Gestern Abend hatte ich mir zur Einstimmung den Stream „Wild – Der große Trip“ mit Reese Witherspoon angesehen. Ich war, wie beim ersten Mal im Kino, wieder wie gebannt gewesen. Konnte förmlich die Blasen an ihren Füßen, die Eisnadeln, die der Schneesturm heranpeitschte, spüren und fühlte mich nach dem Film schmutzig und erschöpft. Seufzend hatte ich meinen bereits gepackten Trekking-Rucksack wieder komplett ausgeräumt und die Hälfte der Sachen beim zweiten Versuch weggelassen. Zumindest würde ich nicht wie ein Käfer auf dem Rücken liegend, mit den Beinen in der Luft strampeln müssen, wenn ich ihn mir nachher umhängen würde.
Es war föhnig. Die Bäume rund um das Nationalparkzentrum wiegten sich sanft im Wind. Ich hatte heute früh noch einmal die Wettervorhersage für dieses Wochenende gecheckt. Sie war ideal. Für alle Fälle hatte ich einen Einweg-Regenponcho mitgenommen.
Ich hatte versucht, ausnahmsweise überpünktlich zu sein. Es kam nicht so oft vor, dass ich mich einer Reisegesellschaft anschloß, aber dass Pünktlichkeit dabei unerlässlich ist, war mir bewusst. Als ich meinen Wagen einparkte, war ich erst das zweite Fahrzeug am Parkplatz.
Ich hörte mir einen Song im Radio fertig an, dann öffnete ich die Autotür. Vor mir stand ein Mann, ich schätzte ihn auf Mitte Sechzig, in einem karierten Polyesterhemd und einer Kappe, die von einer bekannten Fruchtsaftmarke gesponsert wurde.
„Hallo“, dröhnte er, als wollte er jemanden auf der anderen Seite des riesigen Parkplatzes begrüßen, „bist du auch bei der Wanderung dabei?“
Ich ergriff seine ausgestreckte Hand. „Ja. Hallo, ich bin Sonja. Du bist Burgenländer, nicht wahr?“ Ich hatte es erstens anhand des Kennzeichens des Autos neben meinem und zweitens an dieser unverkennbaren Art die Wörter so gedehnt auszusprechen kombiniert.
„Stimmt. Leo“, stellte er sich ebenfalls vor. „Bevor du dir das Hirn zermarterst nach einem passenden Witz, erzähl ich dir besser selbst einen, dann haben wir es wenigstens hinter uns.
Also, verirren sich zwei Burgenländer im Gebirge.“
Da musste ich schon grinsen.
„Sagt der eine: Gib einen Schuss ab, damit man uns findet. Der andere schiesst.
Zwei Stunden später: Los, gib noch einen Schuss ab. Der zweite schießt noch einmal.
Nach zwei Stunden sagt der erste: Probier’s nochmal!
Der andere: Ich hab keine Pfeile mehr!“
Ich musste ehrlich herzlich lachen. „Du bist super, Leo! Das ist das erste Mal, dass mir ein Burgenländer einen Burgenländerwitz erzählt hat!“
„Ja mit den Bergen haben wir es nicht so!“
Ein weiteres Auto bog in den Parkplatz ein. Dieses Mal war es ein deutsches Kennzeichen.
Wir beobachteten gespannt, wer wohl aussteigen würde.
Es handelte sich um eine vierköpfige Familie. Als Erstes fiel mir auf, dass sie alle zusammen viel zu warme Kleidung trugen. Offensichtlich hatten sie ihre Wanderausrüstung auf einer dieser chinesischen Seiten im Internet bestellt. Die beiden etwas dicklichen Jungs waren sichtlich nicht gerade begeistert von der Gesamtsituation.
Dann ging es Schlag auf Schlag. Zwei weitere Fahrzeuge bogen ein.
Leo und ich stellten uns der Reihe nach vor. Unsere hinzugekommenen Wanderkameraden waren Tatiana, eine ungefähr sechzig jährige Russin, die gut Englisch, aber nur ganz wenig Deutsch sprach und eine Wienerin im etwa selben Alter mit ihrem Sohn, der aussah wie ein Computer-Nerd, der noch im Hotel Mama wohnte.
Schön langsam wunderte ich mich, wo Cem blieb. Das Nationalparkgebäude lag kalt und finster da. Die Gruppe war komplett, nur der Guide fehlte. Das sah ihm nicht ähnlich. Ich kannte ihn nur überpünktlich.
Eine Minute vor der vereinbarten Zeit bog sein silberner Kombi rasant auf den Parkplatz ein. Der Rollsplitt knirschte nur so unter seinen Reifen, als er eine Vollbremsung hinlegte.
Ich musste grinsen bei dem Gedanken, was den anderen wohl so durch den Kopf gehen würde, wenn sie Cem aussteigen sahen. Gerade hatte er das Klischee des draufgängerischen, türkischen Fahrstils voll und ganz erfüllt.
Das Grinsen fror auf meinem Gesicht fest, als ich sah, wie sich alle vier Türen öffneten. Als ich die Situation erfasste dröhnte plötzlich mein beschleunigter Herzschlag in mir und ich schob mich unauffällig hinter die anderen.
