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Selma

 

Als der Wecker klingelte, fühlte ich mich so gut wie schon seit Tagen nicht. Vorsichtig tasteten meine Finger über die Stelle im linken Oberbauch, die mir am Wochenende solche Probleme bereitet hatte. Nein. Der Schmerz war tatsächlich verschwunden. Ich atmete erleichtert auf. Es war auch höchste Zeit! Fast alle Tabletten, die mir der Arzt in der Türkei verschrieben hatte, waren aufgebraucht. Nur der Geschmack in meinem Mund war noch unterirdisch.

Ich stand auf, zog den Morgenrock über mein Nachthemd, schlüpfte in meine Plüsch-Pantoletten, ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Während sie vorwärmte, weckte ich die Kinder.

Cem kam nur in Boxershorts aus dem Badezimmer und gab mir einen schnellen Kuss.

„Na? Wie geht´s dir heute? Wieder alles in Ordnung?“, wollte er von mir wissen.

„Es dreht sich noch alles ein bisschen. Aber das liegt wahrscheinlich daran, dass ich seit Tagen fast nichts gegessen habe.“

Ich hatte Appetit auf ein weiches Ei. Ohne die anderen zu fragen, füllte ich den Eierkocher mit sechs Stück Eiern  und stellte ihn auf mittlere Stufe ein. Dann kümmerte ich mich um den Kakao für die Kinder und schaltete den Toaster ein.

Beim ersten Versuch an meinem Espresso zu nippen, verbrannte ich mir beinahe die Zunge. Leicht blies ich dreimal in die Tasse. Dann nippte ich vorsichtig.  Es ging gerade so.  Der starke Kaffee spülte den schlechten Geschmack aus meinem Mund. 

Der Eierkocher dampfte vor sich hin. Ich stellte Salz und Pfeffer auf den Tisch und deckte für jeden einen Eierbecher auf. Dann schnitt ich noch den Käse in kleine Würfel und stellte sie neben dem Toastbrot in die Mitte.

Lara kam und lümmelte sich vor ihren Eierbecher.  Sie war fertig angezogen! Wenigstens dieses Drama blieb mir heute erspart.

„Dein Hemd ist zerknittert!“, tadelte ich Cem, als er sich seinen Kaffee holte.

„Wow. Gibt´s heute Sonntagsfrühstück?“, meine Äußerung ignorierte er.

Der Eierkocher piepste wie auf Kommando laut und bekundete damit, dass er fertig war. Ich hielt die Eier kurz unter kaltes Wasser und teilte sie dann auf.

Dann sah ich nach, wo Sami blieb. Er saß verträumt und verstrubbelt auf dem Fußboden seines Kinderzimmers und sah Löcher in die Luft.

„Frühstück ist fertig!“

 

Vorsichtig schluckte ich den ersten Bissen meines Frühstückseies hinunter. Es war wieder alles normal. Der ständige Brechreiz der letzten Tage, wann immer ich an etwas Essbares gedacht hatte, war zum Glück verschwunden. Vorsichtshalber hatte ich am Wochenende nur in Kaffee getunkten Zwieback versucht, doch sogar der war mir im Hals stecken geblieben. Das einzige, das leicht runterrutschte, waren ein paar Stücke Schokolade, die ich langsam im Mund zergehen ließ und dann vorsichtig schluckte. Das Frühstücksei tat mir richtig gut. Auch eine Scheibe Toastbrot war kein Problem.

„Du denkst eh daran, heute auf der Gemeinde das Klimaschutz-Volksbegehren zu unterschreiben?“, erinnerte Cem mich.

„Ja. Natürlich!", natürlich hätte ich es vergessen.

„Ich habe am Freitag Entschuldigungen an Eure Schulen gemailt“, teilte ich den Kindern mit. „Ihr hattet alle wie ich eine Magen-Darm-Verstimmung. Alles klar?“

Ein dreistimmiges „Ja“ ertönte, was jedoch nicht bedeutete, dass sie sich später in der Schule noch daran erinnern würden.

„Wir treffen uns dann am Nachmittag nach der Schule am Bahnhof!“, Jasmin und Dilara nickten beide leicht. Cem würde sie in der Früh dort absetzen und dann Sami zur Schule bringen, wie jeden Tag.

„Mama! Können wir heute nach der Schule zum Yoga gehen? Sonja hat uns zu einer Schnupperstunde eingeladen.“

„Au ja! Bitte Mama!“, schlug Dilara in dieselbe Kerbe wie ihre Schwester.

