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Prolog

Es war dunkel. Fackelleuchten erhellten die unebenen Steinwände. Eine Frau schleppte sich zum Ausgang der Höhle, der nur noch ein paar Meter rettend vor ihr lag. Ihre schlurfenden Schritte hallten dumpf in diesem Hölleneingang wieder. Die Kieselsteine knirschten so stark unter ihren hochhackigen Stiefeln, dass es in den Ohren dröhnte. Die nassen Wände hinterließen ihre Feuchtigkeit auf ihren bereits aufgeschürften Händen und gaben Linderung für den brennenden Schmerz. Extrem erschöpft und mitgenommen erreichte sie den Wald, der sich vor dem Höllenschlund erstreckte. Sie konnte keine Verfolger hören, keine verräterischen Schatten ausmachen und sank auf den grasbewachsenen Boden zusammen. Ihre Haare flossen wie schwarzes Wasser über ihre Schultern und vereinzelte Strähnen fielen in ihr Gesicht. Sie glänzten Violett im Schein des Vollmondes. Ihr schwarzes Gewand, aus schwarzem Leder und Spitze, sah nun nicht mehr so elegant und verführerisch aus wie zuvor. Riemchen und Schnallen lösten sich oder fransten aus, als sie sich mit letzter Kraft über den Boden in den Schutz einer Eiche zog. Dabei fügten kleine, abgebrochene Äste und Kiesel ihr blutige Kratzer und rote Striemen auf den Beinen zu.

»Ich muss das wieder in Ordnung bringen«, sie stöhnte auf, als ihr Kopf wieder zu pochen begann. Ihre Muskeln verspannten sich schmerzhaft. »Sie müssen es erfahren.« Die junge Frau wollte sich aufraffen, mindestens eine Nachricht musste sie ihnen schicken. Eine Warnung. Eine Vision. Ragen könnte sie empfangen. Bei dem Gedanken an das Hexenmädchen bildete sich ein dicker Kloß in ihrem Hals. Sie musste schlucken.

Da spürte sie die Anwesenheit von unglaublich starker, abgrundtief böser, schwarzer Magie, die sich betäubend von außen auf ihren Körper legte und ihr Bewusstsein regelrecht erdrückte. Bis sie langsam in betäubender Dunkelheit versank.

Ein letztes Mal flüsterte sie: »Es ist noch nicht vorbei.«

Dämonenspiele

Seine überwältigende böse Aura nutzte er, um dem Medium ihre Sinne zu nehmen. Mehr konnte er vorerst nicht tun. Ohne Körper existierte er bloß als schwarze Nebelschwade. Nicht einmal seine Wut konnte er in die Welt hinausschreien.

Sie hatte ihm das angetan. Die Beschaffung eines mächtigen Körpers war beinahe genug gewesen, zur Wiedergutmachung ihres Verrats vor hundert Jahren. Aber dieser junge und magisch mächtige Körper wurde ihm wieder entrissen. Vonnicht mal einer Hand voll Mädchen.

 

Den regungslosen Körper der Hohepriesterin zurücklassend, streifte er los, zwischen die Bäume hindurch, auf der Suche nach einem Dämon. Der Neumond leuchtete schwach am Himmel, dessen Licht von den Blättern des Waldes vollends verschluckt wurde. Das Geschöpf verschmolz mit der Schwärze der Nacht, nutze es um sich ungesehen zu nähern.

Viele seiner Art waren zu leichtsinnig. Da war es mit seiner jahrhundertelangen Erfahrung nicht schwer sich einen zu bemächtigen.

Ganz in der Nähe tummelten sich bereits welche.

 Sein Ziel war ein kräftiger junger Dämon, der sich die Gestalt eines blonden Burschen erwählt hatte. Zielstrebig schoss nun die Nebelschade auf ihn zu und glitt durch den Rücken ins Innere des Höllenwesens. Ein Schmerz, kurz, wie ein Messerstich durchfuhr den Dämon. »Alles ok, Alter?«, ein zweiter seiner großgewachsenen Art trat näher. Er hatte ebenfalls menschliche Gestalt angenommen, allerdings wirkte er wie ein Body Bilder mit zu langen Haaren. Sie waren schwarz und fettig.

Es blieb nicht unbemerkt, wie schmerzverzehrt das Gesicht des Blonden war. Sein Körper zuckte im Sekundentakt ruckartig hin und her. Sein dämonischer Freund schaute ihn bloß unentwegt an, ohne den blassen Schimmer, dass sich zwei Schattenwesen in diesem Körper bekriegten.

»Natürlich«, der Blondschopf richtete sich wieder auf und fuhr fort: »Es könnte nicht besser sein.«

»Oh Scheiße.«

Der andere wusste, er war keiner mehr von ihnen. Seine Augen waren gänzlich schwarz, nur die Iris leuchtete. Ein strahlender blutroter Ring starrte sein gegenüber nun an.

Er war besessen. Das war alles was dem anderen Dämon mit Sicherheit klar war. Wer stark genug dafür sein könnte, das wusste er nicht.

Nun hatte der Besetzer die Qual der Wahl: Ein Feuerinferno durch seine eigenen Fähigkeiten oder die Fähigkeiten dieses Körpers, mit denen er Lebensenergie entziehen konnte, um sie dann als geballten Angriff einzusetzen.

Er genoss die Vorstellung. Aber er würde weder die eine noch die andere Kraft nutzen. Er war wild darauf etwas Neues zu versuchen.

Der entsetzte Gesichtsausdruck seines Gegenübers, sein zitternder Körper und das befriedigende Gesicht des Besetzers zeigten eine bisher unbekannte Kraft. Er schaffte es die Mächte in sich, zu vereinen.

Die Kombination der dämonischen Affinitäten ermöglichte es ihm nun seinem Gegner nicht nur das Leben, sondern auch seine Kräfte auszusaugen. Die zusätzlichen Kräfte konnte er immer gut gebrauchen. Stück für Stück nahm er Lebensdauer und Fähigkeiten in sich auf. Mit jedem bisschen züngelten sich Flammen immer weiter an dem Körper seines Opfers hinauf, bis dieser vollends von Energie und Macht ausgezerrt war und verbrannte.

Sein Schrei verhallte in der Morgendämmerung.

 

Es war helllichter Tag, als der Besetzer zu seiner Gefangenen zurückkehrte. Neben sie kniete er sich nieder, seine Hand verirrte sich an ihre Kehle. Es wäre so einfach.

Aber dann stieß sie einen Seufzer aus, wirkte so verletzlich, und seine Blutgier erlosch. Sachte strich er ihre eine Strähne aus dem Gesicht.

»Sendra.«

Tumult im Hexenhaus

Überall wurden die kargen Steinwände von spärlichem Licht mehrerer Fackeln erhellt. Vor ihr verneigte sich eine Traube von Menschen. Nein, das waren keine Menschen- sie sahen bloß so aus. Sahen aus wie Schläger, Streuner und Gauner. Alle waren sie Dämonen, böse Schatten und andersartige Wesen. Flankiert von einer schwarzen Priesterin, stand sie vor ihnen. Ihr höllischer Blick erfüllte diese Monster mit Ehrfurcht. Sie war nicht nur ein Teil ihrer Gemeinschaft. Sie war noch etwas viel Schlimmeres. In ihr hauste Dunkleres. Sie war ihre Königin. Schlachten wurden geschlagen, Dämonen auf Selbstmordmissionen geschickt, schwarze Magie, Kummer und Leid über Unschuldige gebracht... Menschen getötet. So viel Blut floss, unaufhörlich, so viel Blut. Da erschallte ein finsteres Lachen. Sie lachte und es wurde lauter und lauter.

 

Ragen schreckte aus der Albtraum-Vision hoch. Wie fast jede Nacht, saß sie nun da, schweißgebadet. Die Haare klebten ihr im Gesicht und das braun gefärbte Unterhaar hob sich somit noch mehr von ihrem hellblondem Schopf ab.

Plötzlich ging die Tür auf. Behutsam öffnete eine andere junge Frau diese und schob sich durch den Türspalt. In der freien Hand hielt sie eine dampfende Tasse, vermutlich mit einem schön gesüßten Früchtetee, so wie jede Nacht, wenn Ragen sie mit einem Schrei weckte. »Es tut mir so leid. Ich wünschte ich würde wenigstens nicht immer schreien«, entschuldigte sie sich bei ihr. Routine.

Die junge Frau war Eve, eine 21jährige junge Dame. Ihre langen hellbraunen Haare hingen ihr in Wellen über den Schultern. Diese vielen Wellen ließen die Haare untenrum immer etwas durcheinander aussehen, während ihr Haaransatz perfekt geglättet war und viel Volumenzeigte. Sie war liebevoll, schon fast mütterlich und hatte Ragen aufgenommen, nachdem sie mit ihrer Gedächtnislücke aufgetaucht war. Ihre nächtlichen Visionen ihrer Vergangenheit füllten diese aber nun Stück für Stück. Es war grauenhaft zu wissen, was sie getan hatte. Aber Eve machte ihr keine Vorwürfe,sie überließ Ragen sogar ihr Zimmer und kümmerte sich um die 18jährige.

Eve setzte sich auf die Kante zu Ragen. Sie gab ihr zuerst die Tasse. Dann zog sie die Beine ins Bett, umklammerte diese mit den Händen und begann mit ruhiger Stimme zu sprechen: »Ist schon gut. Das ist ok für uns. Wir haben dich bei uns einziehen lassen. Das hätten wir nicht getan, wenn du uns stören würdest. Aber...ich mache mir langsam wirklich Sorgen. Keine von uns hatte bisher solche Probleme mit ihren magischen Kräften.« »Nein, nein. Es ist alles in Ordnung. Also ich werde alles tun, damit zumindest alles in Ordnung kommt. Wirklich... ich kann das... ich krieg das hin... ich...«, erwiderte Ragen flehentlich. Aus einem unempfindlichen Grund stieg plötzlich Panik in ihr auf.

Ihre Gesprächspartnerin drehte sich etwas mehr in ihre Richtung. Die beiden Frauen hielten Blickkontakt und Eve schenkte Ragen ein Lächeln. Aber für Ragen war es nicht irgendeins. Sie sah es immer, wenn Eve Jo-Ann mit einem bedachte. Dem herzerwärmenden Lächeln einer großen Schwester. Da wusste sie, wieso sie panisch wurde. Sie hatte Angst sie zu verlieren, aber Eve würde niemals zulassen, dass man ihr ihre Familie nahm. Eine Familie, zu der sich Ragen zugehörig fühlte.

»Wir klären das am Besten morgen früh. Die Anderen kommen auch. Vielleicht finden wir ja eine Möglichkeit, dass du nachts wieder ruhig schlafen kannst«, versuchte die große Schwester ihre neue kleine Schwester zu beruhigen. Ein klein wenig schaffte sie zumindest Ragens Zuversicht zu steigern. Mit drei kräftigen Schlucken leerte Ragen die Tasse, stellte sie auf dem Nachttisch ab und lächelte Eve müde an. »Es geht mir besser, danke. Ich werde versuchen noch etwas zu schlafen. Gute Nacht«, bedankte sie sich. Sie wollte Eve nicht länger als nötig von ihrem wohlverdienten Schlaf abhalten. »Gute Nacht«, antwortete Eve ruhig und verließ auf leisen Sohlen das Zimmer. Ragen hörte noch, wie sie ins ehemalige Schlafzimmer der Eltern verschwand.

Eingekuschelt in die Biberbettwäsche, - du meine Güte roch die immer noch so gut und war so kuschelig - kam ihr ein überraschender Gedanke. Vielleicht war es gar nicht schlecht eine Hexe, anders, zu sein, egal wie schlecht die Erinnerungen doch waren, solange sie diesen Rückhalt genießen konnte.

 

Zurück in ihrem Bett versuchte Eve die restlichen Stunden, die ihr noch blieben, mit etwas Schlaf zu füllen. Leider war ihr das Glück nicht vergönnt. Vielleicht sollte sie das mit den Schäfchen zählen mal versuchen?! Definitiv ein lächerlicher Gedanke.

Sie setzte sich mit einem Seufzen wieder auf, nahm den dicken, in blau eingefärbtes Leder gebundenen Wälzer zur Hand, der die letzten Tage ihre Abendlektüre war und schlug es auf. Zuerst war die goldgelbe Innenseite zu sehen, dann prangte ihr der Titel „Buch der Schatten“ entgegen. Bloß zwei Seiten weiter fand sie das, was sie jetzt dringend brauchte: Der Text, den ihre Mutter für sie und ihre Schwester Jo-Ann hinterlassen hatte. Eve fuhr mit den Fingern zärtlich über die feinen geschwungenen Buchstaben und fand Trost. So viel Leid und Unruhe haben die magischen Fähigkeiten mit sich gebracht. Wie sehr sie ihre Mutter in solchen Momenten vermisste.

 

Bereits um 10 Uhr am nächsten Morgen klingelte es bei Eve und Jo-Ann Glasgow an der Tür. Mit schnellen Schritten huschte Jo in Richtung dieser. Ihre dunklen braunen Haare wippten bei ihren hüpfenden Schritten hin und her. Die Ähnlichkeit zu ihrer großen Schwester erkannte man an den Wellen in den Spitzen ihrer ansonsten glatten Haare, nur das diese um einiges seichter waren. Mit ihren 1,65m war sie für ihre 18 Jahre doch recht klein, was sie mit einer Masse an zu viel Energie wieder wett machte - kurz und knackig formuliert, war sie ein hyperaktiver Zwerg.

Einmal quer durchs Haus gerannt, öffnete sie Rose Alverston die Tür. Einer ebenfalls nicht sonderlich groß gewachsenen jungen 20jährigen Frau. »Guten Morgen«, schmetterte Jo ihr freudestrahlend entgegen. Rose quetschte sich jedoch nur an Jo vorbei, presste ein genervtes »Hi« heraus und stolzierte ins Wohnzimmer. Dort schmiss sie ihre Jacke über die Couchlehne und machte es sich mittig auf der u-förmigen Sitzfläche bequem. Als sie sich darauf hatte fallen lassen, machten ihre schwarzen Korkenzieherlocken einen Hüpfer. Ohne auf ihre Frisur zu achten, quetsche Rose ihre langen Haare zwischen sich und der Lehne ein.

»Fühl dich wie zu Hause«, flötete Jo ihr sarkastisch hinterher und ließ die Tür ins Schloss fallen. Jo folgte dem störrischen Gast ins Wohnzimmer und lehnte sich dort an eine freie Wand.

»Wo sind die Anderen?« Rose suchte gemächlich ihre Umgebung nach den anderen drei Hexen ab. Ihr Blick blieb an der Tür zur Küche haften, die vom offenen Esszimmer aus erreichbar war. Von dort hörte man ein klackendes Geräusch, als würde etwas regelmäßig gegen Porzellan stoßen.

»Wie du hören kannst, ist Ragen in der Küche und rührt in ihrem Tee bis zur Besinnungslosigkeit. Das schon mindestens 20 Minuten.« Dann machte Jo eine leichte Kopfbewegung in Richtung des Flurs aus dem sie vorhin gekommen waren, in dem sich eine leicht steile Treppe ins erste Obergeschoss befand. »Und Eve folgt mal wieder ihrem Mutti-Instinkt, sie macht oben gerade unsere Betten. Während ich die Freude erfahren darf auf euch zu warten.«

»Da hätte ich mich ja nicht beeilen brauchen.« Daraufhin rollte Jo mit den Augen und wurde durch ein weiteres Türklingeln erlöst.

An der Tür zog sie noch schnell ihr Ed Hardy Markenshirt zurecht - Frau darf sich schließlich auch mal etwas gönnen und das hatte Eve gesagt - und hörte wie Rose dies hinter ihr bemerkt hatte: »Du siehst doch gut genug aus.« Ein Kompliment dieser Art von Rose war ein sehr fragwürdiges Kompliment. Jo würde sogar jede Wette eingehen, dass ihr Gast dabei die Lippen zu einem spöttischen Lächeln verzog. Mit einem Grummeln öffnete Jo die Tür. Prompt wurde sie mit einem Lächeln von Julie Morgan belohnt. Aber selbst das half Jo nicht über ihre rosegeplagte Miene hinweg.

»Wieso so betrübt?« Begrüßte Julie nun Jo-Ann.

»Rose«, schmollte sie vor sich hin.

»Sehr schlimm?«, fragte daraufhin ihr gegenüber mit hochgezogenen Augenbrauen. »Sie ist so charmant wie immer«, erwiderte Jo mit einem aufgesetzten zuckersüßen Lächeln.

Beide mussten sich daraufhin angrinsen, weil nichts anderes bei einem ihrer Gruppentreffen zu erwarten war. Jede von ihnen hatte so ihre Eigenheiten.

Noch im Flur entledigte sich Julie ihrer Jacke und hängte sie an die Garderobe. Sie zog sich die Mütze von ihrem fast goldblonden Schopf, die mehr als Accessoire gedient hatte. Dann schüttelte sie den schrägen Bobschnitt kräftig aus.

Gemeinsam mit Jo betrat sie das helle Wohnzimmer.

 

Im Erdgeschoss wurde es immer lauter. Eve war schon seit einigen Minuten mit den Betten fertig. Immerhin war das für sie Routine, - noch keine Kinder und schon eine Vorzeigemutti- was sie reichlich unspektakulär fand.

Ihr würde wohl nie jemand glauben, wenn sie erzählen würde, dass sie mit 4 anderen Mädchen ständig Menschen rettete und auf magische Wesen Acht gab. War sie wirklich so unscheinbar, wie sie sich fühlte?

In ihrer linken Hand hielt sie immer noch ihr Handy. Auf der Bettkante hockend wartete sie schon länger auf ein Zeichen ihres Freundes. Eigentlich war sie sich nicht einmal sicher, ob er ihr fester Freund war und das war allein ihre Schuld.

Seufzend stellte sie die Tastensperre wieder ein, stand auf und ließ das Handy in die Hosentasche gleiten.

Am Treppenabsatz atmete sie noch einmal tief durch, fächelte sich Luft zu und als sie der Meinung war, dass man ihr das Gefühlschaos nicht mehr ansehen konnte, schritt sie die Stufen hinab.

 

»Geht das nicht ein bisschen schneller«, dröhnte es Eve aus dem Wohnzimmer entgegen. Roses Beobachtungsgabe war besonders gut und sie wusste bereits, dass Eve die Treppen hinunter kam.

Die anderen drei Mädchen stöhnten im Wohnzimmer laut auf, aber nur Ragen hatte immer genug Mum gehabt, um ihre Meinung zu äußern: »Mal ganz ehrlich. Wenn man dich zu wenig lieb gehabt hatte, dann entschuldige, aber du brauchst eine Antiaggressionstherapie, Liebchen.«

Eve konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wo sie die Nächte immer so unbeholfen und klein wirkte, so stand Ragen den anderen gegenüber immer ihre Frau. Rose und Ragen waren eigentlich gar nicht so verschiedenen - man könnte sie für zickige, sich hassende Schwestern halten.

»Jetzt hör mir mal genau zu«, Rose bäumte sich auf.

Leichten Schrittes kletterte sie elegant über die linke Couchhälfte, die zwischen ihnen stand und ließ Ragen dabei keinen Moment aus den Augen.

»Ich habe es so satt, dich ertragen... hinter dir aufräumen zu müssen, weil du nichts als Chaos verursacht hast. Deinetwegen haben wir lernen müssen zu kämpfen, weil du uns dämonische Attentäter auf den Hals gehetzt hast. Es war doch schon genug, als wir uns alle im Wald begegneten und unsere aktiven Zauberkräfte erhielten, aber DU musstest ja noch einen drauf setzen! Du hast unser Leben zerstört.«

In ihrer wütenden Stimme schwang so viel Hass mit, dass Julie und Jo die Luft anhielten. Alle Anwesenden waren sich der geladenen Stimmung bewusst.

Eve trat an die beiden Streithähne unbemerkt heran.

»Rose.« Demonstrativ hob diese die rechte Hand, mit dem ausgestreckten Zeigefinger und hielt Eve den vors Gesicht. Sie war noch lange nicht mit Ragen fertig.

Ragen allerdings stand nur da, keine Miene verzogen. Die anderen drei wussten, dass sie ihre Gefühle abschottete. Es hatte sie wirklich verletzt. Rose war definitiv zu weit gegangen.

Und sie setzte tatsächlich noch einen drauf. »Wenn du wüsstest, wie sehr mich der Gedanke erfreute, dass wir dich vielleicht...«

Eve machte zwei weitere Schritte in ihre Richtung. Den ausgestreckten Zeigefinger bog sie einfach hinunter und ließ Rose nicht aussprechen. »Rose, es reicht jetzt. Du weißt genauso gut wie wir, dass Ragen keine Schuld daran trägt. Es hätte auch eine von uns treffen können.«

»Hat es aber nicht«, gab Rose wütend zu bedenken.

»Ich habe gesagt es ist genug!« Jetzt wurde Eve wirklich laut. Alle zogen erschrocken die Köpfe ein.

Schlecht gelaunt stiefelte Rose in Richtung Terrassentür, wozu sie ins offene angrenzende Esszimmer musste.

»Ok Leute, wir sollten langsam wirklich anfangen. Folgt bitte Rose nach draußen.« Eves Stimme normalisierte sich wieder, aber Rose und Ragen stöhnten beide auf.

»Das kann ja lustig werden«, flüsterte Julie Jo zu. Diese hatte eigentlich schon gar keine Lust mehr: »Wäre ich doch bloß im Bett geblieben.« 

Die Mädchen machten alle lange Gesichter. Rose und Ragen funkelten sich dazu noch böse an. Schwungvoll riss Rose die Terrassentür auf, was Ragen nutzte und sich versuchte an ihr vorbei zu quetschen. Sie wollte triumphierend als Erste durch die Tür schreiten, doch da verharrten beide in ihren Bewegungen. Eve knurrte sie nämlich wortwörtlich an: »Ich verspreche euch, wenn ihr euch nicht zusammen reißt, dann bringe ich euch dazu, so wahr mir meine Magie helfe. Wenn ihr nicht im Teich baden gehen wollt dann benehmt ihr euch endlich. Ich dulde nicht mal mehr die kleinste Zankerei heute.«

Die Zuschauer Julie und Jo konnten sich nicht entscheiden wen sie anstarren sollten. Ihre Blicke huschten von einer zur anderen. Die Angesprochenen zogen stattdessen scharf die Luft ein und blickten Eve mit großen Augen an - wie die eines scheuen Rehs - es fehlte nur noch, dass sie panisch quietschende Laute von sich gaben.

Immerhin war sie die Elementhexe der Luft und als ihre Zauberkraft stellte sich damals Telekinese heraus. Sie hatte die Fähigkeit Luftströme zu kontrollieren, was ihr erlaubte Dinge und Menschen zu bewegen. Das wusste Ragen bereits und es machte ihr sogar etwas Angst. In einer ruhigen Minute musste Eve ihr mal alles diesbezüglich erklären. Direkt nach dem heutigen Training wollte sie Eve darum bitten.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen - keine traute sich auch nur einen einzigen Piep von sich zu geben - gingen sie im Gänsemarsch über die überdachte Terrasse auf die große Wiese hinter dem Teich. Der kleine Weg dorthin erlaubtes nicht nebeneinander hergehen zu können. Recht mittig stellten sie sich auf und man erkannte was für ein bunter Haufen die Mädchen eigentlich waren.

Julie stand links außen, trug eine ältere schwarze Jeans und modische Bergsteigerstiefel mit flauschiger Fütterung. Dazu schmiegte sich ein einfaches Tank-Top unter einem schulterfreien Long Shirt an ihren Körper.

Direkt neben ihr stand Jo eingepackt in Jeans und Ed Hardy T-Shirt. Allerdings steckten ihre Hosenbeine in ihren Wildlederstiefeln.

Rose war sichtlich bequemer und effizienter gekleidet. Sie trug eine Stoffhose, die ihr ermöglichte auch umständliche Moves zu meistern. Als Oberteil diente ein langärmliger Body, den sie unter der Hose trug.

Jo hatte dieses Outfit einmal für den Kampf vorgestellt. Sie war die modisch Kreative und Ausgefallene der Gruppe, obwohl sie lernen musste im Kampf auf ihren altbewährten Kleidungsstil zu verzichten. Sie würde niemals auch nur ein Dankeschön für die Idee bekommen. Denn Rose würde niemals zugeben, dass es eines ihrer Liebsten war. Die temperamentvolle Hexe sah tödlich gut aus für ihre Feinde. Was ihre Stahlkappenschuhe mit verursachten.

Ragen allerdings hatte es sich einfach gemacht. Ein klassisches Sportoutfit aus Stoffhose, T-Shirt und Stoffjacke. Das neon-grün war definitiv ihre Farbe.

Eve war stilvoll und elegant gekleidet, mit ihrer weißen Jeans und dem feuerfarbenem Satinoberteil. Selbst auf Keilabsätze wollte sie an diesem Tag nicht verzichten. Ihre langen welligen Haare waren zu einem leichten Zopf geflochten, der ihr über die Schulter hing.

Normalerweise war sie immer darauf erpicht bequem und effizient gekleidet zu sein. Das erwartete Wiedersehen mit Ben lockte allerdings ein paar schöne Schmuckstücke aus ihrem Kleiderschrank.

Sie übernahm das Wort – wie üblich. Die Mädchen wussten schon was auf sie zukommen würde und schauten nicht gerade glücklich drein.

»Es ist Zeit weiter zu trainieren und diesmal sind es nicht eure magischen Fähigkeiten. Immerhin haben wir nun zwei Neue dabei.«

Julie wirkte sichtlich nervös, bisher hatte sie sich mit Erfolg vor ihrer Verantwortung drücken können. Während Ragen deutlich neugieriger schien.

Nahkampftraining fand eigentlich keiner wirklich amüsant, außer vielleicht Rose, weil sie Ragen zu gerne in den Hintern treten wollte. »Jetzt schaut mich nicht so an, wir müssen ein größeres Spektrum abdecken. Wir machen deshalb heute Nahkampftraining.«

»Ich glaube aber nicht, dass ich das nötig habe«, wand Rose direkt trotzig ein. Der Rest rollte mit den Augen. »Das weiß ich, Rose. Wenn du mich hättest ausreden lassen, dann wüsstest du was ich geplant habe«, entgegnete Eve hingegen ruhig. »Rose hat, ähnlich wie Jo und ich, bereits sehr viele Nahkampferfahrungen gesammelt. Sie hat sich stets verbessert und überragt uns daher vermutlich alle. Genau das ist der Grund, warum du es Julie und Ragen beibringen wirst, Rose«, fuhr sie fort und ein verschmitztes Grinsen überflog im Bruchteil einer Sekunde ihre Lippen. Der selbstgefällige Gesichtsausdruck von Rose, den sie aufgrund von Eves Lob bekam, verwandelte sich dann aber prompt in eine leicht entsetzte und ungläubige Miene.

»Ähm und was mache ich denn dann. Ich glaub du hast mich vergessen«, warf Jo ein wenig unsicher in die Runde. Nach einem leichten Kopfschütteln fuhr Eve fort: »Nein ganz und gar nicht. Solange es noch darum geht, dass Julie und Ragen die Grundstritte lernen, wobei Julie schon ein bisschen wissen sollte, wirst du Rose bei ihrem Unterricht unterstützen. Nachdem die Schritte beigebracht wurden, sollen sie geübt werden. Ich habe da an schöne Zweierteams gedacht.«

Von Ragen kam ein verächtliches Geräusch, während Rose - wie ein Pferd - mit ihrem Fuß über den Boden scharrte. »Solange ich nicht mit ihr arbeiten muss«, sagte Ragen eigentlich mehr zu sich selbst. »Aber genau das wirst du tun. Es gibt für euch Zwei nichts was euch mehr anspornt, als gegeneinander kämpfen zu können.« Die Viererreihe machte große Augen.

Eve gab den Mädchen ein Zeichen anzufangen, sie wollte während der Anfangsphase noch etwas recherchieren und sich mit Mayen austauschen.

Auf dem Weg zurück ins Haus stellte Eve sich nah an Julie und Jo heran. »Ihr passt bitte auf, dass sie es nicht übertreiben. Die beiden warten nur darauf sich gegenseitig umzubringen.«

»Natürlich.«

Jo nickte bloß zustimmend.

Beruhigt, konnte Eve nun zum Buch der Schatten und nach einer Möglichkeit suchen Ragen zu helfen ihre Visionen wenigstens annähernd unter Kontrolle zu bringen. Sie wusste selbst, wie Ragen sich fühlen musste. In den letzten anderthalb Jahren hatten Eve, Julie, Rose und Jo es nicht geschafft ihre Fähigkeiten vollends kontrollieren zu lernen. Um ehrlich zu sein, waren sie in der Zeit mehr damit beschäftigt zu überleben. Außerdem hatte es lange gedauert überhaupt zueinander finden.

Jetzt, wo Ragen vom Bösen befreit war und sich die Angriffe von Schattenwesen und Dämonen verminderten, war es an der Zeit dem Geheimnis ihrer Fähigkeiten auf den Grund zu gehen.

Das Geheimnis zu lösen und endlich zu der mächtigen Hexenkraft zu werden, zu der sie bestimmt waren zu sein.

Enttäuschung

 „Verdammt“, keuchend lehnte sich der gestohlene Körper an eine der Felswände. Schweißperlen rannen bereits seit Stunden über sein Gesicht, doch mit jeder Weiteren wurde es sogar noch schlimmer. Nicht mehr lange und der Körper war verbraucht. Er brauchte dringend Sendras Hilfe.

Da regte sie sich auch schon auf dem steinernen Altar.

 

„Daiken“, ein angestrengtes Flüstern trug seinen Namen an sein Ohr. „Sendra...Ich brauche wieder einen dieser mächtigen Körper. Alle anderen sind zu schwach. Dieser ist es.“ Er redete mit seiner schwachen Stimme auf sie ein. Der Tonfall war mehr gequält als böse. „Ich kann nicht“, Sendra schüttelte traurig den Kopf. „Du bist meine Hohepriesterin. Es ist deine Pflicht diese Aufgabe zu erfüllen. Ich brauche deinen Hexenzauber.“ Er musste sich zusammenreißen, seine Wut im Zaun halten. Sie hatte Glück, dass weiterer Magieverbrauch den Körper zerstören könnte. „Ich besitze keinen Hexenzauber“, flüsterte sie nur. „LÜG MICH NICHT AN!“ Vor Schreck zuckte ihr schwacher Körper zusammen. „Bevor ich ihren Körper verließ, konnte ich die Visionen erkennen. Du hast deine Vergangenheit sehen können!“ Sendras Augen füllten sich mit Tränen. Sich das Schluchzen verkneifend, auf die Lippe beißend, schüttelte sie immer wieder nur den Kopf.

Als ob die Realität damit endlich verschwinden würde.

Brodelnd vor Wut ließ er sie zurück, verschwand in einen der gewundenen Gänge und schrie aus vollem Leibe. Der Dämon konnte einfach nicht länger an sich halten und ließ eine Lawine aus Feuer los. Im nächsten Moment war der Körper vaporisiert.

 

Wieder im Zustand einer Nebelschwade entwich er aus der unterirdischen Höhle. Auf der Suche nach einem neuen Körper. Einem neuen Opfer.

Fortschritte

 Kurz bevor Eve zurück auf die Terrasse kam, betrat bereits eine schlanke, flauschig schwarze Katze das Haus durch die Katzenklappe. Während sie auf ihren Samtpfötchen weiter ins Haus lief, verwandelte sich der Katzenkörper mit einer fließenden Bewegung in eine Frau. Ihre Haare waren, gegensätzlich ihres Katzenfells, lang, glatt und kupferrot. Sie war fast noch jung, scheinbar Ende der Zwanziger, aber ihre braunen großen Augen strahlten so viel Erfahrung und Weisheit aus. 

„Guten Morgen, Mayen. Das nenne ich perfektes Timing.“ Im Esszimmer begegnete sie Eve. Diese wies ihr einen Platz am Tisch zu und holte fix das Buch der Schatten von ihr und ihrer Schwester.

 

„Du hattest erwähnt, dass du etwas über Ragens Element suchst“, Mayen sprach sie aus der Küche heraus an. Sie bediente sich am Kaffee, der immer für sie, Julie und Jo bereit stand. 

Als Lehrmeisterin, eigentlich mehr als Begleiterin, der Mädchen war sie immer dafür zuständig ihnen bei ihren Fragen und Problemen beizustehen. Auch wenn sie selbst damit kaum Erfahrungen hatte, konnte sie die Hexen immer am Ball halten.

„Das ist richtig. Ihre Visionen quälen sie nachts und manchmal bekommt sie auch noch welche am Tag. Das wird ihr zu viel. Ich weiß nicht wie viel sie noch erträgt.“ Eve machte sich wirklich Sorgen und obwohl sie sonst immer überlegt an jedes Problem heranging, so war sie in diesem Fall etwas überfordert. Mayen kam zu ihr und legte ihr eine Hand auf den Arm, als Geste der Beruhigung. Sie zeigte ihr damit, dass sie gemeinsam eine Lösung finden würden. Gemeinsam lehnten sie sich über das Buch und blättern eine Weile darin. 

Glaubten die Beiden etwas Brauchbares gefunden zu haben, dann hielten sie kurz inne. Zu oft war es falscher Alarm.

 

Im Garten dagegen ging es hoch her. Ragen lernte wirklich schnell, sie war enorm ehrgeizig. Julie und sie hatten somit die Grundschritte bereits gelernt und übten sich im Zweikampf. Wobei Julie viel zurückhaltender vorging als Ragen. 

Nach einer weiteren Schrittabfolge verließ Jo ihre Kampfstellung und lockerte sich. „Julie ehrlich, ich mag dich. Aber wie soll ich ernsthaft gegen dich kämpfen, wenn du so...behutsam bist“, sie seufzte. Auch Julie hatte sich wieder normal hingestellt und verzog entschuldigend das Gesicht. „Ich mag dich auch und gerade deswegen kann ich doch nicht mit voller Kraft auf dich eintreten und einschlagen. Das ist nicht mein Stil.“ „Dann machen wir es doch zu deinem“, erwiderte Jo mit einem verschmitzten Grinsen. Prompt setzte sie ihren Plan in die Tat um.

Nachdem sie sich schnell aufstellte, griff sie gnadenlos an. Julie hatte kaum Zeit zu reagieren und wurde mit Tritten, Faust- und Handkantenschlägen bombardiert. Leicht unbeholfen wehrte sie Jos Angriffe ab, bis sie einen seitlichen Tritt in die Magengegend bekam. Sie stolperte zusammengekrümmt und schnaufend zurück.

„Für so ein kleines Persönchen hast du ziemlich viel Power“, presste sie hervor. Aber Julie war auf Jo nicht sauer, nein sie lächelte. Nun wusste sie, was die Jüngere bezwecken wollte. Endlich konnte Julie ihre Hemmungen abstreifen, denn Jo würde nun auch keine Gnade mehr zeigen.

Nun waren sie sich ebenbürtig. Die Zwei schlugen aufeinander ein. Selbst Ragen und Rose hielten bei ihrer beinahe-Prügelei kurz inne, um ihnen zuzuschauen. Sie waren schwer beeindruckt.

Da setzte Julie noch einen drauf. 

Es verlangte ihr viel ab sich während des Kampfes auf ihren Geist, ihren inneren Energiefluss, zu konzentrieren. Sie versuchte es und es funktionierte. Mit Hyperschnelligkeit wich sie nun Jo aus, griff sich ihren Arm und legte sie buchstäblich in weniger als einer Sekunde auf die Matte.

Ragen sah zum ersten Mal, seit sie vom Bösen befreit war, wie eine von ihnen ihre Magie einsetzte. Sie staunte nicht schlecht. So schnell sein zu können empfand sie als äußerst praktisch - besonders wenn man mal wieder den Bus verpasste.

 

In der Zwischenzeit suchten Eve und Mayen immer noch nach einer Lösung oder zumindest nach einem Ansatz.

„Vielleicht gehen wir das Ganze falsch an. Wir sollten die Perspektive wechseln“, Eve zog beim Grübeln die Stirn in Falten.

„Was hast du dir vorgestellt?“

„Naja. Offensichtlich kommen wir in Punkto Emotionen nicht weiter, ich glaube langsam nicht mehr, dass unsere Gefühlslage wirklich ausschlaggebend für unsere Kräfte ist.“

„Aber der Ansatz war gut“, warf Mayen ein. „Immerhin werden defensive Kräfte bisher meist ausgelöst, wenn man in Gefahr war und Angst hatte. Wie ein natürlicher Schutzmechanismus. Wobei Angriffsfähigkeiten, wie deine, durch aggressive Impulse heraus funktioniert haben.“

„Aber diese Visionen sind weder noch“, Eve verstand nicht worauf Mayen hinauswollte.

„Wohlmöglich bricht sie bei innerer Ruhe durch.“ Eve machte plötzlich große Augen. Sie hatte endlich eine Idee: „Wir könnten versuchen mit Ragen eine Meditation durchzuführen...Um so den Fluss der Visionen zu kontrollieren. Du bist ein Genie, Mayen!“ „Wurde auch Zeit, dass es mal einer würdigt“, sprach Mayen und ihre Mundwickel zuckten erfreut. Einwände hatte sie keine.

„Klingt logisch. Ein Versuch ist es wert. Aber es müssen einige Variablen bedacht werden, sonst geht noch etwas schief.“ Eve und Mayen schauten sich leicht erschrocken um. Von woher kam diese vertraute Stimme?

„Ben...?“, aus Eves Mund klang es mehr nach einer Aufforderung als nach einer Frage. Da gab sich der junge Mann preis. „Entschuldigt. Ich wollte euch nicht unterbrechen, ihr habt so angestrengt überlegt. Deshalb blieb ich nach meiner Ankunft unsichtbar...“ „Sehen wir so aus, als bräuchten wir diese Erklärung?“

Mit wenigen Schritten überbrückte Eve den Abstand zwischen ihr und ihrem irgendwie festen Freund und schlang ihre Arme um seinen Hals. Doch ihr Blickkontakt wurde gestört, als sie an ihm herab schaute. Etwas hielt sie auf Abstand, piekte ihr mit scharfen Ecken in den Bauch und die junge Frau war neugierig darauf was. Sie erkannte eine vollgestopfte Umhängetasche aus Lederimitat. Wenn der Inhalt wichtig wäre, würde sie das später noch erfahren, also schaute sie wieder zu ihm hinauf. „Ich habe dich vermisst.“ „Ich dich auch“, begann Ben und schmiegte sein Gesicht an ihren Hals. „Aber die hohen Ratsmitglieder erwarten deine Antwort. Immer noch.“

Da lockerte sie die Umarmung mit einem genervten Seufzen.

„Ich habe auch noch Bücher aus den Archiven mitgebracht“, versuchte er damit Eves Laune wieder zu heben. Er klopfte dabei bedeutsam gegen seine Tasche. Dann fuhr er fort, als er Mayens fragenden Gesichtsausdruck sah: „Die Bücher befassen sich alle mit den Wesen der Natur, wie Blumenfeen, Waldnymphen und so weiter.“

 

Die anderen 4 Mädels betraten im selben Moment wieder das Haus - bereits ausgelaugt vom kurzen Kampftraining.

Als die Mädchen die zwei Turteltauben bemerkten, konnten sie sich Pfiffe nicht verkneifen. Sie kannten Ben ebenso gut wie Mayen. Der junge Mann, Anfang 20, mit diesem orange, rötlichen Schopf gehörte auch zu ihrer kleinen magischen Allianz. So nannte Jo auch ihren magischen Hexenzirkel, das klang nicht so albern – und das so etwas ausgerechnet von dem naiven, verspielten Mädchen dieser Truppe kam.

„Hoffentlich stören wir nicht, aber wir sind fürs Erste erledigt“, sagte Jo mit einem spöttischem Lächeln, welches verschwand als sie sich stöhnend auf einen Stuhl fallen ließ. Alle außer Rose machten es ihr nach. Diese blieb ungerührt an der Wand stehen.

Nun löste Eve sich vollends von Ben und trat auf die Mädchen zu. Sie stützte sich auf eine Stuhllehne. „Was ist draußen passiert?“ Stutzig schwankte ihr Blick von einer zur Nächsten. Alle blickten sie leicht schmollend und gequält drein, so blieb Eve an Ragen und Rose hängen. Sie kniff die Augen böse zusammen.

„Hey, schau uns nicht so an“, Rose wurde direkt schnippisch. „Wir haben uns wirklich zurückgehalten. Ich verspreche es“, verteidigte sich Ragen.

Rose schubste sich mit dem rechten Fuß weg von der Wand, an der sie lehnte und trat neben Eve: „Julie und deine Schwester haben sich gegenseitig verprügelt. Wer hat hier also keine Selbstbeherrschung?“

Überrascht glätteten sich Eves Gesichtszüge. „Julie hat sich gewehrt?“, die Frage galt Jo. „Und sie hat geschummelt“, Jo sank tiefer in ihren Stuhl, die Arme trotzig vor der Brust verschränkt.

„Ohne meine Hyperschnelligkeit hätte ich dich halt nicht matt legen können“, Julie klang entschuldigend, aber auch sichtlich amüsiert. Jetzt viel Eve fast alles aus dem Gesicht. „Du hast deine Kräfte für den Kampf eingesetzt?“ Ein verrücktes kurzes Lachen entfuhr ihr. „Sehr gut!“

Ihre Aufmerksamkeit wurde dann wieder auf Ben gelenkt, als er die ganzen alten Bücher auf den Tisch rutschen ließ. „Was ist das?“ Jo war wie eh und je sehr neugierig, aber nicht ganz so interessiert wie Ragen. Diese wechselte auf den Stuhl neben Jo und rückte den Büchern immer näher. Sie wirkte wie angezogen.

„Sie behandeln alles über die Wesen der Natur, Feenwesen wie Blumenfeen oder Dryaden. Außerdem finden wir mit Sicherheit Informationen über Erdmagie“, Ben versuchte beiläufig zu klingen. Fast alle schienen interessiert, außer mal wieder Rose und Ragen war wie taub.

Eve suchte den Blickkontakt zu Ragen: „Hast du verstanden? Erdmagie. Deine Magie.“ Ragens Ohren fühlten sich an, als wäre sie unter Wasser. Da war sie sich nicht mal sicher, ob sie sich nicht vielleicht verhört hatte. Ihre Magie? Gute Magie, kein dämonisches Höllenfeuer mehr. Ein zögerliches Lächeln zuckte kurz über ihre Lippen. „Darf ich?“ Ebenfalls zögerlich zeigte sie auf eins der alten Ledereinbände.

„Natürlich“, antwortete Ben. Er widmete sich auch bereits einem Din-A-5 großen Buch; mit Eve zusammen. Mayen schnappte sich das Erstbeste, dass sie zu fassen bekam. Als die anderen Mädchen keine weiteren Anstalten machten, außer geschäftig in der Gegend herum zu starren, schlug sie ihren Wälzer wieder zu. Der dumpfe Schlag, den sie damit erzeugte weckte die Aufmerksamkeit der Anderen. „Ich dürft alle gerne helfen“, ein provozierendes zuckersüße Lächeln aufgesetzt. Eve stieg mit ein: „Die Mädchen haben es heute nicht so mit dem Durchhaltevermögen, ein bisschen körperliche Betätigung und schon geht gar nichts mehr.“

Das war zu viel der Provokation. Rose stampfte zum Tisch, grabschte rücksichtslos nach dem letzten Buch, setzte sich ans andere Ende des Tisches und begann demonstrativ darin zu suchen. Jo oder Julie machte ein bisschen Stichelei, vor allem nicht so eine lasche Provokation, nichts aus. Sollten die sich doch über sie lustig machen.

Jedoch war Roses Stolz angekratzt. In diesem Moment konnte die Schwarzhaarige nur nichts tun, um zu kontern. In einem Trainigskampf gegen Eve würde sie sich revanchieren.

Zu Mayen gesellte sich Julie, während Jo mit Ragen arbeiten wollte. Allerdings machte Ragen nicht den Anschein das Buch teilen zu wollen.

„Ähm Leute? Was ist mit Ragen los?“, Jo beäugte Ragen mit fragendem Blick. „Nicht nur du kannst dich von Magie faszinieren lassen“, Eve blickte nicht einmal auf, um zu antworten.

Noch mehrere Stunden verbrachten alle mit den magischen Büchern. Bis – knall – „Das hat doch alles keinen Sinn!“, Rose hatte den dicken Schinken, an dem sie saß, zugeklappt und auf den Tisch geknallt. „Wir wissen nicht einmal, wenn wir etwas gefunden haben!“ Auch die anderen waren demotiviert. Mayen antwortete trotzdem: „Wir suchen nach dem Auslöser für Ragens Kräfte. Das Rätsel muss gelöst werden, wieso sich ihre Fähigkeit so anders verhält.“

„Das ist kein Rätsel. Das nennt man Unfähigkeit“, kam es prompt von Rose. Sie hatte ohne zu Überlegen geredet. Stille legte sich schwer, wie eine Decke, über den Raum. Alle Augen waren mit bösem Blick auf sie geheftet. Als sie das bemerkte, hob sie entschuldigend und beschwichtigend die Hände. Kopfschüttelnd wandten sich alle wieder ab.

„Ragen hat bloß noch keine Verbindung zu ihren Fähigkeiten gefunden. Du warst am Anfang nicht besser, Rose. Vielleicht...“, Mayen kam nicht weit mit ihrer milden Standpauke, denn Eve unterbrach sie durch ihr abruptes Aufstehen. „Das ist es...So könnte das mit der Meditation auf jeden Fall funktionieren.“ Begeistert schaute Eve Mayen an, als hätte sie etwas sehr Wichtiges zu ihrem Geistesblitz beigetragen. Nur keiner wusste was. Alle tauschten sie verwirrte Blicke aus, bis Jo sich traute nachzuhaken: „Eve, was meinst du? Haben wir irgendeine Information verpasst, die dich so euphorisch werden ließ?“ Anscheinend half es nicht, dass Eve bedeutend in die Runde sah. Sie sah es ein und unterbrach dieses Mal die peinliche Stille: „Wenn Ragen bisher keine Verbindung aufbauen konnte, dann nur weil wir es falsch angegangen sind.“

„Ey, ja. Ich mache keine Fehler“, protestierte Rose.