Neben Cem waren drei Kinder, zwei Mädchen und ein Junge, aus dem Wagen gestiegen. Rein optisch konnten es nur seine sein. Warum hatte er sie nur dabei? Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen.
Während Cem sich vorstellte und die übrigen Teilnehmer begrüßte, ging ich langsam zu einer großen Infotafel etwas abseits und begann diese genauestens zu studieren, als ginge mich der Rest hier nichts an.
Mit einem kurzen Seitenblick stellte ich nach einigen Minuten fest, wie Cem die Tür zum Nationalparkzentrum aufsperrte. Tatiana und die deutsche Familie folgten ihm ins Innere. Die Kinder waren am Parkplatz mit ihren Handys beschäftigt. Langsam ging ich Cem und den anderen hinterher.
In Cem´s Büro erledigten sie finanziellen Kram und bekamen jeder ein Lunchpaket ausgehändigt. Nachdem die Familie und Tatiana den Raum wieder verlassen hatten, lehnte ich unschlüssig im Türrahmen. Cem wirkte gestresst. Eine steile Falte stand auf seiner Stirn, als er mir bedeutete, die Türe zu schließen. Mit einer Hand massierte er sich die Nasenwurzel.
„Meine Frau ist krank! Deshalb hat sie mir die Kinder aufgedrängt. Es ging ihr wirklich nicht gut!“ Bei seinem unbeholfenen Versuch einer Begründung der ganzen Misere, hörte ich eine gewisse Verzweiflung heraus.
„Müssen sie nicht in die Schule?“
„Ach. Wir schreiben ihnen eine Entschuldigung.“
„Und was nun?“ Ich sagte, was mir als erstes durch den Kopf geschossen war: „Sicher willst du nicht, das ich unter diesen Umständen mitgehe.“
Cem wirkte überrascht. „Natürlich will ich, dass du mitkommst! Wir wussten ohnehin, dass es kein privater Trip werden würde!“
„Privater als mir lieb ist wird es so jedenfalls!“
„Glaub mir, damit habe ich auch nicht gerechnet. Als die Kids gehört haben, sie dürfen Schule schwänzen, waren sie sofort Feuer und Flamme, obwohl man sie sonst das ganze Jahr nicht für Wanderungen begeistern kann. Da konnte ich schlecht nein sagen. Es kam halt einfach alles so überraschend daher.“ Er stand auf.
Ich seufzte. „Dann lass uns das Beste daraus machen. Du wirst mich behandeln wie alle anderen Teilnehmer auch!“ Ich hob warnend meinen Zeigefinger.
Er kam auf mich zu und küsste mich. Ich wand mich kopfschüttelnd aus seinen Armen. „Lass uns lieber sofort damit anfangen!“ Mir behagte die Situation ganz und gar nicht.
Jetzt seufzte er. „Hilfst du mir die restlichen Lunchpakete rauszutragen?“
Ich schnappte mir einen der Kartons und ging voraus. Cem schloss das Büro und folgte mir. Im Vorraum des Nationalparkzentrums stand ein Snack-Automat. Cem blieb dort stehen und fütterte ihn mit einem Schein. Dann machte er sich daran allerhand ungesundes Zeugs daraus auszuwählen.
Chips, Säfte und Kekse rasselten in das Ausgabefach.
Ich warf ihm einen fragenden Blick zu.
„Ich habe für die drei keine Lunchpakete bestellt! Wir hatten nicht mehr genug Zeit zu Hause eine Jause einzupacken.“
„Ich habe genug Wasser, Sandwiches und Obst dabei. Du kannst mein Lunchpaket haben.“
Cem entnahm dem Automaten Nüsse, Mineralwasser und Energieriegel. „Du kannst dir nicht vorstellen, was drei Halbwüchsige so verdrücken können.“
Ich verteilte draußen die restlichen Lunchpakete und stellte mich bei Cems Kindern vor.
Jasmin, die Ältere war Dreizehn. Sie war ein hochgeschossener, burschikoser Typ und schon jetzt größer als ich. Ihr langes, dickes, lockiges Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre dichten Augenbrauen hatten eine leichte Tendenz über der Nasenwurzel zusammenzuwachsen, was ihrem Gesicht eine besondere Ausdrucksstärke verlieh und ihre natürliche Schönheit noch unterstrich. Sie trug Trainingshosen und ein Messi-Fussballtrikot.
Dilara, war Elf und hatte schulterlanges gestyltes glattes Haar. Sie hatte eine modische Camouflage-Cargo-Hose an und dazu ein rosa T-Shirt mit Spitzeneinsatz an den Schultern. Die beiden Schwestern hätten nicht gegensätzlicher aussehen können.
Dann war da noch Sami, der eine neunjährige spindeldürre Version von Cem war.
Jetzt war es also passiert. Ich hatte Cem´s Kinder kennengelernt.
Cem kam hinzu und erklärte allen, wie es weiterging.
„Wir fahren noch ein Stück weiter, bis zum Ende der asphaltierten Straße. Vielleicht machen wir eine Fahrgemeinschaft, dort gibt es nicht so viele Parkplätze.“
Für Tatiana wiederholte er alles auf Englisch. Leo bot an, Tatiana und die beiden Wiener mitzunehmen.