„Mal sehen.“ Sie würden ohnehin solange auf mich einreden, bis sie bekamen, was sie sich in den Kopf gesetzt hatten. Ich dachte an die Fotos, die ich mir gestern Abend noch unbedingt ansehen musste. Ich hatte an dem Brautkleid gearbeitet, dass ich bis zum Ende der Woche fertig haben sollte und war etwas gestresst wegen der Verzögerung durch meine Magenverstimmung. Dilara hatte ihr Handy mit dem Smart-TV gekoppelt und mich gezwungen alles stehen und liegen zu lassen. Ich musste Kommentare zu einer gefühlten Trillion Schnappschüsse abgeben! Auf einigen Fotos war auch diese Sonja abgebildet gewesen. Die Kinder, besonders Sami, hatten anscheinend einen Narren an ihr gefressen. Ich hatte sie als harmlos eingestuft. Auf mich wirkte sie wie eine Waldorfkindergärtnerin, obwohl sie kein Nasenpiercing trug. Eindeutig nicht Cem´s Beuteschema.

 

Den halben Tag verbrachte ich in meinem Nähzimmer. Ich musste noch ein paar Spitzen an dem Corsage des Hochzeitskleides annähen und vor allem gehörten  Tausende winzige Straßsteine aufgeklebt. Natürlich dokumentierte ich jeden Handgriff per Video, was mich zusätzliche Zeit gekostet hatte. Ich hatte mir angewöhnt, meine Arbeiten in einem Blog zu präsentieren, um so gleichzeitig Werbung in eigener Sache zu machen. In diesem gottverdammten Kaff, in dem wir lebten, war die Nachfrage nach Designer-Brautmode ohnehin nicht allzu rege. 70 Prozent aller Hochzeiten fanden in traditioneller Tracht statt, der Rest heiratete in Kleidung von der Stange. Ich nahm daher gezwungenermaßen Auftragsarbeiten an, die mich zu einer einfachen Schneiderin degradierten. Immerhin hatte ich Zeit genug meine eigene Sammlung an Hosenanzügen stetig zu vergrößern. Letztes Jahr hatte eine Wiener Boutique, die sich auf secondhand Designer Mode spezialisiert hatte, mir zehn meiner eigenen Modelle abgekauft. Oft träumte ich davon, wieder in Wien zu leben, wo ich aufgewachsen war und meine eigenen Kollektionen zu entwerfen. Doch diese Chance hatte ich verspielt, als ich mich als junge Frau in Cem verliebt hatte. Ich hatte gerade die Modefachschule abgeschlossen und er studierte an der BOKU. Mit der rosaroten Brille auf und Jasmin im Bauch, hatte ich akzeptiert von der Großstadt hierher verpflanzt zu werden. Nicht alles war schlecht am Landleben. Die Menschen hier behandelten einen wenigstens nicht wie einen Ausländer im eigenen Land. Die Schulen waren um Welten besser, beide Mädchen sind auf dem Gymnasium. Trotzdem hatte ich immer öfter das Gefühl, das Leben ginge an mir vorbei.

Seufzend schob ich mir ein weiteres Stück Schokolade in den Mund und spülte es mit kaltem Kaffee hinunter.

 

YOGAMEDIKUM - Ganzheitliches Kompetenzzentrum.

Ich hatte den Wegweiser schon unzählige Male gesehen, doch heute war das erste Mal, dass ich den Blinker betätigte und die Abzweigung zu diesem schlossartigen Landgut einschlug.

Ein weitläufiger Garten mit Obstbäumen umgab das Anwesen. Vor dem Eingang befand sich ein Springbrunnen. Aus zwei Amphoren sprudelte Wasser in einen grünstichigen Kupferkessel. Jasmin und Dilara hüpften aufgeregt die Stufen zum Eingang hoch. Ich folgte ihnen langsamer. Der Parkplatz war nicht asphaltiert und ich versuchte die Absätze meiner High Heels nicht an dem gestreuten Kies zu ruinieren. Vor der modernen Schiebetüre schob ich meine Jackie-Ohhs hoch. Wir würden uns die Yogastunden für die Kinder hier wohl ohnehin nicht leisten können.