„Klappe dahinten“, kam es von allen anderen und Eve fuhr fort: „Wir haben bisher versucht die Lösung zu Ragen zu bringen. Aber was ist wenn die Lösung da draußen ist. Wir müssen Ragen in die Natur bringen. Ihrem Element, der Erde, näher bringen...“

„Ja. Lasst sie uns lebendig verbuddeln“, warf Rose wieder ein und das mit einer Unschuldsmiene schlechthin. 

An Ragen gewandt wackelte sie dann auch noch verheißungsvoll mit den Augenbrauen. Mit ungläubiger Miene und großen Augen rutsche Ragen vorsichtig von Rose weg. Nach zwei weiteren Stühlen Sicherheitsabstand, saß Ragen zwar fast bei Jo auf dem Schoß, fühlte sich aber sicherer.

Nicht verwunderlich, dass alle Anwesenden, ausgenommen Ragen und Ben, Rose’ Namen verärgert und entsetzt ausriefen. Jo-Ann schlug sogar vor sie für die weitere Besprechung mit ihren Kräften einzufrieren und erst wieder aufzutauen, wenn sie gebraucht werde.

„Moment mal“, schaltete sich Ragen ein. „Du kannst nicht nur Dämonen und andere böse Wesen in dieser Form erstarren lassen?“ Ihr Blick verriet Unglaube und Begeisterung zugleich. 

„Natürlich. Ich kann eigentlich alles einfrieren, wenn es eben Wasser ist. Selbst Gegenstände, indem ich die Luftfeuchtigkeit um sie herum beeinflusse. So kann ich sie mitten in der Luft festhalten.“

„Das ist so cool.“

„Nur bei Eve funktioniert es nicht“, warf Jo noch ein. Da reagierten selbst Julie und Rose stutzig, woraufhin Mayen ihnen erklärte, wie Blutsverwandtschaft vor den Fähigkeiten der Verwandten schützt. So wurde in der magischen Gemeinschaft schon seit Jahrhunderten verhindert, dass sich Familienmitglieder gegenseitig bekriegen konnten.

„Ich will mich wirklich nicht dazwischen drängen, aber wir alle haben noch etwas Wichtiges zu erledigen. Also sollten wir uns mal auf den Weg machen. Oder nicht?“ Ben wirkte angespannt, als stünde er unter Zeitdruck. Dieses Mal war es Julie, die sich zu Wort meldete: „Ich weiß zwar was wir Mädels gleich machen werden, aber was hast du denn noch vor?“ „Ich muss dem Rat verklickern, dass Eve ‚sich noch nicht entschieden hat’“, er unterstrich den letzten Teil seines Satzes mit den typischen Fingerzeichen als Anführungszeichen. Die Ironie war auch ohne bei allen angekommen. Es war klar, dass Eve sich entschieden hatte und zwar gegen etwas, wovon die Mädchen nichts wussten und der Rat es niemals erfahren würde.

Eine pausenlose Fragerei begann, aus der sich bloß Rose heraus hielt. Sie beobachtete Eve nur besonders gründlich. Erfolglos versuchte sich Eve vor einer Antwort zu drücken und Ben erntete dafür wuterfüllte Blicke von ihr. „Was will der Rat denn nun von dir?“, fragte Rose nun, satt dem Ganzen weiter zuzusehen. Eve seufzte ergebend: „Er will mich endlich bei sich aufnehmen. Als Ratsmitglied. Ihr versteht schon.“ 

„Was ist der Rat?“, kam stattdessen von Ragen. „Eine Versammlung von alten Säcken“, antwortete Rose knapp. „Seine Mitglieder sind die Ältesten der magischen Gemeinde. Immer das älteste Wesen einer Rasse“, erklärte Mayen, „und deshalb soll Eve für alle Hexen in den Rat eintreten, um sie bei Entscheidungen vertreten zu können. Immerhin ist sie die älteste lebende Elementhexe.“ „Also praktizierende Hexen kommen daher gar nicht in Frage für den Posten“, Ragen versuchte sichtlich die Regeln der magischen Gemeinschaft zu verstehen. Mayen nickte zur Bestätigung.

Jo dagegen amüsierte sich bloß sichtlich: „Die finden du bist alt.“ Sie konnte einfach nicht aufhören zu grinsen. Als sie Eves Blick begegnete, verstummte allerdings dieses Grinsen ganz schnell wieder und Ragen rutschte wieder auf ihren alten Platz zurück. Das brachte ihr einen fragenden Blick von Jo wiederum ein.

„Du magst gegen die Kräfte deiner Schwester immun sein, ich aber nicht. Ich bin nicht lebensmüde.“

„Feigling“, nannte Jo sie daraufhin bloß.

Ben wurde zunehmend nervöser, bis die Mädchen ihn endlich aufforderten zu gehen. Sie selbst suchten Kerzen, Streichhölzer und weiteres Material zusammen, was Ragen noch nicht identifizieren konnte.

 

Nachdem sie endlich alle im Wagen von Eve, einem schwarzen kleinen Chevrolet, Platz genommen hatten, man bedenke Mayens Katzenform als sechste Person im Wagen, traute sich Ragen nun eine weitere Frage zu stellen: „Wozu brauchen wir das ganze Zeug eigentlich?“ Eve antwortete schnell mit „für ein Ritual“ und warf dabei einen kurzen Blick zu ihr nach hinten, durch den Rückspiegel. Jo und Julie, die sich mit ihr die Rückbank teilten versuchten es ihr so einfach wie möglich darzustellen. 

Während Julie erklärte, dass sie die Elemente in ihren Kreis rufen werden, um Energie zu bündeln und Jo ihr eröffnete, dass man so viele tolle Zauber ausführen konnte; schaute Rose gedankenverloren aus dem Beifahrerfenster. Sie bemerkte nicht einmal, wie Eve sie aus dem Augenwinkel heraus immer beobachtete. Eve konnte vielleicht nicht hellsehen oder Gedanken lesen, aber sie wusste woran Rose bei solchen Gesprächen denken musste. Rose hatte durch die Magie das Kostbarste auf der Welt verloren, da konnte kein Zauber mehr helfen.

 

Keine 15 Minuten Fahrt waren vergangen, als Eve das Auto am Straßenrand zum Stehen brachte. Rose war mit als Erste aus dem Wagen gestiegen, jedoch brauchten die Damen auf den billigen Plätzen länger, weil Jo sich weigerte auf der Wiesenseite auszusteigen und zur anderen Tür rutschte. Lieber umständlich als dreckig, dachte sich Jo.

Jede bekam etwas zum Tragen in die Hand gedrückt und schlussendlich waren sie auf dem Waldweg, der zu einer ganz bestimmten Lichtung führte. Genau dorthin, wo sich die fünf Mädchen vor 1 ¼ Jahren zum ersten Mal getroffen hatten und ihre magischen Kräfte erhielten. Als sie sich damals, in dieser besonderen Nacht, trennten, hatten sie nicht einmal geahnt, was für Abenteuer sie erwarteten.

Nun fragten sie sich insgeheim, ob das Pentagramm aus mit Runen eingeritztem Holz immer noch dort lag. Zu ihrer Verwunderung tat es das tatsächlich.

Es hatte sich in all der Zeit nichts verändert.

Herzschmerz

 Jede von Ihnen wusste jedoch für sich selbst, wie sehr sich doch alles verändert hatte, wie sie sich verändert hatten.

Ragen traute sich näher an das Gebilde heran und berührte zaghaft das Holz. Sie erinnerte sich plötzlich daran, wie sie im letzten Moment ihrer Menschlichkeit von dem Pentagramm gewarnt wurde. Nur kam die Vision damals zu spät. Damals verließ sie diesen Ort von einem Dämon besessen; dem bösesten Wesen überhaupt. Doch nun war sie als Hexe zurückgekehrt. Mit zuversichtlichem und überaus dankbarem Lächeln blickte sie nun auf ihre neuen Freundinnen zurück.

Diese verteilten sich bereits. Zuerst dachte Ragen, sie würden sich einfach wieder an die fünf Spitzen stellen, wie damals, aber dem war nicht so.

„Wofür ist der Kompass?“, fragte sie Eve, die mit eben so einem um das Holzgebilde herum lief und mit einem Stock Kreuze in den Boden ritzte. Allerdings ging Rose dazwischen, bevor Eve eine zufriedenstellende Antwort geben konnte: „Kannst du nicht einfach ein Mal ruhig sein oder irgendwo anders wen anders mit deinen kindischen Fragen nerven?“

„Wen soll ich denn fragen? Ich habe eben keine Ahnung von Magie!“, langsam merkten auch die Anderen, dass Ragen ihre Gefühle nicht mehr lange bloß herunter schlucken konnte. Sie warteten alle gespannt was als Nächstes passieren würde.

Sie war aufgestanden und überragte Rose somit, was dieser rein gar nichts auszumachen schien. „Uns hat doch auch keiner geholfen!“ Mayen, weiterhin in ihrer Katzengestalt, gab ein böses Fauchen der Entrüstung von sich. Sie hatte ihr doch von Anfang an beigestanden!

„Ach, wisst ihr was?! Es reicht mir. Ich verstehe nicht, wie ihr mit ihr leben könnt...“, sagte Rose dann kopfschüttelnd. Die schneeweißen Kerzen, die sie trug, fallen gelassen wandte sich Rose von ihnen ab. Auch wenn Eve, Jo und Julie wussten, dass man ihre Entscheidung zu Gehen nicht mehr ändern konnte, so erklärten sie trotzdem ihren Standpunkt. Sie verteidigten Ragen, wie eigentlich immer. Kurz drehte sich Rose noch einmal zu den anderen um. Ragen erwartete einen hasserfüllten Blick, der ihr das Gefühl geben würde tot umfallen zu müssen. Aber da war noch mehr. So viel mehr lag in ihren hübschen grünen Augen nicht länger verborgen. So viel Schmerz, dass sie das Bedürfnis überkam Rose in den Arm nehmen zu wollen. Was habe ich ihr schreckliches getan?, fragte sie sich unweigerlich.

„Sie ist Schuld“, begann Rose mit ruhiger und bedrohlicher Stimme und fuhr schreiend fort: „Sie hat meine Schwester umgebracht!“

Diese Schuldzuweisung traf Ragen wie ein Schlag. Verzweifelt schaute sie von Einer zur Anderen in der Hoffnung die Mädchen klärten diese schreckliche Situation auf. Erklärten es für ein Missverständnis. Ihr Blick blieb an Eve hängen, die kaum merklich mit entschuldigender Miene den Kopf schüttelte. Tränen stiegen in ihr auf und sie hatte große Mühe diese zu unterdrücken. Sie kämpfte gegen ein Schluchzen an, drückte sich unbeholfen die Hände gegen den Mund und senkte den Blick. Eine Träne bahnte sich ihren Weg über die Wange.

Julie hatte schon längst den Kopf abgewandt. Jo hielt sie im Arm und versuchte Ragen nicht anzublicken. Zu nahe war auch sie den Tränen, zu schmerzhaft die Erinnerungen. So hatte keiner das Verschwinden von Rose bemerkt. Erst als in einiger Entfernung ein Wutausbruch zu hören war, realisierten sie es. Eve war die Erste, die sich regte und nachdem sie Kompass und Stock fallen ließ, lief sie Rose hinterher. Dank des Krachs, den die Schwarzhaarige verursachte, war die Richtung, in der Eve ihr folgen musste, ersichtlich.

Als Jo ihr folgen wollte, versperrte ihr die kleine schwarze Katze den Weg. Grummelnd trat sie zurück. „Lasst uns solange weiter aufbauen.“ Die anderen Zwei sagten nichts dazu. Schweigend bereiteten sie das Ritual für eine etwas andere Meditation vor.

„Rose?“, schon bevor nach ihr gerufen wurde, wusste Rose bereits wer ihr nachgekommen war. Eve war in manchen Situationen recht berechenbar. Zuverlässig würden die anderen es benennen. Rose war ihr dankbar, dass sie alleine kam. „Geh weg“, brummte sie Eve an. Diese reagierte darauf etwas eigensinnig und blieb einfach stehen.

„Wieso hast du das zu ihr gesagt?“, wurde sie ruhig gefragt.

„Weil es die Wahrheit ist...“

„Du weißt, dass das nicht so einfach ist. Das ist viel komplizierter.“

„Trotzdem...“, fing Rose an zu Nuscheln.

„Außerdem war ausgemacht zu warten, bis sie sich vollständig an alles erinnern kann.“

Rose konnte nicht mehr an sich halten. Das war als wäre sie wieder 10 und würde von den Eltern zur Rechenschaft gezogen werden. Zum ersten Mal nach langer Zeit, zeigte sie ihr wahres und verletztes Inneres: „Ihr nehmt alle immer nur auf sie Rücksicht. Ihr verschont sie; verhätschelt sie. Aber wieso sollte sie es besser haben? Wir sind doch alle durch die Hölle gegangen. Denk an Julie und ihren Stress mit Katie, geschweige denn Blake; oder die Sache mit dir und Ben; oder dass du alles auf dich nimmst, um es von Jo fern zu halten. Und jetzt? Jetzt willst du auch noch Ragens Ballast auf dich laden. Wieso?“ Das letzte Wort verließ ihre Lippen in einem ungläubigen Flüstern.

In Eves Augen lag so viel Ruhe und Verständnis. Gerade diesen verständnisvollen Blick konnte Rose in solchen Momenten partout nicht ab.

„Wäre es nicht unfair es nicht zu tun?“, entgegnete Eve bloß mit einer Gegenfrage. Das verstand Rose nicht und schüttelte fragend den Kopf. „Ich höre mir Julies Sorgen an, spende Trost und gebe neuen Mut; nehme für Jo den Kampf gegen diese ganzen Wesen auf, damit sie hauptsächlich die schönen Seiten der Hexerei erlebt und ich muss zugeben, dass es nicht ganz klappt...“

„Du schweifst ab“, erinnerte sie Rose.

„Der Punkt ist, dass ich die einzige von uns bin, die dein wahres Ich kennt. An die du dich wendest, wenn du einsiehst, dass du Hilfe brauchst. Ich kümmere mich um jeden von euch.“

„Aber wieso sie?“ Rose mochte Scheuklappen tragen, aber sie wollte es einfach nicht verstehen.

„Ach Rose, jetzt werde mal erwachsen und sieh es endlich ein. Ragen gehört zu uns“, Eves Geduldfaden wurde deutlich strapaziert.

„Sie mag ein Teil des Zirkels sein, dieser Elementmacht sein; das heißt aber nicht-“ „Rose...“, Eve zog den Namen ihrer Gesprächspartnerin absichtlich qualvoll in die Länge und starrte sie ungeduldig an. Ihre Augenbrauen zuckten dabei bedrohlich.

„Na gut. Ich reiße mich zusammen. Für dich. Aber Freundinnen werden wir ja wohl nicht sein müssen“, schmollte Rose mit geschürzten Lippen. Die Arme vor der Brust verschränkt, wackelte sie merklich unbehaglich hin und her. Eve überbrückte in wenigen Schritten den Abstand zwischen ihnen. Schwungvoll wurde Rose von ihr seitlich in den Arm genommen. „Nein, Rose. Ihr müsst keine Freundschaftsbänder austauschen.“ Verdutzt blickte Rose in Eves Gesicht. Sie konnte nicht anders und ließ sich von ihrem breiten Grinsen kurzzeitig anstecken. Ein ungläubiges Prusten verließ noch ihre Lippen, bevor Rose sich kopfschüttelnd und lächelnd wieder von Eves Antlitz abwandte. Gemeinsam wanderten sie zurück zum Rest ihres Teams.

Die Stille, die sich seit Rose’ Verschwinden über sie gelegt hatte, machte Ragen zu schaffen. Die ganze Zeit nur nervige Geräusche: Das Rascheln der heruntergefallenen Blätter auf dem Waldboden unter Jos und Julies Füßen und das Klappern der Schalen, die sie mitgebracht hatten, wurden mit jeder Sekunde immer unerträglicher.

Vor ihr lag Eves Kompass. Die Nadel erdreistete sich zögerlich zu wackeln. Als wäre sie unschlüssig, ob sie wirklich nach Norden zeigen sollte. Ragen griff instinktiv nach dem kleinen runden Ding und schloss ihre Finger fest um das Hartplastik. Ohne jede Vorwarnungdrehte sich Ragen schnell um, von den anderen weg, und schmetterte ihn gegen den nächstbesten Baum.

Julie und Jo waren Stimmungsschwankungen gewöhnt und zuckten bloß kaum merklich zusammen, nachdem der Kompass klirrend in seine Einzelteile zersprang. Diese Art kannten sie von ihr nicht. Zumindest nicht, seitdem sie den Dämon los war. Besorgt wechselten sie einen kurzen Blick, während Mayen ein kurzes Miauen von sich gab und ihr Schwanz verdächtig zuckte. Alle waren sie angespannt und warteten.

„Bin ich es wirklich gewesen?“ Immer noch den Mädchen den Rücken zugewandt, stellte sie diese pikante Frage.

„Natürlich nicht. Du warst besessen.“ Julie meldete sich zuerst zu Wort, jedoch nicht mit der gewünschten Wirkung: „Also bin ich es doch gewesen?!“ Entsetzt schaute sie ihre Freundinnen nun an.

Das Kätzchen schüttelte über dieses Desaster ungläubig das kleine Köpfchen, Julie verzog eine Miene und Jo seufzte bevor sie versuchte die damalige Situation kurz und knapp zu erläutern: „Du selbst oder auch der Dämon in dir, haben Rose’ Schwester gegenüber nie die Hand erhoben. Getötet hat sie ein Wesen mit dem Namen ‚Marek’.“

„Der Dämon hatte sogar einen Namen?!“

„Ja, magische Wesen sind eigenartig. Ich weiß. Genauso wie sie sich ihr Aussehen bei Menschen abgucken“, wandte Jo kurz ein und sagte dann: „Der Dämon, der dich über ein Jahr für sich beanspruchte, hat damals dieses Wesen Marek auf uns gehetzt. Eve und ich hatten ebenfalls das Vergnügen gegen ihn antreten zu dürfen.“

„Den Todesstoß habe ich ihm dann versetzt.“ Julie wirkte beinahe stolz, als sie dies zu Jos Erzählung hinzufügte. Das brachte Jo allerdings instinktiv zum Lachen. Sie steckte auch Ragen an, die mit einem fetten Grinsen nach dem Grund fragte. „Zu Beginn unserer Hexenzeit war Julie noch ängstlicher und Magie scheuer als heute. Der Todesstoß war mit Sicherheit ein Versehen“, brachte Jo unter kleinen Lachsalven hervor.

Ein weiteres Nachfragen von Ragen war gar nicht mehr nötig, da Julies schmollender Ausdruck Bände sprach.

„Was haben wir verpasst?“ Entweder näherten sich Eve und Rose beinahe lautlos der Lichtung oder die Mädchen waren einfach unaufmerksam gewesen. Denn erst als Eve die Stimme erhob, wurden sie bemerkt. Nur hießen die Anderen sie nicht mit Jubelrufen willkommen. Die peinlich bedrückende Stille kehrte dafür wieder ein.

Eve und Jo starteten eine stumme Kommunikation aus Augenkontakt und Gesichtsmuskelzuckungen. Nachdem die Mädels sich alle ein Mal regelrecht angestarrt hatten und sich sicher waren, dass das Kriegsbeil fürs Erste begraben war, sammelten sie sich auf der freien Fläche in der Mitte des Pentagramms.

Eve verteilte an sie gerade Dinge wie Federn oder einen Beutel mit Asche. Asche?

Rose nahm diesen Beutel an sich und wurde mit einem fragenden Blick von Ragen bedacht, den sie falsch deutete. „Eve hat mich überredet meine Energie für den eigentlichen Feind aufzusparen. Das wären Dämonen und da du ja keiner mehr bist, lasse ich dich vorerst in Ruhe, ok?“, begann sie sich zu erklären. Doch Ragen entgegnete: „Das meine ich doch gar nicht. Es geht mir um die Asche in deinen Händen.“

„Oh. Ach das.“ Darauf war Rose nicht vorbereitet gewesen. Zum aller ersten Mal wirkte sie unbeholfen und versteckte es vor ihnen nicht. Vielleicht bestand wirklich noch Hoffnung zur Besserung! Mayen lenkte, mit einem beherzten Maunzen, die Aufmerksamkeit dann auf sich und Rose war für einen kurzen Augenblick vergessen, was diese dankend mit einem Nicken quittierte. Die Mädchen erwarteten von Mayen nun jedoch, dass sie Ragen eine Erklärung darbot, die sie befriedigen konnte. Ihre Begleiterin konnte in dieser Gestalt nur nicht sprechen. Kurz warteten sie darauf, dass sie sich in ihre menschliche Form verwandelte, doch nichts dergleichen geschah. Sie saß bloß da und ließ ihren Schwanz hin und her schwenken.

„Wer darf es ihr erzählen?“, fragte Julie in die Runde. Automatisch wanderten alle Blicke zur Ältesten; zu Eve. Als sie eben genau das bemerkte, entfuhr ihr ein Stöhnen. Ihre Schultern sanken dabei zusammen, als hätte Eve ihren Halt mit ausgestoßen. Ihre aufrechte, grazile Haltung war passé und auch ihre Haare ließen sich nicht länger zurück halten. Erschöpft fielen einige Strähnen über ihre hängenden Schultern nach vorne, so dass Eve sie zu Beginn der Unterweisung wieder nach hinten streifen musste. In solchen Momenten empfand sie ihr langes Haar für störend, wobei dies nicht war, im Vergleich zu einem gepfefferten Dämonenkampf.

„Wir machen das am Besten folgender Maßen. Während wir die Ritualvorbereitungen abschließen, erkläre ich dir den bevorstehenden Ablauf und somit sollte die Bedeutung der Zutaten ebenfalls klar werden.“

„Klingt logisch...“

In die erste Schale füllte Julie eine Hand voll mit Erde, die sie vom Waldboden her nahm. Eve machte ihr Platz und so konnte sie diese Schale in die oberste Spitze des Pentagramms stellen. Sie selbst nahm direkt dahinter Platz. Zu Ragens Leidwesen sollte sie sich für später merken, dass die Pentagramm-Spitze an sich für das Element Geist stand, nur jetzt die Himmelsrichtung wichtig war und der Norden das Element Erde repräsentierte. Julie würde für sie den Platz der Erde übernehmen, denn sie müsste im Zentrum ihres Hexenkreises verweilen.

Unbehaglich saß Ragen nun in der Mitte und beobachtete die weiteren Handgriffe der Anderen.

Zu ihrer Linken kamen nun die Federn zum Einsatz, die Eve mit einer Schale im Westen positionierte und sich dahinter auf die Knie fallen ließ.

Dieselbe Prozedur bemerkte sie zur ihrer Rechten als sie das Knacken eines vorher ungeöffneten Flaschenverschlusses hörte. Sie blickte zur Seite und schaute Jo-Ann fasziniert zu, wie sie das stille Wasser in ihre Schale gab. Ragen begann zu verstehen. Der Westen stand für Luft, im Osten herrschte das Wasser und vermutete, dass die Asche von vorhin für den Süden vorherbestimmt war. Für das Feuer.

Sich zu Rose umzudrehen traute sie sich jedoch nicht.

Nachdem jede von ihnen dann noch eine schneeweiße Kerze vor sich stellte und große Streichhölzer hervorholte wurde sie stutzig: „Brauchen wir nicht noch so ein Ritualmesser?“

„Woher weißt du von Athamen?“, hörte sie hinter sich ertönen. „Von wem?“ Die anderen lachten. „Eine Athame ist ein Ritualmesser. Ein zweischneidiger Dolch“, in Rose’ Stimme schwang ein leiser Hauch von Besserwisserei mit. „Aber diesen Zahnstocher brauchen wir an diesem speziellen Ort nicht“, fügte sie dann noch hinzu. „Schade eigentlich. Ich hätte dir gerne unser Messer gezeigt. Naja eigentlich gehört es Eve. Mit weißem Griff und vergoldeten Verzierungen“, kommentierte Jo.

„Wieso betonst du, dass es Eve gehört?“

„Das Athame symbolisiert das Element Luft, wenn ich den Dolch führe ist seine magische Wirkung noch stärker. Im Gegensatz zu normalen Anwenderinnen. Der Vorteil wenn man sich mit magischen Artefakten die Affinität teilt“, etwas verlegen und doch sehr stolz berichtete nun Eve von ihrer besonderen Verbundenheit zu dem Hexenmesser.

Ragen wunderte sich, ob es auch für Erdhexen besondere Gegenstände gab.

Es folgte ein unerträglich langer Vortrag darüber, dass an heiligen Orten wie diesem, mit einem vorgegebenen Pentagramm oder Anordnungen von Druidensteinen, keine Utensilien zum Leiten von Energien nötig waren. Gebündelte Energiefelder waren dort Teil ihrer magischen Gegebenheit.

Mayen setzte sich etwas abseits des Pentagramms auf den Waldboden und betrachtete Ragen, während Julie eins der großen Streichhölzer aus der Verpackung kramte. Sie reichte es Ragen.

„Und was soll ich damit machen?“

„Zünde die Kerzen an und bitte die Elemente deinem Hexenkreis beizuwohnen“, sagte Julie ihr mit ruhiger und verständlicher Stimme. Ragen war sich trotzdem noch nicht sicher genug, um zu beginnen: „Muss ich irgendetwas besonders beachten?“ „Wir sind hier, um die Kraft der Elemente zu verstärken und den Kreis damit mächtiger und stabiler zu halten. Nur achte darauf, dass auch wenn Julie für dich den Platz der Erde angenommen hat, so musst du dich auf die Erde selber konzentrieren. Es ist dein Element. Konzentration ist hier das A und O.“ Langsam schwirrte Ragen der Kopf, bei all den Informationen, die sie erhielt und den Dingen, die sie beachten sollte. „Und keine Sorge, wir sagen dir vor, was du sagen musst“, Jo nickte ihr dabei aufmunternd zu. Auch die anderen machten zuversichtliche Gesichter.

Noch ein letztes Mal atmete Ragen tief durch und versuchte das abnormal große Streichholz anzuzünden. Es gestaltete sich schwieriger als sie dachte. Die Handhabung war zwar dieselbe, aber die Größe war hinderlich. Schlussendlich klappte es doch und die angespannten Zuckungen verschwanden aus den Mundwinkeln ihrer Gefährtinnen.

„Erde. Erhöre meinen Ruf und komme in unseren Kreis.“ Ragen konzentrierte sich so stark sie konnte auf ihre Verbindung zum Element Erde. Die erste Kerze wurde entzündet. Jede von Ihnen fühlte die stärkende Kraft der Erde, die von Ragen ausging und ihren Kreis erfüllte.

Sie drehte sich zu Jo.

„Wasser. Erhöre meinen Ruf und komme in unseren Kreis.“

Jo saß ruhig vor ihr. Die Augen für eine bessere Konzentration geschlossen haltend. Die Augen auf Jo fixiert zündete sie den Docht ihrer Kerze an. Langsam breitete sich eine Salve aus abwechselnd kalten und warmen Strömen über sie alle aus. Jo entspannte sich. Sie hatte es geschafft das Wasser in ihrem Kreis zu bündeln und zu stärken.

Ragen drehte sich weiter um. Vor der Energie des Feuers hatte sie etwas Angst. Doch zögern durfte sie auf keinen Fall. „Feuer. Erhöre meinen Ruf und komme in unseren Kreis.“

Die Haltung von Rose erinnerte an einen meditierenden buddhistischen Mönch. Man konnte kaum erkennen, ob sie überhaupt noch atmete. Verlegen schaute Ragen auf die Kerze, während sie diese entzündete. Augenblicklich füllte sich der Kreis mit angenehmen Hitzewallungen, als würde sie ein flackendes Feuer umringen.

Nun wandte sich Ragen der letzten Kerze und der letzten Hexe zu. Der Luft.

„Luft. Erhöre meinen Ruf und komme in unseren Kreis.“

Mit einem Lächeln versicherte Eve Ragen, dass sie bereit war die Kerze anzünden zu lassen. Ragen war sich nicht sicher, denn Eve war die einzige, die mit offenen Augen vor ihr saß und sie anschaute. Bei näherer Betrachtung hatte sie jedoch das Gefühl Eve würde durch sie hindurch sehen. Ein Nicken von ihr ermutigte Ragen endlich fortzufahren.

Die Kerze flackerte auf und kurze Zeit später bäumte sich der Wind auf, stob durch die Bäume und umschmeichelte schlussendlich die Hexen. Der Kreis war somit fast komplett.

Nun folgte der eigentliche Teil. Der, der alle Elemente zu einer gebündelten Kraft werden lassen sollte und ihr helfen ihre Verbindung zur Erde wieder herzustellen. Denn Ragen musste sich eingestehen, dass obwohl die Kraft der Erde auf ihre bitte reagiert hatte, so fühlte sie sich nicht als Teil von ihr an. Ragen fühlte sich, als wäre sie ein Fremdkörper und schämte sich für diesen Gedanken.

„Wasser und Luft, Feuer und Erde...im Geist vereint.“

Julies Konzentration war gefragt und zur Bestätigung ihres Könnens loderten nun die Kerzenflammen auf. Die Einheit war geschaffen.

Nun konnte Ragen sich mit geschlossenen Augen auf ihr Element konzentrieren. Zu versuchen zu meditieren.

Die vier Hexen stimmten für Ragen einen Singsang an. Wiederholten ihre Worte immer wieder:

„Erde. Mutter allen Lebens. Vor dir tritt Ergebens, eine Tochter deiner Kraft. In Demut und zur Bitte, ihr zu helfen zu verstehen.“

„Ragen... Ragen...“, eine sanfte junge Frauenstimme rief melodisch ihren Namen. Plötzlich war sie ganz wo anders. Fühlte sich so leicht, schwerelos. Ragen wusste nicht einmal ob es sich nur in ihrem Kopf abspielte oder ob das Ritual sie auf irgendeine andere Ebene befördert hatte.

Erst war alles dunkel, beinahe tiefschwarz. Doch dann wurde die Stimme lauter, deutlicher und alles wurde mit Licht durchflutet.

„Wer bist du?“, rief sie in die Leere hinaus.

„Ich bin die Natur und auch wieder nicht. Ich bin ein Teil von dir und doch viel mehr.“

„Bitte was?“

„Man nennt mich die Seele der Natur“, eröffnete ihr die geheimnisvolle Stimme. Sie glaubte sich an etwas zu erinnern, während sie besessen war, doch die Erinnerungen waren alle zu schwach und voller Lücken.

„Wo bist du? Wie kann ich mit dir sprechen?“

„Du bist eine Tochter der Erde. Wir gehören zu einem großen Ganzen. Willst du mit mir reden, so denke einfach daran.“

„Moment mal. Heißt das etwa, du bist in mir?“, Ragen stockte und wurde dann leicht wütend. Entrüstet rief sie aus: „Kann ich meinen Körper nicht einmal für mich alleine haben?! Nur einmal möchte ich das Gefühl haben, dass mir mein Körper gehört. Mir ganz allein und nicht irgendwelche blinden Passagiere versuchen darüber herzufallen!!!“

„Kleines Pflänzchen. Du bist noch sehr unerfahren...“

Ein Schnauben entfuhr Ragen: „Ja, reib es mir unter die Nase.“ Sie glaubte ein Kichern von der körperlosen Stimme vernommen zu haben.

„Wir befinden uns außerhalb von Raum und Zeit. Eine Ebene, bestehend aus purer Energie, der Lebenskraft der Erde. Du hast nach der Verbindung zu deinem Element gesucht und hier bin ich.“

Hätte Ragen auf dieser Ebene einen festen Körper gehabt, so wäre sie jetzt in sich zusammen gesunken, doch so blieb ihr nur ein genervtes Stöhnen und ergebenes Seufzen: „Doch ich weiß nicht wie du mir helfen kannst diese blöden Visionen zu kontrollieren.“

„Du kannst sie nicht kontrollieren. Die Erde tauscht mit dir Informationen aus, in Form von Vision der Vergangenheit und der Zukunft. Du gehst bloß falsch mit dieser Energie um.“

„Das ist heute der zig tausendste Vortrag den ich mir anhören muss, kannst du mir nicht einfach sagen wie es richtig geht und gut ist?!“, ihr wurde schon ganz schummrig und ihre Schläfen pochten. Ragen hatte die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit schon lange erreicht, zwang sich jedoch weiter aufmerksam zuzuhören.

„Es wird seine Zeit dauern, bis du ein Gefühl für den Energiefluss bekommst. Jede Vision die du empfängst musst du annehmen, ihre Energie in deine aufnehmen. Tust du das nicht, stoßen sie einander ab und du quälst dich nur unnötig“, die Lehre der Seele der Natur unterbrach Ragen mit einem ungeduldigen Räuspern. Sie fuhr anderweitig als geplant fort: „Na gut. Versuchen wir es einfach. Konzentriere dich und sei bereit für das was da gleich kommen wird. Sobald du dich dem Energiefluss der Erde öffnest wird es haarig, denn da warten viele Bilder auf dich, die gesehen werden wollen. Bereit?“

Anfangs wollte die Erdhexe nichts anderes, als endlich sich an ihrer Magie zu versuchen. Die Ansprache der fremden Stimme hatte ihr jedoch nun ziemlich Angst gemacht und Ragen schluckte den Kloß hinunter, der sich in ihrem Hals gebildet hatte: „Eigentlich nicht, aber ich habe genug von Lehrstunden und Erklärungen, die ich kaum verstehe.“

Zurück auf der Lichtung blieb die Unterredung von Ragen und der Mutter Natur auf höherer Ebene bisher unbemerkt. Die beachtlich ansteigende Menge von Erdmagie führten sie dem gelingenden Ritual zu.

Leider währte die innerlich tobende Freude bei den Mädchen nicht lange an. Ihre Freundin fing an unkontrolliert mit dem Kopf hin und her zu zucken. Zu allem Übel fing die Luft um Ragen herum an zu flimmern. Die enorme Energiekonzentration trug eindeutig die Schuld daran. Keiner konnte sich ausmalen, wie viele Visionen Ragen wohl in diesem Moment sah. Sie selbst bekamen nur mit, dass die Spannung, die erzeugt wurde, die Luft zum Knistern brachte.

Wenn sie nicht weiterhin so konzentriert hätten bleiben müssen, dann hätte die eine oder andere von ihnen schon längst einen Fluch oder eine Warnung vor größerem Unheil ausgesprochen. Für Jo war es eine Qual sich in solchen Momenten nicht mitteilen zu können und Julie musste den Impuls unterdrücken zu flüchten.

Aus den Augenwinkeln beobachteten sie einander. Konnten in ihren Gesichtern dieselbe Reaktion ablesen. Sie erwarteten eine Ausschreitung und hofften jedoch auf ein schmerzfreies Ende.

Alles war ruhig. Der Wald breitete sich friedlich vor ihnen aus. Nur in weiter Ferne vernahm man vereinzelt Anzeichen von Leben.

Bis Ragens Energie aus ihr herausbrach. Sie entlud sich schlagartig wie ein Blitz. Diese enorme Explosion erfasste Ragens Begleiterinnen,

schleuderte sie aus dem Hexenkreis und trug sie ein ganzes Stück durch den Wald. Nur das Echo ihrer Schreie verblieb noch einen Moment in Ragens Nähe.

Die Lichtung wurde für einen kurzen Moment hell erleuchtet und gab einen Blick auf die Erdhexe preis, die bleich wie es nicht einmal Schneewittchen war, dort weiterhin verharrte.

Schließlich, als jegliche Energie verebbt war, fiel Ragen zur Seite. Gebettet auf kühlem Waldboden, wartete der bewusstlose Körper des Mädchens darauf gerettet zu werden.

Jagd

Unermüdlich streifte er umher. Seine Geduld war schon vor Jahrzehnten überstrapaziert gewesen. Dieser Zustand, in dem er sich befand, war eine Schmach. Wie erniedrigt er sich fühlte. Vor allem wenn er jedes Mal daran erinnert wurde, dass er auf die Hilfe anderer Wesen, auch wenn sie ihm diese nie freiwillig gewährten, angewiesen war.

Während er bereits einen weiteren Schatten besetzt und zerstört hatte, kam ihm der Gedanke, ob ein weißmagisches Wesen mehr aushalten würde.

Somit stand sein nächstes Opfer sofort fest. Er hatte eine kleine Blumenfee entdeckt. Welches blättrige Gestrüpp ihr Ursprung war, interessierte ihn herzlich wenig. Innerhalb weniger Sekunden war er über ihr und sobald sie gen Himmel blickte, um den Schatten auszumachen, der ihr den aufgehenden Mond verdeckte, strömte er durch ihre Augen in den winzigen Körper.

Im nächsten Augenblick jedoch zerplatzte das magische Geschöpf. Ihr magisches Potenzial war für seine Macht zu gering. So gering, dass es sie in Fetzen riss.

Vonihr übrig, blieb ein einziges ramponiertes Blütenblatt.

Das kleine zerfledderte Ding war nicht mal auf dem Boden aufgekommen, da strömte eine Energiewelle durch den Wald. Hätte er einen Körper gehabt, so wäre dieser erstarrt, sämtliche Muskeln hätten sich verkrampft und sein Atem hätte für kurze Zeit gestockt.

Daiken kannte diese Energie nur zu gut. Über ein Jahr lang hatte diese Energie versucht ihn aus den Körper der Hexe zu vertreiben. Letztendlich hatte er sogar gegen die Hexen verloren. Bei diesem Gedanken kochte er vor Wut, nur dass er es leider keinem demonstrieren konnte.

Würde er aber den Körper der Hexe für sich zurück gewinnen können, so hatte er alle Möglichkeiten der Welt. In einer Frau, einem Mädchen, dann wieder zu stecken, ignorierte er dabei gänzlich.

So schnell es ihm nur möglich war, hetzte er durch das Dickicht. Die Energiekonzentration stieg kontinuierlich an, die Quelle dieser Macht musste näher kommen.

Im Vorbeirauschen ließ er es sich nicht nehmen durch viele schwache weißmagische Wesen zu streifen und sie so zu vernichten. Auch wenn ihm das etwas Zeit kostete, so gab es Daiken die Möglichkeit sich an den panischen Schreien der gejagten Wesen zu ergötzen.

Die vier Mädchen flogen ein paar Meter auseinander und kamen recht unsanft auf dem Waldboden auf. Ihre überraschten Schreie verbreiteten sich in ihrem Flug um sie herum.

Jedoch wurde ihnen bei der Landung die Luft aus der Lunge gedrückt und ihre Schreie verwandelten sich in undefinierbares Stöhnen.

Rose konnte sich zwar nicht gut abfangen, war aber als erste wieder aufgerichtet. Den schmerzenden Nacken rieb sie sich mit ihrer rechten Hand. Ihre Bewegungen wirkten schwerfällig und sie ließ den Kopf locker hängen.

Julie landete schon fast etwas weicher, in einem Laubhaufen. Auch nach der Landung hatte sie die Augen noch vor Angst verschlossen. Als sie diese öffnete hing ihr Kopf aber von dem Laubhaufen hinunter und sie sah die Welt falsch herum. Doch das war es nicht, was sie stutzig werden ließ. Da war noch mehr. Da sah sie etwas. Ein Tier. Ein Wolf?!

Ihre Muskeln spannten sich an und im nächsten Augenblick dreht sie sich beim Aufrichten um. Den Blick so wenig vom Wolf nehmen zu wollen wie es möglich gewesen war. Nur war dieser eine kurze Moment lang genug für ihn gewesen zu verschwinden. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Vielleicht hatte sie es sich bloß eingebildet. Sie hoffte es zumindest und wandte sich zum Gehen um.

Auf dem Weg zurück zur Lichtung hätte man meinen können Julie litt unter Paranoia so oft schaute sie sich zu der Stelle hinter ihr um. Der Wolf zeigte sich aber nicht mehr.

Auch Eve war bereits zur Lichtung aufgebrochen. Ihre Füße schlurften über den Boden. Der Sturz hatte ihr nicht nur die Luft aus den Lungen gepresst, sondern auch jegliche Energie aus ihr heraus geprügelt. Jeder Schritt entlockte ihr ein leichtes leises Stöhnen.

Bereits in der Nähe der Lichtung, konnte sie Julie erkennen, die sich über jemanden beugte. Es musste Ragen gewesen sein. Automatisch beschleunigten sich Eves Schritte. Ihr Gesicht verzog sich schmerzhaft, wenn sie nicht darauf achtete.

Fast zeitgleich erreichten Rose und Eve die Lichtung.

„Ah gut, dass ihr hier seit! Ich glaube sie ist bewusstlos. Was sollen wir tun? Was ist wenn sie sogar tot ist? Oder, oder ...“, Julies Kopf fing aufgrund ihrer Panikattacke beinahe an zu zucken.

„Wow, wow. Locker bleiben, Blondi“, Rose’ Kopf brummte bereits dank dem netten Freiflug und konnte ein panisch quietschendes Mädchen zu diesem Zeitpunkt nicht unbedingt gebrauchen.

Damit Julie nicht im Weg stand und sich beruhigen konnte, zog Eve sie von Ragen weg. Rose untersuchte dafür Ragen und fühlte dafür einfach ihren Puls: „Sie ist ziemlich kalt. Aber ihr Puls ist sehr kräftig. Die entflossene Energie hat sie vorhin zu sehr geschwächt und ausgeknockt.“ Während Rose ihre Diagnose schloss, entledigte sich Eve ihrer Jacke. Sie schmiss sie rüber zu Rose.

„Wickel Ragen da bitte drin ein. Besonders unter ihr sollte was liegen. Sonst ist es nachher die Unterkühlung, die sie umbringt.“ Bei dem letzten Kommentar entfuhr Julie ein Japsen.

Die Schreie und panischen Hilferufe drangen zu Beginn erst gar nicht an die Ohren der Mädchen. Es hatte einige Zeit und Flüchtlinge in ihre Richtung gebraucht, bis sie es schlussendlich doch noch bemerkten.

„Was sind das für Schreie?“

Das Team der Mädchen bestand zu diesem Zeitpunkt aus einer nicht mehr ganz so Bewusstlosen, einem Angsthasen und zwei ziemlichen taffen jungen Frauen.

Rose richtete die Frage direkt an Eve, ohne sie dabei anzusehen. „Oh je. Jo?! Vielleicht ist das Jo?!“, die quietschende Stimme von Julie war zurück. Sie zerrte an Eve, um ihr die Dringlichkeit der Überlegung klar werden zu lassen.

Die Ältere löste die Umklammerung von Julies Fingern um ihren Oberarm und schüttelte ihr gegenüber nur den Kopf.

„Keine Sorge, dass ist sie nicht. Ihre Stimme klingt nicht so. Außerdem kommen die Schreie aus der anderen Richtung.“

„Oh.“

„Eve, ich werde mir das ansehen. Kommst du mit?“, Roses Mundwinkel zuckten freudig erregt. Es wurde für sie mal wieder Zeit ein Höllenwesen dorthin zu schicken wo es hingehörte.

Daraufhin drehte sich Eve ein weiteres Mal zu Julie.

»Bitte sei so lieb und lauf nach Osten. In die Richtung muss Jo geflogen sein. Ich mache mir langsam etwas Sorgen wo sie bleibt. Wenn du sie gefunden hast, holt Ragen hier ab und kommt uns nach. Falls wir eure Hilfe brauchen. Bleibt aber zusammen. Bei zu großer Gefahr nutzt du deine Fähigkeiten und du fließt mit den beiden. Du wirst tun, was ich sage. Verstanden?«

Mit großen beinahe leeren Augen starrte Julie Eve an, nickte dann immer schneller und stand etwas unbeholfen auf. Ragen dagegen war noch zu benebelt. Sie blieb auf Eves Jacke liegen. Dafür richteten sich die anderen Zwei auf und streckten ihre Muskeln, um wenigstens etwas vorbereitet zu sein. Bevor sie aber den lauten Rufen entgegen liefen, zog auch Rose ihre Jacke aus und warf sie über Ragen.

Mit stolzem Blick bedachte Eve ihr Gegenüber. Rose dagegen tat so, als würde sie diesen gar nicht erst sehen.

»Jo...! Jo...! Melde dich mal. Halloooo?! Wo bist du?! Komm raus, komm raus und zeig dich! Ich hab keine Lust mehr, Jo! Da draußen läuft ein Monster rum und ich will nicht sein nächstes Opfer werden...«

Julie stapfte immer weiter nach Osten und rief unablässig nach Jo. Redete mit ihr, als wäre sie in ihrer Nähe und könnte sie hören. Allerdings fühlte sich die Strecke, die sie hinter sich gelassen hatte langsam zu lang an und machte sich Sorgen Jo vielleicht verpasst zu haben.

Da hörte sie ein schmerzerfülltes Grummeln, Seufzen und Stöhnen. Die Blondine wurde hellhörig, bewegte sich so lautlos wie möglich und schritt auf die Geräusche zu. Dafür musste sie ein paar Schritte zurückgehen und dann noch etwas nach Rechts.

Im Dickicht kam Jo gerade zu sich und hockte dort im Gestrüpp auf allen Vieren, als Julie sie fand.