„Sonja. Du kannst bei uns mitfahren! Es gibt dort ohnehin keine Steckdosen für deinen Stromer.“
Ich warf ihm einen warnenden Blick zu, aber es nahm ohnehin niemand Notiz von seiner Bemerkung. Keiner schien sich zu wundern, warum er wusste, welches Auto ich fuhr. Ich holte meinen Trekking-Rucksack aus dem Wagen und wuchtete ihn in Cems geräumigen Kofferraum.
Jasmin saß wieder auf dem Beifahrersitz. Dilara hinter ihr. Sami überließ mir großmütig den unbequemen Platz in der Mitte.
„Sami, lass doch Sonja an der Tür sitzen!“, tadelte Cem von vorne.
„Ich setz mich nicht neben Lara!“, motzte der Kleine.
„Schon gut. Ist ja nicht weit.“ Ich war ohnehin bereits reingerutscht.
Auf der Fahrt zeigte mir Sami stolz seinen Dartblaster und erklärte mir die genauen Funktionen. Aus dem Radio drang gedämpfte Musik. Cems Augen versuchten im Rückspiegel immer wieder meinen Blick aufzufangen. Er wirkte nach wie vor nervös. Mir ging es um nichts besser.
Jasmin fragte Cem, ob sie noch einmal ihre Mutter anrufen solle. „Ich mach mir echt Sorgen, Papa! Sie hatte das, als wir im Sommer bei Oma und Opa waren schon einmal.“
Von Cem wusste ich, dass seine Frau und die Kinder drei Wochen in der Türkei bei den Verwandten gewesen waren. Er war nach einer Woche bereits zurückgeflogen und wir hatten die Zeit genutzt uns damals öfters zu sehen.
„Davon habt ihr mir gar nichts erzählt!“ Cem schaute vorwurfsvoll zu Jasmin hinüber.
„Hatte ich ganz vergessen. Aber wir haben dir erzählt, dass wir kein einziges Mal shoppen waren. Daran hättest Du erkennen müssen, das mit Mama etwas nicht stimmte“, spielte sie den Ball gekonnt zurück.
Cem runzelte die Stirn. „Ja. Ruf sie noch einmal an, bevor das Netz weg ist.“
Jasmin holte ihr Handy hervor und wählte. „Oje. Nur Notrufe! "
„Wir probieren es zu Mittag. Ich glaube dort wo wir Pause machen gibt es Empfang“, beruhigte Cem seine Tochter.
Ich fühlte mich schlecht. Ich war ein böser Mensch. Ich hatte hier nichts zu suchen, inmitten dieser Familie. Ich fühlte mich schuldig. Schuldig an der Krankheit von Cem´s Frau. Was, wenn sie etwas von unserer Affäre ahnte und das sie krank machte?
Der Zweifel nagte nicht das erste Mal an mir. Doch in diesem Moment spürte ich das erste Mal den Schmerz, den dieses Nagen in mir verursachte. Ich schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, fingen sie Cems Blick im Rückspiegel auf und plötzlich wusste ich wieder, wer ich war. Warum ich tat, was ich tat.
Völlig ruhig wandte ich mich wieder Sami zu und ließ mir alles von seiner heißgeliebten NERF-Sammlung erzählen.
Dann hatten wir unseren endgültigen Parkplatz erreicht. Cem platzierte eine Parkberechtigung hinter der Windschutzscheibe. Er hatte auch welche für Leo und die deutsche Familie. In der Zwischenzeit hatten wir uns daran gemacht die Rucksäcke aus dem Kofferraum zu holen.
Sami war gerade dabei den Dartblaster in seinen Rucksack zu stopfen, als Cem hinzukam. Er sagte streng: „Die bleibt hier!“, und nahm ihm die Spielzeugwaffe aus der Hand. Der Kleine verzog sein Gesicht herzzerreissend, blitzte aber trotzdem gnadenlos bei seinem Vater ab.
Als Cem den Kindern mit ihren Rucksäcken half und mir dabei den Rücken zuwandte, stopfte ich das Spielzeug heimlich unter meinen Schlafsack.
Abenteuerlust lag in der Luft, als wir alle unsere schweren Rucksäcke geschultert, die ersten Schritte machten und sofort in die unberührte Waldwelt eintauchten, die sich schon herbstlich umzufärben begann. Der Trail führte uns immer leicht bergauf und bergab. Ich kannte diese erste Etappe unserer Wanderung recht gut, weil ich im Sommer oft zum Baden herkam.
An der Seite eines studierten Forstökonomen wurde mir dann aber erst so richtig bewusst, wie außergewöhnlich dieses Waldgebiet ist.
Zu jedem umgestürzten Baumriesen wusste Cem etwas zu erzählen. Er zeigte uns, wie wichtig modriges Totholz für den Artenschutz war und wie viel Leben sich dort tummelte. Wies auf die unzähligen kleinen Höhlen der Spechtbäume hin und erklärte uns die verschiedenen Farnarten.
Nach einiger Zeit trafen wir wieder auf die Forststraße, die sich hier entlang eines idyllischen Gebirgsbaches schlängelte. Wir überquerten den Bach über eine Hängebrücke. Die Kinder machten sich natürlich einen Spaß daraus sie in Schwingung zu versetzen und hüpften wie Flöhe munter darauf herum.
Auf der anderen Seite der Brücke wurde der Trail so schmal, dass wir nur einzeln hintereinandermarschieren konnten.