Direkt gegenüber der Schiebetüre befand sich ein riesiges Wandgemälde. Ich konnte selbst ganz gut zeichnen, aber dieses Kunstwerk sah aus, als hätte Banksy persönlich es geschaffen. Ich stand mit offenem Mund davor und bekam nur am Rande mit, wie die Mädchen sich nach Sonja durchfragten. Ich studierte noch immer jedes einzelne Detail des Gemäldes als sie mich leicht am Arm berührte.

„Hallo! Du musst Selma sein. Freut mich dich kennenzulernen.“

„Hallo Sonja. Meine Kinder wollten dich gerne besuchen. Sie meinten, du hättest sie zu einer Schnupperstunde Yoga eingeladen?“

„Das stimmt! Ich hatte am Wochenende das Gefühl, sie würden sich ehrlich dafür interessieren. Die Einladung gilt natürlich auch für dich!“ Sie musterte mich aufmerksam, während mein Blick immer wieder zu dem Kunstwerk abschweifte, von dem ich mich nicht mehr losreißen konnte.

„Gefällt es dir?“ Sonja hatte sich neben mich gestellt.

„Es ist grandios! Wer hat das gemalt?“

„Eine Freundin von mir. Sie ist Polin, lebt aber in Spanien. Wir hatten uns auf einer Yoga-Reise kennengelernt. Sie ist eine begnadete Künstlerin, nicht wahr?“

Sonja rief Jasmin und Lara. Die Beiden hatten eine Katze entdeckt und bedachten sie abwechselnd mit Streicheleinheiten. Es dauerte ein wenig, bis sie sich losreißen konnten. Seit Jahren lagen sie mir in den Ohren, sich eine eigene Katze zu wünschen. Der Gedanke an die lästigen Tierhaare und zerkratzten Möbelstücke stand allerdings hartnäckig zwischen ihrem Wunsch und meiner Mutterliebe.

„Ich würde euch gerne die Philosophie von Yoga anhand dieses Bildes erklären“, informierte sie Sonja.

Ich wurde neugierig. Das Wandgemälde zeigte sechs weiße, wilde Pferde, die eine Kutsche durch eine sturmgepeitschte, mitternachtsblaue Vollmondnacht zogen. Wasser spritzte unter den Hufen auf.

„Bei Yoga geht es um das Wissen vom Leben. Yoga bedeutet wörtlich übersetzt Joch! Gemeint ist das Teil eines Geschirrs, mit denen man Zugtiere einspannt. Der Wagen ist der Körper, die Räder wären dann also unsere Arme und Beine.“ Sie untermalte ihre Erklärungen, indem sie auf den betreffenden Abschnitt des Gemäldes wies.

„Der Kutscher ist unser Verstand, den man auch Ego nennen könnte.

Die Pferde stehen für die Sinne, für Ausdauer, Kraft, Instinkt und Talent.

Die Zügel verkörpern das gelenkte Denken.

 Und der Fahrgast ist die Seele. Ohne dass er das klare Ziel vorgibt, würde die Kutsche planlos herumirren, oder dorthin fahren, wohin sie der Kutscher lenkt. So beschreiben es die Veden.

Alles muss im Einklang sein, damit das Ziel erreicht werden kann.“

Sonja zeigte auf die Gepäckstücke am Dach der Kutsche. „Das sind unsere Erinnerungen. Sind sie zu schwer, können sie die Reise behindern und uns ganz schön blockieren.“

„Was ist das?“ Jasmin meinte zwei engelhafte Wesen, die über den Pferden schwebten.

„Das sind unsere geistigen Führer. Unsere Schutzengel.“

Die Künstlerin hatte den Kutscher als schattenhaften Umriss dargestellt. Der Fahrgast hingegen verströmte ein helles Licht, als würde er aus sich heraus leuchten. Über der Kutsche lag ein sanfter Schimmer, und ich fragte mich: „Welche Bedeutung hat das hier?“

„Ich glaube, damit wollte sie unser höheres Selbst verkörpern“, beantwortete Sonja meine Frage.

„Es ist faszinierend. Das alles, was du uns gerade erklärt hast, diese perfekte Harmonie, hat mich auf den ersten Blick in den Bann gezogen!“

Vier Mädchen betraten soeben fröhlich schwatzend das Gebäude. Sie begrüßten Sonja mit einer Umarmung. Ich persönlich zog eine gute Tasse Kaffee einer Umarmung meistens vor. Diese Leute zeigten so offensichtlich ihre Zuneigung zueinander, dass ich mich unweigerlich wie ein Alien fühlte.