„Au, au, aua“, waren ihre ersten Worte. Die jüngste des Teams fühlte sich nicht gut genug, um Julie Beachtung zu schenken. Erst als ihr Julie eine Hand hinhielt, nahm Jo diese Hilfsgestik dankend an und ließ sich auf die Füße hochziehen. Augenblicklich beschoss Julie die Kleine mit jeglichen Informationen, die sie verpasst hatte und hörte danach noch lange nicht auf:

„Naja und deshalb sollte ich dich suchen gehen, zurück zu Ragen auf die Lichtung bringen und dann mit euch Beiden unseren Kämpferinnen folgen. Aber keine Sorge, sollte es brenzlich werden kann ich uns da raus holen. Allerdings nur uns drei, aber deine Schwester ist ja zäh. Und wieso bist du eigentlich so abseits gelandet?“

Anstelle einer Antwort stöhnte Jo genervt auf, verdrehte die Augen und stolperte in Richtung Lichtung.

„Hey, du könntest mir wenigstens eine Antwort geben.“

„Mein Kopf tut weh, Julie. Musst du ausgerechnet jetzt so viel reden?“, Jo stützte sich auf ihrem Weg zurück an den verschiedensten Bäumen ab. Plötzlich war Julie diejenige, die seufzte und nahm Jo an sich. So kamen sie beide zwar nicht sonderlich schnell voran, aber Julie hatte so die Sicherheit, dass Eves kleine Schwester nicht so einfach auf die Nase fiel.

„Hast du dir bei der Landung irgendwo den Kopf gestoßen?“, fragte Julie unschuldig.

„Wie kommst du denn da drauf?“, brummte Jo sarkastisch und hielt sich den schmerzenden Kopf. „Ich bin gegen einen Baum gedonnert.“

„Deswegen bist du etwas abseits gelandet“, schloss Julie dann. Jo nickte bloß.

Das andere Zweierteam kam dem Bösen währenddessen immer näher. Das erkannten sie daran, dass immer mehr magische Waldwesen an ihnen vorbei hetzten. Leider konnten sie keines fangen oder dazu bringen freiwillig stehen zu bleiben und zu erzählen, was dahinter steckte. Beinahe waren sie soweit aufzugeben, da erblickte Eve eine Sylphe. Ein Wesen der Lüfte. Sie blieb stehen und konzentrierte sich auf ihre telekinetischen Kräfte. Die Luftströme manipulieren zu können, war besonders bei anderen Kindern der Lüfte, die fliegen konnten, hilfreich.

Die Luft um sie herum veränderte sich. Es wurde auch von Rose bemerkt, die bereits einige Schritte voraus war und sie stehen blieb. Der Sylphe erging es schlechter. Sie bewegte sich zwar, aber nicht dorthin, wo sie wollte, sondern auf Eve zu.

„Was fällt dir ein?!“, hallte es durch den Wind. Rose empfand es als interessante Art zu kommunizieren. Seine Worte durch den Wind fort zu tragen.

„Wir möchten nur helfen“, unternahm Eve einen ersten Beruhigungsversuch. „HELFEN?! INDEM SIE MICH FANGEN?!“

Da zuckte selbst Rose zusammen. Hysterisch wirkende magische Wesen konnten gruselig sein. Vor allem wenn man beinahe durch sie hindurchsehen konnte. „Verrat uns einfach, wer euch jagt. Das reicht schon“, meldete sie sich dann zu Wort.

„Kaum einer kennt seinen Namen. Er ist so dunkel, böser als alles auf der Welt. Das mächtigste Böse, dass durch unsere Welt streift. Dieser dunkle Nebel ist gefährlich.“

Das Duo erstarrte und Eves Konzentration löste sich vom Wind. Sofort jagte die fast gespenstische Gestalt davon. Die Mädchen starrten sich dann eine Zeit lang an. Ihnen blieb fast die Luft weg. Damals hatten sie den Kampf gegen Ragen, gegen das was in ihr steckte, aufgenommen.

Wieso war er nicht tot?! Hatten sie damals etwa nicht gewonnen?

„Was macht ihr denn noch hier?! Konntet ihr den Dämon nicht finden?!“, hinter den Beiden ertönte Julies Stimme. Diese holte die Mädchen aus ihrer Starre.

„Wir müssen hier verschwinden“, hauchte Eve bedrückt. So leise, dass nur Rose sie hören konnte. So eindringlich, dass Rose keine Widerworte gab.

„Los, zurück! Verschwindet von hier!“, rief Rose ihnen entgegen, damit sie schnell umkehren konnten.

Aber die Mädchen blieben stehen und schauten nur verwirrt drein. „Tut was sie sagt. Wir erklären es euch später“. Julie nickte. Sie hatte Eve versprochen auf sie zu hören, nahm Jos und Ragens Hände in ihre und verschwand dank ihrer Fähigkeit mit solch einer Geschwindigkeit; nur etwas aufgewirbelter Staub war zu erkennen.

Eve und Rose dachten sie wären nun allein, konnten sich darauf konzentrieren ihren Mädchen Rückendeckung zu geben und selber versuchen lebend aus dem Wald zu kommen; da miaute eine Katze.

Ein erfreutes Lächeln huschte über ihre Lippen. Mayen war zwar nicht mächtig, aber bisher immer eine Hilfe gewesen. Ihre Chance zu überleben stieg. Auch wenn nur ein kleines bisschen.

Rose stürzte sich auf eine Waldnymphe und erzeugte im selben Moment ihr Deflektionsschild. Die Nebelschwade wurde durch den Aufprall aufgehalten und Eve nutzte die Luftströme, um es von ihnen forttreiben zu lassen. Diese Prozedur wiederholten sie immer dann, wenn der Dämon ihnen zu nahe kam. Nur kamen sie dadurch einfach viel zu langsam voran. Ihre Kräfte würden erschöpft sein, bevor sie den Wald verlassen konnten.

Mayen half, indem sie den Kreaturen der Natur Verstecke und Fluchtwege wies. Der Dämon war zu sehr auf die Mädchen fixiert, als das er es hätte mitbekommen können. Das war zumindest ein Vorteilfür sie.

Die kleine Katze fühlte sich so schuldig. Es gab einfach nicht mehr was sie gegen dieses Böse ausrichten konnte. Ein Stoßgebet schickte sie gen Himmel.

Die Mädchen gönnten sich eine Verschnaufpause hinter einer Baumreihe, verdeckt von Brennnesseln.

„Es wird eng.“ Ihre Gesichter glühten schon vor Anstrengung und Eve sprach die Tatsache aus, die sie alle schon längst bemerkt hatten.

Hinter ihnen hörten sie mal wieder ein sterbendes Wesen und trieben sich weiter voran, egal wie sehr ihre Beine vor Anstrengung schrien und ihre Lungen schmerzhaft brannten.

Die Kälte, die die Nebelschwade ausstrahlte, legte sich allmählich über sie. Umso kälter es wurde, desto größer wurde Roses Verlangensich zu ihm umzudrehen.

Eine blau schillernde Wolke, die im hohen Tempo auf sie und das dunkle Wesen zutrieb verunsicherte sie noch mehr. Beinahe währen sie stehen geblieben. Mayen befürchtete diese Reaktion, miaute aus vollem Leibe und hetzte weiter voran.

Eve musste einen dicken Kloß hinunter schlucken, sie vertraute Mayen und lief durch diese Masse aus Licht. Die Zwei konnten beim Passieren erkennen, dass diese Wolke aus einem Schwarm leuchtender kleiner Geister bestand. Dieser hielt den Dämon für sie auf. Gab ihnen Rückendeckung.

Eine Frage nach dem Warum blieb vorerst aus, denn der Schwarm kam nicht allein. Ben kam den Mädchen entgegen gerannt.

Der Lauf des jungen Mannes und der ältesten des Hexenzirkels endete in den Armen des jeweils anderen. Es war ein eher unangenehm kräftiger Zusammenstoß. Eve interessierte nur die Tatsache von ihm gerettet worden zu sein. Er presste ihren Körper an sich und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel.

„Was sind das für Dinger?“, unterbrach Rose das gewaltige Wiedersehen der Zweien. Ben blickte zu Rose, ohne seine Umarmung von Eve zu lösen: „Das sind Irrlichter.“ Er blickte hinunter zu seiner Freundin und schaute in ein fragendes Paar klarer blauer Augen. Bevor er sich in ihnen verlor, nahm er Eve bei der Hand und deutete auch Rose ihm zu folgen. Die kleinen Lichter konnten das Böse nicht ewig aufhalten.

„Wieso können diese kleinen Biester ihn aufhalten?“, Rose wollte mehr wissen. Sie hatte gelernt, dass Unwissenheit tödlich sein konnte.

„Naja, Irrlichter können dir den Weg leuchten, solltest du dich verlaufen haben oder sie sind diejenigen, die dich in die Irre und damit vielleicht sogar in den Tod führen. Kommt ganz drauf an wie sie drauf sind und ob sie einen für gut oder böse halten.“

Der Weg zurück zur Straße war holprig und Ben musste sich anstrengen deutlich zu sprechen, sonst konnten die MädchenseineErklärungerstgarnichtverstehen.Vonihnen hörte er keine Einwände und fuhr fort: „Man muss sie nur für Gefälligkeiten bezahlen. Das kann einem manchmal sogar den Arsch retten.“ Damit erweckte er Eves Aufmerksamkeit.

„Womit hast du sie denn bezahlt?“

„Mit Stücken aus deinem Glasperlenschmuck. Die mit dem Prismen-Schliff.“

„Den hat mir meine Kommilitonin zur Eröffnung ihres Geschäfts geschenkt. Wie konntest du nur?“. Die brünette junge Frau versuchte sich aus seinem Griff zu lösen, doch ihr Freund ließ nicht von ihr ab. „Sie lieben Dinge, in denen sich ihr Licht entweder reflektiert, spiegelt oder bricht. Das war perfekt. Außerdem fiel mir nichts Besseres ein, um deinen hübschen Hintern zu retten.“

„Aber-“

„Meine Fresse, freu dich einfach, dass uns geholfen wurde! Diskutiert das aus, wenn wir in Sicherheit sind!“, Eve wollte Einwände einlegen, doch Rose kam ihr mit ihrem Ausbruch zuvor.

„STOP!“ Ihre Flucht wurde wieder unterbrochen. In der Luft zeichneten sich Veränderungen ab. Etwas rauschte durch die Luftströme. Eve wusste nicht wieso sie es spüren konnte, aber sie vermutete eine Erweiterung ihrer Fähigkeiten. Wenige Sekunden später stand Julie vor ihnen, bereit die nächste Truppe abzuholen.

„Du hast aber lange gebraucht.“

Auf Roses Kommentar ging sie auf ihre Weise ein. „Ragen und Jo habe ich direkt bis nach Hause gebracht, bevor dieses Ding wieder über Ragen herfällt oder so. Darauf habe ich nicht wirklich Lust und nur bis zum Auto zu flüchten empfinde ich als ziemlich armselig und gefährlich.“

„Das ist eine gute Idee gewesen.“

Eve war von Julies strategischem Denken überrascht. Mayen dagegen verwandelte sich endlich in ihre menschliche Form und scheuchte die Mädchen auf. Sie und Ben würden die Rückendeckung übernehmen, da sie problemlos fliehen konnten.

Beim Gedanken Händchen zu halten machte Rose zwar nicht unbedingt Luftsprünge akzeptierte die Gegebenheiten aber.

Die Mädchen waren so schnell wieder verschwunden, wie Julie gekommen war. Endlich konnte Ben wieder tief durchatmen. „Die Kraft der Irrlichter lässt nach. Sie werden auch gleich flüchten. Was ist dein Plan?“ Die Nackenhaare der früheren Katze sträubten sich, als die Kälte des Dämons sich wieder ausbreitete. Seine dunkle Macht erstickte ihre Fähigkeiten. „Dir ist klar, dass wir so überhaupt nichts ausrichten können“, Mayen sicherte sich einen festen Stand und versuchte damit ihren Fluchtreflex unter Kontrolle zu halten.

Ben grinste nur frech vor sich hin. Dem nach was er aus seinem Jackeninnern zog, hatte er einen anderen Weg zur Bekämpfung von Höllenwesen für sich entdeckt. Das Kräutersäckchen, und Mayen befürchtete mehr als bloß Kräuter in diesem Leinenbeutel, baumelte von seinen Fingern. Es war ziemlich fest zugezogen und Ben hatte Schwierigkeiten die Schlaufe schnell zu öffnen. Deshalb kam sie ihm zur Hilfe. Danach schob er sie hinter sich, wartete darauf, dass der Nebel sie wieder ins Visier nahm und im richtigen Moment warf er ihm den Inhalt des Beutels entgegen. Das Pulver darin paralysierte ihn lange genug, damit Ben Worte einer fremden magischen Kultur aufsagen konnte. Erst als sie sah, dass der Bann in Kombination mit diesem Pulver eine Kraft loslöste, der das Böse dorthin zurückzog wo es herkam und, sie vermutete, dort sogar für eine gewisse Zeit einzusperren vermochte, zog sie scharf die Luft ein. „Das war ein Fluchbann“, entfuhr es ihr. „Bist du verrückt geworden, Ben?!“ Er ignorierte ihre hysterisch werdende Stimme und ging zum Waldausgang. Mayen überließ er sich selbst. Der Leinenbeutel verschwand in seiner Jackentasche. Seine Lippen immer noch zu einer strengen Linie aufeinander gepresst.

Draußen auf der Straße holte Mayen ihn jedoch ein. Die Blinker des Autos reagierten und sie wusste, dass er es seiner Freundin wiederbringen wollte. Sie schlüpfte schnell auf die Beifahrerseite. Dass es Ben gerade nicht gefiel, war an seinem genervten Gesichtsausdruck nicht zu übersehen. Aus den Augenwinkeln konnte er sie sehen, wie sie gerade den Mund aufmachte und schnitt ihr direkt das Wort ab. „Ich habe keine Lust auf eine Standpauke.“

Kurz schloss sie ihren Mund wieder, sagte aber dann doch: „Bitte verstehe mich nicht falsch. Die Idee mit den Irrlichtern war genial. Ihr magisches Licht zu Nutzen, um ihn abzulenken. Doch wie konntest du dich ihm so ausliefern. Er kennt jetzt deinen magischen Kern...dein Inneres...deinen magischen Ursprung.«

»Ich weiß. Und ich weiß auch, dass man mir diesen Fluchbann untersagt hätte, hätte man es gekonnt oder gewusst, weil keiner der anderen Seite davon erfahren sollte. Jetzt wissen unsere Gegenspieler vielleicht was ich bin. Sie können diese Information nutzen. Aber weißt du was? Es ist mir egal, denn die Mädchen leben.«

Mit diesen Worten startete er Eves Wagen.

Ungebetener Gast

 Ketten raschelten leicht, tief in einer Höhlenkammer verborgen. Von dort, wo der Dämon seine Gefangene zurückgelassen hatte.

Seine ehemalige Hohepriesterin wartete keine Minute nach seinem Verschwinden mit ihren Fluchtversuchen. Diese fielen allemal sehr kläglich aus. Kein bisschen Kraft hatte Sendra mehr übrig. Sämtliche Energie hatte er ihr bei seinem Überfall geraubt.

Den Tränen nahe ruckelte sie vergeblich an ihren eisernen Fesseln. Am Liebsten hätte sie vor Verzweiflung einen Fluch auszustoßen. Ausgeliefert wie ein Schwein auf der Schlachtbank konnte sie nur noch auf ihr Ende warten. Die tröstliche Dunkelheit schlich sich langsam wieder an. Nach der betäubenden Leichtigkeit sehnte sie sich beinahe.

Plötzlich nahm sie eine Bewegung von rechts wahr. Eine Gestalt löste sich aus den Schatten der angrenzenden kleinen Höhlenkammer. Panisch rasselten die Ketten auf. Ein Krach, über den die Gestalt die Stimme erheben musste: »Pssst. Bist du verrückt? Sei ruhig, sonst kommt noch einer nach uns gucken.“

Mehrmals musste das Medium blinzeln. Erst dachte sie, Ragen hätte sich über sie gebeugt. Doch die Stimme der Frau klang älter. Ihr blondes Haar erinnerte an Straßenköter-Blond. Zerzaust und mit Dreck besudelt hingen sie der Frau über den Schultern. Ihr Gesicht ließ ein Alter von Ende 30, Anfang 40 erahnen.

Sendras Augen weiteten sich vor Überraschung: „Meghan...Wie bist du aus deiner Kammer entflohen? Eine Barriere hätte dich dort festhalten müssen?“ „Ach du meinst deinen Zauber. Der ist mit dir schwach und zerbrechlich geworden. Es war ein leichtes ihn jetzt zu umgehen“, während sie antwortete, löste sie eine Eisenkette nach der Anderen von Sendra.

Die Schwarzhaarige konnte sich endlich wieder aufsetzen und rieb sich die schmerzenden Handgelenke. Nicht mehr lange und Meghan hatte auch ihre Füße befreit. Danach half sie der geschwächten Zauberin von dem Präsentierteller hinunter zu kommen, musste sie erst auch stützen, weil die Beine der jungen Frau noch nicht kräftig genug waren den Körper zu tragen.

Verlegen schaute Sendra auf. Ihre Blicke trafen sich; ihre Gesichtsausdrücke unlesbar für einander.

„W-wieso...Wieso hilfst du mir? Nach allem was ich dir angetan habe?“, vor Nervosität stockte die kürzlich Befreite, als sie ihrer Retterin diese Fragen zu stellen versuchte.

„Du hast dich verändert. Das Böse hat dich nicht mehr in seinen Fängen. Hoffe ich zumindest, also enttäusche mich bitte nicht. Lass mich meine Entscheidung nicht bereuen.“

Sendra fühlte sich schlecht. Diese Frau war über ein Jahrzehnt ihre Gefangene gewesen und jetzt half sie ihr ihrem eigenen Gefängnis zu entfliehen. „Ich kann versuchen den Bannzauber völlig von dir zu nehmen, dann könntest du mit mir fliehen“, schlug sie der Frau schon fast enthusiastisch vor. Nur, dass Meghan mit zusammen gepressten Lippen den Kopf schüttelte.

„Das wird niemals funktionieren. Schau dich doch an. Du hast weder viel von deiner Hexenmacht übrig, noch die Unterstützung des Bösen. Das würde niemals funktionieren. Du würdest dich bloß umbringen und dann kann keiner mehr den Mädchen helfen.“

„Dir geht es um die Nachwuchshexen...“, sinnierte Sendra.

Meghan nickte gedankenverloren und an was auch immer sie gerade dachte, es ließ ein Lächeln über ihre Lippen huschen.

„Bitte hilf ihnen. Geh zu ihnen, entschuldige dich und beschütze sie.“ Mit diesen Worten schob sie Sendra aus dem Höhlengefängnis. Ihre Blicke kreuzten sich ein letztes Mal. Es war an der Zeit für Sendra das stille Versprechen einzulösen und floh.

Durch die Höhlengänge hörte sie noch ein paar letzte Worte ihrer Retterin: „Gib die Kinder nicht auf. Das bist du mir schuldig.“

Daikens Gefangene floh und dieses Mal mit Erfolg. Im Gegensatz dazu zog sich Meghan in ihr Gefängnis zurück, damit kein Verdacht entstand. In Gedanken voller Hoffnung bei ihrer Tochter. Ragen.

 

Mittlerweile war die Nacht fast vorbei.

Das nächtliche Abenteuer der fünf jungen Damen hatte seinen Tribut gefordert und so lagen sie gemeinsam, nebenbei oder beinahe schon fast aufeinander gestapelt auf der U-förmigen Couch bei den Glasgow-Schwestern, Eve und Jo. Die zwei kuschelten sich eng beieinander, um so viel Platz wie möglich zu sparen. Auch Julie und Ragen lagen beisammen, was allerdings um einiges ungemütlicher wirkte, da Julie zwischen Jo und Ragen eingeklemmt schien. Die Einzige mit genug Freiraum für sich selbst war Rose, die eine Couchlänge allein für sich beanspruchte. Mayen hatte es sich in ihrer Katzengestalt auf einer Lehne niedergelassen, während Ben im Sessel hockte.

Unnatürlich früh kitzelten die ersten Sonnenstrahlen den müden Haufen wach. Unzufriedenes Brummen und Deckenrascheln erfüllte den Raum. Die unruhigen Bewegungen häuften sich, die ein oder andere versuchte sich herum zu drehen und unter ihrer Decke zu verschwinden. Diese Prozedur funktionierte bei Rose problemlos; Julie versuchte sich zu bewegen, kam aber keinen Millimeter weit, bis Ragen zur Seite rollte und dann hatte sie plötzlich sehr viel Platz. Denn Ragen war zu übermütig gewesen und über den Rand der Couch hinaus gerollt.

Der dumpfe Aufprall auf den Boden ließ die anderen nun vollends aus dem Schlaf schrecken. Zu müde waren sie, um ihre Freundin auszulachen. Sie waren alle mehr damit beschäftigt sich den Schlaf aus den Augen zu reiben.

„Ragen?“ Zuerst musste Eve sich Räuspern, bevor sie ihre Stimme überhaupt nutzen konnte.

„Alles ok. Ich lebe noch“, erklang Ragens Stimme müde und gequält vom Boden zu ihnen hinauf. Sie wollte sich aufrichten, wurde aber von einer herunterfallenden Decke zurück auf den Boden gedrückt. „Ey.“

„Entschuldige, ich geh mir Kaffee machen.“ Ohne darauf zu achten, wo die Decke landete, schob Julie ihre und Ragens Decke von sich fort. Mit gekrümmter Haltung watschelte sie in Richtung Küche.

„Ich will auch Kaffee“, nuschelte Jo schmollend vor sich hin. „Dann steh auf und hol dir welchen“, entgegnete Rose.

„Nee, keine Lust.“ Die Couch bot mit zwei Mädchen weniger endlich wieder mehr Platz und so ließ sich Jo in die andere Richtung fallen. Mit ihren Füßen drängte sie Eve von sich weg, die damit genötigt wurde sich ebenfalls zu erheben.

Dies tat sie aber nicht, ohne ihrer kleinen Schwester einen Klaps gegen die Oberschenkel zu geben. Keine Beschwerde war zu hören, stattdessen ertönte ein verärgertes Grunzen. Die Jüngste von ihnen schlief bereits wieder.

Unschlüssig, wohin sie jetzt gehen und wo sie sich vielleicht hinsetzen könnte, drückte sich Eve erst einmal am Couchtisch vorbei. Weiter wusste sie erst einmal nicht. Die Entscheidung nahm ihr Ben ab, der sich vorlehnte, ihre Hand ergriff und seine Freundin zu sich auf den Sessel zog. Verlegen schaute sie ihn an, wusste jetzt erst recht nicht was von ihr verlangt wurde. Aber ihr Unbehagen war unbegründet. Ben lehnte sich zurück in die Lehne und zeigte offen seine Zufriedenheit mit ihr auf seinen Schoß.

Damit war auch Eve zufrieden und kuschelte sich an ihn.

„Wehe ihr fangt jetzt an zu knutschen“, meldete sich Rose zu Wort. Das unbeholfene Pärchen wechselte einen Blick und wandte sich gleichzeitig Rose zu, als hätten sie eine stille Vereinbarung getroffen. Beide streckten ihr kurz die Zunge raus. Da stand Rose auf. Ihre Decke mit sich ziehend ging sie an dem Sessel vorbei und lud diese auf den Beiden ab.

„Jetzt dürft ihr.“

 

Es dauerte eine Weile, bis die Mädchen überhaupt in der Lage waren über so etwas wie Frühstück nachzudenken. Deshalb meldete sich Mayen freiwillig, um es zumindest schon einmal vorzubereiten. Die Vertraute der Hexen kannte sie gut genug, um ihr ungeduldiges Wesen einschätzen zu können. Bewaffnet mit Tellern und Co befahl die katzenhafte Frau einen Tisch für alle frei zu räumen. Im Esszimmer jedoch lagen noch all die alten Hexenbücher, die nirgendwo anders einen Platz finden konnten, weshalb Eve die automatischen Rollos der Tür nach oben gleiten ließ und den Schlüssel drehte, der gewohnter Weise dort zu stecken schien. Die Tür wurde aufgezogen und Mayen hatte freie Bahn auf die überdachte Terrasse. Das verschlafene Pack folgte dem Duft von frisch aufgebackenem Brot und Rühreiern mit Speck.

Der Gartentisch war allerdings nicht besonders groß und Mayen musste ihr ganzes Können aufbringen, um das Frühstück samt Geschirr dort zu arrangieren. Es erinnerte ein wenig an Live-Tetris. Ihr Arrangement beschäftigte sie so sehr, dass sie im Gegensatz zu den anderen den ungebetenen Gast zuerst gar nicht bemerkte. Eine fliegende Tasse, die im Flug eingefroren wurde zog nun ihre Aufmerksamkeit auf sich.

„Na toll. Jetzt ist mein Kaffee buchstäblich eiskalt.“

„Besser als verschüttet worden zu sein...und zwar auf mir“, hörte Mayen einen Wortwechsel zwischen Ragen und Jo. Schockiert über Sendras Erscheinen im Garten der Schwestern schaute sie abwechselnd von ihr zu den Mädchen.

Diese reagierten instinktiv und hoben die Hände, bereit ihre Fähigkeiten in einem Kampf zu bewähren. Der Wind um die Terrasse herum nahm zu und pfiff durch alle Ritzen. Langsam bildete sich vor Roses Hand ein Schutzwall. Rose wartete, bis sie sich vor die anderen gedrängelt hatte, bevor sie die Deflektion vollständig ausdehnte.

„Bitte wartet. Ich möchte nur mit euch reden. Euch helfen“, Sendra hob zwar ebenfalls die Hände, bloß im Sinne der Beschwichtigung. Stutzig wechselten Jo und Julie fragende Blicke. „Wieso sollten wir dir glauben?“, Rose fragte und Eve agierte. Ein Blumenkübel machte sich selbständig und flog wie ein Wurfgeschoss auf die Schwarzhaarige ehemalige Dienerin des Bösen zu. Anders als erwartet, schlug das Terrakotta-Gefäß sie nicht nieder, sondern schoss durch sie hindurch. Der Körper der jungen Frau blieb unversehrt, flackerte bloß einen kurzen Moment wie ein kaputtes Fernsehbild.

Erstaunt machten alle Anwesenden große Augen und dieses Mal flog ein Sparten zielgerichtet durch sie hindurch.

„Wozu war das denn jetzt?“, zischte Julie entsetzt. In ihren Augen war es unnötig gewesen ihren Gast weiter zu bombardieren. „Ich wollte nur sicher gehen“, antwortete Eve geistesabwesend.

Wieder beruhigte sich das Erscheinungsbild. Es wirkte, als würde ihre Kraft schwinden. Mit ihrer Kraft verzog sich auch der Schatten der Dunkelheit, der ihr Antlitz so verfälschte. Mayen riss der Anblick den Boden unter ihren Füßen fort. Mit festem Griff klammerte sie sich am Rand des Terrassentisches fest.

„Wieso flackert sie andauernd so?“, während ihre Gefährtinnen bereits mit anderen Fragen und Sorgen beschäftigt waren, kam Rose über die Eigenheiten der fremden Kräfte nicht hinweg. „Bist du blind? Ihre Haare haben ihr Schwarz verloren. Plötzlich ist sie brünette und keineswegs mehr blass. Das ist eigenartiger würde ich meinen“, auch Jo mischte sich ein.

Ihre Streitigkeiten untereinander lenkten die Mädchen zu sehr von dem Medium ab. Bloß Ragen hörte ihre immer wiederholten Worte „Ich bin zurück“. „Was soll das heißen?“, fragte sie Sendra laut und zog so die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich.

Es herrschte vorerst Stille, doch anstelle sich mit einer Frage oder dergleichen einzumischen schüttelte Eve den Kopf und flüsterte: „Das Risiko ist zu groß.“ Rose wusste sofort, woran Eve dachte und stimmte ihr nickend zu. Solange sie die Chance hatten, sollten sie sich von der Hohepriesterin befreien. Gemeinsam hoben sie die Hände.

„Hört auf!“, rief Mayen ihnen zu. Dickköpfig wie sie jedoch waren, ließen sie sich nicht so einfach aufhalten. Rose hatte ein Schild aus ihrer Feuermagie geschaffen, über das Eve als Waffe nun verfügen wollte.

Im nächsten Moment war die Deflektionsscheibe jedoch verschwunden. Ben hielt die Handgelenke der Mädchen im festen Griff. „Danke, Ben“, bedankte sich Mayen mit ruhiger Stimme und stellte sich zwischen die Mädchen und Sendra.

„Wir werden gleich wissen, ob meine Vermutung richtig ist und was das hier zu bedeuten hat. Ragen?“ Die junge großgewachsene Blondine trat aus der Gruppe hervor. „Wo ist dein Buch der Schatten?“ Mayens Frage verwirrte Ragen und sie zog die Stirn in Falten. Die Antwort auf die Frage ließ zu lange auf sich warten und deshalb stupste Rose sie von hinten an, um sie zum Antworten zu bewegen.

„Ähm. Oben, in Eves Schlafzimmer. Wieso?“ „Hol es.“

Anstelle zu kämpfen, brüteten sie nun über Ragens Buch der Schatten. Ihrem Hexenbuch, das sich allein mit seinem braunen Ledereinband und den grün verzierten Innenseiten von den anderen unterschied.

Ragen blätterte wie eine Verrückte in dem Buch herum, ohne überhaupt zu wissen wonach sie suchte. „Mayen, sag mir doch einfach was ich hier suche. So bringt das doch nichts.“

„Du musst einfach bis zum hinteren Teil des Buches blättern“, antwortete ihr ihre Vertraute, die damit beschäftigt war den Gast im Auge zu behalten.

Sendra traute sich nicht, sich auch nur ein kleines Stück vom Fleck zu bewegen in der Angst die Mädchen könnten es als Flucht- oder Angriffsversuch auffassen. Diese hatten jedoch kurz das Interesse an ihr verloren, als Mayen die letzten Seiten vom Buch der Schatten erwähnte.

„Was glaubst du in der Galerie der ehemaligen Elementhexen zu finden?“, wandte sich Rose an ihre Vertraute. Ihre Worte machten auch Ragen hellhörig und sie hörte auf zu blättern: „Willst du damit sagen, dass unsere Vorgängerinnen immer in diesem Buch verewigt werden?“

Da trat Eve auf sie zu, schob ihre Hand zwischen die letzten Seiten des Hexenbuches und öffnete somit im Handumdrehen die gewünschten Seiten. „Jede Elementhexe wird für ihr Können und ihre Errungenschaften zu ihrer Zeit mit einem Eintrag in ihrem Buch der Schatten geehrt. Du wirst also nur Töchter der Erde in deinem finden, so wie auch du und deine Geschichte hier irgendwann ihren Platz finden werden“, erklärte ihr Eve.

Enttäuschter Weise musste Ragen feststellen, dass es vor ihr nur zwei andere Erdhexen gegeben hatte. Eine Mutter und ihre Tochter. Was dort neben den Abbildern der Frauen stand war zugleich rühmlich als auch traurig. So hatte die Tochter alles verloren, weil ein fremdes Schicksal auf ihren Schultern ruhte. 

Sie ließ ihre Finger über die letzte Erdhexe gleiten und stockte als ihr etwas klar wurde. Etwas von großer Wichtigkeit.

Vorsichtig hob sie ihren Kopf und musterte Sendra, senkte ihn dann wieder zurück zum Portrait und dann schnellte er wieder hoch. Das mahagonibraune Haar, die leuchtend grünen Augen... Ihre Augen weiteten sich vor Schreck und Erstaunen. Das ist nicht möglich? Nach all der Zeit...und wieso? Ragens Gedanken schlugen Purzelbäume. Ihre Mitstreiterinnen ahnten nicht einmal was für eine Entdeckung sie gerade gemacht hatte. Ein Blick in ihr Gesicht und Mayen wurde klar, dass sie mit ihrer Vermutung Recht hatte.

Vor ihnen stand sie. Die letzte Erdhexe.

Der Anfang von etwas Großem

 „Ihr wollt wirklich behaupten, dass diese Frau im Mittelalter geboren wurde. Sie soll sogar eine von uns sein?“ Julie plumpste auf einen der Terrassenstühle.

Ihrem Gast wurde längst ein Platz am Frühstückstisch angeboten und die ein oder andere hatte sich daraufhin ebenfalls auf einen der Stühle bequemt. Julie hatte sich erst nicht getraut und Rose war der Neuen in ihrer illustren Runde noch sehr skeptisch gegenüber. Sie bevorzugte es lieber angriffsbereit zu sein. Natürlich nur für den Fall der Dinge.

Bisher musste Julie viel über die magische Welt lernen. Vieles konnte sie akzeptieren, manches war sogar interessant und erklärte unglaubliche Phänomene. Eine Frau, eine Hexe wie sie eine waren, die aber mehrere hundert Jahre alt sein sollte, überstieg dann doch ihre Vorstellungskraft. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen. Der Gedanke selber so lange leben zu können empfand sie als gruselig.

„Wie kommt es, dass du so lange leben kannst?“ Die Frage, die Julie sich nicht getraut hatte zu stellen, entsprang nun Jos Lippen. „Die Dunkelheit stoppt wohl den Alterungsprozess“, sinnierte Sendra. „So wird es sein. Ist es denn ok für dich, wenn wir dich bei deinem richtigen Namen nennen und du deinen dunklen Namen ablegst?“ Es verwirrte die Umstehenden, was Mayen damit sagen wollte, außer Ragen, die vor ihrem Buch der Schatten hockte. Ragen zeigte deshalb auf den Eintrag in ihrem Hexenbuch: „Ihr Name war nie Sendra. Sie heißt Fay.“

„Das ist ein wirklich schöner Name“, gab Jo als Höflichkeitskommentar von sich, was alle Beteiligten einstimmig bejahten. Es brachte Fay dazu in Erinnerungen zu schwelgen und begann über den Ursprung ihres Namens eine Geschichte zu erzählen: „Meine Mutter war die geborene Erdhexe von uns beiden und hatte eine außergewöhnliche Verbindung zu ihren Kräften. Der Name fiel ihr dank einer kleinen Glitzerfee ein. Muss wohl eine besondere kleine Kreatur gewesen sein-“

Rose schnappte sich derweil einen abseits abgestellten Stuhl, in die Befürchtung einer einschläfernden Kindheitsgeschichte ausgeliefert zu sein, um sich zu setzen. Jedoch nahmen Fays Ausführung eine drastische Kehrtwendung an und sie waren in der Gegenwart zurück. Zurück bei den grausigen Wahrheiten und Problemen, die vor ihnen lagen:

„Das erinnert mich daran wieso ich hergekommen bin. Ich muss ein Versprechen deiner Mutter gegenüber einlösen ...“ Begann sie nun mit ihrer neuen Erzählung. Ragen zog die Stirn kraus. Die frühere Erdhexe hatte sie bei Erwähnung der Mutter angeblickt.

„Was hat meine Mutter mit all dem zu tun? Sie hat rein gar nichts mit Magie am Hut. Geschweige denn kennt sie Hexen, die auf die dunkle Seite übergelaufen sind.“

Nun war es an Fay fragend drein zu blicken. Nach wenigen Minuten des Schweigens war ihr jedoch klar, wieso Ragen nicht verstehen konnte. Sie kannte die Wahrheit noch nicht. Die Gesichter der anderen Mädchen absuchend, besonders Mayen, Eve und Jo, gab Gewissheit über die verzwickt gewordene Lage. Keine von ihnen hatte sich bisher getraut, dieses Thema Ragen gegenüber anzuschneiden.

Die Zeit für Erklärungen war knapp und Unwissenheit stand ihnen nur im Weg. So war es an Fay ihrer Nachfolgerin reinen Wein einzuschenken.

„Deine Mutter war eine Gefangene von mir, leider konnte ich sie noch nicht befreien. Ich war zu geschwächt. Damals hat sie es geschafft, dich rechtzeitig vor mir zu verstecken. Die Menschen, die du glaubst, seien deine Eltern, wissen selbst nicht, dass du nicht ihre Tochter bist.“

Beschämt darüber an dieser Situation mit Schuld zu tragen, kaute sie nervös auf ihrer Unterlippe herum. Sie alle warteten auf eine Reaktion von Ragen. Allerdings war diese derzeit gar nicht in der Lage auch nur ein Wort hervor zu bringen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, wie so oft die Tage, jedoch waren sie irgendwie leer.

Ragen fühlte sich, als hätte diese damals so grausame Person ihr gerade das Herz herausgerissen. Wie konnte sie es wagen dort aufzutauchen und ihr Leben noch mehr zu zerstören, als es ohnehin schon war? Ob die aufsteigenden Tränen vor Wut oder Trauer entstanden, konnte Ragen nicht sagen. Zum ersten Mal hatte sie keine Kontrolle mehr über ihre Gefühlslage. Dabei hatte sie sich geschworen den anderen keinen Grund zu geben sie für schwach zu halten. Diese Einstellung mochte banal oder gar verrückt gewesen sein, doch Ragen wollte nie die schwächliche Neue sein.

Entschlossen rieb sie sich die Augen mit ihrem Ärmel trocken und verneinte das Gesagte mit einem vehementen Kopfschütteln. Die Lippen waren zu einer strengen Linie zusammen gepresst.

„Das sind reine Spekulationen. Oder nicht? Woher wollt ihr wissen, dass meine Eltern nicht meine Eltern sind? Schwachsinn...“, endlich redete Ragen wieder mit ihnen.

Dennoch wussten sie nicht, wer sie davon überzeugen konnte, dass sie die Wahrheit sprachen. Eve wagte einen Versuch.

„Wir hatten schon länger den Verdacht, dass...“

„Stop! Das habe ich mir schon gedacht. Mich die ganze Zeit anzulügen. Darauf habe ich keine Lust mehr!“, unterbrach Ragen sie wütend.

„Aber hör doch bitte-“

„Nein, Eve. Du hattest so oft eine Chance es zu erklären. Deine Vermutungen mit mir zu teilen. Ich möchte nichts mehr von dir hören. Ich hab genug.“

„Immer ruhig bleiben, Fräulein. Wenn du Eve nicht ausreden lassen willst, dann musst du jetzt halt mit mir vorlieb nehmen“, schaltete sich Rose in ihre Auseinandersetzung ein.

Ragen schnaubte verächtlich, was Rose ein Lachen entlockte. „Du glaubst, du kannst mir auch nicht trauen“, unterstellte sie Ragen dann.

„Na und. Das ist mein gutes Recht.“

„Wie schnell sich Menschen doch ändern“, sinnierte Rose und ähnelte einem kurzen Moment Fay. Dann wandte sie sich mit strengem Blick wieder an Ragen: „Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, habe ich dir bisher nichts außer die Wahrheit an den Kopf geworfen. Das ändert sich bestimmt nicht über Nacht. Samthandschuhe besitze ich nicht. Glaub mir da mal, Schätzchen.“

„Worauf wartest du dann?“, forderte Ragen sie endlich auf ihre Vermutungenoffen zu legen.

Jo schrumpfte derweil in ihrem Stuhl zusammen, verdrehte die Augen über diesen unsinnigen Streit und wünschte sich ganz weit weg. Am liebsten in die Karibik, auf eine einsame Insel, wo keiner dieser Verrückten sie finden würde.

„Diese Vermutung, die Eve ansprach, kam daher, weil deine Eltern nicht magisch sind.“ Ragen wollte etwas erwidern, aber Rose ließ sich nun nicht mehr unterbrechen. „Wir haben in unserer Zeit als Hexen, dank Mayen sollte ich wohl erwähnen, viel über unsere Familien gelernt. Im Stammbaum von jeder Hexe hat sich eine Besonderheit abgezeichnet. Es gibt immer eine magische Ahnenlinie, sprich entweder Vater oder Mutter stammte aus dieser. Jedes Mitglied dieser Ahnenreihe besitzt magische Kräfte. Natürlich nicht so Mächtige, wie wir Elementare sie besitzen. Deine Ahnenreihe musste also irgendwann auch noch andere Erdhexen hervorgebracht haben, wie Fay.“ So viel hatte Rose schon lange nicht mehr geredet und sie benötigte erst einmal einen Schluck zu trinken, bevor sie fortfahren konnte.

„Du vergisst aber die Ausnahmen, Rose. Immerhin sind Eve und Jo der beste Beweis! Die beiden sind Elementare, von zwei verschiedenen Elementen. Obwohl sie Schwestern sind und somit auch eine gemeinsame Ahnenreihe haben müssten“, sie glaubte das ultimative Gegenargument für diese „Ein-Element-Eine-Ahnenreihe“-Theorie gefunden zu haben.

Rose stöhnte auf. Ihr Geduldsfaden war weder sonderlich lang, noch wirklich strapazierfähig. Bevor sie jedoch einen Ausbruch erleiden konnte, spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Ben hatte sie schon beinahe vergessen, so ruhig war er die ganze Zeit über geblieben. Zum Glück war er noch da um sie ruhig zu halten. Ein kurzes Räuspern war zu hören und Rose war so weit, das Gespräch wieder aufzunehmen.

„Du hast Recht. Die Schwestern sind in unserem Fall wirklich was Besonderes. Beide Elternteile entstammten einer elementaren Ahnenreihe. Ihre Mutter kam aus den Elementhexen der Luft hervor. Die Großmutter war Eves Vorgängerin und der Vater war ein Hexer. Seine Ahnenreihe trug die Kraft der Wasserhexen in sich. Bisher konnten wir dies bezüglich nicht mehr herausfinden. Aber wir reden hier eigentlich von dir und dies ist leider auch der Beweis dafür, dass Fay die Wahrheit spricht.“

Diese Informationen mussten erst einmal sacken und Ragen regte sich solange nicht. „Heißt das etwa...dass du meine Ahnin bist“, Fays stolzen Ausdruck in den Augen sah sie kaum, so oft musste Ragen blinzeln. Ihr Körper wollte ihr vor Erstaunen kaum noch gehorchen. Auch ihre Stimme klang, wie nach einem Spaziergang durch die Wüste.

Ein kurzer Luftzug umspielte sie und Julie stellte ihr dann ein Glas Wasser vor die Nase. Offensichtlich nutzte Julie ihre Fähigkeiten auch für alltäglichen Gebrauch. Für das Wasser war sie besonders dankbar und stürzte den Inhalt des Glases in wenigen großen Zügen hinunter.

„Ich muss mit ihr reden. Wenn das alles wahr ist und meine leibliche Mutter irgendwo gefangen gehalten wird, dann muss ich mit ihr reden und ihr helfen. Versteht mich nicht falls: Es ist schwer das zu verstehen und zu akzeptieren, aber ich muss es versuchen. Vielleicht mit einem Treffen“, sagte sie mit gestärkter Stimme.

„Bestimmt“, bestätigten Mayen und Eve sie in ihrer Überlegung. Voller Erwartung waren alle Augen auf Fay gerichtet. Diese verzog eine entschuldigende Miene.

„Das wird nicht so einfach. Wenn wir auffallen, dann war es das. Wir werden gefangen genommen und nur mit Hilfe konnte ich beim letzten Mal entkommen. Das ist kein Kinderspiel.“

„Solange der große Boss nicht zuhause ist, sind die Dämonen kleine Fische für mich“, wandte Rose ein. Ihr Selbstvertrauen verwunderte Fay. Zu ihrer Zeit vermied man Konflikte mit Dämonen und anderen dunklen Wesen. Waren die Wesen seither schwächer geworden oder stiegen die Kräfte der Hexen seither an?

„Rose ist etwas übermütig. Bitte nicht allzu ernst nehmen“. Fays Gedanken wurden von Julie unterbrochen. Das ehemalige Medium wurde mit einem beruhigenden Lächeln der Blondine bedacht.

Wie nicht anders zu erwarten war, musste Rose ihren Dickkopf durchsetzen. Dass sie alle damit in Gefahr brachte, interessierte sie nie. Selbst Ragen war von ihrer Idee überzeugt.

Um unter den Dämonen nicht aufzufallen, riet Fay ihnen zuvor sich wie die Krieger und Zauberinnen der Dunkelheit zu kleiden. Vermutlich war dies nicht die beste Idee, diese Aufgabe dann auch noch Jo-Ann anzuvertrauen. Mit Hilfe von Mayen suchte sie im gemeinsamen Buch der Schatten von ihr und Eve einen Zauber, um ihre Alltagskleidung zu verzaubern.

Ihr kleines Ritual, samt Glitzerfeenstaub und ein Stück Koboldgold, verwandelte ihre Mitstreiter und sie selbst in Auftragskiller im Lack-Leder-Stil.

Nun warteten Fay, Eve, Jo, Julie, Ragen, Rose und sogar das eigentlich nur begleitende Duo Mayen und Ben in voller Montur und bis zu den Zähnen bewaffnet in der Nähe der großen Höhle.

„Da drin wohnen alle Dämonen?“, Jo fragte so unschuldig, dass kein Zweifel aufkam, ihre naive Frage wäre nicht ernst gemeint. „Das ist bloß der Unterschlupf unseres größten Feindes“, zischte Julie. Sie traute sich kaum den Eingang aus den Augen zu lassen.

Es dauerte den ganzen restlichen Tag, bis sich etwas in der Höhle rührte. Der große Boss war wieder auf den Weg sich einen neuen Körper zu suchen. Die Chance nach Meghan zu suchen und hoffentlich aus seinen Klauen zu befreien.

Bis zu ihrer Höhlenkammer kamen sie gut voran. Als wären sie dort zuhause schlenderten sie zügig die Gänge entlang. Kein Dämon schöpfte bislang verdacht.

