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Kapitel 1.1

Chronos, 7. Dimension, Alpha Sektor

 

Yun wälzte sich unruhig im Schlaf. Ein merkwürdiger Traum hielt ihn in Schach.

»Wer bist du?«, murmelte der dreizehnjährige Junge.

Es dauerte die halbe Nacht, bis ein heftiger Ruck seinen Körper durchfuhr und er senkrecht, mit steifen Gliedern, im Bett saß. Kalter Schweiß ran seinen Nacken hinunter. Die halblangen blonden Haare klebten an der Haut und eine Strähne kratzte sein linkes Auge.

Gedankenverloren saß er da und starrte vor sich hin. Nach einer Weile drehte er sich zur Seite und erhaschte einen Blick auf den Wecker. Die digitale Anzeige zeigte sechs Uhr an. Um diese Uhrzeit aufstehen? Momoko würde ihren Bruder für verrückt erklären. Sein Körper drängte ihn, sich wieder hinzulegen, aber er weigerte sich erfolgreich. Zurück in den Traum wollte er um keinen Preis. Ihm kam es vor, als hätte er tatsächlich mit dem Traumkrieger gekämpft.

 

***

 

»Guten Morgen, Momoko.« Als Yun um acht die Küche im Erdgeschoss betrat, traf er dort auf seine ältere Schwester. Sie umklammerte einen dampfenden Becher. Vor ihr lag der Holoemitter für die Tageszeitung aufgeklappt. Durch den blauen Schimmer des Hologramms konnte er den gelangweilten Ausdruck in ihren Augen erkennen.

Auch sie war fertig für den Tag. Wann auch immer sie im Badezimmer aufgetaucht war. Sie schaffte es ständig, sich unbemerkt im Haus zu bewegen.

Er stampfte alles andere als grazil auf den Kühlschrank zu und versank mit dem Oberkörper darin, auf der Suche nach Essbarem.

»Guten Morgen, Brüderchen. Du hast nicht gut geschlafen, was?« In der hellen Glockenstimme seiner Schwester konnte der Chronianer ein leichtes Kichern vernehmen. Verwirrt kam er aus der Kälte hervor und drehte sich auf dem Absatz zu ihr um. Hinter ihm fiel die Kühlschranktür zu.

»Woher weißt du das?« Momoko musste nicht antworten. Auf der Mittelkonsole der geräumigen Küche stand alles für ihn bereit.

»Jetzt habe ich nicht nur seltsame Träume, sondern auch Tomaten auf den Augen. Na super.« Mit schlurfenden Schritten ging Yun auf den Tresen zu. Er klemmte sich mehrere Packungen Wurst unter den Arm, schnappte sich einen Teller und legte zwei Scheiben Brot darauf. Beladen umrundete er das Hindernis und setzte sich zu Momoko. Sie bunkerte die Butter. Auch auf Bitten rückte das blonde Mädchen sie nicht heraus.

»Komm schon. Ich habe Hunger.«

»Zuerst erzählst du mir von dem Traum, dann kannst du sie liebend gerne haben«, säuselte die große Schwester und grinste dabei schelmisch. Stöhnend legte er das Messer zurück auf den Teller. Er schwang es schon eine Weile hin und her. Wie er wohl mit dem Schwert ausgesehen haben musste?

»Da war plötzlich eine Stimme und dann ein Mann, der mich kannte. Ich habe ihn vorher noch nie gesehen.« Momoko starrte ihren Bruder verwirrt an.

»Komm zum Punkt. Überspring bitte die langweiligen Details.« Während sie sprach, plusterte Yun die Wangen auf und ließ am Ende die Luft geräuschvoll hinausgleiten. »Erst darf ich nicht frühstücken, weil ich dir den Traum erzählen soll. Jetzt soll ich nicht, weil die Einzelheiten dich einschläfern.«

»Entschuldige«, flüsterte sie. Ihre Schultern zuckten nach oben.

»Entscheid dich einfach«, grummelte er daraufhin, lehnte sich vor und schnappte ihr die Butter weg.

»Also …«, hakte sie nach. Unbeirrt schob sich Yun sein Brot in den Mund, biss beherzt ab. Er kaute langsam, zögerte die Antwort ein wenig hinaus: »Kurz und gut: Er meinte, ich müsste trainieren und wir kämpften gegeneinander.«

Momokos Mundwinkel verzogen sich leicht angewidert vom Anblick seines vollen Mundes, dennoch hatte er ihre Neugier geweckt.

»Du hast gekämpft?«, begann sie spöttisch. »Mit was denn? Hast du ihn mit Wattebällchen beworfen, bis er anfing, zu bluten?«

»Ernsthaft, Momoko? Dieses Klischee wirfst du mir vor? Natürlich nicht. Es war ein harter Schwertkampf.« Ein beleidigter Ausdruck huschte über sein Gesicht. Momoko kannte ihn zu gut, um zu glauben, dass es an ihrer Bemerkung lag.

»Du hast verloren, stimmt’s? Was für ein Gegner war er denn, dass er dich betrübt werden lässt?« Yun seufzte. Ihm war der Hunger auf sein Frühstück vorerst vergangen.

»Der Typ hat sich nicht damit begnügt, mich bloß zu besiegen. Er hat mich vernichtend geschlagen«, grummelte er. »Er trug eine gewundene Brandnarbe auf seiner Handfläche, ob er deshalb so stark war? Was meinst du, Momoko?«

Plötzlich saß das Mädchen kerzengerade auf dem Stuhl, ihre großen runden Augen weit aufgerissen. Die blauen Pupillen starrten ihn an. Unsicher über das veränderte Verhalten der großen Schwester, schaute sich Yun verwirrt um. Er suchte den Raum um sich herum ab, drehte sich sogar nach hinten um und fixierte dann erneut Momoko. Nirgendwo konnte er etwas Verdächtiges ausmachen.

»Warum genau guckst du mich so an?«, fragte er deshalb argwöhnisch. Doch sie antwortete nicht sofort. Es war, als würde ihr Gehirn auf Hochtouren arbeiten und der restliche Körper dabei funktionsunfähig gemacht.

Da die Antwort auf sich warten ließ, widmete sich der Blondschopf wieder dem Frühstück. Nicht ohne seiner Schwester gelegentlich verstohlene Blicke zuzuwerfen. Einige Minuten vergingen – Yun war bereits bei dem vierten Brot angekommen – als sich plötzlich die Haltung des Mädchens entspannte. Sie spitzte die Lippen, ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und hinterließen kleine Fältchen auf der Stirn.

»Eine Narbe, sagst du …«, aus heiterem Himmel, begann sie zu sprechen. Ihre Stimme ersetzte die peinliche Stille.

»Kannst du mir den Mann bitte genauer beschreiben, Bruderherz?«

»Mädchen«, seufzte Yun stattdessen. »Interessieren sich immer nur dafür, wie gut die Kämpfer gebaut sind.«

»Red keinen Unsinn«, ermahnte sie ihn mit einem Zischen in der Stimme. »Wenn ich mit meiner Vermutung Recht behalte, dann kann dir nur ein Mann im Traum erschienen sein.«

Jetzt war es an Yun, ungläubig aus der Wäsche zu gucken. Er wollte bloß seinem Unmut über einen albernen Traum Luft machen und die sonst so vernünftige Schwester strickte bereits eine Verschwörungstheorie daraus. Sie war allerdings nicht so geduldig wie ihr jüngeres Pendant. Ohne Vorwarnung trat sie Yun gegen das Schienbein, als er nicht sofort antwortete. Einen Aufschrei unterdrückend, biss er die Zähne zusammen, rieb sich die schmerzende Stelle und schob den Teller mit dem letzten Brot beiseite. Dann begann er, widerwillig zu beschreiben. »Lass mich überlegen … Auffällig waren die langen silbernen Haare. Er trug schwarz-weiße Kleidung, aber frag mich nicht nach Art und Marke. Sein Schwert sah total genial aus; so ein schönes Langschwert. Bis auf die auffällige Narbe war eigentlich nichts Ungewöhnliches an ihm.«

»Bist du dir da ganz sicher?«

»Moment mal, seine Ohren. Die waren chronianischer Abstammung, aber zusätzlich hatten sie noch jeweils 3 schwarze Streifen«, sinnierte er. »Jap, das war es im Großen und Ganzen.«

Nun erwartete er eine ausholende Erklärung seiner Schwester, doch diese grübelte wieder vor sich hin.

Genervt rutschte Yun vom Hocker.

»Darauf habe ich keine Lust.«

Missmutig räumte er den Tisch ab, stopfte das dreckige Geschirr in die Ultraschall-Spüle und sortierte den Brotbelag in den Kühlschrank ein. Er hatte sich zwar mal wieder nicht an Momokos Ordnungssystem gehalten, aber sie bekam derzeit ohnehin nichts mit.

Bevor er ging, versuchte er mit einer Kopfbewegung, Momokos Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er hoffte, sie würde bemerken, dass er ihr noch eine letzte Chance gab, sich zu erklären. Da ihm das Kopfgewackel auf Dauer aber zu albern vorkam, kehrte er seiner Schwester den Rücken zu.

Yun war kurz davor, die Küche zu verlassen, spähte jedoch ein letztes Mal zu ihr hinüber. Die Ältere hatte sich keinen Millimeter vom Fleck bewegt. Sie registrierte auch seine Abwesenheit nicht. Mit einem Schulterzucken verließ er die Küche.

Im Flur schlüpfte er gemütlich in die Turnschuhe und den neuen blauen Sweater, den er sich erst vor Kurzem kaufen durfte.

Ein letztes Mal lockerte er die Muskeln, als müsste er die Unterhaltung mit Momoko abschütteln.

Er verließ das Haus.

Die Tür war nicht einmal ins Schloss gefallen, da ertönte Momokos Stimme hinter ihm. Automatisch zuckten seine Mundwinkel nach oben. Dornröschen war aus ihrer Gedankenstarre erwacht.

Als kleine Racheaktion für vorhin, blieb Yun jedoch nicht stehen. Er entfernte sich entspannt vom Haus, schenkte ihr aber seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Eine Geste, die sie gar nicht bemerkte, weil er ihr weiterhin den Rücken zuwandte.

Stolpernd hopste sie in den offenen Schuhen nach draußen. Immer wieder bat sie Yun lautstark, zu warten. Bis sie ihn endlich erreichte. Aufgeregt nahm sie ihren Bruder bei den Schultern.

»Das ist eigentlich unmöglich. Ich habe nachgedacht.«

»Ja, das war nicht zu übersehen«, kommentierte er. Für einen kurzen Moment wirkte Momoko beleidigt, doch die freudige Erkenntnis überwog und zauberte ihr eine leichte Röte ins Gesicht.

»Die drei Streifen auf seinen Ohren. Du hast sie vorhin erwähnt, erinnerst du dich?« Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.

Für Yun war dieses Verhalten neu. Er blinzelte deshalb nur verdutzt seiner Schwester entgegen. Kurze Zeit war der Junge nicht sicher, ob nicht vielleicht ein schlecht gemachter Klon vor ihm stand.