„Jasmin, Lara! Ihr könnt gleich mit Betty und den Mädels gehen! Die kommen auch zum Teen-Kurs.“ Sonja schob meine Kinder hinterher. Ich hob zum Abschied leicht den Arm und wollte mich schon dem Ausgang zuwenden. Ich würde ein paar Einkäufe erledigen und die Mädchen danach wieder abholen.

„Selma?“ Sonjas Stimme ließ mich innehalten. „Wie fühlst du dich? Jasmin hat mir am Wochenende von deinen Bauchschmerzen erzählt?“

„Ach. Das geht schon wieder.“ Ich hatte eigentlich keine Lust vor dieser Frau meine Krankengeschichten auszubreiten.

„Wir machen hier nicht nur Yoga. Wir befassen uns mit Gesundheit allgemein. Wir verschreiben keine Medikamente oder so, uns geht es eher darum, zu erkennen wo die Ursache für ein körperliches Problem liegt. Der Bauch ist die Heimat unserer archaischen Gefühle und Triebe. Daher kommen auch die Redewendungen „aus dem Bauch heraus handeln“ oder „Wut im Bauch“. Probleme mit dem Magen weisen oftmals auf zu große Kopflastigkeit hin. Auch eine unfassbare Angst kann sich auf den Magen schlagen.“ Sie musterte mich jetzt prüfend.

Ich fühlte mich hin und her gerissen. Normalerweise schluckte ich einfach ein paar Pillen, wenn es irgendwo weh tat. Ein Teil in mir wollte flüchten, wollte nicht an diese unerträglichen Schmerzen der letzten Tage erinnert werden. Der andere Teil hatte tatsächlich einfach nur Angst, davor, dass diese Schmerzen irgendwann wiederkehren könnten.

Die Angst siegte über den Fluchtinstinkt. „Mein Arzt meinte, es wäre wahrscheinlich eine Gastritis und hat mir Tabletten verschrieben, die ganz gut geholfen haben.“

„Und sonst? Hat er keine Untersuchung auf eine bakterielle Infektion gemacht? Gastritis wird oft von Helicobacter pylori ausgelöst. Man kann es durch Antikörper im Blut leicht feststellen. Auch Nahrungsmittelunverträglichkeiten kann man so feststellen.“

Ich verneinte. Sie hatte recht, ich würde wohl oder übel doch noch einmal einen Arzt aufsuchen müssen.

„Bleib doch auch hier. Meine Einladung von vorhin war ernstgemeint. Ich mache gleich eine Entspannungs-Einheit. Ich kann dir eine Übung zeigen, wie du mit einer einfachen Atemtechnik dein Manipura-Chakra stärken kannst.“

„Ach. Ich habe doch gar nichts dabei“, versuchte ich mich halbherzig zu drücken.

„Das lasse ich als Ausrede nicht gelten! Wir haben einen ganzen Schrank voller Leggins und Shirts hier, die über die Jahre liegen geblieben sind. Natürlich alles sauber gewaschen. Komm mit!“ Sie ließ mir kaum eine Wahl.

Sonja setzte ein überzeugendes Lächeln auf. Mein Widerstand bröckelte. Ich bemerkte jetzt erst, dass sie barfuß war. Ich fühlte mich seltsam deplatziert, als ich mit meinen High Heels hinter ihr her stöckelte. Sonderbar. Normalerweise halfen mir meine Schuhe dabei mich sicher zu fühlen.

 

Ich hatte eine der hintersten Yogamatten gewählt. Der Raum sah aus wie eine ehemalige Kapelle. Bunte hohe Glasfenster tauchten ihn in ein eigentümliches Licht. Er hatte einen stilvollen Marmorboden. Eine Fußbodenheizung sorgte für ein angenehmes Raumklima.

Es duftete schwach nach irgendeiner Kräutermischung. Sonja hatte ein paar Teelichter angezündet. Aus Lautsprechern tönte angenehme Panflöten-Musik. Neugierig schaute ich in die Runde. Es standen Großteils Frauen im ganzen Raum verteilt. Im Umkleideraum waren wir nur zu dritt gewesen, also mussten die Übrigen Patienten des Gesundheitszentrums sein. Krank wirkten sie allerdings nicht auf mich.

Die Frau neben mir war stark übergewichtig. Zwei ältere Damen vor mir machten einen fitten Eindruck.

Wir legten uns bequem auf die Matte. Sonja hatte Polster verteilt, die wir uns nach Lust und Laune unter die Knie oder unter den Kopf legen konnten.