Wie die Forststraße folgte der Weg dem Gebirgsbach und Cem erzählte, dass es die alte Route der Holzknechte gewesen war.
„Sonja, machst du bitte das Schlusslicht?“, wandte er sich an mich.
Mir kam der Gedanke, dass er mich wohl gerne so weit wie möglich von seinen Kindern fernhalten wollte. Nur hatte er die Rechnung ohne die Kids gemacht. Dilara hatte ihr Handy an einem Selfie-Stick befestigt und dokumentierte beinahe jeden einzelnen Schritt, den sie tat. Jasmin und Sami dienten ihr dabei als willige Komparsen. Natürlich fielen sie durch ihre Eskapaden immer weiter ans Ende der Gruppe zurück und ich musste sie wieder weiterscheuchen und dazu drängen, nicht den Anschluss zu verlieren. Irgendwann kam ein finster dreinblickender Cem und nahm Dilara wortlos den Selfie-Stick aus der Hand, zerlegte ihn und stopfte die Teile in seine Hosentaschen und kassierte dann auch gleich noch die Handys der anderen zwei. Dann ging er ungerührt wieder an die Spitze der Gruppe.
„Papa! Das kannst Du nicht machen. Ich dreh durch! Wir filmen hier gerade eine Dokumentation!“, schreiend hatte Dilara probiert ihn davon abzuhalten. Jetzt lief sie hinter ihm her und versuchte ihn von der Wichtigkeit ihres Tuns zu überzeugen. Jasmin lief ihr hinterher und wies sie darauf hin, dass sie das Video ohnehin nicht online stellen konnten, da sie ja sonst offiziell beim Schuleschwänzen überführt werden würden, aber die Kleinere ließ sich nicht beruhigen. Ihre schrillen Worte zerfetzten die Idylle. Die gesamte Gruppe war stehen geblieben und beobachtete ihre dramatischen Anwandlungen. Theatralisch raufte sie sich die Haare, versuchte Cem zum Stehenbleiben zu bewegen und brach zu guter Letzt in ein gellendes Geheule aus. Ich wünschte mir in diesem Moment, Cem würde ihr das Handy einfach wieder geben und ich war sicher nicht die Einzige, die so empfand.
„Denk dir nichts“, so ist sie immer. Sami hatte die Augen verdreht und die Szene schulterzuckend kommentiert.
„Wow! Eine richtige Dramaqueen! Sie sollte Schauspielunterricht nehmen! Ich habe noch nie jemanden gesehen, der derart schnell einen Weinkrampf heraufbeschwören kann.“
„Ach, das macht sie so an die zehn Mal pro Tag. Wenn sie nicht weiß, was sie anziehen soll, oder ihr das Frühstück nicht schmeckt ...“
Es hörte sich an, als ob Sami die Liste noch endlos fortsetzen könnte, doch da kam Dilara wutschnaubend zurück, Jasmin in ihrem Schlepptau. Ihrem Gesichtsausdruck nach hatte sie sich in den Kopf gesetzt, sofort zum Auto zurückzukehren. Ich setzte augenblicklich mein ernstes Gesicht auf und versperrte mit ausgebreiteten Armen den Weg.
„Stopp! Ich bin das Schlusslicht, ihr bleibt hübsch vor mir!“ Ich hatte den Vorteil, für sie noch eine Fremde zu sein und zähneknirschend unterwarf sie sich meiner erwachsenen Autorität.
Grollend drehte sie sich wieder um und stampfte den anderen Teilnehmern hinterher. Sami und Jasmin folgten ihr brav wie zwei treue Hündchen.
Im Stillen applaudierte ich Cem für diese konsequente Aktion.
„Wißt ihr, es ist nicht gerade ungefährlich auf so einem steilen Weg mit dem Handy in der Hand zu laufen“, versuchte ich ihnen das Geschehene aus der Sicht eines Erwachsenen zu erklären und erntete zweimal betretenes Schweigen und ein schnippisches „Pfft!“.
Bis zu unserer Mittagsrast hatte sich die Stimmung längst wieder beruhigt. Wir hatten eine Stelle gefunden, wo wir bequem das Ufer des Gebirgsbaches erreichen konnten. Der Föhn hatte uns mit seinem warmen Fallwind ganz schön ins Schwitzen gebracht.
Wir machten es uns auf einigen größeren Flusssteinen bequem. Sven und Tim, die beiden deutschen Jungs, sanken zu Boden, als hätte man ihnen die Sehnen durchschnitten. Bisher hatten sie sich aber zugegebenermaßen tapfer geschlagen.
Ich zog die Wanderschuhe aus und schob meine Winter-Haremshose bis über die Knie hoch um mir die verschwitzten Füße im eiskalten Bach abzukühlen.
Dann packte ich meine zu Hause vorbereiteten Avocado-Sandwiches aus und hielt Sami verschwörerisch die Spielzeugwaffe unter die Nase. Seine Augen leuchteten freudestrahlend. Verstohlen blickte er sich um, ob Cem in der Nähe war, aber der verarztete gerade Thomas, den Nerd, der sich wohl bereits die ersten Blasen zugezogen hatte.
Sami setzte sich neben mich und ich gab ihm ein Wurstbrot aus meinem Lunchpaket.