»Die spitzen Ohren eines Chronianers mit diesem besonderen Merkmal sind überaus selten. Du hast dich nicht geirrt, richtig?!« Yun brachte immer noch keine Antwort hervor. Sein Mund klappte zwar im Schneckentempo auf, jedoch entwich ihm kein Ton. Ungeduldig schüttelte sie ihn. Ihre Fingernägel gruben sich dabei in seine Haut. An die blauen Flecken wollte der junge Chronianer erst gar nicht denken. Viel mehr machte ihm Momokos Anblick zu schaffen. Dass ein alberner Traum solch eine Kurzschlussreaktion in den Schaltkreisen ihres weiblichen Gehirns verursachen konnte, war mehr als unvorstellbar, aber komische Gewissheit. Wieder halbwegs gefasst, wollte er ihr antworten, doch sie wartete nicht darauf.

»Die Streifen sind das Rassesymbol der Zangloianer. Es gab nur einen Mann, der beides hatte.«

»Ah ja«, er räusperte sich und fuhr fort, »und wieso rastet du deswegen so aus? Es war nur ein Traum.«

Momokos Finger lösten sich von seiner Schulter. Unschlüssig fummelte sie am Saum ihres Tank-Tops herum. Sie fand einfach keine sinnvolle Beschäftigung für ihre nervösen Glieder. Bevor sie den Faden wieder aufnahm, atmete sie tief ein. Der rote Schimmer verschwand aus ihrem Gesicht und Yun glaubte, seine normale Schwester wieder vor sich zu haben. Momokos Stimme hatte erneut den typisch besserwisserischen Unterton einer großen neumalklugen Schwester angenommen.

»Dieser Mann ist so etwas wie eine Legende. Denn es gab nur einen Mann, der halb Chronianer und halb Zangloianer war. Destroyer Blake.«

Aus dem Nichts heraus hakte sich die Ältere bei ihm unter. Sie führte ihn zu einer verlassenen Bank in der Nähe ihres Zuhauses. Hier saßen oft die Nachbarn, wenn sie auf das Shuttle warteten.

Ein missmutiger Seufzer bahnte sich seinen Weg in Yuns Kehle, doch er unterdrückte ihn noch rechtzeitig. Diese Unterhaltung würde in eine Lehrstunde ausarten und in solchen Momenten sollte keiner Momoko reizen. Ohne Widerworte ließ er sich von ihr mitschleifen.

»Du weißt hoffentlich, wie engstirnig die Zangloianer sind.«

»Natürlich. Im Unterricht wurde uns erklärt, wie unangenehm die Zangloianer anderen Rassen gegenüber werden können«, warf Yun ein. Momoko nickte anerkennend.

»Jedes Mischbalg, wie sie es nennen, wird auf Anweisung der Regierung sofort getötet. Auch Blake sollte dieses Schicksal treffen. Die Brandnarbe – die plötzlich auf seiner Haut erschien – welche du auch selbst gesehen hast«, ein erregter Schauer glitt ihren Rücken hinunter, »hat ihn gerettet. Egal wie sehr sie es verabscheuten, aber sie mussten bei ihm eine Ausnahme machen. Schon allein diese Tatsache macht Blake zu etwas Besonderem.«

Yun rutschte auf der Bank hin und her. Es war ihm peinlich, aber er musste sie danach fragen: »Wer oder was ist Destroyer Blake? Wieso diese große Ausnahme?«

Die angespannten Schultern seiner Schwester sackten nach unten und ihr Mund gleich hinterher. Ihr Bruder hatte einfach partout keine Ahnung von Geschichte.

»Ich dachte eigentlich, deine Lehrerin hat übertrieben, als sie meinte, du würdest ständig schlafen«, grummelte sie stattdessen. Beschwichtigend hob der Blondschopf seine Hände.

»Ich schlafe nicht immer ... nur manchmal. Ich wusste schließlich die Sache mit Zanglo…«

Die Ältere hörte schon gar nicht mehr zu, hob bloß die Hand, holte aus und ließ sie gegen seinen Hinterkopf schnellen. Es gab einen hellen klatschenden Ton. Hohl, wie vermutet, dachte sie. Jammernd rieb sich Yun seinen Kopf. Das war die Strafe dafür, dass er von dem Traum überhaupt erst angefangen hatte.

»Das war für deine Unachtsamkeit«, schalte sie ihn.

»Es tut mir leid.«

Kapitel 1.2

»Na, das sind Methoden. Vielleicht sollte ich mich auch daran versuchen.« Hinter Yun und Momoko erhob sich eine geschmeidige Baritonstimme. Erschrocken über den plötzlichen Besucher zuckten beide zusammen. Momoko reagierte am schnellsten, drehte sich noch im Sitzen um und fing gleich darauf an, zu meckern.

»Herrgott, musst du dich so anschleichen?! Du weißt, dass ich solche Kindereien hasse.«

Yun dagegen war im nächsten Moment hellauf begeistert aufgesprungen: »Whitren! Toll, dass du vorbeikommst.« Grinsend stellte er sich neben den großgewachsenen jungen Mann.

»Wie geht’s dir, Kleiner?«, fragte der Mann aufrichtig interessiert.

Seine Augen strahlten freundlich, während er der Antwort lauschte. Er musste erneut herzhaft lachen, als sie bei Momokos Kopfnuss ankamen.

»Ja, das habe ich gesehen. Ausgezeichneter Schlag, Momoko«, brachte er glucksend hervor. Das Mädchen unterdrückte noch in letzter Sekunde ein Grinsen, aber ihre Mundwinkel zuckten verdächtig. Yun honorierte ihr Verhalten keineswegs, konnte seine Schwester jedoch immer noch nicht mit einem bösen Blick strafen.

Sie zog ihn ständig damit auf, dass er einfach zu nett für diese Welt war. Er hasste das, jedoch bestärkte ihn seine beste Freundin immer wieder, sich nicht zu ändern.

Während Momoko ihren Gedanken nachhing, vertieften die anderen beiden sich in ein Gespräch über Whitrens Arbeit als Gesetzeshüter.

»Wie läuft es mit Crankcross und der Bande?«

»Tja, was soll mit dem sein? Die chronianischen Anhänger sind vergleichsweise leicht zu fassen. Manche von ihnen versuchen, uns an der Nase herumzuführen, aber wir stellen sie trotzdem. Nur er selbst ... Er ist eben ein Mido. Die körperliche Stärke und Ausdauer machen einen großen Unterschied«, in Whitrens Stimme klang ein Hauch Anerkennung für die Stärke der Mido mit.

»Es ist doch eure Aufgabe, Verbrecher zu jagen, da solltet ihr …«

»Yun.« Der Blondschopf war dabei, sich in Rage zu reden. Jedoch unterbrach ihn seine große Schwester schnell genug, bevor er etwas äußerte, das ihm hinterher schrecklich leidgetan hätte.

»Crankcross und die Bande sind in erster Linie keine Verbrecher.« Momoko baute sich vor ihrem Bruder auf und fuhr fort: »Sie wollen Spaß haben und leben ihn bloß zum Leidwesen der Anwohner aus. Das nennt man Unruhestifter oder Rowdys.« Beinahe wäre Yun daraufhin das Wort ›Klugscheißer‹ aus dem Mund gerutscht. Er presste noch schnell genug die Lippen aufeinander. Nun hörten die beiden nur entweichende Luft. Bloß heiße Luft.

Obwohl ihm das Thema zu schaffen machte, kam er andauernd darauf zurück. Zuhause verbot Momoko, Fragen über die Arbeit zu stellen. Sie kannte die Reaktionen und Whitren genauso. Deshalb schüttelte sie nur missbilligend den Kopf, wenn ihr bester Freund die Fragen des Jüngeren weiterhin beantwortete.

Wie so oft versuchte sie, ihn mit Blicken dafür zu strafen. Er beteuerte nie Reue, erwiderte höchstens ein entschuldigendes Schulterzucken.

Er stachelte erneut die Konversation an, indem er Yun aufmunternd auf die Schulter klopfte.

»Ich werde mir beim nächsten Mal mehr Mühe geben. Versprochen.«

»Gut, und verpass Renden einen Arschtritt von mir, wenn du ihn zu fassen kriegst«, raunte Yun. Fing er an über seinen ehemals guten Freund und jetziges Bandenmitglied zu sprechen, entwichen ihm die Worte nur noch als einziger Wortschlamm. Für andere wurde es dann schwer, das Genuschel zu verstehen, aber Momoko versuchte es erst gar nicht. Sie ließ ihn den Frust rausschwemmen und wartete geduldig ab.

Einerseits freute sich die Blondine, dass ihr bester Freund einen solch guten Draht zu Yun hatte. Allerdings bereitete es ihr imaginäre Kopfschmerzen, den kleinen Bruder in solche Angelegenheiten mit hineinzuziehen. Er war schon immer eine friedfertige Person gewesen. In gewisser Weise wollte sie auch nicht, dass sich das änderte.

Irgendwann würde genau das aber passieren und sie hoffte, der Zeitpunkt ließe noch auf sich warten.

Er interessierte sich nicht nur für Whitrens Arbeit, sondern träumte nun zusätzlich von legendären Männern und Schwertkämpfen. Wieso Blake ausgerechnet in seinen Träumen auftauchte, bereitete ihr dazu noch Magenschmerzen. Ihr war, als hätte sich die Welt gegen sie verschworen und ihr bester Freund stand in der ersten Reihe.

Seufzend strich Momoko sich mit der linken Hand übers Gesicht. Zeigefinger und Daumen ruhten auf ihrer Nase – direkt auf Augenhöhe – und gaben leichten Druck ab. Die Technik sollte Kopfschmerzen vertreiben oder wenigstens lindern, behauptete zumindest Whitren. Fühlen konnte sie allerdings nur ihre Fingernägel, die sich in die empfindliche Haut bohrten und ein unangenehmes Ziehen hinterließen.

Momokos Geste blieb nicht unbemerkt. So erhaschte ihr weißhaariger Freund einen kurzen Blick auf die filigrane Armbanduhr, die sie um das linke Handgelenk gewickelt hatte.

»Ach du Schreck. Wir müssen los«, entfuhr es Whitren plötzlich. Seine aufgeschreckte Stimme holte sie aus ihren Gedanken.

Bevor sie sich richtig von ihrem Bruder verabschieden konnte, hatte Whitren einen kleinen Vorsprung ausgebaut.

»Hey, schon vergessen, dass ›wir‹ mich einschließt?!«, rief sie ihm hinterher.

Darüber amüsierte sich der junge Krieger königlich und rief zurück, blieb aber nicht stehen: »Du hast die Reaktionszeit einer Aselod!«

Schnell hastete sie hinter ihm her und winkte zum Abschied.

Seelenruhig stand Yun alleine neben der Sitzbank, verabschiedete sich aus der Ferne von seiner Schwester und ihrem Begleiter. Dann waren sie aus seinem Blickfeld verschwunden. Ihn störte es nicht, dass beide längst aufgehört hatten, sich nach ihm umzudrehen.

Nach einem kurzen Blick auf die eigene Armbanduhr – die aus blauem Edelstahl gefertigt war – friemelte er die Ohrmuscheln seines MAG aus der Jackentasche. Mit einem zufriedenen Lächeln setzte er sich die zusammenfaltbaren Lautsprecher auf die Ohren. Um die dazugehörige kleine Box herauszuholen, benutzte er das Kabel, welches beide Komponenten verband.

Reichere Jungs in seinem Alter konnten sich die schnurlosen Geräte leisten und die noch Reicheren hatten Musikspeicher und Kopfhörer in einem. Davon konnte Yun nur träumen.