„Wir haben heute einen Gast in unserer Runde und ich habe deshalb kurzfristig beschlossen, dass wir unsere heutige Entspannungseinheit unserer Köpermitte widmen werden, weil Selma in diesem Bereich ein Problem hat“, erklärte Sonja als Einleitung.

Es war mir unangenehm, so in den Mittelpunkt gerückt zu werden.

„Das Manipura-Chakra wird auch häufig als Sonnengeflecht oder Solarplexusgeflecht bezeichnet. Es befindet sich im Oberbauch etwas über dem Nabel und vor der Wirbelsäule. Es wird auch Bauchgehirn genannt. Bei den Übungen, die wir heute machen, solltet ihr euch alle auf diesen Bereich konzentrieren! Stellt euch eine Blume vor, die dort in eurem Körper sitzt und die ihr zum Blühen bringen wollt.“

Wir lagen etwa zehn Minuten nur still da und konzentrierten uns darauf, das zu tun, was Sonja uns erklärte. Ich hatte mir Yoga eigentlich immer furchtbar anstrengend vorgestellt, doch dazuliegen und zu atmen bekam ich ziemlich problemlos hin. Im Hintergrund lief die leise Panflötenmusik die manchmal durch eine angenehme, Mantras singende, Stimme begleitet wurde. Ich fühlte, wie ich mich entspannte.

Auch die nachfolgenden Übungen waren nicht besonders anstrengend, obwohl sich durch das intensive Atmen in Kombination mit den Bewegungen bald mikroskopisch kleine Schweißperlen in meinem Gesicht bildeten. Die dicke Frau neben mir zeigte hingegen noch keine Anzeichen von Transpiration.

Sonja hatte auch von Qi, der Lebensenergie, erzählt und dass diese durch bestimmte Atemtechniken besser fließen könnte.

Bei einer der Übungen mussten wir uns mit geöffneten Beinen auf die Matte knien und zurückgebeugt schnelle Atemzüge in den Bauch machen. Das hört sich einfach an, doch dabei wurde mir regelrecht schwindelig. Nach kurzer Zeit fühlte ich aber tatsächlich etwas wie Energie fließen. Als ob Stromstöße durch meinen Körper flossen. Ich hatte einmal wegen einer Verletzung eine Stromwellen-Therapie im Fuß bekommen, daher kannte ich dieses kribbelnde, nicht unangenehme Gefühl. Ich glaube, das war der Zeitpunkt, wo ich mich ernsthaft mit dem Gedanken auseinandersetzte mich zu diesem Yoga-Kurs anzumelden. Außerdem hatte ich in den letzten vierzig Minuten mehr über meinen Körper erfahren, als je zuvor.

Sonja kam nach der Einheit zu mir. „Wie ist es dir gegangen? Hattest Du Schmerzen im Bauch, oder sonstige Beschwerden?“

Ich gab ihr die Sachen zurück, die ich getragen hatte. „Oder soll ich sie waschen?“, fragte ich. „Gut. Nein, ich hatte keine Schmerzen.“ Ich erzählte von dem kribbelnden Gefühl bei dieser einen Übung und dass ich Interesses hätte, wieder zu kommen.

„Das würde mich freuen! Wir warten noch ab, wie es den Mädels gefallen hat. Wenn sie auch wieder kommen wollen, mache ich euch einen günstigen Familientarif!“

Sonja warf meine Trainingskleider in einen Wäschekorb und sah mich danach unschlüssig an. Eine lange Sekunde verstrich, in der ich mich fragte, wie alt sie wohl sein mochte? Als ich sie auf den Fotos gesehen hatte, hätte ich gedacht, sie wäre viel jünger. Aus der Nähe betrachtet, könnte sie so alt sein wie ich, oder älter.

„Hör mal, wir haben hier im Haus ein Labor. Wenn du möchtest, kann ich dir eine Blutanalyse machen. Ich meine wegen deiner Gastritis. Man könnte feststellen, ob es eine bakterielle Sache ist. Wir können auch einen Allergietest machen.“

Das würde mir die Entscheidung abnehmen, ob ich morgen in der stets überfüllten Praxis unseres Hausarztes, unter all den schnupfenden und hustenden Leuten im  Wartezimmer, auf einen Termin warten sollte.

„Ja! Hört sich gut an. Wann soll ich deswegen kommen?“

„Wir können es sofort machen, ich habe jetzt gerade Zeit!“

Das kam dann doch etwas überraschend!

