Eilig schwamm sie in Kreisen immer tiefer. Sie glaubte, dort eine schillernde Muschel aufblitzen zu sehen. Ihre Finger klammerten sich bereits um einen kleinen Schatz, den sie in der Felswand ihres Sonnenplatzes gefunden hatte.
Tatsächlich fand sie eine weitere flache Muschel, versteckt in einer Kuhle des tiefragenden Felsens. Beide Hände mit Schmuckstücken gefüllt, trieb sie ihre Schwanzflosse an sie wieder an die Oberfläche zu tragen.
Im hellen Schein des Sonnenlichts beobachtete sie aufgeregt ihre Fundstücke, bevor sie diese in ihren Beutel legte. Ihre beste Freundin hatte die Tasche aus Algenblätter für sie gewoben, damit sie nicht sofort nach Hause schwimmen musste, sobald sie zwei schöne Muscheln gefunden hatte.
Mit einem kräftigen Schubs ihres Schwanzes schwang sie sich auf den Felsvorsprung. Ihre gelben Schuppen leuchteten durch den Lichteinfall auf und strahlten mit der Sonne um die Wette. Glücklich lehnte sie sich zurück. Nur eine Sekunde, dachte sie.
Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Der Fels erzitterte und barst. Eine Druckwelle stieß sie zurück ins Meer, große Felsbrocken hinterher. Noch immer in ihrer Schockstarre gefangen, traf sie ein Stück Fels ungehinderten am Kopf.
Sie konnte noch erkennen, wie etwas anderes als Felsen die Oberfläche pfeilschnell durchbrach. Es schoss auf sie zu und alles um sie herum wurde schwarz.
Das Licht der Lumeneszenia stahl sich in Bluebells Kuppel. Eilig schwamm sie auf das großzügige Loch in der Kuppelwand zu. So hell, wie die schwimmenden Blüten strahlten, musste es ein herrlicher Tag an der Oberfläche sein. Aufgeregt kehrte die junge Meerjungfrau zurück zu ihrem Bett und legte ihr liebstes Oberteil an. Ein BH gefertigt aus vier blauschimmernden flachen Muscheln und vielen kleinen Perlen. Zufrieden zog sie den einzigen Schulterriemen auf der linken Seite fest. Eine weitere Muschel verzierte nun dort ihre Haut. Die Farben der Muscheln passten perfekt zu ihren blauen Schuppen.
»Ich bin wieder da«, ertönte es plötzlich aus dem Nichts. Bluebell stöhnte frustriert auf. Ihre Mutter war soeben heimgekehrt.
Wenn sie nicht antwortete, würde Caia vielleicht nicht mitbekommen, dass sie ebenfalls zu Hause war und sich gerade wieder davon stehlen wollte. Bluebell kam jedoch nicht einmal bis zum Fenster, als die Schlingpflanzen in der Türöffnung beiseitegeschoben wurden.
»Hast du mich nicht gehört?«, fragte sie ihre Mutter.
»Ach, Mama.« Bluebell zog entschuldigend die Schultern in die Höhe. »Es ist so viel zu tun. Ich muss lernen und ... ach egal. Tut mir leid, aber ich brauche echt absolute Ruhe. Könntest du vielleicht wieder gehen?« Ein unschuldiges Lächeln umspielte ihre Lippen.
Caia jedoch zog die Augenbrauen kraus. »Lernen?« Vorsichtig zog sich ihre Tochter immer weiter zurück, wich in Richtung Fenster aus. »Die Seemannsmärchen kannst du deinem Vater erzählen, Fräulein.« Drohend erhob sie den Finger gegen die störrische Meerjungfrau. »Und glaube ja nicht, ich wüsste nicht, dass du mal wieder alleine an die Oberfläche schwimmen willst.«
»Ob allein oder mit den anderen. Das ist doch egal. Alleine falle ich zumindest weniger auf«, antwortete sie trotzig. Langsam schwamm Caia auf ihre Tochter zu und legte die Hände um Bluebells Arme. »Aber im Schwarm passt jeder auf jeden auf. An die Oberfläche zu schwimmen, um sich einen Mann zu suchen, ist eine Sache, aber nur aus Spaß das eigene Leben zu riskieren ist einfach sinnlos.«
»Ich werde mir aber nicht den erstbesten Seemann ins Wasser holen«, spotte Bluebell und schüttelte die Finger ihrer Mutter ab. »Paps weiß auch, dass ich regelmäßig nach oben schwimme und ihn stört es nicht.« Der herausfordernde Blick ihrer meerblauen Augen durchbohrte Caia. Mit wütender Stimme wandte sich die rote Meerjungfrau der Tür zu: »Marcus! Du hast deiner Tochter, doch nicht etwa erlaubt an die Oberfläche zu schwimmen.« Ihre Worte hallten noch einen Moment in der Kuppel nach, als plötzlich der Kopf eines Mannes zwischen den Schlingpflanzen auftauchte: »Was soll ich gemacht haben?« Sein Blick aufrichtig und fragend.
»Deine Tochter erzählte mir -«, als sich Caia wieder zum Fenster umdrehte, starrte sie ins Leere. Bluebell hatte sich klammheimlich davon gemacht. Hastig stürzte sie zum Fenster und suchte die Umgebung nach den blauschillernden Schuppen ihrer Tochter ab. Doch sie war verschwunden.
Sie spürte die starken Hände ihres Mannes auf ihrer Schulter und ließ sich von ihm zurück in die Kuppelmitte ziehen.
»Ihr wird nichts passieren. Sie schwimmt zu einem der Sonnenfelsen, badet im Sonnenlicht und ist schnell wieder da.«
Die zuversichtlichen Worte ihres Erwählten zauberten ein kleines Schmunzeln auf ihre Lippen. Was sollte an diesem Tag anders sein, als schon an so vielen Tagen zuvor?
Texte: Denise Reichow
Tag der Veröffentlichung: 03.04.2016
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