Doch völlig unbeirrt durch sein bereits abgenutztes Kabel, fischte er nun die Box des MAG hervor. Mit einem gezielten Knopfdruck schaltete er es ein und ließ es daraufhin zurück in die Tasche gleiten. Sofort dröhnte ihm die abgespeicherte Musik entgegen. Er erinnerte sich daran, wie er am gestrigen Abend bei diesem Lied stoppte, weil seine Schwester sich über die Lautstärke beschwert hatte. Seine Mundwinkel zuckten. Momoko würde auch die laute Musik über Kopfhörer verbieten, wenn sie denn könnte. Um einen Tadel käme er nicht herum.

Yun schlenderte auf anderem Weg in Richtung Innenstadt. Eigentlich wäre er mit dem öffentlichen Shuttle schneller am Ziel. Jedoch gehörte es zu den Eigenheiten der Chronianer, sich nur in besonderen Fällen von Transportmitteln abhängig zu machen. Yun war nicht in Eile, weshalb er gerne verzichtete. Keiner verschmähte freiwillig einen Spaziergang durch die idyllische Landschaft von Chronos. Die Sonne erhellte Wiesen und Wälder. Ohne stehen zu bleiben, bestaunte der junge Blondschopf die Flora und Fauna um ihn herum. Vom nächtlichen Regen hingen noch vereinzelte Tropfen an Blütenblättern. Sie funkelten wie Diamanten. Egal wie oft er an diesen unberührten Stellen vorbeikam, er wurde nie müde, sie ausgiebig zu betrachten.

Aufgrund der vielen Ablenkung um ihn herum, überhörte er das Mädchen, das ihm nachrief. Ihre Rufe konnten es nicht mit der Musik aufnehmen und drangen nicht durch die Ohrmuscheln bis zu ihm durch. Jedoch hörte er plötzlich eine andere Stimme seinen Namen sagen. Eine Stimme, die nicht dem Mädchen hinter ihm gehörte. Sein Name hallte direkt in seinem Kopf wider und blendete allmählich auch die Musik aus. Kurze Zeit später wurde ihm schwarz vor Augen. Die Stimme verebbte keineswegs. Sie wurde stetig lauter, während Yun in eine tiefe Ohnmacht stürzte. Sein Name war das Letzte, was er hörte.

Kapitel 1.3

»Yun Harunari!«, schrie ihn eine unbekannte Mädchenstimme an. Erschrocken riss der Junge seine Augen auf und fuhr ruckartig in eine sitzende Position. Er war ganz und gar nicht aus der Ohnmacht erwacht, sondern steckte wieder in einer Traumlandschaft fest. Überall erstreckte sich nur weißer Nebel.

»Was denn, schon wieder ein Traum? Aber das ist unmöglich … Ich war doch gerade noch …«, frustriert raufte sich der Blondschopf die Haare und zog dann genervt die Hände längs übers Gesicht. Seine Gesichtszüge verzogen sich dadurch und plötzlich ertönte ein zurückhaltendes Lachen. Schnell nahm er die Hände herunter. All die kleinen Hautfalten schnellten an ihren angestammten Platz zurück. Bis auf das Mädchen vor ihm, war keine Menschenseele zu sehen.

Ihr Lächeln veränderte sich, verzog sich zu einer Entschuldigung. Argwöhnisch musterte er das kleine Mädchen. Seine Körperhaltung blieb jedoch entspannt. Auf Yun wirkte sie nicht ansatzweise so gefährlich wie der legendäre Blake. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass eine solch zierliche Gestalt keine großen Waffen erheben – geschweige denn schwingen – konnte.

»Wer bist du?«, fragte er sie deshalb mit ruhiger Stimme. Die Antwort erreichte ihn nicht. Schrie sie eben noch nach ihm, so stammelte sie nun vor sich hin. Ohne ihren Namen zu wiederholen, ging sie auf Abstand.

»Entschuldige, aber ich habe dich absolut nicht verstanden. Könntest du …«, plötzlich brach Yun ab. Hinter ihr blitzte etwas auf. Zwei Dolche kamen zum Vorschein.

»Könntest du die bitte wieder wegstecken?« Nervös lachte der Blondschopf auf. So bedrohlich die scharfen Klingen in ihren Händen rotierten, so befremdlich sah sie damit aus. Die langen schwarzen Haare waren halbherzig zusammengebunden, vereinzelte Strähnen verirrten sich nach vorne und verliehen ihr ein unbeholfenes Aussehen. Die übergroße Kleidung trug ebenfalls nicht zu einem gefährlichen Äußeren bei. Sie wirkte wie ein unschuldiges kleines Kind mit mörderischer Begleiterscheinung.

»Ich soll gegen dich kämpfen«, murrte das Mädchen. Dieses Mal sprach sie laut genug, damit Yun es verstand. Ihr Gesichtsausdruck machte ihn stutzig. Mit zitternden Knien wagte er sich einen großen Schritt näher. Beschwichtigend hielt er ihr die Hände entgegen. Das Mädchen mochte so niedlich aussehen, wie es wollte, aber ein Treffer ihrer langen Dolche würde trotzdem wehtun.

Konnte er sich an diesem Ort überhaupt verletzen? Darauf ankommen lassen, wollte er es nicht.

Wie Whitren es ihm neulich erst gezeigt hatte, positionierte sich Yun vor dem Mädchen, versuchte nett und ungefährlich auszusehen. Schwer fiel es ihm nicht, da er noch nie gefährlich ausgesehen hatte. Er begann auf die Kämpferin, ohne Namen, einzureden.

»Du musst nicht kämpfen. Verstehst du? Du kannst selbst entscheiden!«

»Wer sagt, dass ich es will?«, schmollte die Schwarzhaarige. Ungläubig und verdutzt über diese Aussage entglitten Yun kurzzeitig die Gesichtszüge: »Wie? Aber …« Alle Vorsicht vergessend stürmte er auf sie zu. Sanft, aber bestimmend griff er sie bei den Schultern. »Wieso dann das Ganze? Ich werde langsam paranoid wie meine Schwester und glaube an eine Verschwörung. Hört doch alle einfach auf damit … lass mich bitte aufwachen. Ich bin kein Kämpfer.« Verblüfft über Yuns Redeschwall sanken ihre Arme samt Dolchen und verharrten nach unten hängend. Im nächsten Moment hatte sie sich gefasst, sich aus seinem lockeren Griff befreit. Ihre Augen schwammen in Tränen – als wäre sie die Bedrohte – und sie begann schluchzend zu erläutern: »Es ist meine Bestimmung. Das verstehst du nicht. Ich muss, aber ich hasse es so sehr! Kämpfe bedeuten Schmerz. Keiner will, dass einem wehgetan wird. Eine Auserwählte zu sein, heißt all das.«

Bevor der Blondschopf von ihrem Ausbruch erfasst wurde; er sie in die Arme ziehen konnte; blendete ihn plötzlich ein gleißend helles Licht. Anstelle des zu bemitleidenden Mädchens tanzte nun ein merkwürdiges Symbol in der Luft. Ein Zeichen, welches mit dem des legendären Kämpfers Blake verwandt zu sein schien.

»Was hat das zu bedeuten?«, rief er in die Leere hinein. Große Hoffnung, eine Antwort zu erhalten, hegte er nicht. Yun sollte eines Besseren belehrt werden, denn auch wenn er niemanden sehen konnte, hieß das nicht, dass er auch alleine war.

»Das Symbol der Emotionen«, hallte es durch den unbegrenzten Raum.

Das Licht erstrahlte von Mal zu Mal heller. Yun schirmte reflexartig seine Augen ab und vernahm plötzlich eine ihm sehr vertraute Stimme: »Alles in Ordnung bei dir?«

»Shinari«, japste Yun erleichtert.

Im nächsten Moment fiel er seiner besten Freundin vor Freude in die Arme. Seine Hände vergruben sich in ihre himmelblaue Mähne, die locker über den Rücken hing. Das Mädchen hatte auf Zöpfe verzichtet, bloß den störrischen Pony mit goldenen Spangen gebändigt.

»Du weißt gar nicht, wie froh ich bin, dich zu sehen.« Vor Schreck über den Überfall versteiften Shinaris Muskeln sofort. Ihr Rücken drückte sich durch und die Arme klebten am Körper fest. Sie vermochte es nicht, ihre Unbeholfenheit zu verbergen.

»Ich merke es«, murmelte sie krächzend. Der Blondschopf bemerkte nicht, wie diese Geste ihr die Röte ins Gesicht trieb und auf ihren Wangen einen fiebrigen Glanz zauberte.

»Was war denn los?« Langsam löste sich Yun von dem Mädchen, nahm etwas Abstand, suchte Blickkontakt zu ihren blauen freundlichen Augen. Er beruhigte sich jedes Mal, wenn er die grünen Sprenkel in ihrer Iris fokussierte. Den hochroten Kopf ignorierte der Junge gekonnt. Das war eine Selbstverständlichkeit als guter Freund.

»Ich hatte schon wieder einen dieser merkwürdigen Träume. Mitten am Tag. Dieses Mal ist mir ein Mädchen begegnet«, begann Yun. Doch Shinari schaute ihn nur verständnislos an: »Wovon sprichst du, Yun? Welche Träume?« Da fiel dem Jungen erst auf, dass diese Merkwürdigkeiten erst letzte Nacht begonnen hatten. Also nahm er sich die Zeit, ihr alles bis ins kleinste Detail zu erzählen, während sie geduldig vor ihm saß.

 

»Ich verstehe. Dass du mitten am Tag in eine Traumwelt fällst, ist absolut nicht normal«, sagte Shinari streng. Sie hatte seiner Erzählung aufmerksam gelauscht. Sorge um ihren Freund erfüllte sie bis in die Zehenspitzen. Ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte, spiegelten sich die gemischten Gefühle auch in ihren Augen wider. Yun seufzte bei dem Anblick.

»Bitte verrate mich nicht. Kein Wort zu den anderen!«

»Aber wenn es schlimmer wird, muss ich es jemandem erzählen«, warf sie kurzerhand ein.

»Schon klar. Denk einfach nicht mehr daran. Ich kriege das wieder in den Griff.« Selbstsicher stand Yun vor ihr. In voller Größe wirkte er vom Boden aus gesehen – wo Shinari noch hockte – stark, furchtlos und so lebendig. Seine stahlblauen Augen strahlten ihr tapfer entgegen. Genauso mochte sie ihn.

Einverstanden nickte sie.

Kapitel 1.4

Die beiden Teenager gingen den Rest des Weges bis in die Innenstadt zusammen.

Im Zentrum sollten ihre Freunde auf sie warten. Die fünf großen Springbrunnen, die den Platz zierten, zogen täglich viele Besucher an. Das Wasser sprudelte nur so in die Lüfte, floss in die Kessel und platschte schlussendlich ins Bodenbecken. Es war ein sehr faszinierender und gleichzeitig entspannender Anblick für jeden, der es zuließ. Wehte ein Lüftchen, so fanden auch Wasserspritzer ihren Weg zu den Fußgängern.

An diesem Tag herrschte jedoch Windstille. Keine Kinder oder sensiblen Mädchen, die bei Berührung mit dem kühlen Nass aufkreischten. Stattdessen tummelten sich die Besucher an den Becken und hielten ihre überlasteten Füße hinein, bevor sie sich erneut in den Andrang der angrenzenden Einkaufspromenade einfädelten.