„Meghan!“, riefen die Mädchen so leise wie möglich ihren Namen. Der Mann der Truppe, Ben, durfte am Vorkammereingang Wache schieben. Er kam sich mit der schwarzen, leicht weiten Hose und dem goldenen Band um den Oberarm ziemlich lächerlich vor. Jo hatte ganz genaue Vorstellungen gehabt, was an wem zu betonen war. Seine Armeehose ließ zu, die mächtigen Boots problemlos dazu zu tragen, betonten allerdings sehr seinen Hintern. Sein Hemd dagegen lag komplett eng an. Seine Bauchmuskeln zeichneten sich ab und es streckte seinen Oberkörper ungemein. Er freute sich, trotz seiner 1m86, noch größer wirken zu können. Die Farbe seines Oberarmbandes sollte eine Zugehörigkeit zu Eve erzeugen.

Eves Outfit war ebenfalls ein Beispiel dafür, dass Jo besondere Körperpartien hervorheben wollte und was Ben an ihrer Vorstellung alles nicht gefiel. Bauch und Beine waren zwar recht gut bedeckt, auch wenn sie auf das Gittermuster an den Außenseiten der Hose hätte verzichten können. Die Lederstulpen, die drei Viertel ihrer Arme bedeckten, und die 2 süßen Zöpfe gefielen ihm sogar sehr. Doch ihr Dekolleté stach in diesem Top ziemlich hervor. Der V-Ausschnitt betonte ihre hochgepuschten Rundungen. Bloß der Neckholderträger und ein Lederband hielten dieses Top an ihrem Körper. Die fehlende Rückseite könnte problematisch werden, wenn im Kampf die Bänder gekappt würden.

Die Blicke der Dämonen machten ihn rasend. Wie sehr, verrieten seine angespannten Muskeln.

Die anderen Mädchen hatten es ebenfalls nicht leicht mit Jos Kleiderwahl.

Der Hosenanzug, mit seinen Dreiviertelärmeln und kurzen Hosenbeinen, für Julie, war nett gemeint, um die schüchterne und ruhige Hexe nicht all zu sehr zu entblößen. Der Clou dieses Outfits waren die Netzstrümpfe, ihre mit Waffen bestückten Stiefel und ihre Lederarmbänder. Dazu bekam Julie einen auffälligen Waffengürtel und einen umgestalteten Pistolenhalfter, wie Polizisten ihn gerne unter ihre Jacken anzogen, der nun Wurfmesser trug.

Für Ragen war diese Art von Outfit eine neue Erfahrung. Aber bei dem Gedanken, was der Dämon ihr für Kleidung aufgezwungen hatte, war sie schlimmeres gewohnt. Jo hatte die Vielfalt der Natur als Inspiration genutzt, um Ragens Outfit zu kreieren. So vermisste Ragen kläglich das zweite Hosenbein. Das lange Hosenbein, auf der rechten Seite, reichte bis in ihre Boots. Die kurze linke Seite war dagegen viel zu weit oben abgeschnitten worden. Mit jeder Bewegung musste sie Angst haben einen zu großzügigen Ausblick auf ihren Po zu gewähren, sollte der Waffengürtel um ihr Bein nicht die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Auch wenn an ihrem Oberteil ebenfalls die Hälfte fehlte, hatte sie daran jedoch gefallen gefunden. Es war ein langärmliger Body, der auf der linken Seite in der Bauchpartie einen runden Einschnitt besaß. Somit war die Haut auf dieser Seite vorne und hinten freigelegt. Eine leichte Gänsehaut hatte sich dort bereits gebildet.

Rose liebte ihre Kampfuniform. In ihre Korsage passten allerhand kleiner spitzer Waffen. Die Spitzenbluse empfand sie als zu mädchenhaft und hätte lieber mit Eve getauscht, die mit dieser Kombination wohl glücklicher gewesen wäre. Die schmutzig rote Farbe der Bluse besänftigte die Feuerhexe trotz alledem. Ihre Shorts waren ziemlich unauffällig, bis auf die Schlitze an den Seiten.

Der Blickfang dieses Kostüms war interessanter Weise nicht das dekorierte Dekolleté, sondern die Leggings, die nahtlos in die Schuhe über zugehen schien. Dabei legte sie sich bloß eng über die hautengen Stiefeletten und wurde durch ein Gummiband an den Absätzen fixiert.

Mayen fühlte sich dagegen überhaupt nicht wohl in diesem Material. Sie fummelte die ganze Zeit über an den Bändern herum, die eine Jacke über ihrem Top zusammen hielt. Ihre Dämonenkiller-Klamotten waren die unauffälligsten von ihnen, wofür sie sehr dankbar sein. Leider konnte sie sich sehr schlecht in diesem Lack-Leder bewegen. Da sie ursprünglich eine Katze war, schrie ihre Seele nach mehr Bewegungsfreiheit.

Jo fühlte sich wie eh und je. Sie hatte sich knielange zerfetzte Leggings verpasst, über die ein schräg nach links verlaufender Rock fiel. Ein breiter schillernder Gürtel befestigte diese abenteuerliche Konstruktion.

Ihr rechter Arm war für Accessoires aller Art freigegeben, nachdem ihr One-Shoulder-Shirt bereits die linke Seite bedeckte.

Für Fay brauchte Jo kein neues Kleid, da sie immer noch ihre altbewährte Kluft trug. Das Kleid aus Spitze und Lack-Leder-Einsätze brauchte sie nur aufzupolieren.

Wie sie durch die Kammer streiften, fühlte sich Jo wie in einem filmreifen Abenteuer. So sehr sie aber auch diese Kammer absuchten, egal wie viele Steine sie umdrehten, Meghan war nicht auffindbar.

„Ich verstehe das nicht, sie müsste hier sein. Der Fluch hindert sie an einer Flucht aus diesem Gebilde“, Fay raufte sich die Haare. Sie waren so nah dran gewesen und jetzt konnten sie die Frau nicht retten, die ihre Hilfe mehr als verdient hätte, die sie nötig hätte.

„Deine Flucht muss auf sie zurück gefallen sein. Dieser...diese Nebelschwade hat sie mit Sicherheit verschleppt. Er ist uns echt ständig einen Schritt voraus“, jammerte Julie. Rückschläge hasste sie am meisten, besonders wenn sie so viel riskierten.

„Dann müssen wir halt tiefer rein. Es gibt mit Sicherheit noch mehr solcher Kammern.“ Rose war schon auf dem Weg zum Eingang der Vorkammer,wo Ben auf sie wartete. „Umso weiter wir uns vorwagen, desto mehr Dämonen werden wir unweigerlich bewegen“, gab Mayen zu bedenken. Damit Rose sie auch hörte, musste sie die Stimme leicht erheben. Doch sie war nicht mehr aufzuhalten.

In den Gängen hasteten die Mädchen und Ben Rose hinterher. „Ist sie immer so ungestüm und arbeitet gegen die Gruppe“, japste Fay im Schnellschritt. „Sie kann sogar noch schlimmer“, antwortete Jo atemlos. Es fiel ihnen schwer Rose im Schnellschritt zu folgen, ohne bei herum lungernden Dämonen und Schattenwesen aufzufallen.

Eine Kammer nach der Anderen stellten sie in Windeseile auf den Kopf. Die Aufmerksamkeit, die sie auf sich zogen stieg mit jedem Schritt.

„Hey, was macht ihr hier. Wenn Daiken euch hier sieht, gibt es Stress“, schrie sie ein untersetzter dunkelhäutiger Dämon an. Was ihm an Körpergröße und gutem Aussehen fehlte, machte er mit Macht wett. Er triefte nur so von magischem Potenzial. „Bleib mal locker. Wir kontrollieren bloß die...die wichtigsten Kammern. Höhere Sicherheitsstandards“, ziemlich spontan plauderte Rose irgendeinen Schwachsinn vor sich her. Sie drückte ihre Stimme etwas, um böser zu klingen als sie ohnehin schon immer klang. Sie kam nicht umhin zu bemerkten, dass ihre Gefährten die Muskeln anspannten.

Der misstrauische Typ wandte sich bereits zum Gehen. Die Muskeln der Umstehenden begannen sich zu entspannen, als sein Blick auf Fay traf. Er stoppte abrupt und die Anspannung von Mayen und Co war zurück.

„Bist du nicht... Sendra... die Hohepriesterin... die Verräterin!“ Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter und alarmierender. Bevor er jedoch Alarm schlagen konnte, steckte bereits ein Jagdmesser in seiner Brust. Sein Mund war mit einer Frauenhand verschlossen, um Hilfeschreie zu unterdrücken.

Julie hatte äußerst schnell reagiert. Das große Messer aus dem umgebauten Pistolenhalfter gezogen, überbrückte sie den Abstand zu dem Dämon, dank ihrer Hyperspeed-Fähigkeit, im Bruchteil einer Sekunde. Der Dämon zuckte ein paar Mal, bis das Feuer, das sich an der Messerwunde gebildet hatte, seinen Körper auffraß.

Angewidert stierte sie auf ihre Hand. Ihr Blick huschte durch die Höhle. Ben stand wenige Schritte von ihr entfernt. „Ich darf ja, oder?“, fragte sie ihn, als sie sich näherte und wischte, ohne eine Antwort abzuwarten, die Feuchtigkeit von ihrer Hand an seiner Armeehose ab. Danach vollführte sie vor Ekel eine Art Tanz. Ihr ganzer Körper schüttelte sich und die Gänsehaut, die sich gebildet hatte, war unübersehbar.

„Herzlichen Glückwunsch. Du hast uns soeben das Leben gerettet“, meldete sich Mayen als Erste zu Wort. „Und hast meine Klamotten versaut“, kommentierte Ben angeekelt Julies nette Geste. Als er aufblickte, sah er seine Freundin, Eve, die sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.

„Ich hoffe diese Unterbrechung hat dir deutlich genug gemacht, in was für eine Gefahr du uns hier bringst. Wir sollten verschwinden“, schimpfte Fay mit Rose. Diese rollte bloß mit den Augen: „Ist ja schon gut. Ich habe verstanden und werde euch jetzt folgen.“ Stolz über diese Einsicht nickte Fay in die Runde. Es war beschlossene Sache: Sie mussten sich in Sicherheit bringen. Wenn der Dämon die Gefangene schon aus weiser Voraussicht verlegte, so rechnete er mit einem Besuch. Die Chance aufzufliegen erhöhte sich gefährlich. Roses eigenmächtige Entscheidungen und Handlungen verschlimmerten ihre Situation ungemein und nun unverletzt wieder hinauszufinden, war nur noch reine Glückssache. Ein Dämon hatte sie bereits durchschaut. Zu viele kannten Ragens oder Fays Aussehen und wussten von den neuerlichen Ereignissen.

Sie huschten so vorsichtig, wie es ihnen möglich war zurück zum Höhleneingang. Sobald sie einem Diener der Dunkelheit begegneten nahmen sie allerdings Haltung an und bewegten sich ruhig und bedrohlich.

Ihre jungen Herzen pumpten schnell und kräftig. Als der Ausgang in Sichtweite trat spürten sie wie ihre Herzen gegen ihre Rippen schlugen. Julie war schon ganz schwindlig, so schnell raste das Blut durch ihre Adern.

Die letzten Meter erstreckten sich vor ihnen, wirkten unangenehm länger als sie es eigentlich waren. Jo trat an Julie heran, nahm ihre Hand und verschränkte ihre Finger miteinander. Sie erntete ein dankbares Lächeln.

Unbehelligt schafften sie es aus dem Dämonennest zu entkommen. Erst als sie sich mehrere Meter entfernt hatten, war ihr Bedarf nach Sicherheitsabstand gedeckt. Hinter einer Baumgruppe sanken sie erschöpft zusammen.

„Dieses Buschwerk kann ich langsam nicht mehr sehen“, stöhnte Julie auf. „Damit bist du nicht alleine“, stimmte ihr Mayen zu.

Rose zupfte derweil an der Bluse herum, an der sie partout keinen Gefallen finden konnten. „Beim nächsten Mal tauschen wir. Okay, Eve? Bitte sag ja, bitte.“

„Du siehst doch hübsch aus, wie eine kleine Piratenbraut“, witzelte Eve herum. Sie nahm Roses Flehen gar nichts ernst und erntete einen bösen Blick: „Ich will aber nicht aussehen wie eine Piratin.“ Sie sank kraftlos in sich zusammen und fuhr mit lieben großen Hundeaugen fort: „Dir und deiner Oberweite würde das viel besser stehen. Bitte...“ „Nein, ihr dürft nicht tauschen. Ich habe mir sehr viel Mühe gegeben euch diese individuellen Kampfkleidungen zu kreieren“, protestierte nun Jo. Die Jüngste unter ihnen nahm Roses Bitte mehr als nur ernst. Sie wirkte beleidigt. Als Designerin und zauberhaftes Schneiderlein hatte sie immer

noch das letzte Wort. Nachdem Ragen es sich bequem gemacht hatte, schaute

sie zu Jo hinüber: „Wie hast du das eigentlich geschafft, dass unsere Klamotten plötzlich so krass aussehen.“ Alle Augen waren auf Jo gerichtet, mehr oder weniger interessiert und amüsiert. Die Kleine legte einen Zeigefinger an die Lippen und tat so, als müsste sie scharf nachdenken, um sich daran erinnern zu können. „Also ich glaube...“, fing sie an mit spielerisch langgezogenen Silben. „Jo-Ann!“ Überrascht stießen die Mädchen beim Lachen die Luft aus ihren Lungen. Wenn die große Schwester das Wort anhob und dann auch noch den vollständigen Namen der Schwester tadelnd aussprach, nahmen sie sich normalerweise alle in Acht. Doch der aufgesetzte böse Ausdruck in ihrem Gesicht brachte die anderen zum Lachen.

Die letzten Tage, Wochen, Monate, ja sogar das letzte Jahr, wurde von Dunkelheit, Trauer und Angst überschattet. Jetzt wo sie alle beisammen waren und dem Bösen gemeinsam entgegen traten, blieb kein Platz mehr fürs Trübsalblasen.

Allein in den letzten Wochen hatte sich die Waage zum Guten geneigt. Ragen war befreit und unerwarteter Weise zählte ihre Gruppe nun nicht nur ein neues Mitglied, sondern zwei. Wieso sich Misstrauen hingeben, wenn sie nur gemeinsam eine Chance hatten?! „Im Buch der Schatten gibt es dazu eine kleine Anleitung.

Den Zauber dazu muss man selber schreiben. Je nachdem was man sich wünscht. Dann nur noch ein bisschen Feenstaub einer Glitzerfee und etwas Koboldglück, et voila tragt ihr meine Ideen.“

Es dauerte und dauerte, bis sich die Mädchen endlich wieder beruhigt hatten. Die Gefahr doch noch entdeckt zu werden war zwar groß, aber Ben und Mayen brachten es nicht übers Herz diesen freudigen Ausbruch zu unterbrechen.

Konzentriert ein- und ausatmen half Jo sich zu beruhigen, damit sie die gewünschte Erklärung abgeben konnte.

„Glitzerfee?“, hörte sie Ragen außer Atmen fragen. Auch Rose bekam diese Frage mit und verzog die Lippen zu einem Schmollmund. „Grässliche kleine Viecher...“

„Rose, das sind kleine süße weißmagische Wesen. Feen eben“, intervenierte Eve schnell, bevor Rose weiter über diese kleinen Geschöpfe herzog.

Ein tiefes Brummen ertönte aus Roses Kehle. Ihre zusammengekniffenen Augen fixierten Eve, dann nahm sie den Faden wieder auf: „Diese ach so süßen kleinen Feen verlieren immer ihren Staub. Meine Wohnung, mein Kleiderschrank, meine Klamotten, selbst meine Seife ... alles hat hinterher geglitzert.“ Die Mädchen versuchten sich, bei dem Gedanken sich diese Szenerie vorzustellen, zu beherrschen. Der Mann unter ihnen jedoch nicht. Ben hatte sich die linke Faust vor den Mund gepresst, es half jedoch nichts. Eine Lachsalve nach der anderen brach aus ihm heraus und schüttelte ihn kräftig durch. Eisern starrten die Mädchen weiter in Roses Richtung. Keine traute sich über sie zu lachen. Ihre Lippen zu kuriosen Formen verzogen. Plötzlich entspannte sich Rose und winkte ab. „Schon gut. Lacht ruhig.“ Erst dachte sie, sie würden sich immer noch nicht trauen, doch mit Erlaubnis war es für sie nur halb so lustig. Der Drang zu lachen ebbte ab. Obwohl sich die gesamte Gruppe an diesem Tag in Lebensgefahr gebracht hatte, ging es ihnen nie besser.

Auf dem Rückweg löste sich die Kraft des Feenglanzes gänzlich auf und hinterließ wieder die langweilige Alltagskleidung. Den ganzen Weg über war Fay in ihren Gedanken verloren. Jede Frage Ragens leibliche Mutter betreffend ging ins Leere. Eigentlich wurde auf keine Frage eingegangen.

Verständlicherweise grübelte Fay auch auf ihrem provisorisch hergerichteten Nachtlager im Wohnzimmer von Eve und Jo über die Ereignisse des Tages nach. Den Ort, an den Meghan hingebracht wurde, konnte sie partout nicht ausmachen.

Da kam ihr eine Idee.

Am nächsten Morgen standen die Mädchen tatsächlich zu einer humaneren Stunde auf. Rose, Eve und Ragen waren zuerst im Erdgeschoss zusammen gekommen und bemerkten Fays angespannte Haltung auf einem Stuhl am Esstisch.

„Da seit ihr ja endlich. Ich habe die halbe Nacht darauf gewartet, dass ihr wieder wach werdet und zu mir kommt.“ Die junge Frau wirkte aufgewühlt, aber sah wesentlich gesünder aus nach der Dusche am gestrigen Abend und dem bisschen Ruhe, das sie sich gegönnt hatte.

Nachdem Eve mit Tee, Kaffee und Tassen bewaffnet aus der Küche zum Esstisch geschlendert kam nahmen sie das Gespräch mit dem ehemaligen Medium auf.

„Wir können Meghan, also deine Mutter Ragen, nicht so einfach finden. Aber mit einer ganz bestimmten Hilfe, wird das kein Problem sein. Er hatte schon immer eine besondere Verbindung zu ihr. Schon damals konnte er sie überall ausmachen.“

Eve stellte das Tablett mit Kannen und Tassen auf dem Tisch ab. Es klapperte ein wenig, dennoch waren Fays Worte klar und deutlich zu hören. Leider aber nicht verständlich.

„Wer ist er, Fay?“, fragte Eve ruhig nach, als sie sich ihr gegenüber hinsetzte.

Anstelle einfach zu antworten, wandte Fay ihr Gesicht von Eve ab und ließ ihre Augen über das Gesicht von Ragen wandern. „Dein Vater. Greg.“

Vergangen

 Die schönen grauen Augen der Halbblondine weiteten sich. Unschlüssig darüber, was sie darauf entgegnen sollte, stand auch ihr Mund unnütz offen.
Dem Mädchen blieb keine Zeit zum Antworten, da sie von den Schlafmützen Jo und Julie überrascht wurde. „Also so langsam wird es eng hier. Habt ihr kein eigenes Zuhause?“, verschlafen leierte Jo ihr Scherzkommentar so einfach hinunter. Die gewünschte Wirkung blieb aus. Zu sehr waren die Älteren auf ihre wichtige Konversation versteift. Schmollend und mit säuerlichem Gesichtsausdruck ließ sich Jo bei ihnen am Tisch nieder und beschlagnahmte den gesamten Kaffee für sich. Um die Unterhaltung nicht weiter zu stören, stritten Julie und sie sich lautlos um das ungesunde koffeinhaltige Getränk.
„Also, Fay. Offensichtlich hat Ragen auch einen anderen, leiblichen Vater. Schon logisch, aber von was für einer Verbindung hast du da sprechen wollen?“, Rose nahm den Faden wieder auf.
Ragen, sowie Julie und Jo schauten zwischen den anderen fragend hin und her. Eine leise Frage von Julie, worum es in diesem Gespräch überhaupt ging, ging in Fays neuerlicher Erzählung gänzlich unter:
„Ragens Eltern sind ebenfalls beide magisch. Greg ist ein Hexer, oder war es. Tut mir leid, dafür bin ich auch verantwortlich-“ „Gibt es etwas, dass du nicht verbockt hast?“, fragte Rose mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie schenkte sich dabei gerade einen Tee ein, ohne auch nur hinzusehen. Die Miene traurig verzogen, vergrub Fay ihr Gesicht in ihren Händen. Ihr „Entschuldigung“ drang nur dumpf daraus hervor.
„Aua!“ Unterm Tisch verpasste Eve Rose einen Tritt gegen das Schienenbein. Das war nur möglich, da Rose neben Fay saß. „Echt klasse gemacht. Wenn sie schmollt, erzählt sie uns nicht was wir wissen müssen“, fügte Eve dann mit bösem Unterton hinzu. Die Übeltäterin zuckte nur unschuldig mit den Schultern und schlürfte untypisch elegant ihren Tee.
Als Jo dies bemerkte verdrehte sie beim Kopfschütteln kurz die Augen und widmete sich dann wieder ihrer eigenen Tasse.
Die Mädchen gaben Fay einen Moment Zeit sich zu sammeln.
Diese Zeit nutzten sie für ein ausgiebiges Frühstück.
Da ertönte auch schon das Quietschen der Katzenklappe und Mayen quetschte sich in ihrer ursprünglichen Katzenform ins Haus. Zwischen ihren Zähnchen hatte sie Papier geklemmt, das nach Briefumschlägen aussah.
„Du warst bei uns zuhause?“, fragte Julie die Katze, bevor Mayen überhaupt die Möglichkeit hatte sich vollständig zu verwandeln. Rose allerdings wusste erst gar nicht, was Julie meinte, obwohl ihre Frage sie einzuschließen schien.
Sobald Mayen einiger Maßen wie ein Mensch aussah, konnte sie auch Julies Frage beantworten: „Wenn ihr nur noch hier bei den Schwestern abhängt, muss sich ja irgendwer um eurer Zuhause kümmern.“ Aus ihrem Mund klang es mehr nach einem Vorwurf und wie sie genervt die vereinzelten Briefe vor ihnen auf den Tisch schmiss, war für alle Anwesenden ihre Gefühlslage klar definiert.
Angewidert hob Rose ihren Brief mit spitzen Fingern hoch. „Du hast sie angesabbert.“
„Komm mal nach Hause und dann wird das auch nicht mehr passieren.“
„Können wir jetzt weiter machen, Leute?“, fragte Jo genervt. Ihr Mund war mit einem Käsecroissant vollgestopft. Den Anwesenden fiel es schwer Jo nicht weiter beim Kauen zuzuschauen, jedoch nahm Fay endlich wieder den Faden auf.
„Ich habe Greg damals versiegelt, als er Ragens Mutter bei uns aufspürte. Männliche Hexen waren schon immer ein Problem, ziemlich schnell verfallen sie der Dunkelheit und es gibt da wirklich keine Ausnahme. Deshalb konnte ich nicht verstehen, wie deine Mutter sich das antun konnte.“
„So einen Hexer hatten wir auch eine kurze Zeit in unserem Zirkel. Julie hing so an ihm“, fügte Rose Fays Erzählung hinzu. Darauf reagierte Julie mehr als verärgert, sie zog scharf die Luft ein und setzte zu einer Verteidigung ihrer Selbst und ihres damaligen Geliebten an: „Blake war überhaupt nicht ‚so ein Hexer’. Schon vergessen wie oft er uns den Hintern aus brenzlichen Situationen gerettet hat?“
„Blake?“, fragte Fay, ohne Julie unterbrechen zu können.
„John Blake. Ein Verbündeter von uns. Er war wirklich ganz in Ordnung“, merkte Eve als Ersatz für ihre blonde Freundin an. Augenblicklich setzte sich Fay auf und ihre Muskeln waren so stark angespannt, als wollte sie gleich über den Tisch springen.
„Erzählt mir mehr“, forderte sie so streng, dass keine Widerworte geduldet waren.
„Erinnert ihr euch noch, wie wir ihn kennen gelernt haben“, begann Jo nun in der Vergangenheit zu kramen.

„Ja, ich bin gleich zuhause...Tut mir leid. Ach nein, so lange haben wir gar nicht an dem Projekt gesessen. Wir haben uns bloß danach verquatscht...Klar mache ich. Bis gleich.“
Jo war gerade auf dem Heimweg von einer Projektarbeit für die Schule. Am Telefon durfte sie mal wieder ihrer Schwester Eve Rechenschaft ablegen, wo sie so spät nachts noch war.
Problemlos konnte Jo ihr versichern, schnell nach Hause zu kommen. Nur, dass die Jüngere die Rechnung nicht mit den Trollen gemacht hatte, die sich in dieser Nacht in den Straßen herum trieben.
Deren Ziel war klar. Sie wollten den Kopf der Hexe.
Schnell verschmolzen sie mit den Schatten und griffen an. Doch sie waren keine Wesen, die direkt töteten. Diese Wesen spielten mit ihren Opfern: Sie rissen der jungen Hexe ihre Handtasche weg; Traten ihr gegen die Schienbeine, dass sie auf dem Asphalt landete und zerrten an ihren Haaren. Schlussendlich warfen sie Jo vom Bordstein. Ihr Kopf lag gefährlich nah vor einem heran rasenden Auto.
Panik stieg in ihr auf. Immer wenn sie sich aufzurappeln versuchte, stießen sie Jo zurück. Jo konnte sich nicht gegen etwas wehren, das sich in der Dunkelheit verbarg und sich alleine retten schon gar nicht.
Im letzten Moment jedoch zog sie etwas an ihren Knöcheln ruckartig zurück. Ihr entfuhr ein erschreckter quietschender Aufschrei. Aber sie war in Sicherheit und mehr interessierte Jo in diesem Moment nicht. Bis ihr magischer Selbsterhaltungstrieb sich meldete.
Ruckartig drehte sie sich zu ihrem Retter um. Es war ein ganz normaler junger Mann, glaubte sie zumindest. Er schnappte sich ihr Handy und erzeugte damit ein kleines Energiefeld. Dies schleuderte er samt Handy zielsicher in die Dunkelheit hinein und traf etwas. Entsetzlich kreischende Schreie waren zu hören. Jo glaubte daraufhin sogar zwei hässlich verkrüppelte laufende Meter fliehen zu sehen.
Der Schwarzhaarige war ein so normaler junger Mann, wie Ben einer war. Ob sie sich über diese magische Rettung freuen sollte, darauf wollte sie zu diesem Zeitpunkt nicht spekulieren.
„Hi, ich bin Blake. John Blake“, der junge Magier hatte eine angenehm dunkle Stimme, der Jo tagelang lauschen konnte. „Tut mir leid, das mit deinem Handy“, fuhr Blake dann fort und hielt ihr seine helfende Hand hin. Dankend nahm sie seine nette Geste an und ließ sich auf die Beine ziehen.
Da Jo selbst nicht ihre Tasche gesucht hatte, kümmerte Blake sich darum und gab sie ihr zurück. Sein Ausdruck im Gesicht konnte sie zuerst nicht einordnen und starrte ihn deshalb bloß weiterhin an. „Möchtest du mir sagen, wie du heißt?“, fragte er, als er bemerkte, dass Jo nicht wusste was er von ihr wollte.
Aus ihrem Mund wollten bloß keine Worte herauskommen. Ihr war die Situation so peinlich, ihr Gesicht errötete merklich.
„Du bist eine Hexe, richtig? Normale Menschen überfallen diese Biester normaler Weise nicht auf offener Straße“, schlussfolgerte er, um das Gespräch weiter anzukurbeln.
Jo druckste erst unverständlich vor sich her, bis ihr endlich wenige Worte über die Lippen kamen: „Ich bin Jo und meine große Schwester bringt mich um, wenn sie hiervon erfährt.“ Blake dachte sie würde scherzen. Ein herzliches Lachen erschallte, was Jos große schreckgeweitete Augen schnell wieder unterbanden.
„Oh, das war kein Scherz.“

„Es war sehr nett von ihm Jo zu helfen. Er hat sie sogar nach Hause-“, Eve lenkte ein, dass Blake zu Beginn keinen Anlass gegeben hatte ihm misstrauisch gegenüber zu treten.
„Trotzdem habt ihr ihn mit bösen Blicken gestraft und ihm nie eurer vollstes Vertrauen geschenkt.“ Julie war sichtlich gekränkt zu hören, wie einfach es gewesen wäre ihn in die Gruppe zu integrieren...hätten die anderen es zugelassen.
„Er besaß Fähigkeiten, die wir nur von Dämonen kannten. Ich musste ihm Misstrauen entgegen bringen. Es war zu eurem Schutz. Oder was hättet ihr getan, wenn er nur unser Vertrauen erschleichen wollte“, die Mädchen erlebten selten, dass Eve so emotional reagierte. Sie hofften nur, dass nicht gleich eine von Ihnen anfangen würde in Tränen auszubrechen.
(*OB*Blakes Tod vor der Rückblende nicht so offenkundig erwähnen*OB*)„Darf ich erfahren, warum ihr wegen eines Hexers streitet?“, Fay war immer noch angespannt. Sie hatte kein Verständnis für das was da vor sich ging und erst recht nicht, wie Julie verzweifelt einen Hexer verteidigen konnte.
„Zwischen Julie und Blake herrschte eine süße kleine Romanze, die leider tragisch endete. Er ist für sie hops gegangen.“
„JO!“ Jos Art Julies schlimmstes Erlebnis salopp zu beschreiben, ging allen gewaltig gegen den Strich. Wie gewohnt riefen sie bloß den Namen derjenigen aus, auf den sie böse waren und jede wusste bescheid.
„Also ich meinte, er hat sich für sie geopfert... Zufrieden?“, meckerte die Jüngste nach ihrer Zurechtweisung.
„Ihr wollt mir erzählen, dass ein Hexer...eins der neutralen magischen Wesen, das eigentlich ausnahmslos der Dunkelheit verfällt...für euch gekämpft hat und sogar für euch gestorben ist?“ Das Blut wich der früheren Erdhexe in Windeseile aus dem Gesicht. „Das ist einfach nicht wahr.“
„Es ist meine Schuld. Ich hatte nicht auf die anderen hören wollen. Nur meinetwegen ist er tot“, erinnerte sich Julie traurig.

Auf den Straßen brach das Chaos aus. Der Menschenauflauf vor Julies Zuhause war enorm, zerstreute sich jedoch zum Glück in alle Richtungen als das erste Energiegeschoss durch das Erdgeschossfenster auf die Straße schoss.
Katie Barret, Julies beste Freundin, zeigte sich als das größte Sicherheitsleck, dass sie bisher hatten. Die Mädchen durften am eigenen Leib erfahren wie es den Frauen damals während der Hexenprozesse erging.
„Wo bleibt Ben mit geheimen Ritual?!“, schrie Jo über den Krach hinweg, den Dämonen und Menschen verursachten.
Die Mädchen hatten keinen Ausweg mehr. Vor dem Haus lauerten tollwütige Menschen. Ihnen fehlten nur noch Spitzhacken, Mistgabeln und Fackeln, um ihr Bild als wütender Mob zu unterstreichen.
Zu allem Übel empfanden ein paar hohlköpfige Dämonen es für sinnig genau zu diesem echt unpassenden Moment einen Angriff auf die Hexen zu starten. Draußen, sowie drinnen war die Hölle los.
„Die Alten geben solch ein gefährliches Ritual nicht so einfach heraus. Mit der Zeit spielt man nicht“, brüllte Eve zurück. Die Mädchen kauerten hinter dem Sitzarrangement im Wohnzimmer und kämpften tapfer gegen ihre Angreifer. Nachdem sie geantwortet hatte sprang sie kurz auf, schleuderte einen Dämonen gegen die Wand und duckte sich unter einem Blitzschuss eines anderen Dämons hinweg.
„Ich schwöre dir, wenn wir das alle heil überstehen, dann bringe ich Julie um“, motze Jo, die immer wieder einen Dämon tief fror. Die Wirkung hielt nur leider nie lange genug an, um ihrer Schwester ausreichend Rückendeckung zu geben.
„Sie hat doch nichts falsch gemacht“, begann Eve.
„Ach und einer Plappertasche zu verraten, dass wir Hexen sind?! Das war nicht falsch?! Schau dir doch mal unsere Lage an!“, Rose war plötzlich im Wohnzimmer aufgetaucht. Ihr Deflektionsschild bot ihr den nötigen Schutz.
„Was machst du denn hier unten?“ Es war keine Zeit zu streiten, so konzentrierte sich Eve auf das Wesentliche. „Solltest du nicht die Plappertasche und unseren Angsthasen beschützen?“
„Nicht mehr nötig. Das übernimmt jetzt Blake.“
Die Schwestern schauten Rose kurz verwirrt an. Auch wenn die Beziehungen zu diesem Hexer verwirrende Ausmaße annahmen und keiner mehr genau wusste, ob er nun Freund, Feind oder sonst was war, mussten sie sich mal wieder mit seiner Hilfe begnügen.
„Wo bleibt eigentlich Ben?“, fragte nun auch Rose. Die Älteste stöhnte bloß auf. „Es bringt nichts, wenn Ben hier mit der Schriftrolle auftaucht, bevor wir nicht diese Viecher hier loswerden.“

„Julie... Das hat doch keinen Sinn“, redete Blake auf seine Freundin ein. „Und ob es das hat. Ich wollte nie eine Hexe sein. Die Menschen hassen uns für das was ich bin und ich hasse mich selbst am Meisten. Wir hauen hier ab.“ Die blonde junge Frau stopfte ihre Sachen in mehrere Taschen. „Und was ist mit mir?“, fragte ihre beste Freundin ängstlich. „Keine Sorge, wir gehen gemeinsam weg.“
„Werde doch vernünftig. Du kannst deine beste Freundin doch nicht aus ihrer Familie reißen und was ist mit den Anderen“, flehte der junge Mann nun.
„Die kommen ohne mich gut zurecht. Ich war nie eine Hilfe, sie werden es gar nicht merken.“
„Eure Macht gehört zusammen. Rate mal wieso die früheren Elementhexen so früh gestorben sind: Weil sie alleine waren. Ihr habt unheimliches Glück alle Elemente beisammen zu haben.“
„Glück?! Das nennst du Glück?! Schau dich doch mal um. Eine von uns ist doch schon der Dunkelheit verfallen. Ich wünschte ich wäre damals nicht in diesen Wald gegangen“, verzweifelt sackte sie auf ihrem Bett zusammen. Von hinten robbte Katie auf sie zu und kuschelte sich an sie.
„Wir schaffen das schon“, nuschelte sie Julie in den Rücken.

„Glaubst du wir kommen an denen unbeschadet vorbei?“, fragte Katie, die mit großen Augen vorsichtig über die Treppenlehne glubschte. „Mit Roses Schutzschild wäre das wesentlich einfacher“, dachte Julie laut. „Die würde dich aber auch nicht weglaufen lassen“, wurde sie von Blake gepiesakt.
Sie ignorierte ihn einfach und stupste Katie an: „Halte dich gut fest. Mit meiner Fähigkeit sind wir hier schnell draußen.“
Gesagt, versucht, versagt.
Julie bedachte die Tatsache nicht, dass in regelmäßigen Abständen neue Kreaturen der Schatten in ihrem Haus auftauchten. Dank ihrem Hyperspeed krachten sie und Katie mit voller Wucht in einen bulligen großen Typen. Benommen lagen die drei auf dem Laminat im Flur.
Der Dämon war schneller wieder auf den Beinen. Er richtete sich auf und brüllte seine Wut hinaus. Bevor er jedoch die Mädchen angreifen konnte hechtete Blake übers Geländer und landete mit vollem Köpereinsatz auf der menschenähnlichen Kreatur. Nach seiner Landung bemerkte er, dass die Haut des Wesens ein Sekret absonderte, das sich durch seine Kleidung fraß.
„Los zurück! Ihr dürft sie nicht berühren. Die haben Ähnlichkeit mit giftigen Kröten!“
„WAS!“, tönte es hinter der Couchreihe hervor. Die anderen hatten seine Warnung ebenfalls gehört.
Blake trieb Julie und Katie zurück auf die Treppe und versperrte möglichen Angreifern den Weg. „Das kann doch nicht wahr sein. Wie sollen wir denn so verschwinden.“ Julie raufte sich verzweifelt die Haare. So gerne würde sie all das hinter sich lassen. So gerne wollte sie flüchten. Das Ganze entwickelte sich für sie zu einem Alptraum.
„Julie...Julie“, panisch rüttelte Katie an ihr herum. „Was?!“, fragte sie genervt und drehte sich dabei zu ihr um. Da sah sie, was Katie sah: Am oberen Treppenabsatz wurde ein besonders hässliches Exemplar mit schmierig grünlicher Haut von zwei muskulösen laufenden Metern flankiert. Auch in Julie stieg Angst auf. Dies verschlimmerte sich noch, als sie keine geeignete Waffe fand.
„Julie, fang!“, hörte sie aus dem Wohnzimmer Eve rufen, welches direkt am Flur gegenüber der Treppe lag. Ein großer Regenschirm, mit spitzer Spitze, flog dank Eves Zauberkräften auf sie zu. Die provisorische Waffe griff Julie sich aus der Luft. Dagegen ging Katie hinter ihr in Deckung.
Von beiden Seiten bekam Katie nun Schutz. Das normale Mädchen war einem Heulkrampf nahe und es wurde mit jeder Sekunde nur schlimmer.
Die schleimigen Dämonen traten näher, schlugen auf die Beiden ein und spukten sogar dieses Sekret in ihre Richtung. So gut sie konnte wehrte Julie die Angriffe mit dem Schirm ab. Dank ihrer schnellen Bewegungen verschwamm das Bild zu einer undefinierbaren Masse, was die Kreaturen mit jedem weiteren fehlgeschlagenen Angriff provozierte.

Wie viel Zeit verging konnte keiner von ihnen einschätzen. Bens Auftauchen drehte das Blatt endlich zu ihren Gunsten. Nicht nur die Schriftrolle brachte er mit, sondern trug zusätzlich ein Schwert und mehrere Athame mit sich. Er schlug sich seinen Weg durch die Masse an Dämonen, tötete drei und warf den Mädchen die Waffen zu.
Rose kam hinter der Couch hervor, stützte sich auf der Lehne ab und fing das Schwert, welches sie mit fließender Bewegung aus der Scheide zog und im Körper eines Dämons versank. Das Schwert gab zischende Laute von sich. Die Feuerhexe musste feststellen, dass wirklich alles an diesen Dämonen ätzend war. Schnellen Schrittes tänzelte sie um die Kreatur herum, nachdem sie es aus seinem Körper befreite und schlug ihm den Kopf ab.
Die vier Athamen hingen weiter in der Luft. Vier Dämonen waren tot, blieben fünf von ihnen und diese musterten die schwebenden Ritualdolche neugierig. Die Ablenkung nutzte Eve und bewegte die Messer auf die Monster zu. Sie traf einen der Kleineren auf der Treppe direkt ins rechte Auge. Seinem kleinen Kollegen blieb eine Athame wortwörtlich im Halse stecken.
Auch die übrig gebliebenen Herrschaften im Wohnzimmer blieben nicht verschont. Mit tödlicher Präzision zerschnitt Eve den Dämonen viele lebenswichtige Adern.
Katie, Julie und Jo verschlossen vor dem blutrünstigen Anblick die Augen. Die Freundinnen verkrochen sich in den Armen der anderen.
„Passt auf! JUL-!“
Blakes Schrei nach seiner Freundin ging in ein schmerzerfülltes Röcheln über. Schockiert standen Rose, Eve, Jo und Ben in mitten des Wohnzimmers und verfolgten das Geschehen schockiert. Keiner konnte sich rühren oder auch nur einen Ton von sich geben.
Als Julie sich traute aufzuschauen traf sie der Schlag. Sie fühlte sich wie taub. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, ihre Sicht verschwamm und sie gab entsetzte stöhnende Geräusche von sich. Bis ihr Schrei alle aus ihrer Trance riss.
„NEIN!“
Katie stützte sich an der Wand ab, um ihre beste Freundin aufzufangen, deren Beine sie nicht mehr tragen wollten.
Die anderen stürzten sich auf das übrig gebliebene hässliche Exemplar. Dessen klauenbesetzte Prange steckte noch im Rumpf des jungen Magiers Blake. Gewaltsam riss er seine Klauen aus dem noch zitternden Körper heraus. Ohne den Halt seines starken Armes sank Blake in sich zusammen und rutschte die letzten 5 Stufen hinunter.
Unbeholfen entriss sich Julie den Armen ihrer Freundin und fiel zu ihrem Freund auf den Boden. Sein Körper hörte nicht auf qualvoll zu zucken. Tränen wie Sturzbäche flossen ihr über die Wangen. „Bitte halte durch. Es tut mir so leid“, beruhigend legte sie ihre Hand auf seine Brust. Aber sie hielt die Position nicht lange durch, da ihre Hand fürchterlich zu brennen begann. Zitternd hob sie die Hand vor ihr Gesicht. Sie hatte große Angst davor, was sie sehen könnte.
Ihre Hand war voller Blut und im ersten Moment fing sie zu japsen an. Bei genauerer Betrachtung sah sie ihre Haut Blasen werfen.
Aus kurzer Distanz konnte Ben ebenfalls diese Blasen sehen, befeuchtete schnell ein sauberes Geschirrtuch und drückte es auf die verletzten Stellen.
Julie war so sehr mit der klaffenden Wunde in der Brust ihres verletzten Freundes und ihrer schmerzenden Hand beschäftigt, dass sie gar nicht bemerkte, wie die Mädchen den letzten Dämon töteten, Katie im Wohnzimmer auf die zerfetzte Couch postierten und zu ihr und Blake traten. Nicht einmal Ben registrierte sie. Ihre Augen waren leer, ihr Blick getrübt.
„Vielleicht können wir ihn retten. Wir brauchen etwas, dass die Blutung stoppt“, sagte Eve aufgeregt zu den anderen. Diese konzentrierten sich auf ihre traumatisierte Freundin. „Na los! Holt mir ein Handtuch oder so!“
„Das hat keinen Sinn“, röchelte Blake jedoch mit seiner kraftlosen Stimme. Erst versuchte er eine Hand zu heben, um seine Wunde zu zeigen, doch Blake hatte keine Kontrolle mehr über seinen Körper. Er fühlte sich wie gelähmt. Seine Glieder waren tonnenschwer. Doch Eve wusste, was er ihnen zeigen wollte und legte die Wunde frei.
Auch seine Haut warf Blasen. Selbst Eve kämpfte nun mit den Tränen. „Verdammt“, presste sie durch die zusammen gebissenen Zähne hervor.
Obwohl Julie hätte wissen müssen, dass sie seine Haut rund um die Wunde nicht berühren sollte, um weitere Verätzungen zu vermeiden, tat sie es trotzdem wieder und wieder.
„Julie hör auf. Lass mich.“
Rose packte sich ihr Handgelenk und zog es von seinem Körper weg. Sie handelte in Blakes Willen. „Ich will dir helfen. Lass mich dir helfen, bitte“, flehte Julie unter Tränen. Sie entriss sich nun auch Roses Griff und beugte sich über ihren Geliebten. „Es wird alles wieder gut. Wir kriegen das hin“, flüsterte sie ihm mit piepsiger Stimme zu. Schwerfällig schüttelte er bloß den Kopf. „Nein kleine Maus. Mir kann keiner mehr helfen. Ihr ätzendes Sekret breitet sich unaufhörlich in meinem Körper aus“, erklärte er seiner verzweifelten Freundin äußerst liebevoll. Auch in seinen Augen glänzten Tränen. Er wollte seine Liebste nicht allein zurück lassen.
„Bitte rede nicht so. Du darfst mich nicht verlassen. Das ertrag ich nicht...bitte.“
„Hör auf...bit-“, ein Blutschwall quoll aus seinem Mund. Schnell drehte er seinen Kopf weg. Wehmütig und mit flehendem Blick schaute er zu Eve. Die Älteste strich sich die Haare aus dem Gesicht, kletterte über den sterbenden Verbündeten und zog Julie in ihre Arme.
„Nein...bitte...Blake...nein“, flehte sie Eve an, sie aus der Umarmung gehen zu lassen. Egal wie verzweifelt Julie sich wehrte, Eve ließ dennoch nicht von ihr ab. Tröstend drückte sie das Mädchen an ihre Brust.
„Es tut mir so leid“, flüsterte sie in ihr Haar.

Ein paar letzte Zuckungen erschütterten seinen Körper und dann war Stille. Seine schmerzerfüllten Geräusche erstarben und Julie konnte weder seinen Atem, noch sein schlagendes Herz hören. Sie fühlte seine Anwesenheit nicht mehr. Ihr war, als wäre ein Teil von ihr mit ihm gestorben. Verzweifelt und schluchzend drückte sie sich an Eve. Sie war einem Nervenzusammenbruch nahe, was auch Jo und Katie quälte. Ruhig erhob sich Ben und führte Rose und Jo zu Katie ins Wohnzimmer. Das Paar tauschte noch einen letzten Blick aus, bevor Ben die Tür zum Wohnzimmer schloss.
Eve und Julie blieben mit der Leiche im dunklen Flur zurück. Das Haus war von Trauer erfüllt. Es war von Julies tränenerstickten Schreien erfüllt.