„Was isst du da?“, wollte er neugierig wissen.
Ich hielt ihm eines meiner Sandwiches hin. „Avocado-Aufstrich. Selbstgemacht. Magst du kosten?“
Er verzog angewidert das Gesicht. „Das ist grün!“
„Schmeckt aber gut! Was magst du sonst gar nicht?“
„Lammeier. Die gibts bei meinem Opa in der Türkei wenn gegrillt wird.“ Er schüttelte sich bei dieser Vorstellung.
„Als Alternative zu Lammeier schmeckt Avocado-Aufstrich hervorragend!“ Ich hielt ihm grinsend das Sandwich noch einmal unter die Nase, um ihn aufzuziehen.
Er hielt sich die Nase zu.
Nachdem wir unsere Brote verspeist und uns eine Banane geteilt hatten, bauten wir aus flachen Flusssteinen kleine Türmchen und Sami und ich versuchten abwechselnd, sie mit seinen Schaumstoffgeschossen zu treffen.
Die Mädchen hatten sich ihre Handys abgeholt und warfen sich auf einem großen Felsbrocken in verschiedene Balettposen.
Der Kleine suchte wieder einmal nach seiner verschossenen Munition im Gestrüpp. Plötzlich rief er mich ganz aufgeregt. „Sonja! Was ist das?“
Er wies auf eine Pflanze. Ein bizarrer Anblick bot sich uns. Unwillkürlich fühlte ich mich an einen Alien-Horrorfilm erinnert. Er hatte ein grauenhaft großes Insekt entdeckt, aus dessen aufgebrochenem Leib ein anderes, noch abartigeres herauskroch.
Ich teilte ihm mit, dass ich es genauso wenig wusste. Aufgeregt rief er nach Cem.
Wir beobachteten mit schauriger Verzückung das Spektakel, das da vor unseren Augen stattfand.
Cem war zu uns herübergekommen und beugte sich über Sami. „Oh, das muss eine Quelljungfer sein!“, meinte er.
„Du machst Scherze! Es sieht scheußlich aus!“, entgegnete ich.
„Doch! Das hässliche dunkle Teil ist die Larve. Und da schlüpft gerade eine Winterlibelle aus.“
„Aber das Ding, ist doch viel größer als die Larve!“, entgegnete ich skeptisch.
„Das liegt daran, dass die Larve ein Wasseratmer ist und die Libelle ein Luftatmer. Beim Verlassen des Wassers steigt der Luftdruck in der Larve und ihr Körper platzt auf. Das bewirkt auch, dass die Libelle größer erscheint als der Larvenkörper und später bewirkt der Luftdruck auch die Entfaltung der Flügel, das werden wir vielleicht auch noch beobachten können.“ Cem machte ein paar Fotos mit seinem Handy.
Tatsächlich nahm das geschlüpfte Wesen immer mehr die Form einer Libelle an. Sie bewegte sich Millimeter für Millimeter aus der Larve hervor. Bald wurde mir die Beobachtung zu langweilig, aber Sami konnte sich gar nicht mehr von diesem Schauspiel losreißen.
Ich schlenderte zu den Mädels hinüber und erzählte ihnen von unserer Entdeckung.
„Igitt!“, kommentierten sie nach einem kurzen Blick auf die stattfindende Metamorphose das Geschehen und wandten sich schnell davon ab.
Dilara war schon wieder damit beschäftigt sich in ihrem Handy selbst zu beobachten. Insgeheim dachte ich, dass diese Tätigkeit genau so suspekt war, wie die Geburt der kleinen Quelljungfer drüben im Gebüsch.
„Soll ich ein paar Fotos von dir machen? Dann hättest du ein bißchen mehr von der Landschaft drauf?“, bot ich ihr an.
„Na gut!“ Sie drückte mir ihr Handy in die Hand.
„Stell dich doch nochmal auf den Felsen dort!“, forderte ich sie auf.
Ich baute schnell ein kleines Steintürmchen an einer Ecke des Felsens auf. Dann zeigte ich Dilara, wie sie sich hinstellen sollte. Ich machte ihr die Baum-Pose vor, eine meiner Yoga-Übungen. Dann schoß ich ein Foto, indem ich das Steintürmchen als Vordergrund wählte. Ich war zufrieden mit dem Resultat und Dilara wollte ohnehin jedes Foto sofort überprüfen. Jasmin fragte schüchtern, ob ich sie auch so fotografieren würde und schließlich entbrannte ein richtiger Wettkampf zwischen den Beiden, nach der besseren Haltung. Ich zeigte ihnen noch ein paar andere Stellungen vor. In früheren Zeiten hätten wir ein Vermögen an Filmmaterial verschossen.
Als alle Posen verewigt waren, alle Brote gegessen, ein Großteil der Snacks verschlungen und die kleine Libelle ihre Flügel entfaltet hatte, traten wir zum Rest unserer Tagesetappe an. Alle Teilnehmer waren guten Mutes.
Cem machte uns hin und wieder auf Waldbewohner aufmerksam, die wir ohne ihn nie entdeckt hätten, erklärte uns die verschiedensten Arten von Baumschwämmen und sammelte nebenbei Pilze, die wir am Abend würden am Lagerfeuer rösten können.