Die Wohnhäuser ringsherum waren nicht nur beliebt, sondern auch schweineteuer. Yun hatte nie verstanden, wieso Shinari ihn auf halbem Weg in die Stadt traf; wohnte sie doch direkt am südlichen Stadtrand. Dort reihten sich die prunkvollsten Villen aneinander mit gebührendem Abstand zu den jeweiligen Grundstücken. Was er allerdings ein wenig verstehen konnte, war ihre Abneigung, Freunde mit nach Hause zu nehmen. Yuns Zuhause passte gerade einmal in das Wohnzimmer.

Im Freien, fern vom absoluten Luxusviertel und in Gegenwart von Freunden, blühte das Mädchen auf. Ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester war sie dann von den anderen Jugendlichen nicht mehr zu unterscheiden.

 

***

 

An dem prunkvollsten Brunnen, der die Mitte des Platzes kennzeichnete, tummelten sich die meisten Chronianer. Nur war er nicht Ziel der zwei. Gezielt steuerten die beiden den östlichen Springbrunnen an. Seine Fassade war mit Schnitzereien züngelnder Flammen geschmückt. Jeder der vier kleinen Brunnen war nach einer Himmelsrichtung und einem der vier Elemente ausgerichtet.

Shinari gefielen die Ornamente nicht besonders, sie bewunderte lieber die Blüten und Ranken am südlichen Brunnen. Über das Wasserspiel im Osten verlief jedoch eine Schwebebahn der Regierung. Als Treffpunkt war dieser somit nicht zu übersehen.

Aber weder sie noch Yun konnten ihre Freunde entdecken.

»Na toll. Wieso geben wir uns eigentlich die Mühe, pünktlich zu sein?«, beschwerte sich der Blondschopf bei dem Mädchen. Er wartete keine Antwort ab und fuhr fort: »Sie sind immer zu spät.« Kaum sprach er die Worte aus, sprang jemand Yun in den Rücken. Das Wasser spritzte so hoch, dass es bis zu Shinari reichte. Diese stand ein paar Schritte abseits und war ganz auf das Treiben an der Promenade fokussiert. Sie hörte weder seinen erschrockenen Ausruf, noch registrierte sie den Neuankömmling. Yun schrie auf: »Greegen, du bist ... nass.«

»Ich bin ja auch quer durchs Becken gewatet«, erklärte Greegen. Der klein geratene Fünfzehnjährige wirkte beleidigt.

»Von wegen zu spät. Wir haben auf der anderen Seite auf euch gewartet«, hörte Yun eine weitere ihm bekannte Jungenstimme. Ein athletisch gebauter Blondschopf trat auf die Gruppe zu. Yun erkannte Yellburn und schluckte einen bissigen Kommentar hinunter. Der Neuankömmling ließ ihn nicht zu Wort kommen: »Schau dich demnächst besser um, danach darfst du dich beschweren.«

»Ich habe aber herübergeguckt.« Leicht irritiert zog sich Yun den Sweater aus. Das Wasser hatte die Rückseite total erwischt. Vorsichtig hängte er sich die angefeuchtete Jacke über den rechten Arm, darauf bedacht, die nassen Stellen nach innen zu falten.

Shinari löste ihren Blick von den Passanten und wandte sich den Freunden zu: »Wer von euch beiden kam auf die Idee, sich vor uns zu verstecken?« Sie hatte die Ankunft der Jungs zwar verpasst, war jedoch aufmerksam genug gewesen, um der Unterhaltung bis zuletzt zu folgen.

»Shinari Kahlen, meine liebliche Blume. Du bist nicht nur schön wie eh und je, sondern dazu noch äußerst scharfsinnig«, schnulzte Yellburn in üblicher Aufreißermanier vor sich her. Greegen kam nicht umher, Würggeräusche zu imitieren. Yun dagegen benahm sich vorbildlich. Er schüttelte lediglich den Kopf. Mit einem aufmunternden Lächeln versuchte der Junge, sich stumm bei Shinari dafür zu entschuldigen. Sie lächelte schüchtern zurück und nickte dankend. An diese peinlichen Auftritte konnte sich einfach keiner von ihnen gewöhnen.

»Kannst du ihr nicht deine Gefühle auf normalem Weg offenbaren? Das aufgesetzte Gesülze ist grausam«, warf Greegen ein. Er schaffte es kaum, seinen Kumpel auch nur anzusehen, so sehr stand ihm die Scham ins Gesicht geschrieben. Yellburn schnaubte hörbar empört: »Du abgebrochener Meter hast davon doch gar keine Ahnung. Lass die Frauen ruhig meine Sorge sein. Ich mach das schon.«

Seine Freunde hoben ergeben die Hände, kamen aber nicht umhin, zu grinsen. Auch Shinari, der Yellburn in diesem Moment den Rücken zugedreht hatte, strahlte mit der Sonne um die Wette.

»Und dreimal dürft ihr raten, wer auf die Idee des Versteckspiels kam«, fügte er noch gespielt überheblich hinzu. Seine gute Laune ließ sich nicht vertreiben. Sie war ein endloser Vorrat geschützt durch eine dicke Portion Ego.

Ein schiefes Lächeln vergrub sich in Yuns Lippen.

»Greegen. Natürlich«, er lachte auf. »Du hast dich von ihm echt überreden lassen?!«

Unbekümmert zuckte Yellburn mit den Schultern. »Du kennst ihn doch. Um seinen Willen durchzusetzen, hat der Junge sehr penetrante Methoden.«

Wasser spritzte in Yellburns Richtung. »Was heißt hier penetrant?«, fragte Greegen amüsiert, das Bein zum erneuten Tritt durchs Becken angewinkelt. Schnell gingen Yun und Shinari in Deckung. Währenddessen näherte sich der große Blonde Greegen, zog einen Halbkreis um den Jungen, balancierte auf dem Brunnenrand und sprang seinen kleinen Freund ruckartig an.

»Hey! Fiese Tricks sind unfair«, beschwerte sich Greegen lachend. Er saß im Schwitzkasten seines Freundes fest. Yellburn blieb erbarmungslos. Egal wie sehr der kleine Braunhaarige auch strampelte.

»Habe ich nun recht oder nicht? Du bist ein penetranter Giftzwerg, richtig?«, fragte der Blonde fordernd.

»Schon gut. Es stimmt. Ich ergebe mich.« Mit einem siegessicheren Grinsen ließ Yellburn von seinem Freund ab. Greegen rieb sich kopfschüttelnd und lächelnd den Hals. Er schaute kurz zum Rest der Gruppe, welcher in gebührendem Sicherheitsabstand das Geschehen aufmerksam beobachtete. Dann wandte der Junge sich wieder dem Möchtegerncasanova zu und schnaubte: »Eigentlich bist du genauso schlimm wie ich.« Alle nickten zustimmend.

Die Jungs verfielen daraufhin in eine angeregte Konversation über ätzende Lehrer, die ein Problem mit Freigeistern, wie Greegen und Yellburn, zu haben scheinen. Yun schloss schnell zu ihnen auf und beteiligte sich ebenfalls an dem Gespräch. Shinari blieb weiterhin außen vor, begnügte sich damit, ihren besten Freund in aller Ruhe zu betrachten.

Völlig unbemerkt trat eine Person an das Mädchen heran und legte den Arm um ihre Schulter. Erschrocken riss sich die Fünfzehnjährige aus der Umarmung los. Sie wollte schon aufschreien, doch erkannte im letzten Moment ihre Zwillingsschwester Lynrie. Erleichtert atmete sie auf. Ihr Herz polterte in der Brust, auf dem Weg der Besserung.

Mit Hilfe eines Räusperns machte Shinaris Schwester nun auch die Freunde auf sich aufmerksam: »Was muss ich hier sehen, Jungs? Das ist doch wieder typisch: Meine kleine Schwester steht hier wie bestellt und nicht abgeholt und euch interessiert das einen feuchten Dreck. Ein Star verdient mehr Aufmerksamkeit.«

Greegen drehte sich nach ihrer Ansprache leicht zur Seite. Er flüsterte Yellburn laut genug zu, dass auch Yun es verstehen konnte: »Meint sie wirklich Shinari oder redet die jetzt von sich selbst?« Sein blonder Freund biss sich hastig auf die Lippe und senkte den Blick auf die Schuhe. Qualvoll verstrichen die Sekunden, in denen die Jungs versuchten, nicht wieder zu lachen. Sie wollten ihrer Freundin Shinari keine Schwierigkeiten bereiten. Aber es war so schwer, die Beherrschung nicht zu verlieren, wenn Greegen das Sprücheklopfen nicht lassen konnte.

So unaufmerksam, wie Lynrie nun mal war, wandte sie sich wieder ihrer Schwester zu.

»Lass sie bitte in Ruhe. Ich finde das in Ordnung, so wie es ist. Im Mittelpunkt zu stehen, ist nicht mein Ding«, erzählte die Blauhaarige schulterzuckend. Bittend sah sie Lynrie an.

»Ich kann nicht. Es ist meine Pflicht als deine große Schwester.«

»Wir sind Zwillinge«, entgegnete Shinari.

»Mag sein«, Lynrie warf ihre fliedergefärbten Haare zurück, »aber ein paar Minuten älter bin ich trotzdem.«

Shinari seufzte und Yun kam zur Hilfe geeilt: »Ach komm schon, Lynrie. Lass gut sein. Du …«

Plötzlich entglitt Lynrie ein Wutschrei. Der Blondschopf trat daraufhin reflexartig einen Schritt zurück.

»Geh mir aus der Sonne, Harunari«, keifte sie.

»Aber ich steh doch gar nicht …«

»Deinetwegen werden meine Filme nur auf Chronos bekannt. Niemand anderes zeigt sie!« Die Tatsache, dass Lynrie die Sonne im Rücken hatte, der Junge ihr somit gar nicht im Weg stehen konnte, störte sie nicht weiter. Es kümmerte sie auch nicht, was er zu sagen hatte. Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen: »Du bist eine Plage und ein schlechter Umgang noch dazu.«

Greegen hüpfte vom Beckenrand, auf dem er die ganze Zeit verweilt hatte, und stellte sich vor Yun. Verdecken konnte er ihn bei seiner Größe zwar nicht, aber die Geste zählte. »Halt mal die Luft an. Yun trifft keine Schuld, dass Chronos den Kontakt zu anderen Planeten abgebrochen hat.«

Yuns Blick ruhte weiterhin auf den Schwestern, auf eine Reaktion von Lynrie wartend. Eine für sie äußerst typische Reaktion wie aus einem Zickenhandbuch.

Dort lautete mit Sicherheit die Regel Nummer eins: ›Vergiss niemals, niederes Fußvolk mit jedem Satz zu beleidigen.‹ Gefolgt von Modefaustregeln und Dinge, die nur Loser essen sollten.

»Du Zwerg hast vielleicht Vorstellungen vom Leben«, sie spuckte die Worte förmlich aus. »Ich kann wirklich verstehen, dass da oben nicht viel reinpasst. Aber direkt nach Yuns Geburt ist der Netzwerkzusammenbruch geschehen. Beweis genug!«

Shinari ging auf Abstand und rieb sich genervt die Stirn. Bei ihrem Anblick kam Yellburn ritterlich zur Hilfe und geistiger Unterstützung geeilt; konnte seine Schwärmereien über wütende Frauen jedoch nicht für sich behalten.