Ragen saß am Esstisch mit Tränen in den Augen. Diese Geschichte erschütterte sie und Fay zutiefst. Es wurde ruhig im Haus der Schwestern. Die Mädchen schauten betreten auf ihre Hände. Man sah ihnen an, dass es schwer für sie war dieses Erlebnis zu verarbeiten.
Die junge Erdhexe konnte sich nicht ausmalen, wie viel Leid ihre Freundinnen in so kurzer Zeit bereits erleiden mussten und fühlte wieder diese Schuld, die sie zu erdrücken schien.
„Das ist jetzt 4 Monate her“, erklärte Julie stockend. Daran erinnert zu werden, nahm sie sichtlich mit.
„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Es tut mir leid, dass es dazu kommen konnte“, begann Fay, die sich ebenfalls Tränen aus den Augenwinkeln wischte. Dann fuhr sie stolz fort: „Aber du hast seine Seele mit deiner Liebe gerettet. Deine Liebe hat ihn vor dem Fluch bewahrt.“

Ursache und Wirkung

 „Es gibt einen Grund warum ich nach meiner Mutter den Status der Erdhexe annehmen musste“, erklärte sie betreten.
Die Mädchen hatten sich auf die Schnelle einen Trabbi geliehen. In kürzester Zeit hatten sie ein paar Klamotten zusammengesucht. Dafür mussten sie Roses und Julies Zuhause vorher noch abklappern. Gegen Nachmittag hatten sie so weit alles beisammen und es wurde nur noch sämtliches Campingzubehör in den Wagen geworfen. Nachbarn dachten sie wären überstürzt zu einem Campingausflug aufgebrochen.
Fay hatte zuvor auf einer Landkarte den Ort markiert, wo Ragens Vater auf seine Befreiung wartete. Sie konnte sich noch genau erinnern, an welcher Stelle im Nationalpark sie ihn versteckt hatte. Die Gruppe durfte sich also auf eine mehrtägige Reise gefasst machen. Jo, Julie und Ragen taten die ganze Zeit so, als würden sie auf Klassenfahrt fahren und trieben dabei Mayen beinahe in den Wahnsinn. Es war nicht leicht die Gruppe ruhig zu stellen und zum Zuhören zu bewegen, obwohl Fay endlich über den vorher erwähnten Fluch sprechen wollte. Ihr Fahrer, Ben, beobachtete die illustre Runde des Öfteren amüsiert durch den Rückspiegel. Schaute er allerdings mal zu lange in den Innenraum des Wagens und nicht auf die Straße, kassierte er einen Tritt in die Rückenlehne von seiner Freundin. Versuchte er mit seiner freien rechten Hand ihr Bein zu berühren, zuckte sie jedoch zurück.
Diese Reaktion blieb Fay nicht unbemerkt. Kurz huschte ein trauriger und schuldbewusster Ausdruck über ihr Gesicht. Schnell war dieser wieder verflogen und sie konzentrierte sich darauf, ihre Familienverhältnisse aufzuklären:
„Meine Mutter ist die auserwählte Erdhexe gewesen. Ihr habt bestimmt schon mitbekommen, dass vor eurer Zeit immer eine Elementhexe auf Erden wandelte. Nach dem Tod wurde eine neue gewählt...Meine Mutter allerdings, verlor ihre Kräfte noch während ihrer Lebzeiten. Da hat man mir die Gabe übertragen. Das war kein Zuckerschlecken, das dürft ihr mir glauben.“ „So etwas geht wirklich“, meldete sich Ragen neugierig zu Wort. Sie rutschte auf ihrem Sitz etwas nach vorne, um näher an ihrer Vorgängerin zu sitzen. Selbst Rose nahm in der letzten Reihe die Kopfhörer herunter und begann der Erzählung zu lauschen.
Aufgeregt darüber Neues aus der magischen Welt kennen zu lernen, nestelte Jo an ihrem Bauernzopf herum, an dem sie fast eine Stunde vor der Fahrt herumgeknotet hatte. Um das fein säuberlich geflochtene Gebilde nicht zerstören zu lassen, reichte Mayen der Jüngste die Stricknadeln und Wolle. Ragen, Fay und Co waren über dieses Hobby von Jo äußerst verwundert. Das kleine Zappelkind war beschäftigt und sie konnten sich wieder Fays Erzählungen widmen.
„Naja, man vermeidet so etwas natürlich. Aber meine Mutter hat einfach nicht im Sinne der Alten vom Hohen Rat gehandelt. Sie hat ohne über die Konsequenzen nachzudenken Verwünschungen und Flüche ausgesprochen. Irgendwann hatte man keine andere Wahl und musste sie aufhalten. So kam ich an den Posten. Sie hat mich dafür gehasst“, antwortete Fay an Ragen gewandt. Allerdings schmerzte sie der längere Blick nach hinten im Nacken und so wandte sie sich wieder nach vorne. „Man hat sie für ihren Fluch bestraft, habe ich Recht?“ Julie interessierte sich besonders für diesen Fluch, der auch mit John Blake in Verbindung zu stehen schien. Die Gefragte nickte zur Bestätigung. Sie schloss die Augen, um sich besser an ihre über 100 Jahre zurück liegende Kindheit zu erinnern. Mit ihrer Erzählung führte Fay die Mädchen auf eine Reise in ihre Vergangenheit. An den Ort, wo alles begann.

Eine stattliche Hütte, gemacht aus Holz und Stein, thronte auf einem kleinen sonnenbeschienen Hügel. Es bot genügend Platz für eine kleine Familie. Hinter einem der ungewöhnlich sauberen Fenster lugte das rundliche Gesicht eines kleinen Mädchens hervor. Sie beobachtete gerne ihre Mutter, wie sie die Felder rund um ihr Zuhause bestellte und sich liebevoll um die Kräuter, Früchte und das Gemüse kümmerte.
Lieber wäre das Kind draußen bei ihr und die Sonne auf ihrer Haut genießen können, doch ihre Mutter verbot es an Tagen wie diesen.
Es war Markt im Dorf. Das reichhaltige Angebot, dass die Bauern mit ihrem Vieh und der Ernte boten, sowie die Produkte der Bäcker, Schmieden und ähnlichen Produzenten, zogen eine Menge Handelsleute an. Ihre Route führte diese Wanderer auch an der Hütte der Mutter vorbei.
Ein paar wenige wussten um der Wirkung ihrer Kräuter und der Tees und Salben, die sie daraus herzustellen wusste und kauften heimlich bei ihr ein. Heimlich, weil Frauen wie sie als Hexen verschrien waren und gemieden wurden. Es hielt sie trotz jeder Hetzerei und Gerede nicht davon ab ihre Hilfe zu suchen.
Ihr kleines Mädchen jedoch sollten sie in Frieden lassen und so versteckte die Mutter sie an diesen Tagen. Eines Tages würde die kleine Fay ihre Beweggründe verstehen lernen.

„Fay, Schatz, möchtest du mir bei der Ernte helfen. Ein paar unserer Kräuter sind so weit“, rief die Mutter in die Dachstube hinein. Dort wo ihr kleines Mädchen sich vermutlich gerade das schöne mahagonibraune Haar bürstete, so wie sie es ihr beigebracht hatte.
„Ist der Markt vorbei?“, fragte sie freudig. Fays rundliches Gesicht erschien an der Leiter. Sehr viel Vorfreude lag in ihren großen Augen. Sie leuchteten förmlich. Die Marktwoche war wirklich schon vorbei.
Schnell kletterte sie hinunter und folgte ihrer Mutter hinaus ins Freie. Voller Inbrunst begrüßte sie die Sonne und die frische Brise, die durch ihr offenes Haar wehte. Dennoch musste sie feststellen, dass der Windzug kühler geworden war und die Baumreihen, die sich hinter ihrem Hügel erstreckten ihr grün langsam verloren.
Sie hatte tatsächlich die letzten Sommertage verpasst.
„Sei nicht traurig meine kleine Fee. Die Sonne ist ja noch nicht ganz fort.“ Gemeinsam hegten sie das reifende Gemüse und ernteten die Kräuter ab. Fay wusste bereits vieles über die Gegebenheiten und Kräfte der Kräuter, aber noch nie hatte sie bei der späteren Verarbeitung helfen dürfen. Auch heute hoffte sie inständig darauf, dass es endlich soweit war. Immerhin war sie schon Zehn.
Zusammen war die Kräuterernte leicht zu bewältigen gewesen und nicht ganz so schweißtreibend, als hätten sie Gemüse von den Feldern geholt. „Dann lass uns die Kräuter mal zum Trocknen aufhängen. Du willst mir doch bestimmt dabei helfen.“ Die Mutter brauchte gar nicht mehr zu fragen, so selbstverständlich war Fays Interesse an ihrer Arbeit. „Aber im Vorratsraum ist gar kein Platz mehr Mutter. Und hast du nicht mal gesagt manche Kräuter benutzt man frisch?“, fragte sie grübelnd nach, während sie hinter ihrer Mutter herdackelte. Zurück in die Hütte.
In der Küche stellte diese den Weidekorb mit den Schalen voller Kräuter ab und antwortete ihrer Tochter: „Die frischen Kräuter hole ich doch nur dann vom Feld wenn ich sie brauche.“ Ein Lächeln durchzog ihr Gesicht. „Zuerst machen wir diese Kräuter hier zum Trocknen fertig und dann verarbeiten wir die Trockenen aus der Vorratskammer. Denn dann haben wir wieder Platz.“ Fay verstand und band mit ihr zusammen die Kräuter zu Bündeln.
Das getrocknete Anis, ein Heilkraut gegen schmerzende Gelenke, durfte sie sogar in eine vorbereitete Salbenbasis einrühren. Dies war der Anfang ihrer Ausbildung zu einer weißen praktizierenden Hexe.

Es vergingen weitere 5 Jahre, in der Fay mehr über die Aufgaben einer Elementhexe erfuhr. Sie beneidete ihre Mutter für diese ehrenvolle Gabe und wünschte sich nicht nur einmal am Tag ebenfalls so tolle Fähigkeiten zu haben.
Die Gabe ihrer Familie stärkte auch Fays Selbstbewusstsein. Ihr Erbe machte sie stolz und ließ das üble Gerede der Waschweiber an ihr abperlen. Sollten die Dorfbewohner doch ein Problem damit haben, dass in ihrem Haushalt kein Mann lebte; Fay keinen Vater hatte. Ihr Frauenhaushalt hatte nur eine Regel: Wenn du einen Mann lieben musst, dann einen Magischen.
Courtney, ihre Mutter und mit den schönsten schmutzig blonden Haaren, die Fay je gesehen hatte, hatte einen Fehler in ihrem Leben begangen. Einen Fehler, den sie nicht schaffte zu bereuen, da er ihr Fay beschert hatte. Denn Courtney liebte einen Menschen. Ein Mann, der Angesichts der Wahrheit feige die Flucht ergriff.
Aus diesem Grund hatte sich ihre Tochter geschworen sich niemals zu verlieben. Kein Junge, kein Mann sollte sie jemals verletzen können. Als junges Mädchen war so ein Entschluss leicht gesagt, jedoch sollte gerade ein junger Mann diese Entscheidung ins Wanken bringen.
Sie erblickte genau diesen Jungen am Rande des Waldes. Er lungerte in der Nähe ihrer Felder und war ihren wachsamen Augen hilflos ausgeliefert. Die Sonne versuchte vergeblich sein Antlitz einzufangen und so konnte Fay nicht sagen, ob sein Haar ein dunkles braun oder doch rabenschwarz war. Dass es länger war und von ihm im Nacken zu einem winzigen Zopf gebunden worden war konnte sie allemal sehen.
Der Junge sammelte gerade Pilze und Nüsse vom Waldboden auf. Sein Haar war ganz durcheinander und die kürzeren Strähnen ließen sich nicht in dem Zopf gefangen halten. Diese hingen ihm ins Gesicht und umschmeichelten seine markanten Züge. Als er sich eine Strähne zurück strich, erblickte er im Augenwinkel eine Gestalt, die ihn beobachtete. Der junge Mann wandte sich dem hübschen Geschöpf zu. Seine Sinne trübten ihn nicht. Oben auf dem Hügel saß ein Mädchen auf einer Bank und beobachtete ihn. Erst lächelte er ihr nur zu, doch sie reagierte nicht, da winkte er.
Anders als erwartet freute sich das junge Ding darüber nicht. Sie flüchtete in ihre Hütte.

Oft kam er nun zum Hügelhang; nur um einen kurzen Blick auf das Mädchen zu erhaschen. Seine Hartnäckigkeit zahlte sich aus, denn Fays Interesse war geweckt. Ihre Neugier drang sie, sich mit ihm zu treffen. Er war witzig, abenteuerlustig und voller Idealen.
Seine Ansprachen rissen sie mit, Fay konnte sich schon innerhalb kürzester Zeit gar nicht mehr vorstellen, ihre Zeit, mit jemand anderes zu verbringen. Ihr Glück schien perfekt.
Bis das erste Streitthema sich anschlich und überrumpelte.
„Ich habe gehört, dass deine Mutter angefangen hat echte Verwünschungen und Flüche auszusprechen.“ Der Junge wartete mit seinem Überfall, bis sie tief genug in den Wäldern waren, damit Courtney sie nicht belauschen konnte. Einer Erdhexe war vieles möglich und davor hatte er zugegebener Maßen etwas Angst. „Sie kommt den Frauen aus dem Dorf nicht sonderlich gut zurecht“, gab Fay betreten zu. „Sie haben immer schlecht von ihr geredet. Das hat ihr nie wirklich was ausgemacht ...“ „Aber jetzt gehen die Hetztiraden gegen dich“, beendete ihr Schwarm ihren Satz. Traurig nickte Fay zur Bestätigung. Das junge Mädchen konnte nicht verbergen, wie sehr sie die üble Nachrede mitnahm.
(*OB*Situation besser aufschlüsseln.*OB*)Er nahm sie kurz in seinen Arm, griff sie dann an ihren Oberarmen und schaute sie mit ernstem Blick an: „Das ist aber keine Entschuldigung für ihre Vergehen. Unsere magische Gemeinschaft hat Regeln. Wenn das so weiter geht bekommt sie mächtig Ärger. Auch du wirst die Konsequenzen mittragen dürfen. Ich möchte das nicht mit ansehen.“
„Du bist auch magisch? Also ich meine aus einer Ahnenreihe praktizierender Hexen?“ Während er auf sie eingeredet hatte wurden ihre Augen immer größer. Ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren. Jedoch ging es dabei nicht darum über die Vergehen ihrer Mutter nachzudenken, sondern über seine Herkunft und wie froh sie war, dass er war wie sie.
Glücklich schmiss sie sich an seinen Hals, als er ihre Frage mit einem Ja beantwortete.

„Gabriel! Gabriel, wo bist du?!“ Fay wartete bereits eine ganze Weile an ihrem üblichen Treffpunkt. Ganz in der Nähe des Hügelhanges fand sich zwischen Geäst, Büschen und hochgewachsenen Bäumen eine kleine Lichtung. Dort stampfte sie von einer Baumreihe zur Nächsten. Gabriel hatte sie noch nie warten lassen. Oft wartete er sogar auf sie. Er hatte ihr vor Wochen, vielleicht schon vor Monaten, das Gefühl gegeben sie mehr als nur zu mögen. Fay konnte sich gar nicht mehr so richtig daran erinnern wann es angefangen hatte
Nachdem sie einen halben Tag auf ihn gewartet hatte, schritt sie enttäuscht von dannen. Ihr Selbstbewusstsein war nicht das Größte und nun fragte sie sich, ob Gabriel sie wirklich mochte.
Am Waldrand erblickte sie eine Gestalt. Eine Silhouette, die sich in den letzten Wochen in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. „Gabriel? Was machst du hier?“
Erschrocken drehte sich der junge Mann um. Seine Angebetete hatte sich zwar nicht angeschlichen, doch war er während seiner Beobachtung in Gedanken gewesen. Vorsichtig hob Gabriel den linken Zeigefinger an seinen Mund und bedeutete ihr so leise zu sein.
Auf Samtpfötchen näherte sie sich ihm und spähte dann in die Richtung, in der er bereits zuvor gesehen hatte. Gabriel hatte ihr Zuhause beobachtet. Zu aller Erst war sie erzürnt und verstand nicht. Sie war sogar im Begriff ihrem Freund eine Ohrfeige zu verpassen. Ein Streit; die Stimme ihrer Mutter, die lauthals über die Felder brüllte, brachte sie wieder zur Vernunft.
„Was geht da oben vor sich?“
„Das versuche ich gerade herauszufinden. Ich hatte schon Angst sie hätte dich da mit reingezogen. Schön, dass du hier bist.“ Anstelle einer liebevollen Umarmung oder sogar eines Kusses handelte Gabriel sich einen Hieb in die Rippen ein.
„Wärst du wie verabredet auf unserer Lichtung erschienen, dann hättest du es gewusst“, böse funkelte sie ihn an. Da seine Aufmerksamkeit ganz dem Streit gilt, der in ihrem Zuhause zu toben schien, trat sie ihm ins Blickfeld. „Was kann an meiner Mutter so interessant sein, dass du so durch mich hindurch siehst?!“
„Sie verletzt noch die höchsten Regeln wenn es so weiter geht. Da oben fliegen magisch tödliche Fetzen. Eine Feierlichkeit ist das bestimmt nicht“, Gabriels Pupillen tanzten nur so hin und her, wie auch seine Gedanken Purzelbäume schlugen. Dort oben auf dem Hügel war eine magische Schlammschlacht in Gange und er wusste nicht, wie er es seiner liebreizenden Bekanntschaft schonend erklären sollte.
Fay jedoch reimte sich selbst zusammen zu welchen Missetaten ihre Mutter fähig war. Courtney hatte nicht nur Rituale, die für sie das Schicksal in die richtigen Bahnen schubste, sondern auch mächtige aktiv nutzbare Fähigkeiten. Fähigkeiten, die nicht für Streitigkeiten gemacht waren, sondern zur Erhaltung des Gleichgewichtes dienen sollten. Leider klang der Kampf in der Hütte, welche sie ihr Zuhause nannte, nicht nach einem Kampf gegen eine Kreatur der Nacht, sondern nach einer der typischen Schwierigkeiten, die ihre Mutter gerne mit Männern hatte. Nur, dass sie es hier mit wirklich großen Schwierigkeiten zu haben mussten.
Ganz unverfroren schmetterte Fay die Hüttentür so fest auf, wie es ihre körperliche Kraft ermöglichte. Wie benommen blendete sie die wütenden Schreie und Ausrufe, die sich ihre Mutter und der Mann sich an den Kopf waren, einfach aus und stellte sich den Beiden in den Weg. „Mutter! Was ist bloß los mit dir. Bitte beherrsche dich.“
„Ja, Frau. Hör auf deine unnütze Tochter“, stachelte er Courtney weiterhin an. Fay kam es beinahe so vor, als wolle er damit etwas bezwecken. Ein Grund mehr die Wut von ihrer Mutter zu nehmen. Allerdings ließ ihre Mutter sie zunächst nicht zu Wort kommen. „Du kannst meine Beweggründe nicht verstehen, Kind. Ehrlich gesagt, möchte ich gar nicht erst, dass du davon weißt.“ „Ich glaube ich will es auch gar nicht wissen“, lenkte Fay ein.
Dann wurde sie von ihrer Mutter zur Seite gestoßen. Dadurch strauchelte Fay stark und konnte sich trotz aller Bemühungen nicht lange halten. Sie wollte sich schon lauthals bei ihrer Mutter beschweren, jedoch wurde ihr bewusst, was sie versuchte. Allerdings war es mehr als bloß ein Versuch. Courtney war im Begriff den letzten Schritt eines mächtigen Fluches zu machen.
„WASSER UND LUFT, FEUER UND ERDE...IM GEIST VEREINT“, schrie Courtney in die Welt hinaus. Die flehenden Rufe ihrer Tochter aufzuhören, gingen dabei völlig unter. Als wollte sie Fay nicht hören; ihre Angst nicht sehen und ihre Warnungen nicht wahr haben.
„EUCH MÄCHTIGEN ELEMENTE RUFE ICH AN. HÜTER, RICHTER UND VERBÜNDETE, MIR ZU HELFEN ZU BESTRAFEN. EIN FLUCH GESPONNEN FÜR DIE UNSEREN, DIE MÄNNER OHNE GEWISSEN. SOLLEN ER UND ALLE NÄCHSTEN, GEFANGENE SEIN DER NACHT“, theatralisch streckte Courtney dabei die Hände gen Himmel. Tatsächlich reagierten die Elemente auf ihre Bitte und färbten den Himmel schwarz. Der Tag wurde zur Nacht und ein schreckliches Schicksal war geboren.

„Fay! Fay, alles in Ordnung mit dir?“, auch Gabriel war in der Hütte aufgetaucht. Allen Schreck zum Trotz trat er an die Seite seiner Angebeteten. Diese war starr vor blankem Entsetzen.
„Was hast du nur getan?“, stieß sie beinahe keuchend hervor. „HAST DU EIGENTLICH EINE AHNUNG, WAS DU GERADE ANGERICHTET HAST!!!“ Fay schrie ihre Mutter unkontrolliert an. Sie schrie immer weiter, bis ihre Worte in hysterische Schreie übergingen.
Der Liebhaber ihrer Mutter war bereits getürmt, doch dies war für keinen der Anwesenden mehr von Belang. „Ich hatte keine Wahl“, sicher darüber eine richtige Entscheidung getroffen zu haben, antwortete ihre Mutter mit fester Stimme.
„Man hat immer eine Wahl“, knurrte Fay ihre Mutter an. Dann wandte sie sich an Gabriel: „Es tut mir so leid. Sie hat den Verstand verloren. Ich krieg das bestimmt wieder hin...Ich-“ Courtney fiel es wie Schuppen von den Augen. Der Junge an der Seite ihrer Tochter war auch ein magischer Mann, ein Opfer ihres Fluchs. Ruckartig zog sie ihre Tochter von ihm weg. „Raus aus meinem Haus! Verschwinde!“, giftete Courtney Gabriel an. Er wechselte panische Blicke mit Fay und nach Gefühlten Stunden machte er auf dem Absatz kehrt und rannte aus der Hütte. Erleichtert darüber, dass ihre Mutter Gabriel nun nichts mehr antun konnte, entspannte sich Fay ein bisschen. Doch die Tränen konnte sie nicht zurück halten. Courtney, ihre Mutter...der Mensch, den sie am meisten geliebt hatte war im Begriff ihr Leben zu zerstören.
„Warum? Mutter, bist du denn von allen guten Geistern verlassen worden?“ Der gequälte Ausdruck in ihrem Gesicht beeindruckte Courtney nicht im Geringsten. Sie glaubte sich im Recht: „Jetzt hör mir mal genau zu. Alle Männer sind böse, niederträchtig und gemein. Sie scheren sich nicht um deine Gefühle.“ „Aber du sagtest immer, wenn ich mich verliebe, dann lieber in einen Hexer oder Magier. Du selbst hast mir doch dazu geraten“, ihre Tränen wollten nicht versiegen. Egal wie sehr sie es versuchte, sie erkannte ihre Mutter in Courtney nicht mehr wieder und es schmerzte. Es schmerzte Fay so sehr, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
„Du wirst diesen jungen Mann nie wieder sehen. Hast du mich verstanden?! Ich habe ihnen ihre gerechte Strafe zugeführt. Sie werden im Laufe ihres Lebens immer mehr der Dunkelheit verfallen, bis es rechtens ist sie auszulöschen. Keiner von ihnen wird mehr einer Hexe zu nahe kommen können.“ Fay schüttelte über die Worte ihrer Mutter nur ungläubig den Kopf. „Wie konntest du nur so werden? Du hast mein Glück zerstört, nicht mehr und nicht weniger. Wieso verstehst du das denn nicht?“ Enttäuscht darüber, dass ihre Mutter nicht einmal mehr das Wohl ihrer Tochter wahrnahm, wandte sich Fay von ihr ab.
Als Courtney nach ihrem Gesicht griff, damit Fay sie ansehen musste, stieß ihre Tochter sie von sich weg. Verbittert wie Fay war, strafte sie ihre Mutter mit dem hasserfülltesten Blick, den sie aufbringen konnte und rannte fort.

„Fay...Liebste? Kannst du mich hören?“
Benommen öffnete Fay langsam ihre Augen. Die Augenlider flatterten noch leicht, bis sie endlich mit klarem Blick Gabriel erblickte.
„Was machst du denn hier, Gabriel?“ Ein Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus, weil er sie kaum verstand, so sehr nuschelte sie. „Ich verstehe nicht, wie du hier im Wald so seelenruhig schlafen kannst“, entgegnete Gabriel bloß. „Hier, etwas zum Bekleiden.“
Fay richtete sich auf und hockte ihm gegenüber. Die Kleidung, die er ihr hinhielt kam ihr verdächtig bekannt vor. „Sind das meine Kleider? Woher? Wie?“
Zuerst druckste Gabriel vor sich hin, doch der durchdringende fragende Blick von Fay kitzelte die Wahrheit letztendlich aus ihm heraus: „Deine Mutter terrorisiert das Dorf. Die Hütte war leer und so habe ich den Moment genutzt.“ Ihre Augen weiteten sich vor Verwunderung darüber, wie er unbehelligt in ihr Zuhause eindringen, Sachen von ihr stehlen und unbescholten zu ihr bringen konnte. Die Information über ihre Mutter überraschte sie schon gar nicht mehr. „Deine Mutter mag mich gestern aus ihrem Zuhause geworfen haben, aber ich habe nicht aufgehört nach dir zu sehen. Ich habe mir Sorgen gemacht. Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, dass du dich gezwungen siehst eine Übernachtung im Wald in Erwägung zu ziehen“, fuhr er dann fort.
Das brünette Mädchen seufzte deutlich hörbar und sie rieb sich angestrengt mit der Hand über die Stirn, als wollte sie einen Fleck entfernen. Diese neue Situation nahm das junge Ding merklich mit. „Das Verhalten meiner Mutter ist einfach nicht mehr tragbar. Nur wie soll jemand wie ich-“ Gabriel schaute zwar noch in ihre Richtung, jedoch hatte Fay das ungute Gefühl unsichtbar geworden zu sein. Er schaute regelrecht an ihr vorbei. „Sag mal. Hört der Herr mir überhaupt zu?“, sie klang verärgert. Erst zeigte er sich ihr gegenüber besorgt, um dann nicht zu lauschen, wenn sie ihm ihr Herz ausschütten wollte.
Auf ihre Frage antwortete er mit einer Geste. Mit leichtem Griff lenkte er ihre Schulter, damit sie sich in die Richtung umdrehte, in welche sie, seiner Meinung nach, schauen sollte.
Dort, wo er bereits gebannt hinstarrte, erblickte auch Fay eine sagenumwobene Gestalt. Ein Mädchen mit Haaren, wie blumenverzierte Ranken und einem Kleid, bestehend aus den verschiedensten Blätterarten.
„Was ist das?“, hörte sie Gabriel erstaunt fragen.
„Eine Dryade“, antwortete Fay darauf rein automatisch. Gabriel verstand das Wort nicht und zeigte ihr das ganz offen. Deshalb suchte Fay ein anderes Wort für diese Wesen, welches sie am Besten beschreiben könnte: „Dryaden sind Waldnymphen.“ Als Tochter einer Erdhexe war sie im Umgang mit magischen Kreaturen geübt und konnte viele Wesen genauestens benennen. „Sie ist eine Tochter der Erde. Genau wie meine Mutter“, erklärte sie weiter.
„Da kommen noch mehr!“, rief er nach einer kurzen Pause aus. Für einen praktizierenden Hexer war eine Begegnung dieser Art meist genauso ungewöhnlich wie für einen normalen Menschen.
„Warum kommen sie bloß aus ihren Bäumen und Pflanzen, aus ihren sicheren Verstecken, hervor?“ Ihre Sorge konnte Gabriel deutlich spüren. Auch er befürchtete, dass dieser Aufmarsch von Waldnymphen kein gutes Zeichen sein konnte.
Entschlossen dieser wundersamen Begebenheit auf den Grund zu gehen, traute sich Fay an eine der Nymphen heran. Besonders freundlich fragte sie nach dem Grund.
„Wir haben eine schlechte Wahl getroffen. Die Hexe ist unserem Geschenk nicht länger würdig.“ Hoch erhobenen Hauptes ging die Nymphe weiter ihres Weges. Gemeinsam steuerten diese anmutigen Wesen den Hügelhang an und Fay wurde der Bedeutung dieser Worte bewusst.
Schnell folgten sie den Nymphen, huschte zwischen ihnen hindurch und trieb ihren Körper zu Höchstleistungen voran. So schnell wie sie zwischen den magischen Frauen verschwunden war, konnte Gabriel kaum reagieren. Beinahe vergaß er sogar ihre Kleider mit sich zu nehmen, was ihn ein weiteres Mal zurück warf.
Am Waldrand holte er sie ein. Fay war stehen geblieben, was er von dem Schwall an magischen Erdentöchtern nicht sagen konnte. Sie glitten wie eine grüne Welle, mit farblichen Akzenten, über die Wiese zur Hütte der Mutter. Dort oben wurden sie bereits erwartet.
Courtney stand dort oben, flankiert von den unterschiedlichsten Wesen, die wortwörtlich alt aussahen. Die Hexe war sich keiner Fehler, keiner Schuld bewusst, egal wie viele magische Wesen zu ihr kamen, um über sie zu richten.
Noch nie hatte Fay einen solchen Auflauf von magischen Kreaturen gesehen. Bisher war dies zum Schutze ihrer Welt auch unter Strafe verboten gewesen. Dennoch waren sie gekommen. Sogar die Ältesten; der Rat; die Richter hatten ihren geheimen Unterschlupf verlassen.
Gebannt beobachtete das Pärchen das Schauspiel vor ihnen. Keiner von ihnen traute sich auch nur eine Sekunde den Blick abzuwenden, in der Befürchtung ein wichtiges Ereignis zu verpassen. Selbst zu vieles Blinzeln vermieden sie.
„Was tun die dort oben mit deiner Mutter?“ Es dauerte eine Weile bis Gabriel seine Stimme wieder fand. Die Ereignisse dort oben konnte er sich partout nicht erklären. Zur Beantwortung seiner Frage erhob Fay ihre linke Hand und zeigte mit dem Zeigefinger auf einen der Ältesten. Es war ein Mann, der ein seltsames Fell trug und dessen Haut leicht schuppig schimmerte. „Das ist der Älteste der Selkies. Ein Feenwesen, welches eigentlich in den Gewässern nahe gewisser Inseln lebt. Er hat für diese Versammlung eine weite Reise auf sich genommen“, erklärte sie Gabriel im Flüsterton. Somit war der Grund für seine eigenartige Haut gefunden: „Und was trägt er da?“ „Das ist das Fell eines Seehundes“, kommentierte sie beiläufig.
Während er sich noch über all diese merkwürdigen Geschöpfe den Kopf zerbrach, konzentrierte sich seine Freundin bereits wieder auf Courtney.
Der Morgen neigte sich dem Ende und die Sonne stand bereits im Zenit. Es wurde für die Beiden immer schwieriger dem Geschehen zu folgen, so sehr blendete es an diesem Tag.
Gefesselt hing die Hexe, wie an einem Pranger gehängt, magisch in der Mitte der Versammelten. Die Entfernung war zu groß, um die Worte der Alten zu verstehen.
Irgendetwas geschah mit ihrer Mutter und langsam kam in Fay Sorge auf, dass die magische Gemeinschaft sie vielleicht zum Tode verurteilen könnte. Trotz aller Sorge kroch eine Wärme an ihr hoch, die sie sich nicht erklären konnte. Ihre Haut kribbelte an den Stellen, wo sie damit den Baumstamm einer alten Erle berührte, um sich daran abzustützen. Wollte die Erde sie vielleicht trösten und ihr den Mut haben dies durchzustehen, wie auch ihre Mutter erhobenen Hauptes ihre Strafe entgegen nahm?
Der unverständliche Singsang der Alten neigte allmählich dem Ende zu und ihre Mutter lebte noch.
Sie ließen die Frau dort zurück. Da lag sie nun neben ihrer Hütte. Ohne darauf zu warten, dass sich alle beteiligten Wesen entfernt hatten, rannte Fay nun den Hügelhang hinauf, wie sie es in ihrer Kindheit oft zu tun pflegte. Neben ihrer Mutter ging sie auf die Knie.
Ihre Mutter wirkte so betrübt und war nur noch ein Schatten ihrer Selbst. Wütend über diesen Anblick erhob sich Fay wieder und rief den Ältesten nach: „Was haben Sie ihr angetan?!“ Einer der Ältesten reagierte auf ihr Rufen und blieb stehen. Es war ein Zwerg: „Die Gemeinschaft hat zum Wohle aller entschieden der Erdhexe Courtney ihres Amtes zu entheben. Alle Fähigkeiten und Pflichten werden auf ihre direkte Nachkommin übertragen.“ Seine Stimme war mächtig und donnerte über die Wiesen.
Die Worte des Zwerges hallten noch in ihren Ohren wieder. Die direkte Nachkommin war sie, Fay.
Eine Berührung auf ihrer Schulter löste ein Kribbeln in ihren Fingern und Zehen aus, was sich bis in die Haarspitzen ausbreitete. Sie fühlte die aufsteigende Wärme der Erde, spürte ihre Verbundenheit und sah in ihren Gedanken das Schlimmste; ein Alptraum, der-

„Entschuldigt bitte. So spannend es auch gerade ist, aber ich muss Pipi.“

Unverhofft kommt oft

 Ein eintöniges Stöhnen zog sich durch den kleinen Bus. „Kannst du nicht noch etwas warten, Jo?“, wurde der Störenfried von Eve gefragt. Die kleine Schwester hatte nicht gelogen, sie musste wirklich und wackelte unentwegt auf ihrem Sitz herum. „Ich muss aber ganz dringend“, brummte sie über die Lehne des Vordersitzes gebeugt nach vorne und klang dabei wie ein kleiner Bär, der nach Futter brüllte.
„Ehrlich gesagt würde ich auch gerne mal anhalten“, schaltete sich Rose zusätzlich ein.
„Na schön. Ben, fahr bitte auf diesen Rastplatz da vorne“, wandte sich Eve nach einem kurzen Moment des Zögerns an ihren Fahrer.
Stutzig begutachtete Jo so gut es ihr möglich war den abgelegenen Fleck Parkplatz, auf den sie gerade fuhren. „Das ist doch kein Rastplatz“, schmollte die Jüngste vor sich her. Schon allein bei dem Gedanken an die Toiletten gruselte es sie.
Außer ihnen nutzte an diesem Tag keiner den Parkplatz, um Rast zu machen, geschweige denn hier zu übernachten. „Hier ist ja tote Hose“, bemerkten auch Julie und Ragen. Während die Älteren dies als positiv erachteten, konnte nichts Jo von den angeblichen Vorzügen dieses Rastplatzes überzeugen: „Natürlich ist hier kein normaler Mensch. Ein perfekter Ort für Serienkiller, findet ihr nicht?“
Ohne sich eines weiteren Wortes zu bemühen, zog Rose sie mit sich zum Toilettenhaus. Der übrige Rest ihrer Reisegruppe nutzte die Zeit, auf einem der steinernen Picknicktische ihre Vorräte auszubreiten und es sich bequem zumachen. Von diesen Tischen gab es nur drei Stück auf dem Platz. Sie alle hatten ein Loch in der Mitte zu bieten, wo ein Lagerfeuer entfacht werden konnte. Die ebenfalls steinernen Bänke hatten die gleiche runde Form und wanden sich um die Tischplatten. So sah es für den Besucher aus wie ein Donut mit Hula-Hopp-Reifen.

„Wie lange bleiben wir?“, fragte Ragen zwischen zwei Bissen in ein Sandwich in die Runde. „Lasst uns erst einmal ausruhen und essen. Der Fahrer braucht eine Pause“, reagierte Ben prompt.
„Ich kann auch weiter fahren. Du-“
„Nein, schon gut. Ich fahre“, unterbrach er Eve direkt und legte seine rechte Hand auf ihre, die dort verlassen auf der Tischkante ruhte. Nur wenige Sekunden hielt sie die Berührung durch und beendete sie prompt. Als sich Jo und Julie dann auch noch über die Kälte beschwerten war Eve die erste auf den Beinen und holte noch ein paar Decken aus dem Trabbi. Ben kam ihr nach.
„Pst...“, Fay versuchte die Aufmerksamkeit ihrer Tischnachbarin Ragen zu bekommen. „Ich dachte Eve und Ben wären ein Paar“, fuhr sie fort, nachdem Ragen ihr die gewünschte Aufmerksamkeit auch schenkte. Die amtierende Erdhexe beugte sich zu ihrer Vorgängerin herüber und bestätigte ihre Vermutung: „Sind sie auch, aber das ganze ist ziemlich kompliziert.“ „Ist mir aufgefallen. Denn Eve verhält sich nicht unbedingt wie eine verliebte Freundin“, warf Fay noch in ihre tuschelnde Konversation ein. Für Ragen war damit die Unterhaltung beendet, doch Fay schaute sie weiterhin erwartungsvoll an. Eine weitere Antwort bekam sie nicht. Jo wollte sie danach fragen, doch diese war zu sehr damit beschäftigt sich irgendwie selbst aufzuwärmen.
„Wir können ja ein Lagerfeuer entzünden“, schlug sie bei dem Anblick dann vor. „Gute Idee“, kommentierte Rose und suchte in ihren Sachen nach Streichhölzern. „Nutz doch deine Kräfte“, warf Fay ein, als sie Rose mit den Streichhölzern sah. Überrascht musterten die Mädchen das ehemalige Medium. Ihre Augen huschten von Einer zur Anderen und wurde von Eve und Ben gestört, die endlich zurück zum Tisch gekommen waren. Die Stille, die sie vorfanden kam ihnen verdächtig vor. Man bedeutete ihnen sich zu setzen und dann setzte Fay zu ihrer Frage an, die sie wieder an Rose richtete: „Du kannst mit deinen Fähigkeiten kein Feuer entstehen lassen?“
„Sehe ich etwa aus wie ein Drache. Nein, ich kann kein Feuer speien.“ Roses Laune verschlechterte sich sichtlich.
„So meine ich das nicht. Eine frühere Feuerhexe hatte den Dreh raus, wie sie mit ihren Fähigkeiten Temperaturen so stark manipulieren konnte, dass sie Feuer erzeugte.“ Fays Erklärung verschlimmerte Roses Laune bloß, die Kritik an ihrem Können nur schwer verkraftete.
Mayen hatte noch versucht, mit Fingerzeichen, Fay von weiteren Fragen in dieser Richtung abzuhalten, aber funktioniert hatte es nicht. „Ich erzeuge vor mir ein Deflektionsschild. Zum Schutz. Nicht sonderlich kämpferisch für das Element Feuer“, Rose würgte die Worte regelrecht hervor. Für eine Frau, die gerne Ärsche eintrat, war diese Fähigkeit ziemlich peinlich.
Diese Nachricht musste Fay erst einmal verdauen und so zog es sich einen Moment hin, bis sie wieder nachhakte: „Du kannst nur vor dir dieses Schild erzeugen?“ Rose nickte. „Sind alle eure Fähigkeiten etwa noch auf dem Basislevel?“ Empört stieß Julie die Luft aus ihren Lungen aus: „Sie sind defensiv, ok? Außer die von Eve vielleicht.“ Sofort ruckte Fays Kopf in ihre Richtung. „Ich kann Dinge bewegen“, antwortete sie und zog dabei die Schultern entschuldigend hoch.
Stöhnend ließ Fay ihren Kopf schlussendlich in ihre Hände fallen. „Du bist also nicht eins mit dem Wind, oder Eve?“ Einen letzten Versuch unternehmend doch noch eine zufriedenstellende Entdeckung zu machen, wandte sie sich erneut an Eve.
Wie als wenn der Wind sich angesprochen fühlte, fegte er über den Platz und traf Eve von hinten. Ihre Haare waren in Sekundenschnelle zerzaust und hingen ihr ins Gesicht. Den anderen ging es dabei nicht besser. Ben, dem es aufgrund der kurzen Haare nichts ausmachte, versuchte leichte Verpackung und der gleichen vorm Wegfliegen zu hindern.
„Ich glaube das heißt ‚Nein’.“ Jo pustete sich so gut es ging die Strähnen aus dem Gesicht und war die Erste, die ihre Stimme wieder fand.
Die Stimmung war angespannt und keiner traute sich mehr das Thema weiter auszuführen. Jedoch dauerte es nicht lang, dass die Ruhe wieder gestört wurde. Sie hatten nicht einmal ihren Picknicktisch fertig aufgeräumt, da erschütterte ein Schrei die anliegende baumbewachsene Grünfläche und seine Bewohner. Es war kein angsterfüllter Schrei, die Aggressivität, die in diesem Laut zu vernehmen war beunruhigte die Mädchen deutlich mehr.
Rose versuchte sich wie üblich nichts anmerken zu lassen und entfachte seelenruhig das Lagerfeuer. Kein zweiter Schrei folgte und somit entspannte sich auch Eve, was man von den Jüngeren, Jo, Julie und Ragen nicht erwarten konnte.
Das ängstlich aufgeregte Hibbeln ihrer kleinen Schwester ging Eve ziemlich auf die Nerven und forderte sie auf selbst nach dem Rechten zu sehen. Die Tatsache sich hinter dem Trabbi verstecken zu können, da er in vertikaler Linie zur Grünfläche stand überzeugte Jo letztendlich der Idee ihrer großen Schwester nachzukommen. Jedoch zwang sie Julie sie zu begleiten. Jo wollte sich so mit Julies Fähigkeit absichern, zur Not schnell flüchten zu können.
„Erkennst du was?“, zischte Jo, die mit Julie um die hintere Ecke des Trabbis lugte.
„Noch nicht“, hörte sie von oben, da Julie um gut einen Kopf größer war und über ihren Kopf hinweg zwischen die Baumgruppen schaute.
Ihre erste Einschätzung sollte sich als fehlerhaft herausstellen. Ein großer bulliger Mann trampelte in hoher Geschwindigkeit über den staubtrockenen Waldboden. Seine Silhouette wurde von Mal zu Mal deutlicher und die Zwei hatten keinen Zweifel daran, dass er zielsicher auf sie zukam.
Panik in ihr aufsteigend stieß Jo Julie ein Stück zur Seite und drängte sie an ihr vorbei. Mit großen hopsenden Schritten rannte sie hinter den Picknicktisch.
Diese Reaktion überraschte die Anwesenden dann doch und Jo musste sich erklären: „Da kommt ein großer ziemlich böse aussehender Mann auf uns zu gerannt!“ Ihre Stimme überschlug sich fast und die immer noch entspannte Haltung ihrer Freunde schlug dem Fass den Boden aus. „Wie könnt ihr nur so ruhig da sitzen?! Ihr seid doch alle lebensmüde!“
„Jo, wir sind Hexen. Lass ihn ruhig kommen“, Rose zog das zweischneidige Jagdmesser hervor, das sie eigentlich immer bei sich trug. Für den Fall der Fälle natürlich. Schritt für Schritt kam Julie auch zurück an den Tisch. Die Angst beeinträchtigte sie sichtbar.
„Ich wusste es. Hier gibt es Serienkiller. Das ist ein Killer und er wird uns umbringen“, Jos Stimme dröhnte in einer Oktave über den Platz, der für ihre Verhältnisse merklich zu dunkel war. Eve war lediglich amüsiert wie ihre Schwester panisch hin und her hüpfte: „Ganz ruhig. Was soll schon groß passieren?“
Ein lauter Knall war die Antwort darauf und kurz darauf zerbarsten die Fenster des Kleinbusses in ebenfalls unerträglicher Lautstärke. Dank ihrer Fähigkeit war Julie schnell genug am Boden und außer Reichweite. Die unsichtbare Kraft, die eine Welle der Zerstörung mit sich brachte, fegte über die Köpfe der anderen hinweg, erfasste Jo und riss sie mit sich.
Autoglassplitter rieselten auf sie hinab. Instinktiv hatte sich Roses Schutzschild um sie gebildet und sie blieb als Einzige von allem verschont. Ihr klingelten nicht einmal die Ohren.
„Was zum Teufel?!“, stieß Jo aus. Sie richtete sich dabei auf und presste mit ihrem Ausruf das bisschen Luft wieder aus ihren Lungen, was sie kurz zuvor schwerlich eingesaugt hatte. Nachdem kein weiterer Angriff zu folgen schien, lösten die Betroffenen sich aus ihrer gekrümmten Haltung und schauten sich voller Verwunderung das Chaos um sie herum an.
Während Rose bloß etwas ihren Platz säuberte, was anderes hatte sie zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich zu tun, versuchte vor allem Eve ihr Haar von den Splittern zu befreien. Eves genervt wirkender, hilfloser Blick veranlasste Ben und Mayen ihr bei der Befreiungsaktion ihrer Haare zu helfen.
Julie hatte sich inzwischen herum gedreht und saß mit ihrem Hosenboden noch immer auf der kalten Erde. Sicherheitshalber wollte sie außer Schussweite bleiben und rutschte nur weiter an den Steintisch heran.
Keiner hatte sich bislang weiter um die Ursache dieses Knalls gekümmert, was sie von Jo ziemlich schnell vorgehalten bekamen. Noch nie hatten sie die Jüngste unter sich so ungehalten, genervt und wütend erlebt. Dabei war es nicht einmal ihr erster Freiflug, seit sie eine Hexe geworden war.
Um sich weiteren Gezicke zu entziehen, stand Rose schlussendlich auf und schaute stellvertretend für alle nach dem Mann, den Jo und Julie gesehen haben wollten.
Sie war nicht einmal vollständig um den demolierten Bus herum getreten, da tauchte dieser Typ wie aus dem Nichts aus. Mit hoher Geschwindigkeit krachte er in Rose, stieß sie dabei schwungvoll zu Boden und kam dabei nicht einmal ins Straucheln. Auch den Anderen blieb kaum genug Zeit zu handeln.
Doch bevor er sich auf sein nächstes Ziel, Julie, stürzen konnte und sie vermutlich sogar zertrampelt hätte, stand er urplötzlich wie erstarrt da.
Jos schreckhaftes Reaktionsvermögen wurde dem zwei Meter Mann zum Verhängnis.
Erleichtert ausatmend sackte Julies Kopf nach hinten zu Boden. Sie hatte das Gefühl ihr Herz wollte zerspringen.
„Was fällt diesem Riesenbaby eigentlich ein. Na warte, das wirst du büßen!“, Rose kochte vor Wut. Sie rieb sich kurz die Ellenbogen und Handflächen und zog dann ihr Messer, um den Mann damit zur Strecke zu bringen. Eingefroren bildete er für die erfahrene Jägerin ein leichtes Ziel.
„Stop, stop, stop!“, Mayen ging noch rechtzeitig dazwischen und hielt Rose ihre Hand beschwichtigend entgegen. Diese Unterbrechung gefiel der Hexe mit dem feurigen Temperament überhaupt nicht, selbst Jo setzte zu einer Hetztirade ein. Eve und Ben beobachteten bisweilen die Situation mit großem Interesse. Die beiden Erdhexen hielten Händchen, was Ragen zum Glück beruhigte.
„Wir wissen noch nicht wer er ist oder was. Also solltest du ihn nicht so vorschnell töten“, erklärte Mayen ihre Entscheidung. „Diese Energiewelle kam von ihm“, begann Jo wütend. „Das nennt man Druckwelle, eine Manipulation der Luft“, mischte sich Fay kurz ein und überließ die Anderen dann wieder ihrem Streit.
„Wir können nichts bekämpfen, was wir nicht sehen können. Das hat Eve zum Beispiel immer so gefährlich gemacht“, führte Rose dann als Argument an und Eve registrierte dieses Kompliment mit einem zufriedenem Grinsen. „Ok, ich sehe das so“, schaltete sie sich dann ein. „Ein Schattenwesen ist er nicht mehr, sonst würde Hexenmagie nicht greifen. Er ist also zu einem Dämon aufgestiegen und wir wissen, das böse Wesen mit höherem Rang nicht so einfach durch die Gegend stampfen.“ Eine theatralische Pause setzte ein und besonders die aufgebrachten Hexen, Jo und Rose, gestikulierten wild fortzufahren. Nicht sonderlich wild auf weitere Ausführungen zog sich Julie erschöpft auf die steinernen Bänke hoch.
„Ihr sollt selbst entscheiden.“ Zur Überraschung aller entschied sich Eve dagegen ein Urteil zu fällen und den Dämon selbst zum Tode zu verurteilen. Ihre Mädchen sollten Selbstständigkeit lernen und das sollte ihnen helfen.
Allerdings hätte sie nicht vermutet, dass ihre Schwester mehr als unzufrieden auf diese Antwort reagierte. Ihre angespannte Haltung und die zu Fäusten verkrampften Finger boten einen verstörenden Anblick. „Alles ok?“, fragte Ragen vorsichtig, die direkt neben dem stehenden Mädchen saß. „Ich weiß auch nicht. Ich fühle mich, als würde ich vor Wut platzen“, selbst Jo konnte sich ihre extreme Gefühlslage nicht erklären. Tiefe Atemzüge sollten sie beruhigen, was sie nicht taten. Es löste bloß ihren Eiszauber auf...und noch viel mehr.