Sonja führte mich über eine kurze Treppe in einen angrenzenden Bereich des Gebäudes. Sie hielt eine Key-Card vor das Schloss einer Tür, die sich mit einem leisen Klacken entriegelte. Sie machte Licht. Es sah aus, wie ein Behandlungszimmer beim Arzt. Eine Liege mit Auflageschutz, Schränke mit medizinischen Utensilien, ein Regal mit medizinischen Handbüchern und ein Schreibtisch mit Computer standen in dem Raum. Sonja streifte sich Einweghandschuhe über und öffnete einen der Schränke.

„Setz dich bitte.“

„Du nimmst mir selbst das Blut ab?“ Irgendwie hatte ich gedacht, es würde eine Krankenschwester, oder ein Arzt sich darum kümmern.

„Ja. Keine Angst. Ich mache das nicht das erste Mal.“ Sie lachte.

„Ich bin Biochemikerin, wie mein Mann. Er ist außerdem Mikrobiologe. Blutuntersuchungen sind also unser tägliches Brot.“

Sie legte mir eine Armmanschette an, um eine Vene zu suchen. Dann nahm sie eine Einwegspritze aus einer Verpackung und desinfizierte die Stelle. Ich drehte meinen Kopf in die andere Richtung. Alles in mir sträubte sich dagegen, dabei zuzusehen, wie sie die Spritze in meinen Arm stach. Ich fühlte den Einstich, es tat aber nicht sonderlich weh. Schon zog sie die Nadel wieder aus meinem Arm und drückte etwas Mull in die Armbeuge.

„Hältst Du da mal kurz drauf? Dann brauche ich dir kein Pflaster aufzukleben.“

Ich sah, wie sie ein kleines, mit dunklem Blut gefülltes Röhrchen beschriftete und in eine Halterung steckte. Dann nahm sie einen Becher aus dem Schrank und reichte ihn mir.

„Kannst du da noch reinpinkeln?“

Das war mir irgendwie unangenehmer, als die Blutabnahme, aber ich nahm den Becher und ging zurück in den Gang, wo ich ein WC gesehen hatte.

Während ich am WC darauf wartete, dass sich etwas tat, dachte ich über Sonja nach. Was für eine sonderbare Person! Sie war Biochemikerin und gab trotzdem Yoga-Stunden?

Ich hatte den Becher halb voll bekommen. „Reicht das?“, erkundigte ich mich bei Sonja.

„Ja. Auf jeden Fall. Ich melde mich dann bei dir, wenn ich die Auswertung habe. OK?“

Sie notierte meine Adresse und Telefonnummer.

 

Jasmin und Lara berichteten euphorisch von ihren Yoga-Erfahrungen. Deshalb kam ich auf Sonjas Angebot von vorhin zurück und fragte nach dem Familientarif. Er war erstaunlich günstig. Auch der Bluttest würde mein Haushaltsgeld nicht sonderlich belasten.

„Wir machen das hier nicht wegen des Profites!“, wiegelte Sonja mein Erstaunen ab.

„Mein Mann ist eine Koryphäe! Er verdient gut an seinen Publikationen und Patenten. Es vergeht kaum einmal ein Abend, ohne Videokonferenzen mit der ganzen Welt.“ Sie seufzte, als würde sie diese doch äußerst erfreuliche Tatsache bedauern.

 

Die Kinder redeten den ganzen Heimweg über Yoga, Betty und die anderen Mädchen, die sie heute kennengelernt hatten. Es freute mich, dass sie sich einmal für dasselbe Hobby interessierten. Normalerweise hasste die eine, was der anderen Spaß machte. Jasmin ging zum Fußball. Lara zum Ballett. Es war nicht immer einfach mit den Beiden.

 

Cem und Sami hatten bereits auf uns mit dem Abendessen gewartet. Es gab Pasta.

„Wir waren beim Yoga! Mama hat uns alle angemeldet!“, tönten die Mädchen einstimmig.

„Alle?“ Cem zog skeptisch die Stirn in Falten.

„Jaaa!“ Ich zog das Wort beleidigt in die Länge. „Man muss sich nicht zwangsweise wie eine Brezel verbiegen können bei Yoga!“, setzte ich dann noch erklärend hinzu.

„Na dann!“ Mein Mann seufzte resigniert und seihte gleichzeitig die Nudeln ab. Sicher machte er sich Gedanken um die Kosten.

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.06.2020

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