Mit jedem Schritt drangen wir tiefer in die naturbelassene Wildnis des Nationalparks vor und ich bemerkte, wie gut die Ruhe der Natur uns allen tat. Hatte am Vormittag noch munteres Geplauder vorgeherrscht, hing nun jeder seinen eigenen Gedanken nach. Sogar Leo und die Kinder hielten sich zurück.
Ich dachte an den Film, den ich mir gestern angesehen hatte und wie ich mich fühlen würde, wenn ich hier ganz alleine unterwegs wäre, befand aber, dass es so wie es war, für mich passte. Ich hatte viele Jahre meines Lebens damit zugebracht mich selbst zu finden, hatte mir bewiesen, dass ich mutig sein und meine Ängste überwinden konnte. Jetzt war ich an einem Punkt angelangt, an dem ich wusste wer und was ich war. Ein neugieriger kosmologischer Floh und ein grenzenloses Rätsel und im Moment war ich glücklich damit dem Zwitschern der Vögel, dem Rauschen des Baches und meinem eigenen Atem zu lauschen.
Als wir am späten Nachmittag den Biwakplatz erreichten, brach wieder diese eigentümliche Hektik aus, die neue Situationen so mit sich brachten. Cem kontrollierte, ob unsere Zelte und die mit Grillgut georderten Kühltaschen in dem kleinen Schuppen eingelagert waren. Es gab acht Zweimannzelte, Cem´s Kinder waren bei der Bestellung nicht einkalkuliert gewesen. Leo bot sofort galant an, sein Zelt mit mir oder Tatiana zu teilen.
„Kommt nicht in Frage,“ wies Cem sein Ansinnen zurück, „für euch wurde je ein eigenes Zelt reserviert! Vielleicht könntest Du eines der Mädchen zu dir ins Zelt nehmen?“, wandte er sich an mich. „Wir übrigen drei haben dann schon gemeinsam Platz.“
„Ich will zu Sonja!“, rief Sami und hängte sich mit einer stürmischen Umarmung auf mich.
„Ich schlafe ganz sicher nicht mit dir in einem Zelt, Papa!“, quengelte Dilara. „Ich weiß genau, wie laut du schnarchst!“
„Dilara und ich könnten doch bei Sonja schlafen und Sami bei dir", schlug Jasmin vor.
Ich strubbelte Sami über den Kopf und gab Jasmin Recht. „Ich glaube das wäre eine ganz gute Idee. Wir machen ein Dreimäderlzelt. Und ihr zwei teilt euch ein Männerzelt. Was sagst du Sami?“
„Na gut.“ Sein trauriges Gesicht strafte seine Worte Lügen. Bei Cem´s Vorschlag, er dürfe ihr Zelt alleine aufbauen, blühte er aber sofort wieder auf.
Die Mädchen und ich machten uns akribisch auf die Suche nach dem geeigneten Platz für unser Zelt. Es durften möglichst keine Steine und Wurzeln darunter liegen, die uns durch die dünnen Iso-Matten piksen würden. Außerdem sollte nach Dilaras Wunsch die Toilette schnell erreichbar sein. Als wir eine geeignete Stelle ausgemacht hatten, begannen wir mit dem Aufbau. Die Mädchen steckten die dafür vorgesehenen Streben zu zwei langen Stäben zusammen und schoben sie in die Zeltplane. Ich baute das Gestänge für das Vorzelt auf. Dann spannten wir unseren kleinen Iglu mit den Heringen fest. Es war auf jeden Fall mehr als genug Platz für uns drei, wie wir, zufrieden mit unserem Werk, feststellten. Die drei Iso-Matten passten genau nebeneinander.
Ich zog meine Wanderkleidung aus und hängte alles zum Trocknen auf einen sonnigen Strauch. Darunter trug ich in schlauer Vorhersicht einen Bikini. „Ich gehe mich noch ein bisschen frisch machen im Bach und sammle etwas trockenes Treibholz für das Lagerfeuer!“, teilte ich den anderen mit, schnappte mein kleines Handtuch und suchte einen geeigneten Weg zum Bachbett.
Zum Trocknen setzte ich mich auf die sonnengewärmte Schotterbank. Alle fünf Kinder waren damit beschäftigt einen Damm aus Steinen zu bauen. Ich beobachtete sie aus einiger Entfernung dabei. Cem ließ sich neben mir nieder. Meine Hände hatte ich hinter dem Rücken aufgestützt. Er setzte sich genauso hin. Sein Daumen berührte dabei verstohlen meinen. Ich musste grinsen.
Die Sonne stand bereits tief. Ihr sanftes Licht schmeichelte meiner Haut und brachte sie zu einem samtigen goldenen Strahlen. Feine Härchen zeichneten sich wie ein zarter Flaum auf meinem Oberschenkel ab. Wohlig streichelte ich darüber. Ich spürte die angenehme Wärme des Sonnenlichts.
„Du siehst verdammt sexy aus in diesem Feinripp-Unterhemd", flüsterte ich leise, ohne ihn dabei anzusehen. Er hatte sein Hemd wohl auch zum Trocknen aufgehängt.
„Ich weiß, ist nicht zu übersehen.“ Sein Blick streifte meinen Busen. Die Brustwarzen hatten sich aufgestellt.