Von überall her drangen die Worte auf Shinari ein. Yellburn wollte keine Ruhe geben. Sein Gesülze vermischte sich mit dem ohrenbetäubenden Gekeife ihres Zwillings.

Neugierige und missbilligende Blicke kreuzten die Gruppe. Fans knipsten aufgeregt Bilder von den berühmten Kahlen-Schwestern. Shinaris Kopf drohte zu explodieren.

»Lynrie, es ist genug!«, brach es aus ihr heraus. »Bitte. Die Menschen suchten damals einen Schuldigen und du machst da auch noch mit«, erklärte die Fünfzehnjährige beinahe atemlos. Sie atmete nur kurz durch, und als Lynrie etwas erwidern wollte, fuhr sie fort: »Du hast deine Meinung geäußert, lass ihn jetzt bitte in Frieden.«

Sachte wurde Greegen von Yun aus dem Weg geschoben, der sich Shinari zuwandte: »Soll sie doch reden und ihr Urteil fällen. Ich komme damit klar.« Zustimmend nickte seine Freundin.

Langsam trat nun Yellburn an Lynrie heran. »Du solltest gehen. Die Leute gucken schon. Was sollen die davon halten?«, flüsterte er eindringlich.

Ruckartig schüttelte die Diva ihren fliederfarbenen Schopf, als wären die Worte der anderen wie Ungeziefer. Plötzlich antwortete sie ihrer Schwester mit viel ruhigerer Stimme, den giftigen Unterton konnte sie nicht so leicht abschütteln, wie die vorangegangene Unterhaltung: »Wie dem auch sei. Ich muss weiter, pass auf dich auf, Schwesterherz.«

Zum Abschied schenkte sie Shinari lauter Luftküsschen und bedachte den Rest mit verachtenden Blicken. Im Gehen kam ihr ein Gedanke. Also machte Lynrie schnell wieder auf sich aufmerksam und rief ihrem Zwilling den gut gemeinten Ratschlag zu, aufzupassen, an wen sie ihre Zeit verschwendet. Darüber konnten die Jungs nur den Kopf schütteln.

Sie nahmen Shinari in ihre Mitte und begaben sich zurück an ihren Platz am Brunnen. Die Menschenmasse war zu einer überschaubaren Menge geschrumpft. Der Vorfall mit Lynrie hatte die Ruhe suchenden Besucher verschreckt.

Laut aufstöhnend ließ sich Greegen auf den Beckenrand plumpsen.

»Wieso muss deine Schwester so eine eingebildete und ... und ... Yellburn, hilf mir mal.«

Der Fünfzehnjährige schlug seinem Freund gegen das Schienbein. Die Sonne blendete ihn, weshalb er Yellburns Reaktion schätzen musste. Er schirmte die Augen ab, so gut, wie es mit einer Hand ging. Als er sich wieder Shinari zuwenden wollte, des Wartens satt, um die Frage im Alleingang zu Ende zu bringen, hörte er das unverkennbare Fingerschnipsen.

»Unausstehlich. Das wäre ein passendes Wort.« Immer wenn Yellburn ein Geistesblitz traf – Gott bewahre, dass es irgendwann ein Echter sein sollte – äußerte es sich durch das Fingerschnipsen. Die Aufmerksamkeit seiner Freunde war ihm dann immer sicher – zumindest hatten sie versucht, es sich anzugewöhnen.

»Guter Einfall«, Greegens olivgrüne Augen blitzten schelmisch auf und er versuchte erneut, eine Frage zu formulieren: »Also, wie kann es sein, dass deine Schwester so eingebildet ist und dazu noch eine so unausstehliche Kuh?«

»Weißt du …«, auch Shinari ließ sich endlich nieder. »Ihr ist der Ruhm um die Schauspielerei zu Kopf gestiegen.«

Wie bei einer einstudierten Choreographie senkten Yun und Shinari daraufhin den Blick. Beide nickten schwer.

Yellburn, der plötzlich eine sanfte, aufrichtige Seite an sich zu finden glaubte, hockte sich vor das Mädchen und tätschelte behutsam ihre Hand. »Dieser Ruhm steht ihr trotzdem sehr gut.« In Sekunden war die nette Geste vergessen. Theatralisch sauste Greegens Gesicht gegen seine flache Hand. Das klatschende Geräusch füllte die plötzliche Stille.

Shinaris Mundwinkel verzogen sich nach unten, als hätte das Mädchen in eine saure Frucht gebissen. Sie entzog Yellburn die Hand.

»Ihr habt einfach keinen Geschmack.«

»Nein, Yellburn. Du bist einfach bloß ein Spinner«, entgegnet das Mädchen und versetzte ihm einen Stoß gegen die Schulter. Er verlor das Gleichgewicht. Wie in Zeitlupe landete er auf dem Hintern. Ein triumphierendes Lachen konnten sich die anderen nicht verkneifen.

Mitten unter ihre erheiterten Stimmen mischte sich ein tadelndes Schnalzen. Als sie ihre Köpfe zu dem Geräusch herumdrehten, erblickten sie einen alten Freund.

»Renden«, riefen sie mehr oder minder erfreut seinen Namen. Der Rotschopf balancierte auf dem Brunnenkelch und schaute auf die Gruppe herab. Er trug wie üblich sein Lieblingscap. Es war nach hinten gedreht, weshalb eine dicke Strähne der roten Haare am Riemen hervorlugte. Seine früheren Freunde verglichen den Anblick immer mit einem Feuer, das aus den Fängen des Caps auszubrechen versuchte. Aber diese Zeiten fühlten sich ewig her an.

Renden konzentrierte sich auf Yellburn, der bisher keine Anstalten machte, auf die Beine zu kommen. Belustigt wurde der Blondschopf gemustert. Alle Anwesenden warteten auf eine Reaktion. Yuns Blick klebte trotzig an seinem früheren besten Freund. Auch wenn er es wollte, er konnte nicht damit aufhören.

»Du kapierst das grundlegendste Prinzip von allen nicht, mein Freund«, erhob sich Rendens Stimme gegenüber Yellburn.

»Und einer wie du, der kennt es? Wieso? Bist du in deinem Leben als Rowdy plötzlich zu Weisheit gekommen?«, spottete der Blonde. Mit einer einzigen eleganten Bewegung war Yellburn auf den Beinen. Er streckte unauffällig die Glieder und warf den langen Zopf nach hinten, der sich bei dem Sturz nach vorne gestohlen hatte. Jede seiner Bewegungen hatte etwas Schönes an sich. Kein Wunder also, dass die Freunde über eine mögliche Karriere in der Modelbranche scherzten. Auch wenn kein Mädchen auf Chronos es gegenüber diesem Schleimer zugeben würde, sie waren seinem Anblick alle ein klein wenig verfallen.

»Ach, Großer«, sinnierte Renden.

Kurz nach seinem zehnten Geburtstag schoss Yellburn in die Höhe. Seine Freunde zogen ihn damit auf, dass er niemals aufhören würde zu wachsen und sie bald alle niedertrampeln würde. Seit zwei Jahren jedoch war er nun keinen Zentimeter mehr gewachsen. Dennoch überragte er sie alle um eine ganze Kopflänge. Gut, bei Greegen war das keine Kunst. Jeder war größer als der kleine Fünfzehnjährige, der die Höhe eines Zehnjährigen Maß.

Der rothaarige Störenfried sprang mit einem Satz vom Brunnenkelch hinunter. Erstaunlich viel Kraft lag in dem Sprung, sodass er auf dem Brunnenrand aufkam. Ein Kunststück, was sonst keiner im trockenen Zustand vollenden konnte. Die angespannten Muskeln zeichneten sich durch den dünnen Stoff seines Oberteils ab. Das Leben bei Crankcross machte ihn zunehmend fitter, allerdings auch unausstehlicher.

»Das Prinzip ist doch ganz einfach. Nehmen wir mal deine perfekte Zwillingsschwester, Shinari. Sie ist zum Abkotzen. Da kommen wir bereits zum Kern des Ganzen. Innen hässlich; außen hässlich«, Renden ging auf dem Beckenrand spazieren. Er erzählte mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre er von allen dazu aufgefordert worden und nicht durch die spöttischen Fragen Yellburns.

Er bekam keine Rückmeldung. Also blieb er stehen. Sein Blick fixierte die Freunde. »Irgendwelche Fragen?«

»Wie geht es dir eigentlich so?«, fragte Shinari höflich. Diese Reaktion wurde alles andere als erwartet und brachte Renden für einen kurzen Moment aus dem Konzept. Es war lange her, dass sich jemand für ihn und sein Befinden interessiert hatte. Um näher an Shinari heranzukommen, ging er in die Hocke.

»Ich bin frei. Das ist ein geiles Gefühl«, antwortete er glücklich. Seit Langem hatte die Fünfzehnjährige kein Lächeln seine Augen erreichen sehen, doch in diesem Moment geschah es tatsächlich. Sie glaubte ihm.

Plötzlich legte sich ein Schatten über Rendens dunkle Augen.

»Nur irgendwas stimmt mit Crankcross nicht«, begann er zu erzählen. Seine Stimme klang gedrückt und erweckte die Aufmerksamkeit von Yun und den anderen. Keiner wagte, ihn jetzt zu unterbrechen; für den Fall er würde die Erklärung nicht ausführen. Neugierig und auffordernd starrten sie ihn an. Greegen musste es wie üblich übertreiben. Er durchbohrte den Jungen förmlich mit seinen Blicken. Shinari streckte instinktiv ihren Arm aus und drückte dem Kurzen ihre flache Hand ins Gesicht. Als der Rotschopf zu ihnen hinüberschaute, war Greegen bereits aus dem Sichtfeld verschwunden. Verwundert musterte Yun die beiden und konnte sich noch ein Lachen verkneifen, bevor Rendens Blick auf ihm verharrte.

»Crankcross verhält sich seltsam. Er verliert zunehmend die Fassung. Schlagt mich, wenn ich falsch liege, aber den Mido passiert so etwas doch nicht«, fuhr er fort.

Die Mido waren ein Volk, das sich durch außerordentliche körperliche und geistige Stärke auszeichnete. Sorgenfalten gruben sich auf die Stirn der Freunde. Denn ein Mido, der außer Kontrolle gerät, wäre eine Bedrohung für seine Mitmenschen.

Renden klopfte kräftig auf die Oberschenkel. Wie ein Zeichen zum Aufbruch kam Bewegung in seine Beine. Er baute sich in voller Größe vor Yun auf. »Wie dem auch sei. Ich bin hergekommen, um Yun herauszufordern.«

Yellburn und Greegen seufzten genervt auf. Es war immer dasselbe mit den beiden.

»Ich spiel bei eurem Tussenboxen aber nicht mit«, beschwerte sich der Braunhaarige sofort.

Yellburn nickte ihm zustimmend zu. »Ich hätte es zwar anders formuliert, aber ich bin auch dagegen.«

Der Herausforderer schaute belustigt auf Greegen hinab. Sein Blick überging Shinari, die ihre vor Sorge überfüllten Augen nicht von Yun abwenden konnte. Er zuckte jedoch nur entschuldigend mit den Schultern.

»Wir werden doch nicht kämpfen. Ich fordere meinen liebsten Freund und Rivalen zu einem Parcourslauf heraus. Austragungsort: Übungsplatz«, grinste der Rotschopf schelmisch. In die braunroten Augen trat ein aufgeregtes Funkeln. »Was hältst du davon?«

»Ich akzeptiere!«, antwortete Yun lautstark und erntete dafür einen bösen Blick der besten Freundin.

