißes Eisen gewickelt nur der schönen Locken wegen.
Die Folgen waren jedenfalls mehr als schwerwiegend. Es folgte ein Hype um meine NELLASS-Bewegung, den nicht einmal mehr eine Armee hätte stoppen können. Die Fans stachelten mich dazu an immer waghalsigere Sportarten auszuprobieren und gefährlichere Orte zu besuchen. Man muss den Menschen immer geben, was sie möchten, sonst hat man es schwer im Leben als Bloggerin. Jedes „Like“ zählt. Diese Zahlen sind eine Währung, die sich in bares Geld eintauschen lässt. Längst lebe ich von meinem Blogger-Hobby. Und nicht nur ich, sondern auch mein Freund/Fotograf/Kameramann/Fotomodell Joe und mein Hund/Fotomodell/Accessoire/Freund Lucky.
Ich begann die Einwände meines Gewissens zu ignorieren, zeigte mich an schönen Orten, mit schönen Dingen, in schönen Kleidern. Ich redete mir ein die totale Freiheit darüber zu haben was ich tat, dass ich mein eigener Boss sei und mir nie von jemanden sagen lassen würde was ich machen soll …
Die Schule habe ich geschmissen, nicht NELLASS Ding. Ich wollte meine Kreativität leben und immer neue verrückte Ideen finden. Ich wurde eine Badass Geschäftsfrau. Lernte alles über Opt-ins und Public Relations.
Ich verfolgte die neuesten Reiseberichte meiner Blogger-Freunde und versuchte stets, ein wenig außergewöhnlichere Orte zu finden als sie. Fuhren sie nach Sri Lanka und filmten ihren Besuch auf einer Tee-Plantage, reiste ich nach Borneo und berichtete über illegale Brandrodungen zwecks Errichtung umweltschädlicher Palmöl-Monokulturen im Lebensraum der letzten Orang-Utans.
Stellten Sie das neueste Buch von E. L. James vor, hypte ich die Werke von Burgschauspieler Joachim Meyerhoff in den Himmel.
Posteten sie Fotos von coolen Fitness-Studios, jobbte ich als Yoga- und Fitness-Coach bei John Harris.
Brachten sie die leckersten vegetarischen Sommergerichte unter ihre Anhängerschaft, kreierte ich die besten veganen Anti-Aging-Smoothies. Immer unter dem Motto: Ich kann das auch! Nur besser!
Irgendwann hat aber jeder seine persönliche Belastungsgrenze erreicht und es müssen andere Wege und Möglichkeiten gefunden werden um im täglichen Blogger-Sumpf nicht unterzugehen.
Tatsachen muss man kennen, bevor man sie verdrehen kann. Dessen war ich mir immer bewusst. Schönheit vergeht – Dummheit bleibt. Ich wollte nie für dumm gehalten werden. Eine Lüge ist nur eine kreative Information zu Sachverhalten der Realität zum Zweck mittelfristiger Stressvermeidung.
Es begann also schleichend.
Am Ende habe ich aber schon fast selbst geglaubt was ich gesagt und getan habe.
Begonnen hatte es dann tatsächlich während eines Aufenthalts in LA.
Joe und ich lernten einen Kerl in Hollywood kennen der ein Großmeister in Sachen Fotoshop-Technik ist. Eigentlich nur zum Spaß ließ ich mich von ihm auf den Red Carpet bei der Oscar-Verleihung zaubern.
Vor mir stand Sandra Bullock, hinter mir Whoopi Goldberg. Wenn ich schon am roten Teppich war, konnte ich mich genauso gut auf der Vanity Fair After-Show-Party zwischen Jennifer Lopez und Tiffany Haddish schummeln.
Auf NELLASS sahen die Fotos aus wie echt. Ich habe die Untertitel so formuliert, dass nicht eindeutig hervorging, ob es echt war, oder ein Fake. Meinen Fans war es egal. Die Bilder bekamen genug Likes um es bei den meisten Suchmaschinen ganz nach oben zu schaffen.