„Sei nicht so eingebildet. Es wird schön langsam kühl.“
Er teilte einen Snackriegel mit mir. Niemand beachtete uns. Ich lutschte aufreizend daran und bedachte Cem dabei unter halb geschlossenen Wimpern mit einem neckischen Blick. „Es wird wirklich kühl.“ Ich stand auf. „Kommst Du?“
Er räusperte sich und nickte zu seinem Schritt, wo sich etwas aufgebaut hatte.
Ich lachte leise. „OK. Einigen wir uns darauf, dass wir nie wieder davon sprechen werden.“ Dann ließ ich ihn dort sitzen und wackelte im Weggehen leicht mit dem Popo.
Wir machten mit den kleinen Treibholzstücken und den dafür vorgesehenen Scheiten ein Lagerfeuer und grillten die Würste aus der Kühlbox und die gesammelten Pilze an zugespitzten Stecken. Dazu gab es köstliches Bauernbrot. Nach dem Essen ließen wir Leos Flachmann die Runde machen und starrten ins Feuer. „Sonja! Erzähl einen Witz!“, forderte Leo mich auf.
Ich sagte, wahrheitsgemäß, mir falle keiner ein. Er blickte suchend in die Runde.
„Tatiana, you know a Joke?“ Entrüstet schüttelte sie sich, als wäre es das Unzumutbarste, das sie je gefragt worden war.
Das Feuer warf flackernde Schatten auf unsere Gesichter.
„Komm schon Leo! Mach du!“, forderte ich ihn lachend auf.
„Ja Leo, du hast sicher noch ein paar“, half mir Renate ihn anzustacheln.
„Laß einmal überlegen ...“ Er tat kurz so, als würde er nachdenken müssen. Dann legte er los.
„Ein Mann gerät auf der Autobahn in einen Stau. Es bewegte sich gar nichts mehr. Nach einer halben Stunde ging ein Polizist von einem Fahrzeug zum nächsten. Der Mann wollte natürlich auch wissen, was passiert war und kurbelt das Fenster hinunter. Er fragt den Polizisten und der sagt: Terroristen haben Donald Trump gekidnapped! Jetzt wurde der Ausnahmezustand verhängt! Sie verlangen 100 Millionen Dollar, sonst werden sie Trump mit Benzin übergießen und anzünden!
Der Mann sagt darauf: Und? Was passiert jetzt?
Der Polizist: Ja, wir gehen jetzt von Auto zu Auto und sammeln.
Und was geben den die anderen so?, erkundigt sich der Mann.
So drei bis vier Liter geben eigentlich die Meisten!“
In Teamwork versuchten wir den Witz für Tatiana zu übersetzen.
Leo war wirklich ein Phänomen. Er haute die Witze nur so raus und bald taten uns die Bäuche weh vor lauter Lachen. Ich konnte sein Talent nur bewundern. Neben Witzen zitierte er noch endlos lange lustige Reime und andere unterhaltsame Anekdoten bis das Lagerfeuer schließlich heruntergebrannt war und wir alle das Gähnen fast nicht mehr verbergen konnten.
Die Kinder waren freiwillig schon vor einiger Zeit schlafen gegangen. Ich kroch möglichst vorsichtig ins Zelt, schlüpfte in meinen Schlafsack und stopfte mir Ohropax in die Ohren. Nach drei Atemzügen war ich eingeschlafen.
Unsere zweite Tagesetappe führte uns über einen schönen Almenwanderweg ins höhere Gebirge. Der Wald ging über in Wiesenwege. Auf einer bewirtschafteten Hütte machten wir unsere Mittagsrast. Die Hüttenwirte hatten gewusst, dass wir kommen würden und erwarteten uns mit einer zünftigen Almjause. Außerdem unterhielten sie uns mit musikalischen Einlagen. Sie freuten sich über jeden Gast, der sie dort oben besuchte. Nur alle 14 Tage kamen sie zum Einkaufen von der Alm weg. An der Begeisterung unserer ausländischen Gäste wurde mir bewusst, wie schön wir es hier hatten. Es gab wirklich noch viele Menschen, die mit den Tieren auf der Alm im Einklang mit der Natur lebten wie früher. Die Kinder spielten glücklich mit dem Hüttenhund und streichelten die Ziegen.
Auf einer weiteren Alm, an einem Bergpass gelegen, erwarteten uns ein uriger Hüttenabend und ein Mehrbettlager. Wir waren nicht die Einzigen, die untergebracht wurden. Eine Gruppe junger Männer feierte lautstark einen Junggesellenabschied. Zuerst ließen wir uns von der fröhlichen Stimmung mitreißen und machten mit. Mit steigendem Alkoholspiegel zogen wir uns aber müde in unser Lager zurück. Zum Glück war es wenigstens in einem anderen Gebäude untergebracht, wo sich der Lärm in Grenzen hielt. Ich hatte ohnehin meine Ohropax und riet auch meinen wegen des Lärms murrenden Kollegen, sich etwas in die Ohren zu stecken.
Sami bestand dieses Mal darauf, neben mir zu schlafen.
„Ich hoffe, er wird dir nicht zu anstrengend. Er belagert dich die ganze Zeit.“, hatte Cem schon früher am Tag einmal vertraulich zu mir gesagt.