Was sie da zu Gesicht bekamen versetzte beinahe allen Anwesenden einen Schlag. Als sich Jos Fähigkeit zu verflüchtigen schien, zersetzte es den Dämon. Er floss dahin wie geschmolzenes Eis. „Ach du meine Güte“, ohne einen blassen Schimmer, was Jo da vollbracht hatte, blickte Mayen abwechselnd von der Pfütze, die einmal der Dämon war, zu Jo. Die junge Wasserhexe war wie gelähmt. Kein Muskel zuckte, nicht einmal Blinzeln tat sie.
„Du hast ihn zu Suppe verarbeitet“, keuchte Julie auf. Ihre Stimme überschlug sich und nahm eine unangenehm hohe Oktave an. Leicht angewidert rückte sie zu Eve auf und saß ihr fast auf dem Schoß.
„Sehr gut.“ Alle Anwesenden schauten schnell zu Fay. Ihre Augen waren erfüllt vom Schreck, Verwunderung und Verwirrung. „Sehr gut? ... Sehr gut?!“, Eves Stimme wurde zunehmend lauter. „Jos Kräfte sind zur Verteidigung da. Das ist keine Verteidigung, dass ist abartig!“
Jos Augen füllten sich mit Tränen. Zitternd hob sie ihre Hände und starrte sie nur noch an. Es fiel ihr so schwer gegen die Angst anzukämpfen, vielleicht selbst zu einem blutrünstigen Monster zu werden.
Kurz nachdem Eve ihre kleine zu behütende Schwester mit Tränen in den Augen sah, schwang sie die Beine auf die Außenseite der Bank und stand auf. Im nächsten Moment tätschelte sie Jo den Kopf und tröstete sie lautlos. Eine stumme Abmachung, die sie schon als Kleinkinder getroffen hatten.
Unschlüssig darüber Jos ausgeflippte Fähigkeit zu kommentieren oder lieber nicht, wechselten die anderen Mädchen betreten unsichere Blicke. Nicht einmal Mayen war auf so eine Eskalation der Fähigkeiten vorbereitet. In ihrem Kopf konnte man es förmlich rattern hören, so angestrengt suchte sie nach einer Erklärung gegebenenfalls sogar nach einer Lösung.
Egal wie oft sie und der Rest der Gruppe Fay mit ihren Blicken straften, die frühere Erdhexe konnte ihre tiefe Zufriedenheit nicht verbergen. Ein fasziniertes, fast verrückt erscheinendes, Grinsen verzog ihre Züge zu einer gruseligen Fratze.
Aus reiner Vorsicht - oder man konnte es fast schon übernatürlichen Instinkt nennen – hielt Rose ihre starke Hand in Hexenmanier am Halfter auf einem ihrer Wurfmesser. Ihr Gürtel war gespickt mit aller Hand kleiner gefährlicher Gegenstände. Beinahe zu spät registrierte Fay endlich die Reaktionen auf ihre Freude.
„Oh, nein. Entschuldigt bitte. Ich sollte mich wohl erklären“, verlegen rieb sie den Saum ihrer Ärmel zwischen ihren Fingern. Der gesamte Hexenzirkel hatte sie umstellt. Sie standen da und warteten auf eben diese Erklärung. Ein paar undeutliche Laute schickte Fay voran, bis sich ihrer sicher war und dass die Worte gut gewählt waren.
„Ich dachte ihr habt vielleicht eine Blockade oder dass ihr vielleicht nie in der Lage hättet sein können euer vollstes Potenzial auszuschöpfen“, sie zog schnell so viel Luft wie möglich ein, um ihre Vermutung weiter zu erläutern: „Wer über ein Jahr mit seinen Fähigkeiten kämpft, ohne Anzeichen, dass diese sich verstärken, dass ist ungewöhnlich. Wenn nicht sogar ungesund für den magischen Fluss innerhalb einer Hexe.“ Ihre Augen wurden glasig. Ihre Gedanken drifteten ab, zurück in ihre Vergangenheit. Eine Zeit, wo sie eine ähnliche Erfahrung selber machen musste. Das Stupsen, das sie auf ihrem Arm spüren konnte holte sie zurück in die Gegenwart. Julie hatte sie zurück geholt.
„Ehrlich gesagt verstehen wir trotzdem nicht ganz, warum du so gruselig gegrinst hast“, nun war es an Ragen diese Tatsache verlegen zuzugeben. Ihre Ahnin hatte ihr damals als Seherin Sendra immer Angst gemacht, wenn sie denn mal die Kontrolle über ihren Körper bekommen konnte, und nun brauchte es nur einen kleinen Anlass, einen Funken um die Skepsis in ihr wach zu rufen.
„Fakt ist: Jos Eiszauber ist nicht länger nur ein Eiszauber. Sie hat die nächste Stufe ihrer Kräfte erreicht.“
„So etwas wie ein Level-Up?“, fragte Jo unsicher und unterbrach Fay nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Dafür knuffte Eve ihr in die Seite und zischte undeutlich: „Du spielst zu viele Videospiele.“
Fay wartete ab, bis die Schwestern wieder still waren und fuhr fort. „Ihr müsst euch den Charakter des Wassers genau vor Augen halten: Es ist wechselhaft. Mal ruhig, mal aufbrausend. Mal dienen ihre Fähigkeiten zur Verteidigung, mal dem Angriff. Es kommt ganz auf Jo an. In unserem Fall hat die aggressive Auflösung des Eiszaubers eine Zersetzung des Körpers zur Folge gehabt. Ekelig, aber wirkungsvoll.“ Zum Abschluss atmete Fay tief ein und stieß einen kurzen, starken aber wohligen Seufzer aus.
„Aber nicht bei jedem wird sich die Fähigkeiten auf so groteske Weise entwickeln, oder?“ Julie drückte mit ihrer verunsicherten Köperhaltung und dem Zittern in ihrer Stimme ihr Unbehagen aus. Auf diese doch recht naive Frage wollte Fay eine beruhigende Antwort geben, jedoch hielt sie sich bei dem strafenden Blick von Eve an Julie gewandt lieber zurück. Bevor sich Eve allerdings noch verpflichtet fühlte jemanden die Augen auszukratzen, weil sie mit ihren Fragen und Kommentaren Jo in ihrer momentanen Situation so zusetzen, klinkte sich Ben in die holprige Unterhaltung mit ein. „Ich glaube es wäre das Beste, wenn ich euch nach diesem Trip auf direktem Wege zu einer Freundin bringe. Sie kann euch vielleicht helfen eure Kräfte und ihre Eigenschaften besser zu verstehen. Bevor noch schlimmeres geschieht.“ „Deine Freundin also... Die Shamanin, die dir zufälliger Weise auch diesen Selbstmord-Fluchbann mitgegeben hatte“, Mayen lenkte ganz bewusst die Aufmerksamkeit auf die ominöse Person, die angeblich helfen sollte.
„Ben, wovon redet sie?“, Eve fühlte sich, als legte es an diesem Tag jeder darauf an, dass sie an die nicht vorhandene Decke sprang. Ihr Freund weigerte sich stumm auf diese Frage zu antworten. Welche Zauber oder Flüche er sich beschaffte, um die Mädchen zu beschützen, ging nur ihn etwas an. Eine Einstellung, die die Frauen nicht mit ihm teilten. „Ja Ben, nun erklär ihr doch mal wie du den Dämon die eine Nacht abwehren konntest. Wie du die Hetzjagd nach den Mädchen so einfach beenden konntest.“
Das restliche Team hielt sich aus den Provokationen und Anschuldigungen völlig heraus. Obwohl Fay so einige Fragen bezüglich der erwähnten Hetzjagd plagten, so traute sie sich nicht in diesem Moment eines der Mädchen danach zu fragen. Ben dagegen nutzte das ungeteilte Interesse an seiner Bekannten und seinen Methoden, um sie dazu zu bewegen ohne Mucken eben diese Person mit ihm aufzusuchen.
Sein Vorhaben fruchtete, denn Mayens Andeutungen hatten jede von ihnen äußerst neugierig gemacht und keine wollte sich den Abstecher zur Schamanin entgehen lassen.

Rose kontrollierte vor Beginn der Weiterfahrt, ob ihr treuer Begleiter, der MP3-Player, diese Reise überstand, oder sie mit dem Klatsch und Tratsch der Anderen irgendwann alleine ließ. Voller Sorge kramte sie noch schnell nach Ersatzbatterien, bevor das Gerät sie schneller als befürchtet im Stich ließ.
„Ich glaube, ich habe zu wenig Socken eingepackt“, sinnierte Jo und erinnerte auch die anderen daran, sich über die Einteilung ihrer mit sich gebrachten Kleider Gedanken zu machen.
Mit provisorisch reparierten Fenstern setzen sie ihre gemeinsame Reise fort.
Eine lange Reise, länger als sie es an diesem Morgen noch geplant hatten.

Seelenführung

 Seit fast 3 Tagen waren sie nun unterwegs. Zu viele Staus und Pinkelpausen schlichen sich in ihren Reiseplan und hatten sie bereits um mehr als einen Tag zurückgeworfen.
„Sind wir endlich da?“ Wie ein Schluck Wasser in der Kurve lag Jo halbwegs in ihrer Sitzreihe ausgebreitet. Der holprige Schotterweg des Parks, den sie gesetzeswidrig passierten, zerrte nicht nur an ihren Nerven. Es war auch eine Belastungsprobe für ihre aller Blasen.
Nicht mehr lange und sie würden ins Herz des Naturschutzgebietes stoßen. Bis auf wenige Meter konnten sie zu dem Platz vordringen, wo Fay damals als böse Hohepriesterin Sendra Ragens leiblichen Vater in einen Felsen sperrte.
Wie eine Gruppe unerfahrener Pfadfinder stiefelten sie nun im Gänsemarsch durch dichtes Buschwerk. Schritt für Schritt näherten sie sich einem plätschernden Geräusch. Während Fay zielsicher voran schritt, sich mit Bens Hilfe problemlos durch im Weg hängende Äste und sonstige Pflanzen kämpfte, schlichen und stolperten Mayen und Co unsicher hinter ihnen her. Von hinten drängelte Ragen unerbittlich, so nervös und neugierig war sie ihren leiblichen Vater sehen zu dürfen.

Nacheinander betraten sie eine lichtdurchflutete Wiese. Durch das saftig grüne Gras zog sich ein plätschernder Bachlauf und war das Einzige, was sie noch von dem Felsen fernhielt. Denn auf der anderen Seite des Baches sahen sie es, die Felswand. Sie bildete die Rückwand eines Berges und in ihrem Inneren fand sich sogar eine Höhle. Es war nur eine Art leerer Hohlraum, wie eine Blase, übrig geblieben, nachdem das Medium vor langer Zeit den Zugang verriegelte.
Grübelnd suchte Jo die Umgebung ab, auf der Suche nach einer natürlichen Brücke aus vielen verschieden großen Steinen. Da es sich um ein Naturschutzgebiet handelte, hatte sie längst die Hoffnung aufgegeben, einen bequemen Weg über das Wasser zu finden.
Ein plötzlicher Luftzug kündigte Julies Gebrauch ihrer Hyperspeed-Fähigkeit an. So schnell, wie sie verschwunden war, tauchte sie auch schon wieder an ihrer Seite auf. „Was gefunden?“, fragte Rose nach ihrer Ankunft. Die Feuerhexe orientierte sich immer an den Bewegungen in der Luft und brauchte so nicht einmal über ihre Schulter nach hinten blicken. Sie wusste auch so, wann Julie verschwand und zurückkehrte.
Als keine Antwort von Julie kam, nahmen auch die anderen vor ihr an, dass sie auf die Frage bloß mit einem Kopfschütteln reagierte. An Jo gewandt wollte sie in Erfahrung bringen, ob die Wasserhexe die Wasseroberfläche nicht einfrieren lassen könnte. Zu ihrem Bedauern erklärte sie ihr, dass die Eisschicht viel zu dünn sein würde. Sie könnte nicht einmal eine Entenfamilie tragen.
Trübsal blasend spielten die Mädchen verschiedene Möglichkeiten durch, um so trocken, wie es eben nur möglich war, auf die andere Seite zu gelangen. Währenddessen herrschte zwischen ihnen Stille, wie so oft, denn keiner wollte die andere bei ihren Gedankengängen stören. Diese gedankengeschwängerte Stille wurde plötzlich durch ein Platschen gestört. Ohne zu zögern watete Fay auf direktem Weg durch die Wasserader. Der Bachlauf war gerade mal drei Meter breit, doch in seiner Mitte fiel der Boden tief ab. Hüfttief steckte sie kurzzeitig im seichten Wasser und kämpfte sich dann weiter voran. Die hellblaue Jeans saugte sich stark mit dem natürlich gereinigten Bachwasser voll und sah, wie auch das orangene Sweatshirt, danach um ein vielfaches dunkler aus. Angespornt durch Fays mutiges Voranschreiten folgten auch die anderen ihr. Jedoch mehr oder minder erfreut über das ungeplante Bad im kühlen Nass.
Sicherheitshalber nahmen die Größeren unter ihnen - Ben, Eve, Ragen und Julie - die Rücksäcke und Taschen an sich. Sie hielten sie während ihres kurzen Marschs über ihre Köpfe, damit keines ihrer Utensilien unbrauchbar werden konnte.

Mit geübten Handgriffen bereitete Fay alleine das nötige Ritual vor. Ragen und Julie hatten ihr zwar ihre Hilfe angeboten, doch lehnte sie diese wehemend ab. Eine genaue Begründung dafür wollte Fay nicht abgeben, murmelte jedoch in regelmäßigen Abständen etwas vor sich hin.
Jo wrang wie eine verrückte ihr Longshirt aus und gab ihre Vermutung zum Besten: „Könnte ja sein, dass sie nicht ganz so normale Hexenmagie nutzt. Wer weiß, vielleicht muss die Magie ihn wieder rausholen, die ihn eingesperrt hat.“ Erstaunt über die diese qualitativ hochwertige Überlegung nickte Mayen anerkennend mit dem Kopf.
Ihre Vermutung fand schnell Anklang bei ihren Freundinnen, nachdem sie Fay dabei beobachteten, wie sie mit rotem Sand merkwürdig aussehende Zeichen, Symbole und Buchstaben an die Felswand malte. „Was ich hier tue ist wirklich verbotene Magie. Dennoch muss ich es tun, weil nichts meinen bösen Zauber sonst aufheben könnte“, Strich um Strich erweiterte sie ihr Kunstwerk. Ihre Stimme klang gepresst wenn sie sich strecken musste, damit die Zeichen nach oben hin größer werden konnten. Mit Mühe gelang es ihr jedoch trotzdem präzise Linien und Kreise zu ziehen. Sie stellte die Dose mit dem restlichen Sand dann endlich beiseite und begann die Kerzen anzuzünden. Diese standen in ungewohnter Konstellation an der Felswand. Zur Beantwortung der fragenden Blicke fuhr sie mit ihrer Lehrstunde fort: „Die Kerzen bilden kein Pentagramm, weil ich keine übliche Hexenmagie nutze. Der Halbkreis soll eine Verbindung mit dem Felsen eingehen. So kann ich auf das einst verschlossene Portal wieder zugreifen.“ Ihre Erklärungen waren schlüssig und beruhigten die Erfahrenen unter ihnen. Nur dass die blutrote Farbe der Kerzen nicht einmal Rose behagte. Zündete Fay erst einmal eine Kerze an, so nahmen die Mädchen eine seltsame Energie wahr. Fay zu unterbrechen wagten sie nicht. Das ehemalige Medium genoss ihr kürzlich erlangtes Vertrauen und sie dankten ihr insgeheim nicht in das verbotene Ritual mit hinein gezogen worden zu sein.
Ihre Ungeduld und Neugierde ließ sich schwieriger verbergen. Gerade Ragen wechselte ständig von einem Fuß auf den Anderen. Mit dieser hibbeligen Art erinnerte sie an ihre jüngere Kumpanin Jo und erntete bereits nach kürzester Zeit genervte Blicke von Rose.
Julie legte der Erdhexe behutsam ihren Arm um die Schulter, um ihre zwanghaften Bewegungen zu beendet. Es sah erfolgversprechend aus, bis Ragen aufs Fingernägelkauen überging. Enttäuscht stöhnte Julie auf und ließ den Arm sinken. Ein Versuch war es wert gewesen.

Ein Singsang in einer unbekannten Sprache, die Fay als tote rituelle Sprache der schwarzen Sabbate klassifizierte, rundete ihren Zauber ab.
Zuerst passierte nichts und die Mädchen befürchteten bereits das Ritual wäre fehlgeschlagen, doch dann erschütterte ein Beben die Erde. Der Boden unter ihren Füßen erzitterte. So stark, dass sie das Gleichgewicht verloren und die blutroten Kerzen unkontrolliert über das Gras rollten. Mühsam hasteten Mayen, Ben und Fay zu den umgestürzten Kerzen, damit die Wiese nicht ihretwegen noch Feuer fing.
Die Ausuferung des Rituals erst einmal überstanden, sahen sie sich einem Höhleneingang gegenüber. Kaum wenige Sekunden später standen sie wieder auf den Beinen und versammelten sich direkt davor. Die bauchige Höhle war nicht sonderlich groß und so hatten sie an ihrem Rande einen guten Blick ins Innere.
Dort lag jemand auf einem, aus einem Steinblock gehauenen, Tisch. Von ihrer Position aus erkannten die Umstehenden nur die Umrisse von den Füßen. Das reichte der unerfahrenen Ragen aus und sie stürzte ohne weiteres auf ihren vermeidlichen Vater zu.
„Du hast ein Faible für diese Dinger, kann das sein?“, bemerkte Julie trocken, die sich wie die anderen nicht vom Fleck rührte und nur den bewusstlosen Menschen anstarrte.
„Nicht sonderlich dekorativ, wie ich finde“, fügte Jo-Ann dann noch hinzu. „Das ist ein Altar“, sagte Eve daraufhin genervt. Daraufhin verzog Jo eine Fratze und äffte ihre Schwester nach. Zum Glück stand sie hinter Eve, sonst hätte sie im Nu einen Schlag im Nacken sitzen gehabt.
„Hättest du im Hexenkundeunterricht deiner Schwester aufgepasst, wüsstest du solche Dinge“, mahnte Mayen und unterbrach damit Jos Kindereien. Julie und Rose nickten wissend. „Ihr zwei braucht gar nicht so zu gucken. Ihr seid nicht besser. Unbelehrbar seid ihr. Ihr alle“, stöhnte die Vertraute der Hexen genervt auf. Rose musste zum ersten Mal seit Langem wieder grinsen. „Wenigstens etwas haben wir alle gemeinsam.“ Roses Grinsen verteilte sich in der Höhle und schon stand die Gruppe mit hochgezogenen Mundwinkeln da.
Ragen ausgeschlossen. Sie war über den bewusstlosen Körper gebeugt und versuchte den Mann zu wecken. Seine entspannten Züge wirkten frisch und jung. Zu jung, um wirklich ihr Vater sein zu können. Fragend wandte sie sich an Fay, die auf den Altar zukam. „Bist du dir sicher... Ich meine die Sache mit meinem Vater?“ Unsicher darüber, wie sie es formulieren sollte begann sie leicht zu stottern. Fay wartete mit ihrer Antwort, bis sie an der anderen Seite des Altars stehen blieb und die Vitalfunktionen des Mannes kontrollierte. „Natürlich bin ich mir sicher. Du kannst mir ruhig glauben“, sie machte eine kurze Pause, legte den Arm wieder zurück an seine Seite und fuhr fort. „Mayen... Ben, kommt bitte her und helft mir.“
„Aber Fay, schau doch mal! Der Mann könnte mein großer Bruder sein... zumindest mit größerem Altersunterschied.“ Nun machte Ragen die Mädchen neugierig und sie reckten die Hälse, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Immer weiter hackte sie jedoch darauf herum. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte. Er als ihr Vater. Schlussendlich kapitulierte ihre Vorgängerin mit einem Seufzen. „Hast du schon einmal von Dornröschen gehört? Kannst du dir vorstellen wie das Märchen geendet hätte, wenn sie in ihrem tiefen verzauberten Schlaf weiter gealtert wäre?“
Vom Höhleneingang hörte man ein leises „gruselige Vorstellung“ von Jo, die sich bei dem Gedanken schüttelte. Ben fasste dem Bewusstlosen unter die Arme. Die zwei Frauen teilten sich die Beine. Ragen wich derweil nicht von seiner Seite.
Plötzlich ging als Zucken durch seinen Körper, als sie ihn anheben wollten und unterbrach so ihr Vorhaben. Das Zucken wiederholte sich mehrere Male, bis er nach Ragens Arm griff. Ein beängstigender, aber auch wohliger Schauer lief ihr über den Rücken. Im ersten Moment dachte sie er würde sie als seine Tochter erkennen. Er hatte sich zwar bewegt, dennoch war sein Bewusstsein augenscheinlich nicht zurückgekehrt.

Vor der Höhle legten sie ihn auf ihren mit sich gebrachten Jacken nieder und sammelten ihre Utensilien wieder ein. Der magische Kreis war durchbrochen und kurz darauf stürzte die Höhle mitsamt Altar merkwürdiger Weise lautlos ein. Diese Tatsache beeindruckte Fay keineswegs, als hätte sie solche Dinge in regelmäßigen Abständen schon gemacht und erlebt. Julies Augen weiteten sich vor Überraschung so stark, dass man befürchten musste sie würden jeden Moment aus ihren Höhlen fallen. Die Schwestern zogen stattdessen synchron die Stirn kraus. Selbst ihre Stirnfalten zeigten Ähnlichkeiten, wie es nur bei Blutsverwandten sein konnte. Hätte auch nur einer von den Anderen in dem Moment die Zeit gefunden sich die Schwestern genauer zu betrachten, so wären sie in leichtes Gelächter ausgebrochen und würden noch Tage später auf diese Erkenntnis herum gehackt.
„Das Geröll hat keinen Mucks gemacht“, Ragens Stimme klang vor Erstaunen ganz piepsig. Das Mädchen ließ sich vor dem Schutt auf den Hintern fallen und saß nun im feuchten Gras. Die Beine von sich gestreckt. Hinter sie hockte sich Fay und legte ihr ihre Arme um den Hals. „Erde ist etwas ganz Faszinierendes. Irgendwann kannst du mit deinen Fähigkeiten allein solche Dinge bewirken. Ich wünschte ich hätte das erleben dürfen.“ Fays Worte gelangten im Flüsterton an ihr Ohr. Ein Kribbeln, vor Aufregung und Neugier, breitete sich in ihrer Magengegend aus.
Ragen vermied es darauf zu antworten. Unklar darüber, ob ihr Worte Fay vielleicht in ihrem Stolz als Hexe oder ihren persönlichen Gefühlen sonst verletzten. Nur wenige Sekunden wartete die ehemalige Erdhexe auf eine Reaktion ihrerseits, und als keine kam, klopfte sie Ragen kurz aufmunternd auf die Schulter und verschwand wieder.
„Ich muss ihn bei euch zuhause mit einer Kräutermischung aufwecken. Es ist besser, ich gehe sofort zurück. Falls ich eure Erlaubnis habe, eure Hexenküche zu nutzen“, Fay trat vor Eve und Jo, um ihr Einverständnis zu bekommen. „Die Mädchen müssen zu Sheila, der Schamanin. Es muss einfach sein“, zwängte sich Ben zwischen sie. Fays Idee doch auf direktem Wege zurück nach Hause zu fahren behagte ihm nicht. Sollten auch noch die Fähigkeiten der anderen Mädchen sich ausweiten und rumspinnen, so wüsste er nicht, wie er ihnen noch helfen sollte. Das wollte und konnte er nicht verantworten.
„Ich werde alleine zurückfahren. Ihr werdet euren Weg weiter führen“, begann Fay. „Mayen kann dir helfen, dich in unserem Lager zurechtzufinden“, schlug Eve vor, die mit Fays Idee keinerlei Probleme hatte. Was man von der kleinen Schwester keinesfalls behaupten konnte. „Moment mal, Leute. Wir haben nur einen Bus. Wollt ihr mir sagen, dass wir den restlichen Weg zur Schamanentante laufen sollen?“
„So schlimm wird es schon nicht werden“, kommentierte Rose, die dabei war ihren Rucksack umzupacken. Die Einstellung der Feuerhexe zu solchen Aktionen war allgemein bekannt. Das zustimmende Nicken von Julie hatten sie dagegen nicht erwartet.
„Könnt ihr vielleicht einmal an andere denken. An mich zum Beispiel. Ich bin keine gefühlskalte Killerbraut und Julies Hyperspeedfähigkeiten habe ich auch nicht. Wie soll ich denn da jemals ankommen?“, versuchte es Jo auf ein Neues. „Ein bisschen Recht hat sie ja. Unsere Reise würde nur unnötig in die Länge gezogen. So viele Vorräte haben wir gar nicht eingepackt“, wandte dann Eve ein und wurde mit einem strahlenden »Ich danke dir« - Grinsen ihrer Schwester belohnt.
Die „unsere Vorräte sind knapp bemessen - Ausrede“ wollte Mayen gerade abschmettern, da fügte Jo noch hinzu: „Und geschweige denn unsere Wechselkleidung. Wenn ich auch nur zwei Tage hintereinander dasselbe tragen muss, dann verwandele ich mich in eine Furie. Und das meine ich nicht metaphorisch.“
Ein Grinsen konnte sich Fay dabei nicht verkneifen. Von Anfang an hatte sie eine alternative Reisemöglichkeit für die restliche Gruppe erdacht und sie bisweilen in der Hinterhand gehabt. „Keine Sorge. Ein alter Freund meinerseits wird euch zu dieser Sheila bringen“, glucksend verkündete sie Jos Rettung, die dafür einen dankbaren Seufzer ausstieß.
„Wer ist denn dieser Freund?“ Ragen hatte sich wieder zu ihnen bequemt und war ganz versessen darauf zu erfahren, wer fünf Mädchen und einen Kerl transportieren konnte. Vor allem, da Fay die letzten 100 Jahre nicht unbedingt einen guten Kontakt mit Menschen pflegte. „Du wirst ihn mögen, Ragen. Wir Erdhexen haben scheinbar einen guten Draht zu solchen Kreaturen.“

Gespannt warteten sie auf besagten Freund. Suchten mit den Augen bestmöglich den Wald und den Himmel ab. Sie hatten nicht schlecht gestaunt, als Fay in eine merkwürdig aussehende Pfeife gepustet hatte, die gar keinen Ton von sich gab. Das erinnerte sie ein wenig an eine Hundepfeife, verkniffen sich aber Kommentare in dieser Richtung.
Die Wartezeit fühlte sich wie Stunden an. Nicht mehr lange und ihre Ungeduld hätte sich bemerkbar gemacht, da erschein ein Schatten am Horizont. Ein Schatten mit großen Schwingen, die mit jedem Schlagen schneller näher kam. Umso näher das Wesen kam, desto größer wurde natürlich der Schatten. Jedoch hätten sie nicht damit gerechnet, dass es so groß war.
Vor ihnen landete eine riesige Kreatur mit vier starken Beinen und großen Flügeln. Seine Schultern reichten bis zu den Baumkronen, der höchsten und ältesten Bäume. Sein Kopf und die Schwingen waren unverkennbar die eines Adlers und seine goldenen Federn glänzten in der Sonne. Es war so ein schönes pures Gold. Seine Erscheinung konnte jeden habgierigen Menschen in Versuchung führen.
Bei näherer Betrachtung bemerkten die Mädchen, dass auch die Vorderbeine an einen Adler erinnerten. Seine Krallen waren, wie die Kreatur im Gesamten abnormal groß und krallten sich gefährlich tief in die Erde.
Der Rumpf war nicht mehr mit Federn, sondern mit Fell besetzt und sein Schwanz bewegte sich ruhig hin und her. Anfänglich viel es ihnen schwer den hinteren Teil der Kreatur zuzuordnen, doch da war noch die buschige andersfarbige Schwanzspitze und die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Fays Freund war ein Mischling aus einem Adler und einem Löwen. Das Fell diesen Löwen hatte an sich den üblichen Sandton, doch wenn die Sonne es berührte schimmerte, es gefährlich rot auf, ein blutiges Rot, wie auch das lange Fell an der Schwanzspitze war.
Diese Kreatur war ohne Zweifel ein mythisches Wesen und so unfassbar schön. Die Mädchen mussten sich beherrschen nicht über es herzufallen, um seine Federn und Fell zu berühren.
Er taxierte mit seinen goldroten weisen Augen Fay und es blitze ein Hauch von Neugier auf, die seine Enttäuschung etwas beiseite wischte. Die Chimäre neigte sich nach vorne. So war er näher bei Fay und die Mädchen konnten seinen mörderisch großen Schnabel näher betrachten. Sie machten keinen Hehl daraus, dass sie gebannt von seiner Erscheinung waren und ihre Neugier sie zu zerfressen drohte.
„Du hast auf den rechten Pfad zurück gefunden, wie feststellen darf“, sagte er in einem sehr ruhigen Tonfall. Seine Stimme klang so sanft und sie hatte einen schönen dunklen Klang. Anstelle einer Antwort, blickte Fay ihm tief in die alten Augen und nickte ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. Dann wandte sie sich wieder an ihre Weggefährten und der Adlerkopf bewegte sich wieder in die Höhe. „Ich darf euch meinen alten Freund aus Hexentagen vorstellen. Er ist ein Greif.“ Immer noch vollends begeistert starrten sie ihn an. „Mein Name ist Thordenwar. Thordenwar, der Wächter.“ Thordenwar neigte sein majestätisches Haupt nach vorne. Respekterweisend deutete der Greif damit eine leichte Verbeugung an.
Fay forderte die Anderen mit ihren Augen auf es ihm gleich zu tun. Nachdem sie endlich verstanden, was denn genau von ihnen verlangt wurde, verbeugten sich alle reihum vor dem großen Wesen.
„Also wie war dein Name noch mal?“, platze es aus Jo heraus. Sie hatte sich ernsthaft angestrengt, konnte den Namen aber nach den ersten zwei Mal sich trotzdem nicht merken.
„Thordenwar. Es ist ein Name gebildet aus Worten unserer alten Sprache.“
„Ah ja. Torten-wer?“
„Jo! Sei nicht unhöflich“, ermahnte sie Eve. Die große Schwester bekam Angst der alte Greif könnte vor Entrüstung mit seinem mächtigen Beißwerkzeug nach Jo schnappen.
„Ok, wisst ihr was. Ich werde dich einfach Thor nennen“, entschied die Wasserhexe dann.
„Thor?“, fragte der Greif ungläubig.
„Ja, Thor. Ein nordischer Gott. Noch nie von Asgard gehört?“
Eine etwas eigenwillige Freundschaft begann sich zwischen dem Greif und dem Mädchen zu entwickeln. Interessiert bedachte der Greif nun nämlich auch sie. Keiner konnte genau sagen wer von den Beiden mehr vom anderen fasziniert war.
„Das verstehe ich nicht. Ein Greif ist das Kind der Erde. Warum sich Jo und Thordenwar verstehen, das will nicht in meinen Kopf“, mit verwirrten Blick bedachte Fay die Unterhaltung zwischen dem Greif und der Wasserhexe. Normalerweise besteht die Verbindung immer zwischen einem Greif und einer Erdhexe, da sie Kinder der Erde waren. Als Geschöpf der Lüfte wäre es für Fay auch verständlich, wenn Eve sich mit dem Greif verbunden fühlte. Jedoch entstand ein Band zwischen einem Sohn der Erde und einer Tochter des Wassers. Ein Band, das außergewöhnlich und völlig unmöglich war.
Eve kam zu ihr hinüber, um nicht über die Köpfe der Anderen hinweg rufen zu müssen: „Jo ist ein Fall für sich. Da funktioniert die Ordnung der Elemente nicht. Ihr Wesen ist einfach für alles offen.“ Anerkennend nickte Fay. Sie hakte sich bei Eve unter und führte sie etwas von den Anderen weg.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Eve das Medium besorgt. Ohne Mucken war sie der Aufforderung gefolgt, doch ihre Neugier konnte sie nicht verbergen. „Diese Verbindung ist nicht normal. Und bitte sag mir jetzt nicht, dass ihr alle euch mit ihm verstehen werdet. Natürlich werdet ihr, denn ihr seid Hexen. Aber schau dir deine Schwester bitte einmal an und auch Thordenwar. Sie haben alle um sich herum vergessen. Das habe ich schon mal erlebt. Bei mir selbst.“ Ihre Stimme war fest und sie presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, als sie fertig gesprochen hatte. Zwischenzeitlich hatte Eve versucht ihren Wortschwall zu unterbrechen, um ihre Fragen zu stellen, doch sie kam nicht dazu.
„Willst du mir erzählen, dass Jo eine magische Verbindung aufgebaut hat, die für Ragen bestimmt gewesen wäre. Dass sie den Regeln der Elemente auf höchster Ebene getrotzt hat?“
„Genau das will ich sagen“, antwortete Fay.
„Aber wie soll das möglich sein?“, Eve blieb beinahe die Luft weg. Ihr schwirrte der Kopf und sie musste sich an Fays Arm festkrallen, damit sie nicht nach hinten weg fiel. „Zu meinen Zeiten erzählte man sich von einem jungen Mädchen. Sie war bloß eine praktizierende Hexe, nahm man an. Denn eine Elementhexe war sie nicht. Aber sie hatte ein Verständnis für die Welt und ihre Elemente, dass sie zu allem spielerisch eine Verbindung aufbauen konnte. Unter allen hatte sie Verbündete und wünschte sie sich etwas, so half man ihr ohne Zögern. Ich glaube genau das haben wir hier von uns.“ Eine Erklärung folgte, die sich so ellenlang anfühlte. Eve hatte schon Probleme in diesem Moment noch zu folgen. Zu sehr verflüchtigten sich ihre Gedanken, verirrten sich zu ihrer Schwester und kamen schwerlich wieder bei ihr an. Verständnislos schüttelte sie bloß den Kopf. Bedeutete Fay, dass sie immer noch nicht ganz den Zusammenhang verstand und Hilfe dabei brauchte.
„Diese Besonderheit teilt Jo mit dem Mädchen. Denn glaube mir, Thordenwar hätte jedem anderen normalerweise eine Lektion erteilt, der ihm beinahe frech daher kommt. Greife sind sehr stolz, besonders im Hinblick auf ihrem Namen und ihre Rasse“, Fay machte Eve keine Vorwürfe und verdeutlichte ihr anhand des vor sich sehenden Beispiels was Jo bewirken konnte und was für Vorteile sie in der magischen Welt haben könnte. „Deine Schwester ist eine besondere Hexe. Das ist das Geheimnis ihres offenen Wesens“, beeindruckt beobachtete Fay nun die jüngste Hexe. Thordenwar hatte ihr sogar schon erlaubt seine Federn zu berühren.
Ein Lächeln huschte über Eves Lippen, als sie Fays Blick folgte und ihre Schwester so fröhlich mit dem Greif interagieren sah.
„Behalte sie am Besten mal im Auge und vielleicht kann dir Bens Shamanenfreundin helfen genaueres zu erfahren.“
„Könnte es nicht auch sein, dass es bloß eine einmalige Sache war?“ Eves Frage wurde nicht mehr beantwortet. Thordenwar hatte sich nach einer Bitte von Jo den noch bewusstlosen Hexer gegriffen und wartete nun, dass nachdem Mayen bereits auf seinem Rücken saß nun auch Fay hinauf kletterte.
Leichtfüßig wie eine kleine Fee mit Flügeln hopste die alte Freundin des Greifs an Mayens Seite. Naja wohlbemerkt direkt vor ihre Nase, damit Mayen etwas hatte, wo sie sich während des kurzen Fluges zum Trabbi festhalten konnte. Denn selbst wenn ein Wesen dieser Größe nicht den Anschein machte, er kannte Flugmanöver bei dem selbst erfahrenen Fliegern schwindlig, wenn nicht sogar gänzlich schlecht wurde. Eve graute es bereits bei dem Gedanken ebenfalls, zu einem späteren Zeitpunkt, auf diesem Flugobjekt Platz nehmen zu müssen.
Die drei freien kräftigen Beine, die ihm zur Verfügung standen nutzte Thordenwar nun, um sich kraftvoll vom Boden abzustoßen. Den Mädchen wehte der starke Luftzug entgegen, den seine Schwingen beim Start verursachten. Es wurde viel lockere Erde aufgewühlt, dem die Mädchen nicht ausweichen konnten. Leicht überrascht standen sie einfach da und starrten den Greif an, dessen Silhouette am Himmel immer undeutlicher zu erkennen war.

„Darf ich dich was fragen?“, Mayen musste Fay ins Ohr schreien damit sie gegen den schnellen und lauten Windstrom ankommen konnte.
„Natürlich.“
„Wie hat deine Mutter nach deiner ersten Vision auf dem Hügel reagiert?“
„Was meinst du?“ Bevor Mayen sich genauer ausdrücken konnte setzte Thordenwar bereits zur Landung an. Sie räusperte sich kurz verlegen, sammelte all ihren Mut und wartete darauf, dass Fay nach ihrem Abstieg ihr wieder ihre volle Aufmerksamkeit schenkt. „Mayen?! Was willst du nun genau wissen?“
„Was ist zwischen euch, dir und deiner Mutter, geschehen?“ Die Zwei hielten eisern Blickkontakt und in Mayen krochen Zweifel hoch, ob sie eine Antwort erhalten würde. Fay druckste herum, fand keine Worte, doch ihr wurde eine Gnadenfrist beschert. Der mächtige Körper des Greifen schüttelte sich heftig. Um Mayen herum plusterte sich sein Gefieder auf. Ein deutliches Zeichen seiner Ungeduld.
Eine ungemütliche Konfrontation vermeiden zu wollen, forderte Fay Mayen mit einem Nicken auf abzusteigen. Bis Mayen es jedoch verstand, führte das ehemalige Medium einen regelrechten Affentanz auf. Dann endlich glitt sie weniger elegant, dafür aber schnell von Thordenwars Rücken.
„Also, bekomme ich eine Antwort?“, Mayen hatte sich nach ihrer unsanften Landung wieder an Fay gewandt. Ihre Ungeduld stieg bis zur Unbezähmbarkeit an.
„Bevor ich das tue... Wieso gerade jetzt?“
„Die Mädchen sind außer Hörweite. Ich will sie nicht beunruhigen.“ Ihre Lippen kräuselten sich zu einem spitzbübischen Lächeln und gestand: „Außerdem bin ich viel zu neugierig.“ Ihre ehrliche Antwort beruhigte Fays misstrauisches Wesen. So bekam die Vertraute ein zustimmendes Nicken und die lang ersehnte Erklärung: „Sagen wir mal so: Sie griff mich an. Wie eine Furie führte sie sich auf.“ „Das war’s schon? Du erwähntest doch sie hasste dich. Was verständlich sein könnte-“, Fays katzenhafte Gesprächspartnerin stachelte weiter. Der Umgang mit den Mädchen hatte sie gelehrt sich nicht mit der erst besten Antwort zufrieden zu geben. Diese eigenwillige Erfahrung gab ihr Recht und ihr Wortschwall wurde unterbrochen: „Sie hat versucht mich umzubringen.“ Daraufhin musste Mayen schlucken. Diese Antwort war wie erwartet und doch schmerzlich erschütternd. „Damit nahm dann mein verwerflicher Werdegang als Teil des Bösen seinen Lauf“, setzte die letzte Erdhexe spöttisch hinzu.
Thordenwar wartete offensichtlich auf das Ende dieser Unterhaltung. Für ihn war der Moment nun gekommen, öffnete seine gewaltigen Schwingen und verschwand von dem provisorischen Parkplatz. Dort wo er gestanden hatte, lag jetzt nur noch der bewusstlose Greg im seicht wehenden Gras.
Fays letzte Worte verflogen mit dem Wind des Auftriebs.

Sie mussten nicht lange warten, als Thordenwar bereits erneut am Himmel auf sie zu flog. Es blieb nicht einmal Zeit die Augen vom Himmel zurück auf den Boden zu heften.
„Über was habt ihr euch unterhalten?“, fragte Jo ihre große Schwester, während sie beide fasziniert den Greif beobachteten. „Wir sind zu der Erkenntnis gekommen, dass du eigenartig bist.“ Ganz stumpf, als würde sie sich mit Jo über das Wetter unterhalten, antwortete Eve ihr. „Ich bin gar nicht eigenartig“, entgegnete sie entrüstet. Eves Antwort hatte tatsächlich zur Folge, dass die Jüngere für einen kurzen Moment den Greif vergaß. Von ihrer Schwester kassierte Jo bloß ein wissendes Grinsen und teilte darauf hin einen spielerischen Schlag gegen Eves Oberarm aus.
Mit jeder Sekunde, die der Ritt auf Thordenwar näher rückte verspannten sich Eve und Julie merklich. Die Blondine konnte ihre Nervosität überhaupt nicht verbergen und verlagerte ihr Gewicht im Sekundentakt von einem Bein aufs Andere. „Hast du Höhenangst?“, fragte Ragen sie belustigt.
Ohne ihre Augen von dem Greif zu nehmen antwortete sie so trocken wie nie: „Höhenangst, Angst vor großen Tieren, Flugangst und so weiter und so fort.“ Abschätzig beäugten sie die anderen vier Mädchen. Rose zog ihre rechte Augenbraue hoch und ihr Gesicht war zu einer ungläubigen Miene verzogen: „Du hast eigentlich vor allem Angst, kann das sein?“ Anstatt sich zu erklären machte Julie bloß einen Schmollmund, woraufhin Rose sich wieder abwandte.
Sie beobachtete nun Bens Klettereinlage auf Thordenwar und entschied den Greif nicht länger warten zu lassen. Mit schnellen Schritten folgte die Feuerhexe dem Schutzengel und schwang sich behände zu ihm auf den breiten Rücken.
„Wie soll ich da bitte herauf kommen?“, jammerte Jo, während sie nach einer anderen Lösung Ausschau hielt.
„Wir könnten laufen. Mit meinen Fähigkeiten geht das ganz schnell“, raunte ihr Julie zu. Zuerst überlegte die Jüngste das Angebot anzunehmen, doch dann trat sie an Thordenwar heran. „Würdest du mir auf deinen Rücken helfen?“ Ihr umwerfendes Klein-Mädchen-Lächeln taxierte ihn. Ihr Anblick entwaffnete ihn, wie beabsichtig. Er löste sich aus seiner wartenden Starre, neigte seinen Kopf zu ihr hinunter und beäugte sie liebevoll. „Soll ich dich auf meinen Rücken hieven? Mein Schnabel wird dir auch keinen Schaden zufügen.“
Bei diesen Worten verschluckte sich Jo an ihrer eigenen Spucke. Der alte Greif begriff ihr Unbehagen beim Gedanken an seinem Schnabel und hielt ihr einen seiner Flügel hin.
„Darf ich rutschen?“ Jos Augen leuchteten nun vor Vorfreude. Thordenwar nickte und schob daraufhin seinen Flügel unter ihren Po.
Sichtlich erfreut saß die Wasserhexe nun auf der Spitze eben dieses Flügels, wartete bis Thor ihn genug angehoben hatte und rutschte dann mit einem lautstarken Ausruf auf seinen Rücken.
Voller Bewunderung beobachteten alle Anwesenden sie dabei. Nur, dass Eves Stirn zusätzlich eine Sorgenfalte zierte. Allein zu Jo war der Greif so herzlich, was Fays Vermutung über diese geheime Fähigkeit nur noch unterstrich.
Wohin würde diese neu entdeckte Fähigkeit noch führen? Was konnten sie von Jo erwarten, mit einer Fähigkeit dessen Ursprung ein Mysterium war.