So passierte es, dass ich selbst in den elitären Kreisen Hollywoods kein No Name mehr war. Beinahe täglich flatterten plötzlich Einladungen herein. Von Stars die im Moment keine Rolle in der Top-Liga einnahmen und sich durch mich mehr Popularität erhofften und von Geschäftsleuten, denen es im Prinzip egal war, wer ihre Marken pusht, solange das Verhältnis Preis/Likes stimmt.
Als mich eines Tages die PR-Chefin von Elon Musk´s SpaceX kontaktierte, ließ ich für ein Treffen sämtliche andere Termine sausen. Joes sehnlichster Wunsch ist schon seit einiger Zeit ein eigener Tesla, wären da nur nicht die langen Wartelisten.
Ich wollte meinem Freund eine Freude bereiten und ihn bei Laune halten. Ohne ihn wären ich und NELLASS aufgeschmissen. Das war mein Hintergedanke.
Es stellte sich heraus, dass sie für SpaceX ein bekanntes Gesicht suchten, das sie ins Weltall schießen konnten.
Auf meinem Blog hatten sie gesehen, dass ich bereits Parabelflüge und Fallschirmsprünge aus russischen Kampfjets hinter mir hatte und mich sogar einmal in einer Astronauten-Schleuder (Zentrifuge) herumwirbeln habe lassen. Was sie natürlich nicht wissen konnten, war, dass sämtliche frei schwebende Kotzbrocken, oder anderweitige Spuren die sich einen Weg aus meinem Magen ins Freie gesucht hatten, fein säuberlich aus den Videos geschnitten wurden.
Hier fand ich es an der Zeit, meine kleinen Lügengeschichten zu beichten. Doch es war ihnen egal!
Erwiesenermaßen glauben die Menschen viel lieber eine Lüge, von der sie wissen, dass sie eine ist, als die Wahrheit, die ihnen völlig neu ist.
So begab es sich also, dass ich heute hier in Cape Canaveral in der Crew-Dragon-Kapsel einer Rakete mit dem Namen Falcon 9 auf der Abschussrampe sitze und darauf warte, dass der von der NASA sehr umstrittene Betankungsprozess wie geplant funktioniert und nicht wie schon 2016 passiert, sich das Gemisch durch einen kleinen Funken entzündet und die ganze Rakete inklusive mir explodiert. Letzten Mai bezeichnete die NASA das noch als lebensbedrohlich. Bisher wurden immer zuerst die Raketen betankt und dann erst die Kapsel von den Astronauten bemannt. Ich bin also das Versuchskaninchen des neuen „Load-and-Go“-Verfahrens.
Musk hat darauf beharrt, dass die Methode auch für bemannte Flüge sicher ist. Da es die NASA mittlerweile wohl sehr eilig hat sich den Zugang zur Internationalen Raumstation ISS zu sichern, hat sie SpaceX jetzt das OK gegeben – unter der Bedingung, dass SpaceX mindestens fünf Mal bei seiner Falcon-9-Rakete erfolgreich demonstriert, dass die Tank-Methode sicher ist. Das ist mittlerweile geschehen. Natürlich wird eine Live-Cam mein eventuell baldiges Verglühen, oder wenn alles gut geht meine erste Weltraumreise auf NELLASS übertragen.
Egal wie diese Mission ausgeht, wird dies der letzte Betrag auf NELLASS sein. Ich habe es satt zu lügen. Die Lüge ist wie ein Schneeball. Je länger man ihn wälzt, desto größer wird er. Um aus diesem Lügensumpf zu entkommen, muss ich mich wohl selbst am eigenen Schopf daraus hervorziehen. Man wird Nella also ab heute nur noch ungeschminkt und in bequemen Jeans und T-Shirts sehen. Ich werde keine Fotos mehr nachbearbeiten und außerdem erst Mal eine Weile Urlaub machen, ohne Social Media. Wünscht mir Glück und haltet mir die Daumen! Nellas „wahres“ Tagebuch, letzter Eintrag. Ende.
Tag der Veröffentlichung: 07.07.2020
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Widmung:
Damals wurde meine Aufgabe nicht so toll bewertet, falls Ihr anderer Meinung seid, würde ich mich über Eure Kommentare und Herzen sehr freuen!
Coverfoto: SpaceX