„Machst du Witze? Ich könnte ihn auffressen. Das muss irgendein genetisches Ding sein.“, war meine wahrheitsgemäße Antwort.
Wer hätte gedacht, dass ich dieses Wochenende fast ausschließlich mit Cem´s Kindern verbrachte. Mit ihm selbst hatte ich indessen nicht mehr als ein paar Sätze gewechselt. Die Mädels hatten mit mir vereinbart, dass wir am Morgen vor dem Frühstück zusammen Yoga machen würden, nachdem sie mir heute dabei zugesehen hatten.
Auch Tatiana und Renate wollten mitmachen. Sie hatten beide schon mächtigen Muskelkater und ich riet ihnen deshalb dazu, da der anstrengendste Teil unserer Wanderung erst vor uns lag.
Der letzte Tag war der schönste unserer Tour. Es erwartete uns ein anspruchsvoller Aufstieg, dafür wurden wir zu Mittag mit einem atemberaubenden Fernblick belohnt.
Es gab auch ein Gipfelkreuz. Der Weg dorthin war allerdings nur für trittsichere, schwindelfreie Wanderer geeignet, deshalb warteten Renate und Sabine im Schutzhaus auf uns andere. Wir nahmen die Kinder zwischen uns und passten auf, dass sie die Drahtseile verwendeten, die man zur Sicherheit angebracht hatte.
Leo pfiff laut durch die Zähne, als wir endlich am Gipfelkreuz angekommen waren und tupfte sich mit einem riesigen Stofftaschentuch die Stirn ab. „Das nenne ich ein Panorama! Die Kletterei hat sich gelohnt! Das ist jetzt mein drittes Gipfelkreuz!“ Ich sah ihm zu, wie er einen lustigen Eintrag ins Gipfelbuch machte.
Die Kinder waren auch ganz aus dem Häuschen und nötigten mir auch einen gewichtigen Kommentar ab: „Wahnsinn!“. Ich musste lachen.
Dilara hatte natürlich wieder einen Mordsstress ein Selfie mit uns allen hinzubekommen. Cem nutzte die Gelegenheit meinen Arsch zu betatschen.
Tom drehte sich mit Papier und Tabak eine Zigarette und zündete sie genüsslich an. Er sah lächerlich deplaziert hier aus. Als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, hielt er sie mir hin und ich tat ihm den Gefallen und nahm einen Zug, obwohl ich Zigaretten nicht mochte.
„Die nimmst du eh wieder mit, oder?“, zog ich ihn auf, als ich die Tschick an ihn zurückreichte und kam Cem damit zuvor, der neben uns stand und schon den Mund geöffnet hatte.
Es war kühl, obwohl ich die warme Fleecejacke trug und der Wind ließ meine Zöpfe flattern. Deshalb war ich froh, als wir uns an den Abstieg machten. Im Schutzhaus bestellte ich mir Tee und eine warme Suppe.
Es wurde eng, als noch weitere Wanderer einkehrten und Cem nutzte die Gelegenheit, näher zu mir zu rutschen. Es gefiel mir, wie er seinen Arm hinter mir auf die Lehne der Bank legte, machte mir aber wieder bewusst, was für ein heimliches Spiel wir hier spielten.
Wir würden nie offiziell als Paar auftreten können!
Obwohl die Stimmung ausgelassen war, immerhin hatten wir den anstrengenden Teil unserer Tour jetzt hinter uns und mussten nur noch bergab wandern, fühlte ich mich ein wenig traurig. Es schwang auch Wehmut mit, wir hatten uns in den letzten drei Tagen alle angefreundet und bald würden sich unsere Wege wieder trennen.
Unten im Tal hatten wir gerade noch genug Zeit uns ein Eis zu gönnen, bevor der Postbus abfahren würde. Sami dachte wohl auch schon ans Abschiednehmen und wich kaum von meiner Seite, obwohl er sich auch mit Sven und Tim angefreundet hatte. Er würde mir fehlen. Ich hatte die beiden Mädchen auch wahnsinnig gerne, aber sie taten mitunter schon sehr erwachsen. Sami war offen und unbeschwert, wie es nur Kinder sein können.
Der Postbus hielt pünktlich an der Haltestelle und Cem löste für uns alle ein Ticket.
„Wir sind nicht länger als eine Stunde mit dem Bus zurückgefahren!“, meinte Renate erstaunt.
„Unglaublich, nicht wahr? Wir haben dafür zu Fuß drei Tage gebraucht!“, antwortete ich ihr und umarmte sie zum Abschied.
Tatiana und ich fuhren die anderen noch zu ihren Autos.
Natürlich tauschten wir Adressen und Telefonnummern aus und versprachen einander den Kontakt zu halten. Die Zeit würde weisen, ob es uns gelingen würde.
Zuletzt umarmte ich die Kinder und Cem. Man merkte, sie hatten den Kopf schon ganz auf das Heimkommen gerichtet. Mir wurde schwer ums Herz und ich versuchte ein schiefes Grinsen.
Ich stieg wieder in mein Auto, drehte den Zündschlüssel und ein kurzer Piepston wies mich darauf hin, das der Wagen gestartet hatte. Ich stellte den Schalthebel auf D und rollte, ein letztes Mal winkend, davon.
Tag der Veröffentlichung: 22.06.2020
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