Als Thordenwar mit den Sechs auf einer verwilderten Wiese landete, war Eve einfach nur überaus glücklich absteigen zu dürfen. Auch wenn sie keinen blassen Schimmer hatte, wie sie das anstellen sollte. Ungelenk rutschte sie auf seinem großen Rücken herum, ihre Finger noch ganz taub vom festen Griff. Während Jo mit Freuden auf einem seiner riesigen Schwingen hinunter rutschen durfte, half Ben einer nach der anderen vom Greif.
Danach – Thor, so versicherte Jo, würde auf sie warten – führte Ben sie durch einen kleinen Waldabschnitt. Es dämmerte bereits und die Abendsonne tauchte das Blattwerk in warme prachtvolle Farben. Die Mädchen vermochten die Schönheit der Natur jedoch nicht mehr zu sehen. Sie hatten schon längst kein Auge mehr dafür, zu oft mussten sie durch Wälder und Unterholz staksen. Ihre unverblümte  Abneigung konnte man an ihren Gesichtern leicht ablesen.
Kurze Zeit später erreichte ihre kleine Gruppe das andere Ende, wo eine kleine Lichtung an eine schöne, alte und mit Schnitzereien verzierte Holzhütte angrenzte. In ihrer Mitte loderte ein traditionelles Lagerfeuer und verschiedene Kräuterdüfte vermischten sich und hingen schwer in der Luft. Instinktiv versuchten Ragen und Julie sich frische Luft zuzufächeln, was kläglich scheiterte.
„Hier riecht es ja schlimmer wie in einer Shisha-Bar“, durchbrach Jos zarte Stimme die Stille. Ruhig hatten sie die verlassene Lichtung beobachtet gehabt. Keine wollte Ben als Erste hinterher und auf die freiliegende Grünfläche treten. „Ob wir das Zeug auch rauchen müssen?“  Stirnrunzelnd schenkten die Anwesenden Jo ihre ganze Aufmerksamkeit, die mit ihren eigenartigen Gedankengängen mal wieder alle erstaunte. „Wie kommst du denn jetzt bitte da drauf?“, fragte ihre große Schwester entgeistert. Wild gestikulierend versuchte Jo sich zu erklären: „Offensichtlich sitzen wir auf die wohl typischste Art und Weise zusammen um das Lagerfeuer herum. Und immerhin ist diese Frau eine Schamanin. Die rauchen doch Friedenspfeife, oder nicht?“ Ein lautes Stöhnen, vermischt mit erheitertem Glucksen entfuhr den Anderen.
 „Du bist eine Pfeife!“, bemerkte Eve.

Das Knarzen von Holz war zu hören und aus der Hütte trat eine Frau; groß, schlank und schätzungsweise Mitte 30, hinaus ins Freie. Nun trauten sich auch die Hexen aus dem schützenden Schatten der Bäume.
Als Jo jedoch sah, dass die Schamanin bei näherer Betrachtung zwar dunkles Haar hatte, aber hellen Hauttyps war und somit gar nicht ihrer Vorstellung einer modernen Pocahontas besaß, zog sie enttäuscht einen Flunsch. Am Lagerfeuer angekommen standen sich beide Parteien neutral gegenüber, wobei sich Ben an die Seite stellte, um die Frauen besser vorzustellen. Sheila, so stellte sie Ben vor, bemerkte Jos hervor geschobene Unterlippe und hob abschätzend eine Augenbraue. Um die Schamanin nicht mit Respektlosigkeit zu verärgern, stieß Rose der Jüngsten ihren Ellbogen in die Seite. Augenblicklich hörte diese auf.

(*OB*Übergang in diese Szene deutlicher. Mehr Erklärung.*OB*)„Bist du bereit, Tochter der Erde? Höre nur auf meine Stimme. Sie wird dich durch deine Vergangenheit leiten. Schrecke nicht vor dem zurück, was du gleich sehen wirst.“ Sie saßen um das Feuer herum und Sheila konzentrierte sich ganz auf Ragen. Ihr Blickkontakt wurde durch die Kräuterdämpfe zwar verschleiert, jedoch beeinträchtigte sie dies keines Falls.
Vor dir siehst du all die Bäume und Gewächse, die den Wald hier säumen. Die beiden rannten, so schnell sie ihre Beine trugen. Jeder Schritt auf diesem unebenen Boden schüttelte sie und das kleine Bündel auf den Armen der Frau kräftig durch. Während ihrer Flucht waren ihre Gedanken nur bei dir.
Deine leiblichen Eltern liebten dich über alles auf der Welt und sie tuen es noch. Dich wegzugeben war eine schwere Entscheidung. Aber nur so konnten sie dich vor den Einflüssen des Bösen beschützen. Es war deine Rettung, dennoch schmerzte es sie sehr.
Meghan, deine Mutter, besaß nur eine begrenzte Macht. Dich wegzuzaubern, geschweige denn dich mit einem Zauber vor der schwarzen Hohepriesterin zu verstecken, das vermochte ihre Macht nicht zu vollbringen.
Auf einer Lichtung, die dir wohlbekannt ist, machten sie Rast. Zu Hilfe wollten sie rufen, hätten sich und ihren Standort so nur verraten. Da kam der jungen Mutter eine Idee. Ihren linken Arm befreite sie aus der Umklammerung und legte sie behutsam gegen einen starken, ihr nahestehenden Baum. Er sollte ihre Verzweiflung fühlen und doch floss auch viel ihrer Liebe zu dir und der Natur selbst aus ihr in ihn. Dass sie soeben die bedeutsamste Magie, die eine Erdhexe besaß, vollbrachte, wusste sie nicht. Als ein wunderschönes Baummädchen aus dem Inneren dieses Baumes trat, so fühlte sie nur Dankbarkeit und ihre Gedanken waren erfüllt mit Hoffnung.
Dein Vater war entsetzt über das was er sah, vertraute jedoch auf das Urteilsvermögen seiner Liebsten.
(*OB*ausschmücken, deutlicher machen was da passiert*OB*)Die Dryade beugte sich zu Meghan hinab, griff nach ihren Händen und berührte mit ihrer Stirn die ihre. Konzentriert schaute die Waldnymphe in ihren Geist. Mit einem zufriedenen Lächeln löste sie sich wieder und kniete sich auf die Erde. Liebevoll, strich sie über lockere, sowie die festgetretene Erde.
Nachdem Greg, dein Vater, den Baumgeist für völlig nutzlos erachtete, geschah wieder etwas Außerordentliches. So plötzlich, er dachte schon daran, sie machten es mit Absicht.
Schweren Herzens gaben sie ihr kleines Mädchen in die Obhut dieser reinen Wesen. Diese versprachen ihnen ein wundervolles sicheres Zuhause für dich zu finden und bis dahin würden sie dich umsorgen. Mit Tränen in den Augen und einem Kloß im Hals stürzte das Paar von der Lichtung wieder in die Dunkelheit des dichten Waldes hinein. Das war der Moment, wo sie ihre Ragen das letzte Mal gesehen hatten.
Ein karger Abschied für unbestimmte Zeit.

Fast vier Wochen suchten sie vergeblich nach einer Familie, in die du gepasst hättest. In dieser Zeit schenkten sie dir so viel Liebe, Liebe der Mutter Natur, du wurdest ein geschätztes Mitglied ihrer Gemeinschaft. Doch dann sollte es eine Familie geben. Eine Familie, die eine Tochter hatte, genau im selben Alter. Die Dryaden hatten dich jedoch schon sehr in ihr Herz geschlossen und wollten dich eigentlich gar nicht mehr hergeben.
Das kleine Mädchen war so klein, gebrechlich und schwach. Sie erlitt einen plötzlichen Kindstod. Da war die Zeit zum Handeln knapp bemessen. Bevor die Eltern den Verlust ihres Kindes bemerken konnten, vertauschten sie euch.
Zum Abschied entschieden sich die Dryaden dir ein kostbares Geschenk zu geben. Sie zeichneten dich als Tochter der Erde. Dir sollte am Tag der Bestimmung ein Teil ihrer Macht zuteil werden. Dich zu einer mächtigen Hexe heranreifen lassen, mächtiger als es deine Mutter war.
Den Körper der kleinen Verstorbenen nahmen sie mit sich und übergaben ihnen voller Respekt in die Obhut der Mutter Natur.
»So war das also«, murmelte Ragen vor sich hin. Die Neuigkeit über andere Eltern war ihr schließlich nicht neu, doch nun erklärte das ihre neue Familie; es erklärte das Durcheinander, das plötzlich in ihren Familienverhältnissen herrschte.
Neugierig, wie die Schamanin offensichtlich in ihrer Vergangenheit lesen konnte, als wäre sie ein offenes Buch, hob Jo die Hand. Mit einem Nicken bedeutete ihr Sheila, dass sie sprechen durfte. »Woher weißt du das alles?« Die Lippen der Schamanin kräuselten sich zu einem Lächeln, auch wenn diese enorme Unwissenheit der Hexen mehr gefährlich als amüsant war.
»Ich weiß gar nichts über euch. Tief in eurem Bewusstsein sind alle Informationen gespeichert, aufgeschrieben wie in einem Tagebuch. Mit meiner Magie kann ich nur dank eures Einverständnisses alles hervor holen und durch mich übermitteln. Eigentlich befördere ich bloß eure Erinnerungen zu Tage.«
Auf diese Antwort war die Jüngste nicht gefasst und schwieg dazu. Auch die Anderen waren still, in der Hoffnung schnell fortzufahren und selbst bald die verborgenen Tiefen in sich zu entdecken.
Somit wandte sich die Frau nun Julie zu. Diese wich sichtlich nervös ihren Blicken aus. Wollte sie überhaupt wissen, welche Abgründe in ihrer Vergangenheit lagen?
„Julie, ich hoffe du bist bereit zu erfahren, warum deine Mutter sich so von dir entfernt hat.“
„Was?! Moment mal!“, Sheila hatte zuvor zwar davor gewarnt eine Seelenführung zu unterbrechen, aber für Julie war es mehr als notwendig gewesen. Da Sheila sowieso erst begann, zeigte Julie keinen Deut von einem schlechten Gewissen. „Ich habe dich, sowie die Anderen, deutlich darum gebeten es einfach ihren Lauf nehmen zu lassen“, ihre Stimme war zwar ruhig, doch ein wütendes Zittern in ihrem Unterton konnte sie nicht verstecken. Den Anderen war eines klar: Sheila war Ungehorsam nicht gewohnt. Sie würde sich an den Mädchen noch die Zähne ausbeißen.
„Du willst meine Mutter mit in diese Sache hineinziehen. Sie ist eine verrückte, lebensfrohe Frau. Ich will gar nicht mit ihr in Übersee leben. Meine Freunde sind hier. Verlassen worden zu sein ist eine simple, verdammte Lüge!“
„Wenn du nicht bereit bist mit deiner Vergangenheit und dem Ursprung deiner Kraft konfrontiert zu werden, dann geh!“ Mit dieser ungehaltenen Reaktion hatte keiner gerechnet und im ersten Moment waren sie auch kurz zusammengezuckt. Nach einem kurzen Zögern traute sich Julie, wieder zu sprechen. Doch sie druckste letztendlich nur Unverständliches vor sich her. Ihr Verhalten Sheila gegenüber war ihr sichtlich peinlich und sie hatte Schwierigkeiten sich dafür zu entschuldigen. Etwas in Sorge, ob sie ihre Chance auf Antworten verspielt hatte saß sie geknickt da und wartete.
„Tut dir dein Verhalten leid?“, fragte Sheila. Das freundschaftliche Ambiente war verzogen und die Schamanin legte nun ein geschäftlicheres Verhalten an den Tag. Obwohl die Sonne hoch am Himmel stand war den Mädchen frisch, was an der eisigen Stimmung zu liegen vermochte, die Sheila und Julie verbreiteten.
Auf Sheilas Frage nickte Julie nur beschämt. So konnte es mit ihrer Seelenführung doch noch weiter gehen. Oder letztendlich erst einmal wirklich beginnen.

Du bist in dem Haus, was du auch heute noch dein Zuhause nennst. Es erinnert mit seiner schmalen Form und spitzem Dach an ein Hexenhäuschen wie aus dem Märchen. Im Vorgarten blühen die schönsten Blumen, wie Vergissmeinnicht, die du so liebst. Im Garten wuchsen eigenartige Kräuter, die du auch in der Küche oft wieder gefunden hast. Du warst gerade sechs Jahre und äußerst neugierig. Im Arbeitszimmer deiner Mutter, so nannte sie es zumindest immer, hattest du eigentlich nie etwas zu suchen. Dort war sie oft für sich allein, meditierte und vollführte ihre Rituale. Deine Mutter, Ruby, war eine wirklich spirituelle Frau und sie lebte so gut es ihr möglich war im Einklang mit der Natur.
Für ihre Meditationen benutzte sie oft Kräuter wie Weihrauch, die sie zur Reinigung ihrer Umgebung und ihrer selbst verbrannte und im Raum verteilte. Eine gesunde Person konnte problemlos die Dämpfe von Räucherstäbchen und anderen verbrannten Kräutern einatmen, doch du hattest schweres Asthma. Deshalb durftest du das Zimmer nicht betreten.
Leider hatte sie nicht bedacht, dass ein Zimmer mit zwei Zugängen keine große Herausforderung für ein kleines neugieriges Mädchen war. Lange Zeit hast du immer nur vor den Türen gesessen und auf sie gewartet, sie beobachtet.
Ruby war deine Heldin, ohne Vater hattest du immerhin nur sie, deine Mutter. Du wolltest sein wie, machen was sie tat. Immer wenn sie dir süße Zöpfe geflochten hatte, waren deine Haare kurz darauf wieder offen. Sie sollten aussehen wie ihre. Du warst immer so stolz, dass du dieselbe honigblonde Haarfarbe hattest.
Eines Tages war sie unachtsam und vollkommen in ihren Ritualen versunken. Die Chance für ein kleines Mädchen unbeobachtet einen verbotenen Raum zu betreten. Hinter einer großen alten Kiste, die schwungvoll verziert war, bot sich ein gutes Versteck. Eine Zeit lang hast du sie ruhig beobachtet, dann verließ sie kurz den Raum. Sie brauchte frische Zutaten, damit sie fortfahren konnte.
Viel zu lange warst du in diesem Raum gewesen, viel zu lange den Dämpfen ausgesetzt. Deine Hustenanfälle unterdrücktest du so lange, sie im Raum war, doch dein kleiner Körper gewann recht schnell die überhand.
Es fiel dir schwer zu atmen, nach Hilfe rufen konntest du erst recht nicht. Eine kleine Träne kullerte über dein Gesicht, bevor dein Körper vor Anstrengung zusammenbrach.

Als deine Mutter endlich wieder zurück kam war es bereits zu spät. Du hattest aufgehört zu atmen und dein Herz aufgehört zu schlagen. Dachte sie zumindest, jedoch war es bloß sehr sehr schwach.
In ihrer Verzweiflung wusste Ruby nicht mehr was sie tun sollte und fuhr dich, eingewickelt in eine dicke Lage Decken zum Wald. Dort legte sie sich mit dir auf einer Lichtung, wohl bemerkt dieser ganz besonderen Lichtung, die euch Hexen schon immer anzog, auf den kalten Waldboden und weinte bitterlich. Tief in ihrem Inneren wuchs der Wunsch dich irgendwie zurückzuholen. Egal was es kosten mochte. Die Macht dazu hatte sie aber nicht.
Stumm betete sie zu allem was sie kannte: den Göttern, den Elementen und allen magischen Wesen die ihnen inne wohnten. Stunde um Stunde verging. Ihre Hoffnung schwand dahin und sie entschloss dich den Elementen zu übergeben und fort zu gehen. Da leuchteten im Wald, ganz nah der Lichtung, ein paar unwirklich erscheinende Lichter auf.
Wie angewurzelt blieb Ruby stehen und beobachtete ihre Bewegungen. Umso näher sie kamen, desto mehr erkannte Ruby was sie vor sich hatte. Eine Handvoll Elfen waren gekommen. Gekommen um ihr beizustehen oder sie zu strafen, sie wusste es nicht.
Die Lichter, die Ruby gesehen hatte, kamen von diesen wunderschönen Geschöpfen. Es war als würde ihr Elbenlicht aus ihrem Inneren heraus strahlen. Über viele magische Wesen hatte sie in ihrem Buch der Schatten gelesen und oft geträumt wie es wäre mal einem zu begegnen und nun war es soweit. Die wohl am meisten zurück gezogen lebenden Kreaturen des Lichts kamen für sie aus ihren versteckten Waldbehausungen.
Die großgewachsenen Elfen betraten gemeinsam die Lichtung, sangen in ihrer schönen und unbekannten Sprache und sie tänzelten beinahe um den kleinen Körper herum. In ihren Händen hielten sie kleine Schalen, jede Schale war mit einer anderen Zutat gefüllt.
Ruby wagte es nicht die magischen Wesen bei ihrem Treiben zu unterbrechen und wartete ungeduldig etwas abseits von ihnen. Viel zu dicht standen sie beieinander und wenn sie sich mal bewegten, um ihren kleinen Marsch um dich weiter zu führen, konnte deine Mutter nichts erkennen was ihr bekannt vorkam.
Nach Beendigung ihrer Prozession neigte sich ihre Führerin zu dir hinab. Diese stand an deinem Kopfende und zeichnete dich als Elementhexe des Geistes. Durch einen Kuss, den sie dir auf deine Stirn hauchte. Wie als würde dieser Kuss mitsamt seinem Zauber sichtbar werden legte sich ein Schimmer über dein Haar. Danach hatte es seine honigblonde Farbe verloren. Du hattest nun, mit deinem fast platinblonden Schopf, mehr Ähnlichkeit mit den Elfen als mit deiner Mutter. Dann wandten sie sich endlich deiner Mutter zu. Ohne ein unnötiges Wort, wie es Elfen nennen würden, an sie zu richten verbeugten sie sich vor ihr.
Daraufhin waren sie so lautlos wieder verschwunden, wie sie gekommen waren und du öffnetest wie ein Wunder deine kleinen Augen wieder. Unglaublich dankbar für die Tat der Elfen drückte sie dir beinahe wieder die Luft ab, weil sie dich viel zu fest an sich presste.
Später bemerkte sie, dass dein Asthma seither geheilt war. Ein Nebeneffekt der heilenden Kräfte der Elfen, die deine Mutter im Buch der Schatten würdigte.
Die Elfen konnten ihr jedoch nicht ihre Schuldgefühle nehmen, die ihr immer die Angst gaben, dich versehentlich ein weiteres Mal zu töten. Deshalb suchte sie diesen Abstand. Sie floh vor ihrer Angst.
Benommen blinzelte Julie ein paar Mal. Ihre Mutter hatte ihr nie davon erzählt. Als sie genauer darüber nachdachte, fühlte sie einen Stich in ihrem Herzen.
Eve legte ihr die Hand auf die Schulter. Ihr Blick bedeutete Julie, dass sie nicht alleine war.

Da Sheila nach der Reihe vorzugehen schien, immerhin begann sie rechts mit Ragen und ging dann über zu Julie, sollte Eve nun eigentlich an der Reihe sein. Jo war schon ganz neugierig, was sie aus ihrer Vergangenheit nicht mehr in Erinnerung behalten hatten. Doch Sheila überging Eve und blickte die kleine Schwester stattdessen herausfordernd an.
„Bevor ich mit deiner Schwester weiter mache, möchte ich allerdings zuerst deine Seelenführung durchführen.“
„Kein Problem. Wenn es dir hilft“, erwiderte Jo schulterzuckend. Bevor Jo allerdings Sheila unterbrechen konnte und so wie es ihre Art war ihr Gegenüber mit Fragen zu löchern, wehrte die Schamanin mit einem Fingerzeig alles ab. Sie fuhr fort: „Später wird genug Zeit für Erklärungen sein. Lass uns beginnen.
Lass mich dir eine Geschichte von einem Mädchen und einer Meerjungfrau erzählen.«
»Du willst mir doch jetzt kein Märchen erzählen, oder?«, unterbrach Jo die Schamanin und kassierte sofort einen Stoß in die Seite.
Es ist eine Geschichte über eine besondere Freundschaft. Zugegeben, es waren beide sehr neugierig und das Meermädchen überaus fahrlässig, aber sie hatten Glück einander zu begegnen.
Dein offenes Wesen hatte schon immer alle in deinen Bann gezogen und während dieses Sommers solltest du eine ganz neue Begegnung machen.
Wie so oft verbrachtest du deine Ferien am Meer. Sehr schnell hattest du neue Freunde gefunden und ihr spieltet fast täglich zusammen am Strand. Die Älteren spielten Volleyball, wofür du einfach noch zu klein warst. So betrachtest du die Wellen, die sich an den Felsen weiter draußen brachen. Hinter einem Felsen erkanntest du plötzlich eine Gestalt und warst dir sicher, es war ein Mädchen.
Deine Schwester versuchte dir zwar zu erklären, du solltest vor dem Schlafengehen nicht so oft ›die kleine Meerjungfrau‹ gucken. Dennoch beharrtest du auf deiner Meinung.
Angestachelt von deiner Eifer wollten auch die anderen Kinder deine Entdeckung sehen und die Jagd nach dem Meermädchen war eröffnet.
Alle wollten sie diese Entdeckung öffentlich machen und prahlten damit, was man für eine Meerjungfrau bekommen könnte. Du warst noch so klein und hast dir ihre Fantasien in riesigen Dimensionen vorgestellt. Es machte dir Angst, sich vorzustellen, wie es ihr ergehen könnte.
Dadurch kamst du zu dem Schluss, dass du sie warnen musstest. Schritt für Schritt gingst du hinaus ins Meer, ohne die wachenden Augen deiner Schwester auf dir. Dabei konntest du nicht einmal richtig schwimmen.
In Windeseile gingst du unter wie ein Stein. Die wachsende Panik in dir war schlagartig erloschen, als du die kleine Meerjungfrau erkanntest. Sie wollte dich retten und du hast es ohne zu Zögern über dich ergehen lassen.
Während deine Schwester panisch nach dir suchte und schon einen hochroten Kopf vom vielen Tauchen bekam, brachte dich das Meermädchen in eine Bucht, wo du an Land gehen konntest. Dort war sie vor neugierigen Augen geschützt und konnte sich noch von dir verabschieden.
Ihr wurdet Freunde und gabt euch das Versprechen wieder an diesen Ort zurückzukehren.
Ein Jahr später war es dann wieder soweit und nicht nur die kleine Meerjungfrau begrüßte dich, sondern gleich der ganze Schwarm. Ihre Familie.
Du hast dich als herzensguter Mensch erwiesen und als wahren Freund, der weder vergaß noch die tiefsten Geheimnisse verriet. Obwohl du anfangs deine Entdeckung teilen wolltest, so wusstest du, trotz des jungen Alters, dass niemand diese Wesen finden durfte.
Dieser Schwarm hielt deinen Namen und deine Tat in Ehren. Sie machten dich zur Auserwählten.
»Das ist so cool und traurig, dass genau solche Erinnerungen einem nicht bleiben«, flötete Jo. »Sei froh, dass du nicht abgesoffen bist.« Eve nuschelte in ihre Handfläche, die sie benutzte, um ihr Kinn abzustützen. Die zwei Schwestern schauten neckisch einander an, bis Sheila ihre Aufmerksamkeit wieder auf sie lenkte. Sie drehte sich wieder ein Stück von Jo weg und nun endlich zu Eve hin, die es ebenfalls kaum abwarten konnte.
»Bist du bereit?«
Schnell setzte sich das Mädchen gerade hin und legte ihre Hand in den Schoß. Sie nickte.
Man könnte meinen, du wärst ein Spätzünder gewesen. Doch lass dir gesagt sein, dass man besonders von dir diese Entwicklung nicht erwartet hätte. Die Kinder der Lüfte hatten am wenigsten mit dir als würdigen Teil ihrer Gemeinschaft gerechnet. Aber du hast sie alle auf einmal überzeugt.
Es war ein warmer Sommer und trotzdem war es deiner Familie noch nicht warm genug. Ihr machtet mal wieder im Ausland euren Sommerurlaub. Dieses Mal in Miami. Du verbrachtest viel Zeit mit deiner kleinen Schwester im Pool. Sie wollte so sehr, dass du ihr das Schwimmen beibringst.
Eure ausgelassene Zeit unter den Palmen Floridas wurde jedoch mit Orkanwarnungen überschattet. Die erste Panik, die euch übermannte, war groß und eure Mutter fand euch tatsächlich im Besenschrank mit Töpfen auf dem Kopf.
Es dauerte eine Weile, euch zu beruhigen. Dies war nicht leicht, weil der Sturm immer mehr zunahm. Jeder deiner Versuche tapfer zu sein scheiterte, denn vor Wind hattest du bereits dein Leben lang Angst. Besonders wenn er durch die Äste und Blätter der Bäume fegte und diese stark bewegte.
Jo dagegen verlor irgendwann gegen ihre Neugier und spähte wie eine Schaulustige aus den bodenlangen Fenstern. Es war ein lustiger, aber gewohnter Anblick für dich sie auf den Boden sitzen zu sehen, wie sie nach draußen starrte. Egal wo ihr wart, sie tat es immer. Du wolltest nicht alleine sein und suchtest ihre Nähe. Selbst als eure Eltern euch aufforderten in den schützenden Keller zu kommen, rührtet ihr euch einfach nicht.
Als euer Vater, ein stattlicher Mann in den Anfängen seiner Dreißiger, euch dann holen kam, machte dich die kleine Jo, gerade mal sieben Jahre zu diesem Zeitpunkt, auf das kleine Mädchen in eurem Garten aufmerksam. Du erkanntest in dem braungebrannten blondbrünetten Mädchen die Kleine aus dem Nachbarhaus, mit der Jo schon seit Ankunft in diesem Ferienhaus so gerne spielte.
Anfangs warst du dir unschlüssig darüber, wie du dich verhalten solltest, aber den flehenden Augen deiner kleinen Schwester konntest du noch nie eine Bitte ausschlagen. Dein Vater konnte rufen, so viel er wollte. Er hatte Jo auf seinen Armen und somit alle Hände voll zu tun. Nun vollkommen entschlossen, aber trotzdem nicht weniger ängstlich vor dem aggressiven Wind der draußen peitschte, öffnetest du die Gartentür.
Nur wenige Sekunden später tauchte eure Mutter aus dem Keller bei euch auf, jedoch warst du bereits ins Freie entschlüpft. Wie verzweifelt sie und euer Vater versuchten zu dir hinaus zu kommen und dir zu helfen, bekamst du nicht mehr mit. Der Orkan hatte eine Windstärke erreicht, die es dir nur durch Hilfe des Zauns und der Möglichkeit sich festzukrallen möglich machte dich fortzubewegen. Er drückte mit aller Kraft gegen euer Haus und sperrte die restlichen Bewohner darin ein.

Sie schützend hattest du dich mit der Kleinen in eine Ecke des Gartens verkrochen. Nicht mehr lange und euch hätte der Sturm erheblichen Schaden zugefügt.
Im Haus schickte deine Mutter ein Stoßgebet nach dem anderen zu den Elementen, besonders zu den Kindern der Lüfte. Ihren Mann und ihre kleine Jo überredete sie, sich im Keller zu verstecken. Sie aber würde nicht aus dem Sichtfeld ihrer Tochter weichen. Mit Tränen in den Augen und Sorge im Herzen klebte sie an der Scheibe, den Blick niemals von dir abgewandt.
Deine Rettung kündigte sich mit himmlischer Musik an, die der Wind an eure kleinen Ohren trieb. Auch deine Familie konnte sie hören. Eure Eltern, beide magisch, vermuteten sofort richtig. Denn Alice’ sehnlichster Wunsch wurde erhört und für würdig empfunden.
Aus den umhertreibenden Winden lösten sich Gestalten. Frauen mit Harfen. Unwissende mochten sie aufgrund ihres blassen farblosen Aussehens mit Geistern verwechseln, doch sie waren so viel mehr, eine Manifestation der Lüfte. Die Lieder, die von ihren Harfen erklangen besänftigten die Winde. Dennoch war das nicht genug. Also flogen sie auf euch zu, setzten sich auf die Mauer, die euch bisher so gut Schutz geboten hatte und spielten weiter. Andere Lieder. Anstatt die Luftströme besänftigen zu wollen, was in der geringen Anzahl wie sie waren, schier unmöglich schien, manipulierten sie einfach ihren Weg. Mit den Sylphen, so nannten sich diese magischen Frauen, an deiner Seite wart ihr in wie einer windstillen Zone von der Außenwelt abgeschnitten.
In ihrer Nähe fühltest du dich sicher, geborgen und rund um wohl. Das gefiel ihnen, auch was für Mut du als kleines Mädchen bewiesen hattest. Sie brachten dich und Jos kleine Freundin bis zur Tür, die so endlich wieder zu öffnen war und verabschiedeten sich von dir.
Zum Abschied stimmten sie ein letztes Lied an. Ein Lied zu deinen Ehren, dass dich als würdige Tochter der Luft kennzeichnen sollte.
Die Tatsache vor deinem Geburtselement Angst gehabt zu haben und sich dieser freiwillig zu stellen, ist für magische Wesen ein lobenswerter Charakterzug.
Du solltest eine gute Tochter der Luft werden, im Herzen genauso unbändig wie ihre flüchtigen Gestalten. Sie behielten Recht.
Eve nickte bloß. Sie hatte etwas Weltbewegendes erwartet. Zugegeben, ihre Eltern einmal wieder vor Augen geführt zu bekommen war auf der einen Seite wirklich schön, jedoch auch unheimlich traurig. Besonders wenn sie nun in Jos traurige runde Augen guckte, wünschte sie sich wenigstens einen Anhaltspunkt für ihren Aufenthalt. Doch ihre Vergangenheit enthielt keinen. Sie war enttäuscht.
So schenkte sie Rose zuerst keine Beachtung, die nun im Zentrum von Sheilas Aufmerksamkeit stand. Rose war die Einzige, die nicht sonderlich scharf auf ihre Vergangenheit war. Dass Sheila sie ihr in Erinnerung rufen wollte, machte es für sie schwerer, sie zu verdrängen.
Widerwillig gab sie Sheila die Erlaubnis zu beginnen.
Du warst ein kleines hübsches Mädchen von gerade mal 2 Jahren. Dein Zimmer war so liebevoll eingerichtet und fast vollständig in Rosa und Weißtönen gehalten. Mit deinen großen Augen, die langsam von Blau zu Grün wechselten, bestauntest du wie üblich das Mobile über deinem Bettchen. Deine Lieblingsfigur, ein Vogel mit weit gespreizten Schwingen. Seine Farbe gab ihm das Aussehen, als würde er in Flammen stehen.
Wie so oft musste dein Vater länger arbeiten. Du warst so klein, dass dir das nicht weiter aufgefallen ist. Deiner Mutter, Lily, schon. In den Stunden, wo sie alleine mit dir war, konnte sie ihre Magie offen ausleben. Sie praktizierte gerne ihre Magie, doch war sie nie mutig genug deinem Vater ihr Geheimnis zu beichten.

Jugendliche Rumtreiber gab es einige in eurer Straße, die nichts Besseres zu tun hatten, als in die Häuser ihrer Nachbarn, zu glotzen. Bei einer ihrer Touren beobachteten sie deine Mutter. Umringt von Kerzen saß sie inmitten ihres Wohnzimmers. Konzentriert saß sie still da.
Du siehst ihr so verdammt ähnlich. Ihr langes Haar wellte sich an den Spitzen zu Locken zusammen. Bereits als kleines Mädchen hattest du dieselbe blasse Haut.
All das solltest du niemals an ihr Kennenlernen, denn an die ersten zwei Jahre kannst du dich natürlich nicht mehr erinnern. Die Jugendlichen warfen Steine durch die Fenster, warfen damit ihre Kerzen um und trafen sie am Kopf. Bloß kurze Zeit lag sie benommen auf dem Teppich, bis ein beißender erdrückender Gestank ihr in die Nase kroch. Der Teppich hatte bereits Feuer gefangen und Lily war in einem Ring aus Feuer eingeschlossen, der sich immer weiter ausbreitete. Aus dem Feuerring konnte sie noch flüchten, doch schaffte sie es nicht, auch nur einen Teil des Feuers zu löschen.
Ihre Versuche gab sie schnell auf, als ihre Gedanken zu ihrer kleinen Tochter huschten, die im ersten Stock ganz alleine und ohne Schutz war. Schneller als sonst nahm sie 2 Stufen auf einmal. Ohne auf ihr Hab und Gut zu achten, hastete sie durch den Flur, riss dabei versehentlich auch eine Lampe von einer antiken Mahagonikommode, und stürzte ins Kinderzimmer. Den Lärm, den Lily dabei verursachte, verängstigte dich sehr. Du schriest aus Leibeskräften, allerdings nur, bis deine Mutter dich an sich drückte. Augenblicklich versiegten deine Tränen. Eure Bindung zueinander war sehr stark und allein ihre Nähe gab dir Kraft.

Zum Glück hatten deine Eltern daran gedacht in dein Zimmer ein Notfalltelefon zu deponieren für den Fall, dass mit dir etwas sein sollte und dein Vater wieder nicht zur Stelle war. Nun war es an der Zeit, es benutzen.
Mit zittrigen Fingern drückte sie die Tasten. Sie rief den Notruf.
Danach versuchte sie, wie die Frau am anderen Ende der Leitung es vorgeschlagen hatte, ob sie das Haus mit dir verlassen konnte. Jedoch musste Lily feststellen, dass sie gerade mal einen Treppenabsatz hinunter steigen konnte. Wäre sie weiter gegangen, hätten die Flammen sich an ihr herauf gezogen. Erschreckend aggressiv fraßen sich diese Flammen durch alles, was ihnen in den Weg kam und wanderten allmählich zu euch hinauf.
Schnell rannte sie mit dir zurück in dein Zimmer und kauerte sich mit dir auf den Boden. Dem Feuer konntet ihr nun nicht entfliehen. Angsterfüllt starrte sie in die Flammen, die sie jeden Moment zu töten drohten. Ihr rannen Tränen übers Gesicht. Ganz fest drückte sie dich an sich und bete stumm für ein Wunder. Sie betete zu den Kindern des Feuers, zu denen sie doch irgendwie auch gehörte.
Noch nie hatte sie so viel Angst vor ihrem eigenen Erbe gehabt. Gerade wollte sie den Blick abwenden, nicht mehr sehen, wann das Feuer sie übermannen würde, da geschah ihr gewolltes Wunder. Aus den Flammen, die sich bereits an den Wänden hinauf züngelten, entstieg das schönste Tier, dass Lily jemals erblickt hatte. Ein großer Vogel war aus dem Feuer geboren und auch Feuer war sein Gefieder.
Ohne es genau zu wissen, erahnte Lily, was sie vor sich hatte. Ein Phönix war ihr erschienen, um ihr hoffentlich zu helfen. Zumindest ihrer Tochter zu helfen.
Ihrem kleinen Mädchen konnte der Feuervogel auf jeden Fall helfen, versicherte er ihr und forderte Lily auf das Kind im entgegen zu strecken. Etwas zögerlich tat sie es auch.
Als du den Phönix mit deinen Kinderaugen ansahst, da lachtest du ein herzliches Lachen. Der Phönix zögerte bei deinem Anblick keinen Moment. Er zeichnete dich als gebürtige Tochter des Feuers und machte dich dem Feuer gegenüber unverwundbar.
Ein Husten schüttelte deine Mutter durch und sie konnte dich nicht mehr halten. Der Rauch war zu dicht geworden und sie war ihm schon viel zu lange ausgesetzt. Zum Glück hielt der Phönix dich geschützt in seinen Flügeln, die er um dich geschlagen hatte.
Die Rettungskräfte erreichten kurz darauf euer niederbrennendes Zuhause. Damit man das magische Wesen nicht entdeckte, legte er dich neben deiner Mutter ab und verschwand.
Als eure Retter endlich zu euch durchgedrungen waren, da war deine Mutter bereits verstorben. Sie war mit der Hoffnung gestorben, dass du für alle Zeit in Sicherheit sein würdest.
Dein Vater kam zu eurem Haus, als eine Nachbarin ihn benachrichtigt hatte. Er traf zu spät ein. Die Rettungskräfte konnten ihm nur noch seine kleine Tochter in den Arm legen, die wie durch ein Wunder das Feuer unbeschadet überstanden hatte.
Seitdem hatte dein Vater nie wieder von seiner geliebten Frau gesprochen. Die Schuld die er sich aufgeladen hatte wog so schwer und so verschwanden auch alle Erinnerungsstücke an sie. Zu schmerzhaft war die Erinnerung.
Du wuchst in dem Glauben auf, dass Jasmins Mutter auch deine war.

Stille. Es herrschte entsetztes Schweigen unter ihnen. Alle Augen waren nun auf Rose gerichtet, darauf wartend, dass eine Reaktion förmlich aus ihr herausbricht. Doch nur sehr langsam schien sich etwas in Rose’ Inneren zu regen. Ihre schönen grünen Augen weiteten sich. Aus ihnen war jeder Glanz verschwunden.
Wie in Zeitlupe erhoben sich ihre Hände zitternd, bis sie schlussendlich das Gesicht erreichten.
Vor Schmerz war Rose’ Gesicht zu einer grotesken Maske verzehrt, jedoch war es nicht der Schmerz der Fingernägel, die sich in ihre Kopfhaut bohrten und an den Haaren rissen. Es war als konnten die Mädchen mit ansehen, wie die Wahrheit mit eiskalten Händen Rose ihr Herz aus der Brust riss. Rose war allein. Immer wieder verlor sie einen Teil ihrer Familie, einen Teil ihrer selbst. Zuerst verließ sie ihr Vater mit ihrer angeblichen Mutter. Dann entriss man ihr auch noch die kleine Schwester. Jasmin, das unschuldige Mädchen von 15 Jahren, dessen glockenhelle Stimme nie mehr die Flure ihres Zuhauses erfüllen würden. Und jetzt? Jetzt reihte sich ein weiterer Name in die Liste der Verstorbenen ein.
Die Gewissheit – der Schmerz – er brach als Schrei aus ihr heraus. Nicht einmal die tränenreichen Schluchzer vermochten ihre Schreie zu ersticken. Mit jedem weiteren ohrenbetäubenden Schrei zuckten Julie, Ragen und Jo in sich zusammen. Sie litten mit ihr. Weinten still vor sich hin. Auch Eve rollten vereinzelt Tränen über die Wangen. Die Älteste hatte ihre Hände im Schoß zu Fäusten geballt und war sichtlich um Beherrschung bemüht.
Wissentlich wartend verzog Sheila ganz im Gegenzug dazu keine Miene. Vollkommen die Ruhe selbst, saß sie dort und beobachtete bloß. Nach quälend dahinschleichenden Minuten hatte sich nichts an Rose’ Gemütszustand verändert. Dies zog offensichtlich an Sheilas Nervenkostüm. Des Wartens müde zog sie ein schlichtes Ritualmesser hervor. Sie wiegte das Messer in ihrer Hand, warf es leicht hoch. Nur wenige Millimeter, als wolle sie die Ausgeglichenheit der Klinge testen.
Als es endlich richtig ausgerichtet in ihrer Hand lag, spannte Sheila die Muskeln in ihrem Arm an. Noch bevor die Mädchen realisieren konnten, was genau vor ihnen gespielt wurde, flog das Messer bereits mit tödlicher Präzision auf die zusammengekrümmte Gestalt von Rose zu.

In die richtige Richtung

 In Windeseile raste das Messer auf die Feuerhexe zu. Es blieb den anderen nicht einmal die Zeit erschrocken aufzuschreien. Doch bevor die Klinge Schaden anrichten konnte, blieb sie in einer gleißenden Mauer aus blauen Flammen stecken. Tatsächlich hatte sich Rose’ Schutzschild noch rechtzeitig aktiviert, dennoch mit verwundernder neuen Wirkung. Es hatte die Waffe nicht reflektiert, was es normaler Weise mit allem Tat, was Rose gefährlich werden konnte.
Selbst als Jo einst, von Rose wieder einmal genervt, einen Hausschuh nach ihr schmiss, wurde dieser gnadenlos zurück zum Absender geschleudert. Danach hatte es keiner mehr gewagt ihre Fähigkeiten herauszufordern.
Allerdings steckte nun ein Ritualmesser in dem schützenden Schild. Keiner wusste nun, wie darauf zu reagieren war. Eines war aber klar. Die Schamanin hatte sich die Mädchen zum Feind gemacht.
Alle hatten sich ruckartig aufgesetzt, die Knie gebeugt und bereit aufzuspringen. Alle außer Rose, die in ihrer Trauer gefangen, den Vorfall nicht bemerkte.
Es bereitete Eve große Mühe gegen den festen Griff des Schildes anzukämpfen. Nichts desto trotz zog sie mit ihren Fähigkeiten das Messer hinaus, mit dem Ziel es auf ihre Art und Weise an Sheila zurück zu schicken.
Diese fing sichtlich unbeeindruckt das fliegende Objekt ab und blieb weiterhin gelassen. Sich keiner Schuld bewusst, begann sie zu sprechen: „Ihr glaubt eure Gefühle kontrollieren eure Fähigkeiten und das ihr selbst kaum Macht über sie habt.“ Eine Predigt zu dem Thema hatte keine von ihnen erwartet und so runzelten sie skeptisch die Stirn.
„Wobei das nicht ganz richtig ist. Eve setzt ihre Telekinese ähnlichen Fähigkeiten schon ziemlich zielgerichtet und sicher ein“, warf Sheila im lockeren Plauderton ein. „Aber eure Kräfte kontrollieren euch nur, weil ihr es zulasst. Und wenn das bedeutet, dass ich euch dazu bringen muss mich zu hassen, so werde ich es tun. Anders werdet ihr nie die nötige Macht aufweisen können, um diesen bisher einseitigen Krieg zu beenden. Geschweige denn zu gewinnen.“
Perplex fiel die Anspannung von der Gruppe ab. Sie sackten in sich zusammen und löcherten die Schamanin mit fragenden Blicken. Allerdings wurden diese ignoriert und Rose ins Visier genommen.
„Hör auf in Selbstmitleid zu triefen. So wenig Kontrolle, wie du über dein Schild damals hattest und bislang immer noch hast, konnte das mit deiner Schwester nur schief gehen.“ Durch das flammende Schild blitzten Sheila nun böse, giftgrüne Augen entgegen. Das Funkeln ähnelte nicht im Geringsten dem Glanz der Rose Augen sonst Leben verlieh. Es war etwas weit über ihren üblichen Hass auf das Übernatürlich hinaus. Dennoch konnten die Anderen es nicht genauer beschreiben. Sorgen waren ihnen ins Gesicht geschrieben.
„Du hättest das Buch der Schatten, was Jasmin gefunden hatte, mehr Beachtung schenken sollen. Aufmerksamer sein sollen. Ist es nicht das, was du dir die ganze Zeit schon vorwirfst?“ Anstelle einer Antwort bewegte sich plötzlich Rose’ Schutzschild auf Sheila zu. Den Wunsch Sheila für ihre Worte zu verletzen, sie zum Schweigen zu bewegen und ihre Provokationen zu beenden konzentrierte die Feuerhexe auf ihre ansonsten so beständige Wand aus Flammen und brachte sie dazu sich wie ein Geschoss auf die Schamanin zu stürzen.
Obwohl Sheila aus ihrer sitzenden Position heraus ausweichen musste, indem sie zur Seite hechtete, verzog sie partout keine Miene des Unbehagens. Sie wirkte vielmehr sehr zufrieden mit ihrer Leistung.
„Was zum Henker …?!“ Ragen war mit der Situation völlig überfordert und auch wenn sie sich schon viel eher hatte zu Wort melden wollen kamen ihr die Worte erst jetzt über die Lippen. Dennoch kam sie nicht weit, denn Rose regte sich endlich und begann ebenso ruhig zu sprechen, wie Sheila zuvor: „Danke.“ Ein verdutztes Geräusch entfuhr Julie. „Ich dachte schon ich würde wieder in dieses Loch fallen.“
„Wie damals“, hauchte Eve, die langsam zu verstehen begann. „Anscheinend können unsere Fähigkeiten mehr, als wir ihnen zugetraut hatten“, bemerkte Rose beiläufig.
Sheila hatte ihren Platz im Kreis wieder eingenommen. „Jede Fertigkeit hat verschiedene Verwendungsarten. In den Überlieferungen erzählt man von Entwicklungsstufen. Es gibt jedoch in jedem Element eine Ausnahme. Eine besondere Regel der Natur.“
Ben, der während des gesamten Beisammenseins abseits gestanden, keinen Muskel gerührt und sein ganzes Vertrauen in das Können der Schamanin gelegt hatte, trat nun zu ihnen heran. „Es liegt nun an euch und an Mayen und mir eure Fähigkeiten endlich zu erproben, wie sich eure Kraft entwickeln kann, ob es ihr überhaupt möglich ist.“ „Wieso ist das eigentlich nicht schon längst geschehen?“, warf Sheila an Ben gewandt ein. Dieser räusperte sich und blickte Eve flehentlich an.
Die Beiden kannten einander lange und gut genug, um die Bitten und Fragen des Anderen schnell und ohne Worte zu verstehen. Jo schwärmte ihnen dann immer vor, wie perfekt sie doch harmonieren würden. Auch dieses Mal bemerkte Jo den vielsagenden Blickwechsel und gehorchte ohne Murren, als Eve die Mädchen aufforderte zurück zu Thordenwar auf die abgelegene Wiese zu gehen. Julie half Rose auf, die nach all den geistigen Strapazen doch starke Ermüdungserscheinungen zeigte.
Sobald die Fünf weit genug entfernt waren wandte sich Ben wieder Sheila zu. „Setz dich zu mir“, bot sie ihm an, bevor er zu sprechen beginnen konnte. Er folgte ihrer Einladung und nahm an der Feuerstelle Platz, an der Ragen kurz zuvor noch gesessen hatte. Es hing noch ein leichter Duft der Kräuter in der Luft, die Sheila für die Seelenführung verbrannt hatte. „Wolltest du mich vor den Ladys tatsächlich bloßstellen?“, stichelte er. „Ganz und gar nicht! Das war eine ernst gemeinte Frage. Wozu haben sie denn sonst eine verzauberte Vertraute und ein einmaliges Wesen wie dich?“ Langsam begann Sheila ihre Utensilien wieder zusammen zu raffen, während sie sprach.
Verlegen schaute der Schutzengel auf seine Hände, die er anfing zu kneten, wie er es bei aufkommender Nervosität immer tat. „Keiner von uns hat wirklich Erfahrung mit den Fähigkeiten der Elementaren. Denn kaum erkannte eine Hexe ihre besondere Begabung, war es meist zu spät und sie wurde getötet. Mayen hat den Mädchen alles über traditionelle Magie, Rituale, sowie über Heilkräuter und ihre Verwendung in Tinkturen, Elixieren und Salben beigebracht.“ Ben holte einmal tief Luft. Er hatte erst gar nicht bemerkt wie schnell er Mayens Lehren hinunter betete.
„Jedenfalls war es schon eine Menge Arbeit die Mädchen, im Besonderen Eve und Julie, dazu zu bringen die Hexerei als Teil ihres Lebens zu akzeptieren.“ Beim Gedanken an Julie musste er sich ein Grinsen verkneifen. „Sagen wir so: Unsere bisherige Aufgabe war es die Mädchen davon abzuhalten vor ihrer Bestimmung und vor sich selbst fort zu laufen. Und glaube mir, Julie hat die Kunst des Weglaufens mit ihrem Hyperspeed perfektioniert.“ Sich vorzustellen, wie ein Mädchen wie Julie jemanden wie Ben davon lief, rang selbst Sheila ein belustigtes Lächeln ab.
„Man hätte dich wohl besser als Lehrerin zu ihnen geschickt“, feixte er ebenfalls mit einem Lächeln auf den Lippen. „Oh, bitte nicht. Ich habe es nun mal gerne ruhig und alle fünf ständig auf einen Haufen … da würde ich meine eigenen Gedanken kaum noch hören können.“ Zum ersten Mal lachte Sheila ganz ungezwungen in Bens Gegenwart.
Jedoch legte sich ein Schatten über ihre Unterhaltung. Sheila wurde nachdenklich: „Sie sind noch so jung.“ In ihren Gedanken versunken blickte sie mehr durch das Feuer hindurch, als das sie es tatsächlich betrachtete. Um sie nicht zu stören, erhob sich Ben vorsichtig und entfernte sich allmählich von der Feuerstelle.
Wenige Schritte, bevor er die kleine Lichtung vor ihrem Unterschlupf verlief, hörte er ein letztes Mal ihre durchdringende Stimme. Lauter als zuvor – sie stand nun, um ihrer Worte mehr Nachdruck zu verleihen: „Mit deiner kleinen Freundin stimmt etwas nicht, Ben. Eine dunkle Aura hat sich tief in sie verhakt. Dieser Zauber, den man über sie verhängte, ist eindeutig geschwächt, aber sie muss endlich davon befreit werden … Die Schwere der möglichen langfristigen Schäden ist leider schwer einzuschätzen.“ Entsetzt weiteten sich seine Augen. Seine Lippen öffneten sich kaum merklich, doch deutlich genug, damit sie ihm zuvor kommen konnte. „Ich wollte nur, dass du das weißt und weil wir Freunde sind … Ben, es wird der Moment kommen, wenn du den Zauber brechen wirst. Auf die eine oder andere Weise. Nun geh.“
Ohne zu wissen, ob er die Bedeutung dieser Offenbarung und unheilverkündenden Voraussage überhaupt verstanden hatte – seine Gedanken wollten nicht aufhören sich um Eve zu drehen – verließ er schlussendlich total verwirrt die Lichtung.