Im nächsten Moment waren sie alle auf den Beinen. Bevor sich die Clique überhaupt in Richtung des Übungsplatzes bewegen konnte, preschte Renden bereits voraus. Immer mit dem Ziel vor Augen, Erster zu sein.

»Das ist die falsche Richtung!«, rief ihm Yellburn hinterher, als dieser bemerkte, wie der Rowdy in Richtung des Villenviertels rannte. Keine Sekunde später drehte Renden um. Ohne an Geschwindigkeit abzunehmen, sauste er an den anderen vorbei.

»Das wusste ich!«, antwortete er Yellburn im Vorbeirennen. Belustigt schaute die Truppe dem Wirbelwind hinterher.

 

***

 

»Wenn deine Schwester das wüsste.« Shinari ging ruhigen Schrittes neben Yun her. Sie vermied es, ihn anzusehen.

»Als würde Momoko glauben, dass ich eine Herausforderung angenommen habe. Sie wird es nicht erfahren«, antwortete Yun dem Mädchen ohne Aufforderung. Neugierig schaute sie ihn nun doch an. Ihr blonder Freund zuckte nur wieder mit den Schultern. Wie sie diese Gleichgültigkeit abgrundtief hasste. Ihre Hände ballten sich unweigerlich zu Fäusten. Sie zitterten. Er war ein friedfertiger Junge, also sollte er sich auch so benehmen.

»Reine Vorsichtsmaßnahme«, flüsterte er ihr dann zu.

Die Fünfzehnjährige stieß die Luft in kurzen Abschnitten aus den Lungen heraus. Yun hoffte, es sollte ein unterdrücktes Drucksen werden und kein verächtliches Schnauben. Argwöhnisch beäugte er die Blauhaarige.

»Ich wollte es nur noch einmal erwähnt haben«, kommentierte sie daraufhin und tat es ihm gleich. Ihre Schultern zuckten nach oben. Ein gespielt böser Blick von ihrem besten Freund durchbohrte sie. Dann bekam sie einen kleinen spielerischen Schubs gegen den Arm.

 

***

 

Aus dem Schatten einer Gasse trat ein stämmiger Mann. In Händen hielt er ein veraltetes Sprachmodul, aus dem ein Knacken zu hören war. Er wartete auf eine Reaktion auf seinen Funkspruch. Nachdem die Kinder an ihm vorbeigekommen waren und der Mann noch immer keine Antwort erhalten hatte, versuchte er es erneut. Er funkte Crankcross direkt an. Kurze Zeit später dann die erlösende Reaktion aus dem Hauptquartier.

»Hast du Neuigkeiten?«, dröhnte die verzerrte Stimme des Mido aus dem Sprachmodul. Bald würde das Gerät völlig den Geist aufgeben.

»Ich habe den Köder einkassiert. Wie befohlen, Crankcross.«

»Bevor du aber zurückkommst, überbring dem Jungen noch eine Botschaft von mir. Er soll in meine Basis kommen.« In der Leitung knackte es erneut.

Das Bandenmitglied steckte das Sprachmodul in seinen Seesack, schulterte diesen und griff nach dem Bogen. Lynrie Kahlen zerrte er unsanft hinter sich her.

Kapitel 1.5

Zanglo, 7. Dimension, Delta Sektor

 

»Was hat das zu bedeuten?!« Wütend stampfte Uniricon durch die meterhohen mechanischen Stahltüren des Hangars. Die laute tiefe Stimme dröhnte von den stählernen Wänden wider. Selten hörte man ihn in solcher Lautstärke seinen Ärger kundtun. In Momenten wie diesen vergaß seine Stimme den sonst rauchigen Beiklang, der sie zu etwas Besonderem machte.

Riesige Schlacht- und Frachtschiffe füllten den Hangar. Seit Neustem reihte sich auch eine Vielzahl an Robotern ein, dessen Aufgabe Uniricon nur erraten konnte.

Er marschierte auf Aiken und Zyndrak zu. Der oberste Wissenschaftler, Zyndrak, war in Protokolle vertieft. Einzig Aiken, oberstes Regierungsmitglied von Zanglo, würdigte ihn eines kurzen Blickes, wandte sich dann jedoch wieder ab, als würde der aufbrausende Abgesandte des zangloianischen Wüstenvolkes ihn nicht weiter interessieren. Der großgewachsene Zangloianer war sich seiner Stellung als oberstes Regierungsmitglied vollkommen bewusst. Seine Aufmerksamkeit musste man sich verdienen oder in Uniricons liebstem Fall erzwingen.

»Ihr habt doch nicht tatsächlich vor, einen Angriff zu starten?! Einfach so!«, brüllte Uniricon weiter. Aiken schüttelte enttäuscht den Kopf. »Aber mein lieber Freund, ich treffe doch keine Entscheidungen ohne triftigen Grund.«

Schwächeren Individuen gegenüber konnte der Abgesandte in deren Gedanken eintauchen und sich die Informationen beschaffen, die er benötigte. Aber sein Gegenüber war alles andere als schwach oder gar schwächer als seine Untergebenen. Nicht einmal Zyndrak – der allein schon durch sein hohes Maß an Intelligenz vor feindlichem Eindringen geschützt sein sollte – war unlesbar für Uniricon. Beim Regierungsoberhaupt biss sich der Abgesandte jedoch regelmäßig die Zähne aus. Die Informationen, die Aiken hinter seiner Schädeldecke versteckte, konnten von unschätzbarem Wert und lebenswichtig sein. Uniricon musste es einfach versuchen. Doch er rannte nur wieder vor eine mentale Mauer. Sein Glück, dass diese Kunst des Gedankenlesens nicht bemerkt werden konnte. Andere Gedankenzauberer hatten da ein schwereres Los.

»Der Grund wäre? Euer Rassenhass vielleicht? Dass Ihr Euch darüber pikiert, wie ein so friedliches Volk bessere Krieger ausbilden kann, im Gegensatz zu Euch?« Uniricon versank in seiner Wut, sodass er gar nicht merkte, wie er die Grenzen maßlos überschritt. Für einen kurzen Moment wurde Aikens Kopf puterrot. Er schlug mit der Faust gegen einen nahestehenden Roboter, sodass dieser bedrohlich ins Wanken und Zyndrak ins Schwitzen kam.

»Bitte Vorsicht!«, rief der Wissenschaftler erschrocken aus und klammerte sich an seine Schöpfung. Beinahe hätte der kleine Ausrutscher von Aiken einen Massenschaden angerichtet, der ihnen wertvolle Zeit ihres Plans geraubt hätte. Als der Roboter wieder festen Halt besaß, sog Zyndrak erleichtert Luft in die Lungen. Er hatte in diesem Schreckmoment gar nicht bemerkt, dass er das Atmen eingestellt hatte.

»Sind die Roboter einsatzbereit?« Aikens Gedanken kreisten um den Plan, aber Uniricon ließ er trotzdem nicht aus den Augen. Dieses rangniedrige Mitglied der zangloianischen Regierung hatte es gewagt, ihn zu verspotten.

»Ja, sind sie und sie sind perfekt. Jeder Einzelne hat die Zerstörungskraft eines Sondereinsatzkommandos. Auf ihre Feuerkraft und Zielsicherheit gebe ich mein Wort.« Vor Stolz schwoll die Brust des Wissenschaftlers mit jedem Wort immer weiter an. Zufrieden wandte sich Aiken von ihm ab, schaute zwischen Zyndrak und der Roboterarmee hin und her. »Ausgezeichnet«, kommentierte er.

»Ich bin mir sicher, dass Sie mit ihnen genauso zufrieden sein werden, wie mit all den anderen Maschinen, die ich für Sie bereits konstruiert habe.«

Der Abgesandte räusperte sich mehrmals. Ein aggressiver Unterton floss bereits darin mit. »Sie haben die Absicht, diese Roboter bei Ihrem Angriff zum Einsatz zu bringen, habe ich recht?« Mit einem wissenden Lächeln drehte sich Aiken wieder dem Störenfried zu.

»Was haben Sie denn gedacht?«

Seine Schultern begangen zu zucken. Die ihm gegebene Macht als Regierungsoberhaupt von Zanglo spielte er genüsslich aus. Nicht nur gegen seine Untergebenen, sondern auch anderen Rassen gegenüber. »Ich habe nicht vor, den Hof von Ihnen fegen zu lassen.«

»Das ist barbarisch. Aiken, Sie werden hunderte Leben damit aufs Spiel setzen. Sie …« »Aber, aber«, unterbrach Aiken ihn. »Unsere Leute setze ich doch nicht aufs Spiel und um die anderen ist es nicht schade.«

Das war zu viel für den sonst so ausgeglichenen Zangloianer. Er schätzte die Entfernung zueinander ab und überdachte die Möglichkeit, diesen Plan körperlich aus der Welt zu schaffen. Mit wenigen Schritten könnte er zumindest den Abstand überbrücken. Seine Muskeln spannten sich an, bereit zum kurzen Sprint.

»Immerhin haben wir dafür gesorgt, dass diese minderbemittelten Insekten keinerlei Gefahr für uns sein werden«, plapperte Zyndrak plötzlich vor sich hin. Entsetzt schnellte Aiken zu seinem Gefolgsmann herum. »Bist du wahnsinnig, so etwas auszuplaudern!« Aiken fuhr beinahe aus der Haut, war kurz davor, dem Wissenschaftler an den Kragen zu gehen. Diesem traten Schweißperlen auf die Stirn.

Manchmal hatte er die doofe Angewohnheit, einfach vor sich herzuplappern, ohne dass die Worte vorher sein intelligentes Gehirn um Erlaubnis baten. Besonders wenn er nervös wurde, zeigte sich dieses Problem häufiger. So wie in diesem Moment. Die Worte flossen nur so über die Lippen, wie eine gleißende Strömung: »Es tut mir leid. Es war keine Absicht, von den Relikten der Dimensionen zu erzählen. Ich verstehe schon, dass nicht jeder erfahren sollte, dass wir die Energie der Relikte und somit die Verbindung der Dimensionen und Planeten, die in ihnen zu finden sind, unterbrochen haben.« Wie vom Donner berührt, stand Uniricon einfach nur da und starrte die beiden fassungslos an. Der Wissenschaftler knickte unter dem hasserfüllten Blick von Aiken ein. Aus seinem Gesicht wich alle Farbe. Es wurde weiß, wie seine Haare und die roten Spitzen leuchteten wie Signalfeuer. Der Schweiß sprudelte ihm nur so das Gesicht und den Rücken hinunter. Er traute sich aber nicht, nach seinem Tuch zu greifen, um ihn fortzuwischen. Zyndrak war bereits im Redefluss bewusst geworden, was für eine Torheit er begangen hatte. Aikens schöner Plan lag ausgebreitet zu Uniricons Füßen.

»Ich sollte dich von deinen eigenen Schöpfungen ausradieren lassen«, brummte Aiken wutentbrannt. »Du kannst froh sein, dass du mir als Wissenschaftler zu wertvoll für diesen kurzen Spaß bist.«

Uniricon war vergessen und er musste kräftig schlucken, bevor er wieder zu Worten fand. »Das ist Massenmord«, hauchte er entsetzt.

»Na und«, entgegnete Aiken unbekümmert. Dann schüttelte er sich, als würde sein nächster Gedanke ihn zutiefst anwidern. »Diese Rasse ist so abartig freundlich. Hilft jedem Planeten, wenn es mal ein Problem gibt.«

Er machte eine kurze Pause, hatte sich beruhigt und redete weiter: »Das könnte die anderen Planeten dazu bewegen, ihren freundlichen Nachbarn beizustehen. Das würde unseren Leuten schaden. Ich kann so etwas natürlich nicht zulassen.« Aiken mochte versäumt haben, Zyndrak körperlich  anzugehen, aber Uniricon zögerte nicht. Mit wenigen Schritten stand er vor seinem oberen Befehlshaber – alle Regeln und Sitten vergessen – und packte ihn am Kragen. »Was tun Sie denn da?!«, schaltete sich Zyndrak ein. Nun war es an Uniricon, Aiken mit hasserfüllten Blicken in Grund in Boden zu starren. Sein Plan war ein heikles Unterfangen. Wie glaubte er, Aiken überreden zu können, von seinem Vorhaben Abstand zu nehmen? Nie interessierte er sich für die Meinung anderer. Als Aiken nach Uniricons Händen griff und sie mit großem Druck belastete, bemerkte der Abgesandte seinen Fehler. Schnell ließ er vom Regierungsoberhaupt ab, nahm wenige Schritte Abstand und ging ergebenst auf die Knie. Auch wenn er es tief in seinem Inneren nicht empfand, entschuldigte er sich immer und immer wieder.

Aiken richtete sein Jackett. »Hast du Sorge um diese Pest oder um die Relikte?« Sein herablassender Blick ruhte auf Uniricon. Es war ein Test. Diese Frage konnte man kaum zu der Zufriedenstellung Aikens beantworten, aber der Abgesandte gab sein Bestes, um das Wohlwollen seines Befehlshabers nicht gänzlich zu verlieren: »Die Relikte. Wird einmal ihre Energie unterbrochen, besteht die Gefahr, sie nie wieder in Takt zu bekommen. Ich bin um unser aller Leben besorgt. Um das unseres Volkes. Vergebt mir, dass ich nicht über die Intelligenz verfüge, Euren Plan vollkommen nachzuvollziehen, Meister.« Ihm war speiübel. Allein schon diese Worte zu denken, reizte sein Nervenkostüm. Aiken Honig ums Maul zu schmieren, ließ einen Würgereflex nicht aus. Gekonnt überspielte er das Geräusch mit einem Räuspern. »Darf ich mich entfernen?« Siegessicher grinste Aiken. »Ich bitte darum.«

Nachdem Uniricon den Hangar verlassen und die Türen sich hinter ihm unter lautem Getöse geschlossen hatten, verfinsterte sich Aikens Blick wieder. »Erinnere mich daran, dass ich ihn im Auge behalten muss.« Zyndrak nickte hastig. Traute sich nach dem Fauxpax nicht, seinen Chef direkt anzusprechen.

»So.« Ein weiteres Mal zupfte Aiken an seinem Jackett und trat vor die Roboterarmee. »Belade unsere Schlachtschiffe, Zyndrak. Es wird Zeit, dass Chronos untergeht.«

Kapitel 1.6

Chronos, 7. Dimension, Alpha Sektor

 

Renden führte die Gruppe zu einem Freerunning Parcours, dessen Hindernisse aus alltäglichen Dingen bestanden. Besonders auf die Bänke freute sich Yun. Die Sitzfläche bot ein super Sprungbrett für einen kleinen Salto über die Lehne.

»Da wären wir. Ihr könnt eure Sachen ins Gras werfen.« Der Rotschopf sah schon ganz ungeduldig aus, wie er wippend den Platz musterte. Yellburn und Greegen taten es den anderen gleich und schmissen Jacken und Taschen auf einen Haufen.

»Du solltest dich zuerst warm machen, Renden. Oder hast du es so eilig, zu verlieren?«, scherzte der Große. Er widmete sich bereits den Dehnübungen.

»Ich bin so in Topform. Keiner von euch hat eine Chance.« Greegen hüpfte von einem Bein aufs andere. Gelegentlich ließ er seine Fäuste durch die Luft sausen, als wäre er ein Profiboxer vor einem entscheidenden Spiel.

Kopfschüttelnd schaltete sich der Herausforderer ein: »Was wird das, wenn es fertig ist? Ich habe Yun herausgefordert. Ein Mann-gegen-Mann-Duell.« Hinter ihm ertönte ein Glucksen. Schnell drehte er sich zu dem Geräusch um. Shinari zuckte nur unschuldig mit den Schultern und lächelte verhalten. Die Lippen aufeinandergepresst. Normalerweise passierten ihr derartige Ausrutscher nicht. Als sich Renden wieder Yellburn und Greegen zuwandte – die sich auf einen Wettkampf vorbereiteten – schielte sie zu Yun hinüber, der ihren Blick belustigt auffing.

Allein mit einer einzigen fließenden Bewegung kam Yellburn auf die Füße – die Dehnübungen unterbrechend – und grinste Renden herausfordernd an. »Uns war schon klar, was du vorhattest. Ist ja nicht das erste Mal.«

»Aber nur zuschauen ist langweilig«, mischte sich auch der Kurze ein. »Deswegen haben wir beide eigenmächtig entschlossen, ein Turnier zu veranstalten.« Ruckartig wandte Renden sich vom einen zum anderen, ließ dabei nicht einmal Shinari aus. »Euer Ernst?!«, keuchte er. Seine Augen funkelten.

Beinahe tat er Shinari leid, weil sie seine kleine Traumwelt zerstörten. Sie versuchte ihn zu besänftigen: »Ein kleines Turnier mit vier Mann ist doch viel aufregender und vielseitiger. So könntet ihr einen Staffellauf einbauen.« Bevor sie weitere Vorschläge machen konnte, unterbrach sie eine hektische Handbewegung des Rotschopfes. Sein Gesicht fing an, dieselbe Farbe wie sein Haar anzunehmen. Missmutig verzog Yun das Gesicht. Shinari hatte die Situation bloß verschlimmert.

»Ein Staffellauf?!«, brach es aus Yuns Rivalen heraus. Seine Stimme brach und war einem entsetzten Keuchen gewichen. »Da muss man Zweierteams bilden.«

Yun hatte diese Reaktion durchaus erwartet, seine Freunde jedoch nicht. Die sonst so gefährlich aufblitzenden Augen des Rowdys geweitet und mit dunklen Wolken überschattet zu sehen, überraschte sie. Die Jungs verspürten, im Gegensatz zu Shinari, dabei keine Reue oder gar Mitleid. Sie kugelten sich vor Lachen.

»Dein Gesicht«, japste Greegen. »Du solltest dich mal sehen.« Ihm fiel es schwer, ruhig zu atmen. Sein Körper wurde unablässig von Lachsalven durchgeschüttelt.

Der entsetzte Ausdruck in Rendens braunroten Augen wich nun einem trotzigen Funkeln. Er wirkte wütend. »Ich will gegen Harunari antreten, gewinnen und nicht ein Team mit ihm bilden!«

»Wer will denn bitte schon ein Team mit dir bilden«, kommentierte der Kurze weiter. Renden grinste plötzlich breit. Da hob sich sein Arm in Greegens Richtung und er rief: »DU!« Völlig perplex verschluckte sich der Braunhaarige an der nächsten Lachsalve. Das Lachen verwandelte sich in ein Husten. Auch Yellburn war für einen kurzen Moment das Lachen vergangen. Ein hämisches Lächeln blieb ihm aber erhalten, während er zwischen den beiden hin und her schaute.

»Yellburn und Yun können ihr Team Blondie von mir aus bilden. Wir sind das coole Team Renden«, protzte der Rotschopf. Unbeirrt ging er schnellen Schrittes an seinen Kameraden vorbei, Richtung Parcours. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, rief er Greegen noch zu: »Mach hinne. Wir müssen eine Strategie aushandeln!«

»Wieso ich?! Dein Team heißt doch ‚Team Renden‘. Ich heiße aber nicht Renden!«, rief der Kurze zurück. Da blieb der Rotschopf am Rande des Platzes stehen und drehte sich um. »Du bist auch nicht cool. Aber mir bleibt keine andere Wahl. Na los.« Ergebend sackten dem Fünfzehnjährigen die Schultern nach unten. Die Arme baumelten nutzlos am Körper. Genervt stöhnte er auf und folgte dem befehlshaberischen Teammitglied zum Platz.

»Tut mir leid«, sagte das Mädchen plötzlich leise und zerknirscht. Als sie Yun anblickte, verzogen sich ihre Lippen zu einer mitleidigen Grimasse. Die übrig gebliebenen Freunde, Yellburn und Yun, kommentierten es mit einem abtuenden Schulterzucken.

»Was soll’s«, meinte Yun bloß.

»Eigentlich ist es ja unsere Schuld«, antwortete Yellburn.

Nun gingen auch sie hinunter zum Parcours, um sich in Stellung zu bringen. Geknickt ließ sich Shinari etwas zurückfallen. Yun bemerkte dies und stieß seinen Freund mit der Schulter an. »Es stimmt.« Verwirrt schaute Yellburn zu Yun.

»Was meinst du?«, fragte er deshalb. Weil der Vierzehnjährige seinen Schritt beschleunigte, musste Yellburn sich ihm anpassen.

»Du bist wirklich schuld daran.«

Mit diesen Worten wurde der Große stehen gelassen.

Ohne sich vorher absprechen zu können, entschied Yun eigenmächtig, als Erster seines Teams anzutreten. Demzufolge stellte sich auch Renden in Position. Beide warteten auf Shinaris Startsignal, doch diese war zu sehr mit Yellburn beschäftigt. Von deren Standpunkt aus konnten die Jungs nur erkennen, wie sie ihm ihre Hand auf seinen Arm legte. Eine Geste, die sie benutzte, um andere zu beruhigen oder zu trösten. Schuldbewusst zog Yun einen Flunsch.

Ein Schubs gegen die Schulter holte ihn aus der Träumerei. »Du musst es echt vermasselt haben, wenn sie sich sogar schon dem Schleimer zuwendet«, stichelte sein Rivale.

Anstelle mit Worten, brachte Yun ihn mit einem bösen Blick zum Schweigen. Ach sei bloß still, feixten seine blauen Augen Renden stumm an. Ihm war gerade nicht nach Streiten und normalerweise provozierte er auch niemanden.

Entmutigt schmiss sich Yun auf den körnigen Boden. Eine Mischung aus Sand und Erde überzog den Platz. Hier wuchs früher Gras, das die vielen trampelnden Füße bereits verscheucht hatten. Wäre das Grünzeug noch vorhanden, dann würde es seinen nervösen Fingern zum Opfer fallen. Mit dem Zeigefinger bohrte er Löcher in den Boden. So gut es eben bei der festgetretenen Erde ging.

Ein Pfiff leitete seine Aufmerksamkeit wieder zu seiner besten Freundin. Shinari hatte noch die Finger im Mund, mit denen sie das Geräusch verursachte, als er hochschaute. Dann winkte sie ihm und Renden zu, bevor sie sich schnell die Nässe an der Hose abwischte.

»Wir haben eine coole Idee«, rief Yellburn und winkte ebenfalls, um seine Rufe zu untermalen. Renden schnaubte. An deren Ideen war er wirklich nicht interessiert. Yun dagegen nickte auffordernd zu ihnen hinüber.

»Habt ihr was dagegen, wenn ich den beiden den Startpfiff erteile, sobald einer von euch die Hälfte der Strecke passiert hat?«, rief nun Shinari. Ihr Kopf lief rot an, da sie kaum Zeit fand, zu atmen. Die laute Stimme verbrauchte alles.

Belustigt grinste Yun vor sich her. So war es schwer, schreiend zu antworten. Er tat es trotzdem. »Find ich gut! Macht die Sache spannender!« Daraufhin nickten seine Freunde und berieten ein letztes Mal. Als Yun Renden nach seiner Meinung fragte, zuckte er bloß mit den Schultern. »Solange ich gegen dich antreten kann, soll mir alles recht sein.«

Keine Minute später trat Yellburn zu ihnen. Es war an der Zeit, sich der Herausforderung zu stellen. Die beiden ersten Kandidaten waren bereits in Position. Ein paar Schritte hinter ihnen warteten Yellburn und Greegen, um nach dem ersten Startpfiff an die Stelle ihres Teamkollegen zu treten. Shinari hatte das Mittelfeld ganz für sich alleine. Ein großer Pfeiler – mit ein paar nützlichen Sprossen für Kletterbegeisterte – markierte den späteren Hauptsitz der Schiedsrichterin. Doch zu allererst wollte sie sichergehen, dass beim Start nicht gemogelt wurde, und war nah genug herangetreten.

»Renden, noch einen Schritt zurück, bitte.« Ihm gefiel gar nicht, zurechtgewiesen zu werden. Widerwillig rutschte er mit den Füßen etwas zurück. Nachdem Shinari glaubte, beide auf selber Höhe zu wissen, hob sie einen Arm in die Luft und mit dem anderen die Finger an die Lippen. Ein lauter Pfiff ertönte wie schon zuvor. Keine Sekunde später preschte Renden bereits voran.

Auch Yun versuchte, möglichst viel Schwung zu holen. Auf das erste Hindernis – die Bank – rannte er in freudiger Erwartung zu. Anders als sein Rivale machte der Blondschopf einen Salto über die Lehne, anstatt diese als Sprungbrett zu nutzen. Gäbe es Punkte für eine schöne Kür, wären ihm die Punkte sicher – darauf wettete Yun. Es war zwar ein Wettrennen, doch ihm lag immer mehr an der Ausführung, als an der Geschwindigkeit. Wenn er nicht vorsichtig war, kostete ihm das am Ende noch den Sieg.

Mit etwas Abstand zur ersten Hürde ragte eine Hüttenfassade auf. Die Fenster besaßen bereits kein Glas mehr. Daneben stand eine ausgediente Laterne, die sich widerwillig zum Schlafen neigte. Wer dieses massive Bauwerk so aus der Form gebracht hatte, wusste bislang keiner.

Unter großen Anstrengungen stieß sich Yun mit einem Fuß an der Fassade ab, griff nach dem hervorstehenden Dach und zog sich laut ächzend daran hinauf. Die ganze Kürgeschichte vergessend, kraxelte er zum höchsten Punkt, um sich auf der anderen Seite wieder hinunterfallen zu lassen. Bevor Yun vom Hindernis herunterkam, sah er jedoch einen roten Fleck vor sich auf der Strecke bereits die Hecken und danach das Karussell erklimmen. Erschrocken sprang er hinunter. Bereits auf dem Weg hoch zum Dach hatte sich der Vierzehnjährige gewundert, wo Renden geblieben war. Dieser hatte die fehlenden Fenster genutzt, indem er mit dem Kopf voraus durch die kleine Öffnung gesprungen war. Seine Hose erlitt dabei minimale Verletzungen, er konnte aber den Vorsprung ausbauen.

Schnaubend kämpfte auch Yun sich voran. Die kleinen Bögen, die die Hecken bildeten, waren für ihn kein Problem. Er wollte keine Zeit verlieren, schmiss sich mit Anlauf auf die Erde und hoffte, den gesamten Weg hindurchschliddern zu können. Mit schmerzenden Beinen durfte er mit Genugtuung feststellen, dass seine Berechnung aufging. Die Naht an seiner Hose allerdings auch.

 

An der Startlinie wurden die Jungs bereits ungeduldig. Ohne sich auch nur einen Millimeter von ihren Plätzen fortzubewegen, versuchten sie, ihre Kameraden im Blick zu behalten. Für Greegen war dies eine besondere Herausforderung. Seine Zehen brannten bereits von den vielen Versuchen, auf Zehenspitzen stehen zu bleiben. Er war kleiner als die meisten Hindernisse. Mit etwas Glück konnte er gelegentlich etwas Haar erspähen, welches meist so schnell verschwand, wie es auftauchte.

Ein lautes Poltern hallte über den Platz. Die Spitze des funktionsunfähigen Karussells wackelte. So konnte Greegen erkennen, dass die Jungs auch diese Hürde überwanden. Nicht mehr lange und für ihn würde der Startpfiff erklingen. Deshalb gab er seine Bemühungen auf, dem Rennen zwischen Yun und Renden zu folgen. Ganz untypisch ging er kurz in sich, sammelte all seine Konzentration und wartete gespannt auf Shinaris Zeichen.

Nach kurzem Zögern – Greegens ruhige Entschlossenheit brachte ihn kurzweilig aus dem Konzept – befand auch Yellburn sich in perfekter Startposition.

Shinari verfolgte mit wachen Augen das aktuelle Rennen. Sobald die Jungs auf die Steilwand zu gerannt kämen, musste der Pfiff für die Nächsten erklingen. Dafür mussten sich Yun und Renden jedoch erst durch das Stangengewirr wagen. Diese Hürde erstreckte sich über ein paar Meter. Die Stangen waren kreuz und quer drapiert worden, sodass man mit Slalom allein nicht ans Ziel kam. Flink, wie Yun war, hopste er feucht fröhlich über Querbalken, tanzte um die strammstehenden Säulen herum und hängte seinen Rivalen mit einem Fingerschnipsen ab.

Yun überschritt die Grenze, die in ihrem Rennen die halbe Strecke markierte. Shinari pfiff. Yellburn und Greegen starteten. Auch die beiden verloren keine Zeit. Für das Mädchen im Schiedsrichteramt begann nun die heiße Phase. Sie blickte fortwährend von einem Team zum Nächsten.

Während Yun bereits ein gutes Stück die Steilwand hinaufgekommen war und Renden erst den Fuß dessen erreichte, zeigte Greegen ein ungeahntes Talent. Der kleine Fünfzehnjährige nutzte die krumme Laterne neben der Hüttenfassade, um sich dazwischen hoch zu hangeln. Leichtfüßig, wie kein Zweiter, überwand er das Hindernis. Yellburn ahmte derweil Rendens kleines Kunststück nach. Der Blondschopf durfte eine schmalere Figur sein Eigen nennen und fand unbeschadet den Weg hindurch.

 

Beide Teams gaben Vollgas. Es machte den Anschein, als könnte Yun gewinnen. Mit einem letzten großen Satz schwang er sich mit dem Seil die Steilwand hinunter. Der Vorsprung weitete sich kontinuierlich aus.

Aber dann, als es zum entscheidenden letzten Hindernis kam, schlug er plötzlich einen Haken. Er verließ die vorgegebene Strecke und hielt auf Shinari zu. Erschrocken schrie sie ihn an: »Was tust du denn?! Das ist die falsche Richtung.« Ihr bester Freund hatte im Rekordtempo den Abstand zueinander überbrückt. Ruckartig zog er sie am linken Arm von ihrer Sprosse hinunter und riss sie zu Boden. Im selben Moment schlug ein Pfeil in den Pfeiler ein. Nur Millimeter hatten gefehlt und es wäre Shinaris Kopf gewesen. Empört und wutentbrannt kam Yellburn auf sie zu. Auch er hatte die Strecke verlassen. Er konnte sich kaum entscheiden, worüber er vorrangig wettern sollte. Aus seinem Mund kamen Beschimpfungen über unverantwortliche Bogenschützen, miserable Hobbyschützen und über Flegel wie Yun.

Hinter Yellburn kam nun Greegen zum Vorschein. Mit leichter Verzögerung erkannte er das Problem. »Du bist doch nur neidisch, dass du nicht die Chance hattest, Shinari zu retten«, stichelte er. Doch wurde er zum ersten Mal ignoriert. Yellburns gesamte Aufmerksamkeit galt dem Mädchen, das völlig verdattert auf dem staubigen Boden lag. Er reichte ihr seine Hand, zog sie behutsam hoch und suchte sie nach Verletzungen jeglicher Art ab. Bis auf Dreck an der Kleidung konnte er nichts finden. Yun ließ er auf der Erde zurück. Die verhärtete Miene seines Freundes irritierte ihn ein wenig. Auch Shinari wirkte mehr besorgt um ihre Freunde, als um den Pfeil, der sie hätte an den Pfeiler nageln können. »Mir geht es gut. Nichts passiert«, sagte sie deshalb behutsam. Um ihren Worten mehr Ausdruck zu verleihen, zauberte sie sich ein breites Grinsen auf ihre vollen Lippen. Bei diesem Anblick entspannte sich der Blondschopf zunehmend.

Derweil war Renden auf die Sprossen des Pfeilers geklettert und kam mit dem Geschoss in der Hand wieder hinunter. »Eine Nachricht von Crankcross«, verkündete er. Da sahen auch die anderen das Stück Papier, das um den Pfeil gewickelt war. Einen Augenblick später erkannten sie, woher der Rotschopf den Absender kannte. Auf dem Papier prangten die Initialen des Mido.

Mit ernster Miene bildete die Gruppe einen kleinen Kreis und Renden las eine wohlformulierte, erschreckende Nachricht vor. Crankcross hatte Lynrie in seiner Gewalt. Dank der Geisel – sie war immerhin Shinaris Schwester – konnte er die Freunde dazu zwingen, seinen Forderungen Folge zu leisten.

»Was machen wir denn jetzt?«, stammelte Shinari. Die Erste, die sich nach dem Vorlesen der Nachricht traute, etwas zu sagen. Die leisen Flüche von Greegen nahmen sie nicht wahr.

»Er will, dass wir ins Hauptquartier kommen. Uns bleibt wohl oder übel nichts anderes übrig«, antwortete Yun vorsichtig. Die blauen Augen drückten tiefstes Bedauern für seine beste Freundin aus. Dann wandte er sich an Renden. »Wusstest du davon?« Sein Rivale schnaubte zuerst verächtlich. Schüttelte dann den Kopf. »Ich habe euch doch gesagt, dass er sich plötzlich seltsam verhält.« Er zerknüllte die Nachricht mit einer Hand. »Ein Wunder, dass er sich noch so gewählt ausdrückt. Das passt gar nicht zum neuen Crankcross.«

»Dann wird es Zeit, dass wir den neuen Crankcross mal besuchen gehen«, schaltete sich Yellburn ein.

 

***

 

Das Knacken des Sprachmoduls hallte von den Wänden wider. »Sehr schön«, brummte die dunkle Stimme des Mido. Das treue Bandenmitglied hatte sich wieder einmal als äußerst nützlich erwiesen. Ein diabolisches Grinsen legte sich auf Crankcross’ Lippen.

»Komm nur her, Yun Harunari. Wie viel Legende steckt wirklich in dir?«

Impressum

Bildmaterialien: Nadine Reichow
Tag der Veröffentlichung: 29.05.2015

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