Einige Tage vergingen und die Motivation zur Steigerung ihrer Kräfte war enorm. Während Ragen sich mit der Seele der Natur anfreundete, übte Julie ihre Kampfkünste und versuchte ihre Fähigkeiten damit zu kombinieren.
Auch Rose ließ es sich nicht nehmen regelmäßig bei den Schwestern aufzuschlagen und im geräumigen Garten Altglas mit ihrem Schild umzuschießen. So langsam schaffte sie es, ihr Schild allmählich zu beschleunigen.
Selbst Jo war am Trainieren. Ihr Übungsplatz verleitete sie gut und gerne mal zu einer kühlen Pause. Immerhin stand sie in einem Kinderplanschbecken. Die Jüngste versuchte sich an der neuen „Auftauvariante“ ihres Erstarrungszaubers. Die dafür verwendeten Früchte zerpflückte sie mit ihren Kräften bis zum Äußersten. Wodurch diese, eine klebrige Pfütze aus Multivitaminsaft zu ihren Füßen bildeten.
Mayen, die kurz nach der Rückkehr für ein paar Tage verschwunden war, überraschte das provisorische Trainingscamp nun mit einem großen Erdbeerkuchen und einer Menge Informationen. Hätten die Mädchen von der erneuten Lehrstunde beim Tortenschmaus geahnt, wären sie nicht so begierig auf ein großes Stück gewesen.
Auf der ebenfalls großen und überdachten Terrasse genossen alle erst einmal die dämonen- und konfliktfreie Zeit. Kauend streckten die Damen ihre Beine den wärmenden Sonnenstrahlen entgegen. Zügig war Mayen mit ihrem winzigen Stück fertig gewesen. Leise klapperte ihre Gabel, als sie den Teller auf einen Beistelltisch ablegte. Dann wandte sich die Vertraute der Hexen ihren Schützlingen zu.
„Ben erzählte mir von euren Erlebnissen von neulich. Und diese Frau hat leider Recht mit ihren Worten. Wir alle sind noch sehr unerfahren. Jedoch hat sie mich auch auf eine Idee gebracht.“
„Also bist du nicht untergetaucht, weil dir die bisherige Leistung peinlich war?“, fragte die Schwarzhaarige sie mit, gespielt, fragenden Tonfall, der ihre Stimme um ein oder zwei Oktaven höher klingen ließ. Ihr böser, nicht ganz ernst gemeinter, Blick taxierte Rose bloß zur Antwort und bevor Mayen zu sprechen begann, leckte sie sich erst einmal den übrig gebliebenen Zucker von den Lippen.
„Natürlich nicht“, protestierte die menschgewordene Katze. Ein leichtes Knurren entfuhr ihrer Kehle. „Ich muss mich für gar nichts schämen, denn auch ich mache diesen Job zum ersten Mal. Vorher war ich nur eine Katze. Meine einzigen Sorgen waren es, wo ich einen schönen schattigen Platz und viel Essen finden könnte“, fuhr sie beleidigt fort.
Unterbrochen wurde ihre Unterhaltung durch ein weiteres Stück Torte, was Julie ihr nun auf einem neuen Teller unter die Nase hielt. Wie beruhigend Süßkram und nette Worte, wie Julie sie sprach, doch sein konnten, war schnell deutlich geworden. Genüsslich aßen sie ruhig beieinander. „Du hast gute Arbeit geleistet.“ Julies Worte hallten noch in Mayens Gedanken nach. Es erinnerte sie daran, was sie eigentlich zu sagen hatte. „Auf jeden Fall lohnten sich die Besuche bei euren Elementarverwandten ...“
„Moment mal ... du warst auf Kuschelkurs mit Nymphen, Sylphen und weiß der Teufel wem noch“, warf Jo schmatzend dazwischen.
„Ich würde es eher als Fortbildungsreise bezeichnen.“
So kam es, dass sie von den vielen Gesprächen und Erzählungen alter Überlieferungen erzählte. Laut den Schriften und Erfahrungen vieler verschiedener Wesen besaß jedes Element seine eigenen Charakterzüge. Wissbegierig und neugierig, wie sie war, saugte sie damals die Information förmlich in sich auf.
Die Dryaden stellten ihr dafür zuerst ihre ältesten Bäume vor, um an ihnen die Standhaftigkeit der Erde zu verdeutlichen. Ist ein Baum tief genug verwurzelt, so kann ihm keiner etwas anhaben und man könne die Lehren auch auf die Elementarhexen übertragen.
Diese Erkenntnis bereitete Mayen allerdings sofort große Sorgen, da Ragen keine festen Wurzeln hatte. Ohne sich bald wieder einer Familie zugehörig zu fühlen, wird sie nur noch wie ein Blatt im Winde sein und ein Spielball der magischen Welt werden. Um Ragens Willen müssen die Mädchen ihre Wurzeln sein und mit ihrer Unterstützung kann Ragen eine kraftvolle Hexe werden.
Diese Neuigkeit trug zwar einen Hauch Hoffnung mit sich, allerdings erwähnte Mayen den beunruhigenden Teil nicht vor den Mädchen. Sie wollte Ragen nicht noch mehr verunsichern. Aber zu wissen, dass sie die regenerative Fähigkeit der Bäume und anderer Pflanzen geerbt haben soll, verkündete Mayen mit stolz.
„Heißt das etwa -?“
„Eure bisherigen Fähigkeiten können sich nicht nur verändern. Ihr könnt irgendwann noch viel mehr einsetzen“, führte die Vertraute Eves Frage als Erläuterung fort.
In Zukunftsträumen – über später zu erlangende Kräfte – am Ertrinken, holt Mayen die Mädchen zurück ans rettende Ufer. Sie setzte ihre Elementlehre schnell fort.
Jos Begeisterung konnte noch weiter gesteigert werden, denn auch die merkwürdige Veränderung ihres Erstarrungszaubers wurde zufriedenstellend erläutert. Ihre Wankelmütigkeit - ein Wesenszug, den meist nur Eve aus ihrer beider Kindheit kannte - war ein Erbe des Wassers. Seinen Ursprung hat es bei den so unterschiedlichen Kreaturen der Tiefe, in dessen Nähe Mayen sich eingestehen, musste großen Hunger zu verspüren. Trotz Magenknurren und dem verlockenden Duft nach Fisch, ließ die frühere Katze ihren Besuch bei Meerjungfrauen und Sirenen gesittet vonstatten gehen. Man musste ihr nicht erklären, dass Sirenen – so schön und friedlich sie doch erschienen – die gefährlicheren Wassergeister waren und im Gegensatz zu den scheuen und neugierigen Meerjungfrauen alles andere als harmlos.
Doch nicht nur ihre Bewohner prägten diesen wechselhaften Wesenszug, denn auch das Meer hatte seine zwei Gesichter. Die Sirenen betonten, ihr gegenüber äußert stolz, wie ähnlich die See ihnen doch war. So friedlich und wunderschön es sich auch vor einem erstreckte, so heimtückisch und gefährlich rau offenbarte es sich in den ungünstigsten Momenten. Die Meerjungfrauen beharrten darauf, es wie folgt zu erklären:
„Das Meer schützt an guten Tagen die Reisenden und gewährt eine sichere Überfahrt, doch sollte es erzürnt sein, dann greift es auch an.“ Mayen wusste zwar nicht, wie man das Meer erzürnen konnte, aber wagte auch nicht, weiter danach zu fragen. So blieben auch die fragenden Gesichter ihrer Mädchen unbeantwortet. Es förderte bloß nur neue Fragen ans Tageslicht. Denn auch wenn Jo nun wusste, dass ihr Erstarrungszauber an sich zur Verteidigung gedacht war, konnte das Auflösen durch seine aggressive Art zum Angriff genutzt werden. Allerdings konnte Jo sich partout nicht vorstellen, wie weitere Fähigkeiten ausschauen könnten. Sie wusste ja nicht einmal von ihrem magisch mythischen Einfluss auf Tiere und tierähnliche Gestalten.

„Ich glaube, ich mache uns ein bisschen Eistee für den Kuchen fertig.“ Mayen räkelte sich genüsslich auf ihrem Gartenstuhl mit Fußstütze und gab einen wohlig klingenden Seufzer von sich, bevor sie zu sprechen begann. Mitten in ihren Erzählungen über die Besuche bei den elementaren Wesen bevorzugte sie es, für Eistee zu unterbrechen. Nicht nur, dass es äußerst ungewöhnlich für die Vertraute war, wirkte dieser Einwand auch vollkommen fehl am Platz. Überaus verwirrt schauten die Mädchen sie erst verdutzt an und ließen sich dann ergebend in ihre eigenen Stühle sacken.
Wenn sie ehrlich waren, tat es ihren Köpfen ganz gut solche Informationen in Häppchen zu bekommen und so beklagten sie sich nicht weiter.
Ihr Stuhl machte ein kratzendes Geräusch, als Mayen ihn beim Aufstehen ein Stück nach hinten schob.
„Eve, magst du mir vielleicht helfen kommen?“, fragte sie auf dem Weg ins Haus.
„Natürlich. Kein Problem“, Eves Antwort wäre fast zu überhören gewesen, so laut, wie ihr Stuhl sich beschwerte. Dank ihres empfindlichen Katzengehörs konnte Mayen jedoch alles perfekt verstehen. Als Mensch ihre animalischen Fähigkeiten beibehalten zu können eröffnete ihr nicht nur viele Möglichkeiten, es war im Kampf gegen das Böse tatsächlich schon äußerst hilfreich gewesen.
„Mir wurde noch etwas über das Wasser beigebracht.“ Die Zwei standen nicht einmal eine Minute zusammen in der Küche und Mayen startete bereits eine überraschende Konversation.
„Dann solltest du es erzählen, wenn wir wieder bei den Anderen sind.“ Eve wusste um Mayens gutes Gehör und suchte sich bereits eine Glaskaraffe für den Eistee aus den Tiefen eines Hängeschrankes. Ihre Stimme hallte nur dumpf daraus hervor.
Eine kurze Pause trat ein, weil Mayen wartete bis Eve ihr wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. „Also“, leicht erschrocken zuckte die Lufthexe zurück. Sie hatte nicht damit gerechnet von Mayen angestarrt zu werden, die auch noch Stückchenweise näher zu kommen schien. Die Vertraute war letzten Endes sogar so nah heran getreten, sie konnte die Karaffe an sich nehmen bevor das Glasgefäß den Boden küsste.
„Erschreck mich bitte nicht so“, bat die Hexe nur kleinlaut.
„Entschuldige, doch es brennt mir wirklich auf der Seele.“
„Wohl eher auf der Zunge.“
Weil die Ältere die Glaskaraffe nicht mehr herausrückte, ließ Eve sie die Eiswürfel einfüllen. Dafür setzte die Katzenfrau die Kanne an die Eiswürfelmaschine des amerikanischen Kühlschranks und drückte den Startknopf mit dem Gefäßrand.
„Auf einer sehr alten Tafel, versteckt auf dem Meeresboden und behütet und beschützt von allen Wassergeistern, steht etwas Merkwürdiges geschrieben. Naja, wenn man die Geschichte der Hexe mit den besonderen Fähigkeiten kennt, dann ist es nicht mehr ganz so seltsam.“ Während Mayen erzählte, füllten die fallenden Eiswürfel ihre Sprechpausen auf, die immer kürzer würden. „Heißt also, es gibt einen Beleg für Jos mysteriöse Kräfte und sogar eine Begründung?!“ Obwohl die Ältere zum Schwafeln tendierte, konzentrierte sich Eve auf den Kerninhalt und alle Hoffnung war dahin, dass Jos neue Kräfte nur Einbildung waren.
„Dem Wasser soll eine Kraft innewohnen, die besonders rein sei und den Menschen je nach Belieben Wahrheit oder Illusion schenkte.“
Das Gluckern des Eistees war zu hören. Es bahnte sich seinen Weg aus der Tetra-Pack-Verpackung und hinein in die Kanne.
Eve schwieg.
„So rein, wie das Wasser ist, muss wohl auch Jos Seele sein und das können Tiere mit ihren natürlichen Instinkten spüren“, Mayen verstand das Schweigen als Zeichen, mit ihrer Theorie fortzufahren.
„Ihre Fähigkeit hat sich durch natürliche Fügung entwickelt“, Eve seufzte und fuhr fort: „Da kann man wohl nichts gegen machen, was?“ Auf diese Frage hin konnte Mayen nur die Stirn runzeln. Die Zwei sahen Jos Kräfte mit sehr unterschiedlichen Augen.
„Du solltest froh darüber sein. Es kann ihr gute Dienste leisten und sie beschützen.“
„So gedacht hast du schon Recht.“ Sie lächelten einander an. „Nur leider versteh ich den Rest über Wahrheit und Illusion nicht.“
Mit dem fertigen Eistee waren sie auf dem Weg zurück auf die Terrasse und Mayen sagte im Flüsterton und mit einem neckischen Grinsen im Gesicht: „Das könnte auf interessante neue Fähigkeiten herauslaufen.“ Daraufhin kniff Eve mit spielerischem Ärger die Augen zusammen. Ihr versuchter Schmollmund glich mehr einem übertriebenen Kussmund und so traten die zwei lachend zu den Anderen nach draußen.

Schlürfend genossen die Mädchen das kühle Nass, ließen es ihre Kehlen hinunter rinnen und freuten sich darüber, wie es ihr Inneres abkühlte. Mayen war die Einzige von Ihnen, die ihre Augen noch geöffnet hatte. Die Anderen hörten ihrer weiteren Erzählung gelassen zu.
Die Tatsache, dass ein Phönix den Wesenszug des Feuers als unberechenbar beschrieb, erstaunte niemanden mehr. So deutlich, wie Rose diesen Charakterzug perfektioniert und bisher gelebt hatte, war dies für alle Anwesenden mehr als offensichtlich. Bestimmend nickten Jo, Julie und Ragen zur Bestätigung ohne ihre Augen dabei zu öffnen.
Weitere Eigenschaften wie Reinheit und Weisheit konnten sie an ihr jedoch nicht wiedererkennen. Die Feuerhexe schien darauf sogar stolz zu sein.
Die Frage, ob ein Phönix wirklich sprechen konnte oder ob für die Kommunikation bestimmte Mittel erforderlich waren, brannte Jo auf der Zunge.
„Für manche magische Wesen ist es leichter sich telepathisch zu unterhalten, besonders wenn sie zur selben Art oder Element gehören. Feuergeister sind prädestiniert für diese Fähigkeit. Zum Glück sind Phönixe Meister der Telepathie sonst wäre mir die Kommunikation mit ihm nicht möglich gewesen“, erklärte sie daraufhin.
Sichtlich zufrieden zum selben Element wie solch mächtige Wesen zu gehören kuschelte sich Rose noch weiter in ihren Sitz.
Julie pflichtete Mayen bei. „Ich glaube, die Informationen können uns wirklich weiter helfen. Wir müssen nur-“
„Ach hier seit ihr. Zum Glück.“ Fay war vor Schreck leicht außer Atem, nachdem sie vom Dachboden – dort wo Greg zwischengelagert wurde – hinunter gesprintet war und auf die Terrasse gestürzt kam. Sie musste kurz nach Luft schnappen.
„Ben schickt mich. Es gibt Probleme.“
Ruckartig saßen alle kerzengerade auf. Jegliche Entspannung war dahin.
„Im Wald, da ...“
„Welcher Wald, Fay? Diese Stadt ist regelrecht davon umzäunt“, warf Julie schnell ein, bevor Fays nervöser Redefluss gar nicht mehr zu bremsen gewesen wäre.
„Also nordöstlich von hier ... das Wäldchen mit den vielen Tümpeln und dem See – da kippen nach und nach die Gewässer um ... Ein paar Nixen wollen sich zu den Bergquellen retten, doch-“, hastig versuchte Fay die Botschaft zu überbringen, kam jedoch ständig ins Stottern und Stocken, bis sie sich schlussendlich verschluckte. Mayen trat zu ihr und legte ihr beruhigend ihre Hände auf die Schultern, so dass das ehemalige Medium sie nach ihrem Husten anschauen musste.
„Doch es wimmelt dort nur so von Trollen. Die Nixen werden sterben, wenn niemand diese Trolle überzeugen kann, die Wassergeister gewähren zu lassen.“ Lautes Poltern erklang hinter Mayen. Schwungvoll waren die Mädchen aufgestanden und hatten dabei entweder ihre Stühle umgeschmissen oder bloß mit lauten Kratzen weit hinter sich geschoben.
Allerdings war auch zu hören, wie Eve und Jo – insbesondere – hörbar die Luft zwischen ihre zusammen gebissenen Zähne einsaugten. Auf eine weitere Begegnung mit dieser plumpen Rasse waren sie nicht sonderlich scharf.
Schnell hasteten alle gemeinsam zum Auto. Eve machte kurz kehrt, nachdem sie den fehlenden Schlüssel bemerkte.
Am schwarzen Chevrolet-Matiz warteten die anderen auf das entscheidende Klicken der Türverriegelung, die kurze Zeit später zu hören war und woraufhin eine Tür nach der anderen aufgerissen wurde. Die vier sperrangelweitoffenen Türen gaben dem kleinen PKW ein uriges Aussehen.
Wie selbstverständlich nahm Rose auf dem Beifahrersitz Platz und verdrängte Julie, Jo und Ragen somit auf die Rückbank. Jo, als kleinste der Drei, durfte sich in die Mitte zwängen und konnte sich gerade noch rechtzeitig anschnallen, bevor sich Julie und Ragen neben ihr breit machten.
Die hinteren Türen schlossen sich erst als alle drei erfolgreich die Sicherheitsgurte anlegen konnten und Mayen, nach der Transformation zurück in ihren kleinen schwarzen Katzenkörper, auf Julies Schoß saß. Da sie auf Ragens Seite stand, musste sie erst über diese und Jo tapsen. Missmutige Blicke der Beiden taxierten sie.
Fay hatte sich vor der offenen Fahrertür positioniert und wartete auf Eve.
Dann sagte sie: „Ich bleibe hier und arbeite weiter an dem Gegenmittel für Greg. Nicht mehr lange und ich habe es geschafft.“ Ihre zuletzt gesprochenen Worte überzogen das Gesicht der Lufthexe mit Freude.
„Tu das. Wir beeilen uns ebenfalls“, antwortete sie, startete den Motor und wartete darauf, dass Fay die Tür freigab.

„Ich könnte uns ruck zuck die schicke Kampfmontur auf dem Leib zaubern.“
„Nein!“ Tönte es Jo aus allen Richtungen entgegen.
Stoppschilder und Geschwindigkeitsbegrenzungen ignorierend, bahnte sich das Auto mitsamt Hexen einen Weg durch kleine Seitenstraßen bis zum Wald.
Jede noch so abstruse Idee von Jo wurde sofort abgeschlagen. Meistens sogar schneller, als dass sie hätte aussprechen können. So vertrieben die Mädchen sich die Zeit bis zu ihrer Ankunft.

Mayens Miau zerriss die Stille ihrer kleinen Wanderung.
„Hört sich so an, als könnte der kleine Fellball die Übeltäter hören. Da vorne müsste es sein“, Rose zeigte in Richtung einer felsigen Anhöhe, die schwach durch das Blätterwerk zu sehen war.
Einen dicken Busch mit dornigen Blättern hinter sich gelassen, gelangten sie zum Fuße des Gebirges. Dieser Ort war offensichtlich für Normalsterbliche nicht gemacht. Hier am anderen Ende des kleinen Gebirges flogen die Feen vogelfrei und selbst einen Bergtroll konnte Ragen in der Ferne ausmachen. Auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass es einer war.
„Wir müssen dort drüben entlang“, Mayen hatte gewartet bis sie wieder auf ebener Fläche standen, bevor sie sich in einen Menschen verwandelte. Nun ging sie voraus und ihre Truppe ließ das magische Gewächs zurück. Ein Gewächs, das nicht nur durch seine Dornen abschreckte, sondern auch in der Lage war Illusionen hervor zu rufen, um somit unliebsame Besucher zurück zu weisen. Zum Glück verirrten sich nicht viele Menschen zu dieser kleinen Oase. Sonst gäbe es einen weiteren Punkt auf der bereits unendlich langen Liste voller Sorgen der Hexen.

„Ich sollte mich öfters am Schulsport beteiligen.“ Die umkämpften Bergquellen waren nur durch etwas Klettern zu erreichen. Jo war bereits nach dem ersten Anlauf am Japsen und am Jammern.
„Sonst hast du dich immer über so was Unnützes wie Schulsport beschwert und erfolgreich...gedrückt.“ Der Atem ihrer Schwester ging ruhig. Ihre Konzentration galt ganz dem nächsten Schritt.
„Ja natürlich. Und zwar weil ich dachte, es wäre Quälerei. Aber das, das ist viel gemeiner. Das ist für einen guten Zweck!“, stöhnte die Jüngste auf.
Ragen und Julie hielten einander die Hand, sprangen gemeinsam auf der anderen Seite zurück auf die grüne ebene Fläche und belächelten ihre Nebenfrau. Sie freuten sich nicht nur über die erfolgreiche Kletterei, Jo amüsierte sie ebenfalls.
Und ehrlich gesagt, mussten die Mädchen nur eine kleine Felswand – verglichen mit gehäuftem Geröll – überwinden, die mit vielen Flächen kleine Vorsprünge boten. Genau auf so einen machte Rose es sich bequem. Sie würde das Geschehen von erhöhter Position und aus sicherer Entfernung aus beobachten – wie eine Löwin ihre Beute – bis es für sie Zeit wird einzuschreiten.
Das Lächeln auf ihren Gesichtern erstarb, als sie ihre Blicke über das hohe Gras und natürlichen Quellen schweifen ließen. Sie waren nicht schnell genug vor Ort gewesen. Vereinzelt lagen Nixen, oder das was man von ihnen noch erkennen konnte, im Gras. Die toten Körper zerfielen im Minutentakt in sich zusammen. Die normaler Weise bläulich grün schimmernde Haut besaß nur noch ein fahles Grau. Ein Aschehaufen verriet, wie auch die anderen Körper später aussehen werden. Ein Häufchen Nichts mit toten Algen behängt.
Den Blick wieder geradeaus gerichtet, fielen die noch lebendigen Nixen in ihr Blickfeld.
Julie schirmte ihre Augen mit der Hand ab. Auch so würden sie die grotesken Bilder eine lange Zeit in ihren Träumen verfolgen. Sich dazu noch jedes fragwürdige Detail einzuprägen gehörte nicht zum heutigen Tagesziel.
Neben ihr stand Ragen völlig erstarrt. Zum ersten Mal - seit sie nicht mehr Dämon sondern Hexe war - sah sie die toten Körper von magischen Wesen. Unter der hauchdünnen Haut glaubte die Erdhexe etwas Spitzes auszumachen, spitzer als es normale Knochen waren. Es sah aus wie Gräten. Dicke, augenscheinlich sehr stabile, spitze Gräten. Ja, sie war sich ihrer Annahme hundert prozentig sicher.
Ihre Aufmerksamkeit wandte sich allmählich den Lebenden zu. Eve, Julie und Jo standen bereits zwischen den Streithähnen.
Verwirrt drehte sich die Halbblondine um die eigene Achse. Auf dem Felsen hinter ihr war weiterhin Rose drapiert und sie selbst? Die Anderen hatten sie inmitten der toten Nixen stehen gelassen.
„Ähm...Leute...“, zaghaft hob Ragen die Hand. Ein kläglicher Versuch die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen. Vor allem wenn die eigene Stimme vor Unbehagen versagte und nicht wiedergefunden werden wollte.
Vorsichtig und darauf bedacht nicht auf einen der Aschehaufen zu treten, trippelte Ragen voran. Kommentare von den billigen Plätzen wie „Ich glaube du bist gerade auf eine Blumenfee getreten“ oder „Vorsicht, Tretmine“ kosteten der Junghexe viele ihrer Nerven. Rose hingegen hatte dabei sichtlich Spaß.
„Hi“, begrüßte Julie Ragen, als wären sie nicht gemeinsam hergekommen.
„Hi“, nuschelte diese zurück. Ihre anfangs noch gute Laune angefressen. „Du sag mal, wieso sind denn die Nixen so fasziniert von Jo und warum ist Eve so verkrampft? Sieht aus als hätte sie einen Stock i-...verschluckt.“
„Eine Frage nach der Anderen.“ Julie seufzte. „Lern endlich Antworten abzuwarten.“
„Entschuldige. Also?“
Die zwei Blondinen steckten die Köpfe zusammen und Julie zeigte in Richtung der Nixen und begann zu erklären: „Wir hatten da mal eine unangenehme Begegnung mit diesen Wassergeistern.“
„Ich hätte schwören können die Trolle wären das Problem“, unterbrach Ragen schnell.
„Naja unproblematisch sind sie nicht. Besonders nicht diese hartnäckige Rasse von Bergtrollen. Zumindest nicht die Art Trolle, die einen vor Autos schubst.“ Ragen erinnerte sich daraufhin an die Erzählung von Jo. Ihre erste Begegnung mit Blake und sehr flinken und hinterhältigen Trollen, die sie fast den Kopf gekostet hätte.
Julie fuhr fort. „Vor einiger Zeit, noch recht zu Beginn unserer Hexenzeit, wollten Eve und ich unsere Kräfte und damit auch unser Dasein als Hexen aufgeben. Natürlich wollte Eve das besonders für Jo. Es sollte zu ihrem Schutz sein. Nur du kennst unsere Jüngste ja bereits gut genug. Sie mag es sehr eine Hexe zu sein und da fing der ganze Schlamassel dann an.“

„Jo, wo bist du?!“
„Jo-Ann Glasgow, kommst du wohl wieder her!“
Verzweifelt suchten Ben und Eve gemeinsam nach der kleinen Schwester. Auf der Lichtung blieb Julie zurück, in der Hoffnung, dass Jo doch noch dorthin zurückkäme.
Die Jüngste hatte Reiß aus genommen, als Eve und Julie ihr von deren Entscheidung beichteten die Hexerei wieder aufzugeben. Sie hatten sich dort treffen wollen, um die zauberhaften Kräfte wieder zurück zugeben. Jo fühlte sich betrogen. Ihre eigene Schwester wollte sie berauben, ihr ein so tolles Geschenk – wie sie es empfand – einfach wieder fortreißen.
Eve hatte eine heftige Reaktion auf diesen Beschluss befürchtet, jedoch gehofft darüber reden zu können. Jetzt war ihre Schwester fort. Einfach in den Wald hinein gerannt.
Ohne jeglichen Anhaltspunkt durchkämmten sie nun Fleckchen für Fleckchen. Doch die Hoffnung auf Erfolg schwand mit jeder verstreichenden Minute.
Selbst als es der Mond sich bereits am Himmel zeigte gab Eve nicht auf. Sie würde diesen Wald nicht ohne ihre Schwester verlassen, weshalb Julie dank ihres Hyperspeeds schnell für Campingausrüstung sorgte und mit den Beiden die Nacht auf einer kleinen ebenen Fläche im Wald verbrachte.
Als Ben und Julie am nächsten Morgen von den ersten Sonnenstrahlen und dem Zwitschern der Vögel geweckt wurden mussten sie feststellen, dass Eve bereits wieder losgezogen war. Schnell klaubten sie alles beisammen und scherten sich nicht darum die Sachen fein säuberlich zu verpacken.
Immer tiefer gelangten sie in den Wald. Das Blattwerk wurde dichter, die Bäume standen immer näher beieinander und so mussten die drei ihr Nachtlager an einem Tümpel aufschlagen. Der einzige Ort im Umkreis, der dich Möglichkeit bot mit Schlafsäcken halbwegs bequem zu schlafen. Überraschenderweise war das Wasser sauberer und wohlriechender als erwartet. Es stank nämlich nicht.
Beruhigt sank Julie in ihr Kissen und zog den Schlafsackdeckel bis unter die Nase. Frau muss es den Krabbelviechern ja nicht unbedingt leicht machen.
Obwohl Ben und Eve seit langem nicht mehr über sich als Paar geredet hatten und Eve ihm bestmöglich aus dem Weg ging, suchte sie nun seine Nähe. Die Sorgen um die kleine Schwester, der emotionale Druck und all die Verantwortung die ihre Schultern belastete, machte sie zerbrechlich. Sie hasste es so zu wirken. Schwäche zu zeigen, wo Stärke von ihr verlangt wurde. Doch ohne ein Wort zu sagen, robbte sie mit ihrem Schlafsack zu ihm und legte ihren Kopf auf eine Brust, so dass sie den See im Blick hatte. Beide schwiegen.
Ben befürchtete, die Brünette würde den Rückzug antreten, wenn er diese zarte Stille stören würde. Eve sollte sich sicher fühlen. Er wollte ihr nicht das Gefühl geben sie zu bedrängen.
Jedoch spannten sich plötzlich alle ihre Muskeln an. Er konnte die festen, verkrampften Muskelsehnen unter seiner Hand fühlen. Mit der Hand, die er kurz zuvor noch auf ihren Arm gelegt hatte. Es sollte eine beruhigende Geste sein. Hatte er sie damit verschreckt?
Unruhig suchte er ihren Blick, allerdings waren ihre Augen auf die Oberfläche des kleinen Sees geheftet. Ben schaute abwechselnd von Eve zum See. Von seiner Position aus, konnte Ben kaum etwas vom Gewässer wahrnehmen und als Eve im nächsten Moment mitsamt Schlafsack aufsprang – dieser rutschte dann ungehindert an ihr hinunter – richtete auch er sich auf.
„Was ist denn los? Alles in Ordnung, Eve?“, Julie wirkte schon wie im Halbschlaf und an ihrem Gesicht konnte man ablesen, dass sie hundemüde war. Ben war gar nicht aufgefallen, wie laut deren plötzlichen Bewegungen gewesen waren.
„Jo?“
„Wie bitte?! Was?!“
Julie hörte sich vielmehr betrunken als aufgeschreckt an, so angeschlagen war ihre Stimme vom schlaftrunkenen Zustand. Doch sie versuchte sich alle Mühe zu geben nun wach zu bleiben.
„Jo...“ Eves Stimme war nur ein fragendes, fast entsetztes Flüstern. Langsam und mit schweren schlurfenden Schritten näherte sie sich dem Ufer.
Auch die anderen Beiden entdeckten nun etwas Schwimmendes im See. Es schimmerte bläulich grün und hatte die Konturen eines Menschen. Ben und Julie wechselten fragende Blicke. Julie war nun wieder hellwach.
Sie hofften das Wesen würde näher kommen, damit sie erkennen konnten, ob es sich um Jo handelte. Für die anderen Beiden ergab es jedoch keinen Sinn. Wieso sollte Jo sich in einem Tümpel aufhalten? Und in einer Sache waren sie sich einig: Jo glitzerte nicht im Mondschein!
Eves Sorgen mussten so groß sein, dass ihr Verstand ihr bereits Streiche spielte und sie überall nun das Gesicht ihrer Schwester sah.
„Verdammt noch mal, Jo! Bitte komm nach Hause!“
Das Wesen hatte bereits den Rücktrick angetreten und war nach Eves Aufschrei nun vollends verschwunden.
Am Ufer sackte Eve auf Knie. Zu nah am Wasser so dass ihre provisorische Schlafhose sich mit Süßwasser vollzog.
Beide wollten sie ihr helfen. Für sie da sein, aber Julie gestikulierte Ben, dass es besser wäre sie würde sich um die verzweifelte Lufthexe kümmern. Der Schutzengel wollte jedoch seiner Aufgabe gerecht werden. Er wollte für das Mädchen da sein, dass er vom ersten Augenblick an geliebt hatte. Dessen Seele nach ihrer schrie.
Er trat an sie heran und berührte sachte ihre Schulter: „Eve, du-“ Seine Hand lag noch nicht ganz auf ihrem Sweater, da hob ihn bereits ein kräftiger Windstoß in die Lüfte und katapultierte ihn hart zurück auf seinen Schlafsack.
Sie hatte nicht einmal einen bösen Blick für sie übrig.
Nun trat Julie an ihre Seite, umschlang die Schultern der Älteren und zog sie bestimmend zurück auf die Beine. Eve wehrte sich nicht dagegen.
Julie konnte spüren wie der Körper der jungen Frau zitterte. Sie hatte einfach keine Kraft mehr sich zu wehren.

Am nächsten Morgen weigerte sich Eve den See zu verlassen. Direkt nach dem Aufstehen kauerte sie sich ans Wasser. Julie stattdessen vertrat sich die Beine mit einem kleinen Spaziergang ums Ufer herum. Irgendwie war sie von sich selbst überrascht, dass sie bei den Beiden im Wald geblieben war. Auch wenn die Geisthexe die Schnauze voll hatte von der Magie, waren Eve, Jo, Ben und Rose keine Fremden mehr für sie. Die anderen des Zirkels waren sogar mehr Freunde als Bekannte und um ehrlich zu sein, machte auch Julie sich Sorgen um die Jüngste.
Während die Blondine in kleinen Schritten ihre Runde drehte, beobachtete auch sie ununterbrochen die Wasseroberfläche. Vielleicht war es am vorherigen Abend doch keine Halluzination von Eve gewesen. Die Möglichkeit bestand, auch wenn es aller Logik trotzte. Doch waren sie Hexen und somit die Hoffnung auf ein kleines Wunder groß.
Da flackerte plötzlich etwas am Grunde des Sees auf. Zumindest so tief wie man in die Schwärze hinabschauen konnte. Das Leuchten stieg empor und näherte sich der Stelle, an der Eve auf ein Lebenszeichen ihrer Schwester wartete. Als es einige Meter vorm Ufer anhielt bewegte sich auch Julie keinen Millimeter mehr vom Fleck. Sie konnte sich vorstellen, wie auch Ben und Eve in diesem Moment vor Spannung die Luft anhielten.
Und dann passierte es. Das Schimmern verwandelte sich in eine Silhouette und beim Auftauchen meinte Julie Jos Haare zu erkennen. Mithilfe ihres Hyperspeeds war sie in Windeseile zurück bei Ben und Eve, nur um sich ihrer Annahme sicher zu sein. Die aufgewirbelte lose Erde und Eves flatternde Haarsträhnen kündigten ihr Erscheinen an. Ihre Gefährten machten sich nicht die Mühe aufzusehen. Die ominöse Gestalt hatte ihre Aufmerksamkeit völlig in ihrem Bann.
Jo! Es war tatsächlich Jo! Ihre Haut schimmerte bläulich grün und sie schwebte im Wasser, als wäre es ihre natürliche Umgebung. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass sie die ganze Nacht über unter Wasser verbracht haben musste.
Die erste überraschte Reaktion auf Jos Auftauchen hatte sich im Nu in blankes Entsetzen verwandelt. Eve erkannte ihre kleine Schwester kaum wieder. Mit Tränen in den Augen musste sie sich eingestehen ihre kleine Schwester auf gewisse Weise verloren zu haben. Nun gehörte Jo einer anderen Rasse an. Wie auch immer das möglich war, vor sich hatte das Trio den Beweis für eine Verwandlung.
„Zu was ist sie bloß geworden?“, fragte Julie entgeistert. Im Gegensatz zu Eve konnte sie ihre Stimme wieder finden.
„Ich kann Beine erkennen, also haben Nixen sie zu sich geholt“, antwortete Ben. „Zum Glück nur Nixen.“ Er fuhr fort und redete mehr mit sich selbst als mit den Mädchen. Julie schaute ihn daraufhin skeptisch an. Wie konnte er in dieser Situation nur von Glück sprechen?
„Hallo“, Eves Lippen entfuhr ein Flüstern. Ganz behutsam beugte sie sich vor, langsam, um ihre Schwester nicht zu verschrecken. Es fühlte sich an, als würde sie sich einem wilden Tier nähern. Immer darauf bedacht keine hektischen Bewegungen zu machen, als würde sie verängstigt die Flucht ergreifen oder sich bedroht fühlen und angreifen.
„Hallo“, antwortete Jo. Ihre Stimme hatte sich nicht verändert. Der menschliche Klang ließ auch Julie darauf schließen nicht auf eine Sirene hinab zu blicken. Erleichtert atmete sie aus.
Von Jo würde keine Gefahr ausgehen, dachte sie zumindest, bis Ben Eve zurückhielt zu nah an Jo heran zu kriechen. Wundern sollte sich Ben nicht, dass seine irgendwie-Freundin sich unter heftigen Protesten dagegen wehrte. Von Jo gab es diesbezüglich keinerlei Reaktion. Für Julie war sie auf eine gewisse Art emotional abwesend. Ob die Nixen dahinter steckten?
Während Julie ihren Überlegungen nachhing verpasste sie Bens Flüstern. Eine Erklärung für sein Verhalten und schlechte Nachrichten für die große Schwester. Das konnte die Blondine sehen, denn Eve weinte nicht so leicht vor Anderen, doch nun zuckten ihre Lippen nicht bloß, sie bebten förmlich. Den inneren Kampf gewann die Älteste jedoch vorerst indem sie sich auf ihre kleine blau angelaufene Schwester konzentrierte.
„Möchtest du nicht nach Hause kommen?“, fragte Julie. Die bedrückte Stille und dieses ständige einander anzustarren beharrten der jungen Frau gar nicht. Auch wenn die Frage Eve zugestanden hätte. Die gab allerdings keinen Protestlaut von sich. Eve wartete gespannt auf die Antwort.
„Wenn ich mit euch komme, dann macht ihr alles rückgängig, was mir in den letzten Monat so lieb geworden ist. Wir wurden für dieses Dasein auserwählt und ihr wollt es einfach weg schmeißen.“ Im Unterton ihrer aufgebrachten Stimme kamen Zischlaute hervor, die von ihrer Verwandlung herrühren mussten. Unglücklicher Weise gab dies ihr mehr Ähnlichkeit mit gruseligen Seemonstern. Ein Gedanke, der niemanden vor Ort begeisterte.
Hinter Jo tauchten weitere Gestalten; andere Nixen auf. Angelockt von ihrem Zischen. Diese flankierten die ehemalige Hexe wie Bodyguards und wirkten alles andere als freundlich gesinnt.
„Es tut mir leid. Es war ein Versuch dich zu beschützen. Aber wenn du deine Kräfte behalten willst, werde ich mir schon etwas einfallen lassen“, Eve ignorierte die neue Companie völlig. „Wir werden stärker werden und dann müssen wir uns auch keine Gedanken mehr über Dämonen machen... Ist das ein Plan?“ Sie streckte ihrer Schwester die Hand entgegen, egal wie deutlich Ben auf sie einredete es nicht zu tun, als Geste der Versöhnung. Niemand konnte die Brünette davon abhalten sich bei Jo zu entschuldigen. Es war eine Chance ihre Schwester wieder zu bekommen und eine Lösung für das Fischproblem würde sich dann auch locker finden lassen. Davon war die Älteste überzeugt.
Leider erlöste Jo ihre Schwester nicht mit einem Händeschlag. Deshalb wackelte Eve ein bisschen mit der Hand, um sie daran zu erinnern was sie erwartete.
Die gewünschte Reaktion blieb weiterhin aus. Viel eher erzürnte es Jos Begleiterinnen. Die beiden Nixen schnellten nach vorn und krallten sich an Eves am fest. Dann zogen sie die junge Hexe ruckartig unter Wasser.

„Nicht dein Ernst“, blaffte Ragen. Die kleine Exkursion zum ersten Zusammentreffen mit den Nixen hatte die Erdhexe ziemlich überrumpelt. Lautstark war das dann auch zu hören.
„Psst“, ermahnte sie Julie. Auf die Aufmerksamkeit des gemeinen Volkes war sie in einer Streitsituation nicht besonders scharf. Ein strafender Blick ihrer Teammitglieder tat den Rest.
„Das ist unsers. Es gehört zum Berg also unsers!“ grölte ein besonders dickes Exemplar eines Bergtrolles.
Die zwei Mädchen mussten sich eingestehen, dass ihre Tuschelei sie vom eigentlichen Thema abgelenkt hatte und sie nun nicht wussten wie weit diese Unterhaltung schon fortgeschritten war. Die beste Möglichkeit war sich Fragen und Antworten für einen späteren Zeitpunkt aufzuheben und zurückhaltend dem Streitschlichten zu folgen.
Doch ganz konzentriert konnte Ragen bloß nicht bleiben. Der Schlussmoment aus Julies Erzählung hallte noch ihren Gedanken nach. Wie konnte sich Jo anderen magischen Wesen ausliefern, die offensichtlich nicht freundlicher Natur waren? Von oben bis unten begutachtete sie nun die verbliebenen Wassergeister. Mit ihrer schimmernden Haut waren sie unbeschreiblich schön. Sie trugen ihre Übernatürlichkeit förmlich auf der Haut, obwohl sie hauptsächlich menschliche Züge hatten.
Wie Nixen leben und alle interessanten Informationen über ihr Dasein, ihre Kräfte und für das was sie bekannt waren, sollte im Buch der Schatten zu finden sein. Das hoffte die junge Hexe auf jeden Fall, denn wenn die Anderen schon mit ihnen zu tun hatten war die Chance auf Erfolg immer zufriedenstellend hoch.
Ihr Blick schweifte hinüber zu Jo. Immer noch umringt war ihr Gesichtsausdruck alles andere als glücklich. Zufrieden stellte Ragen deshalb fest, dass die Jüngste aus den damaligen Ereignissen gelernt haben musste.
Ein Seufzen war direkt hinter Ragen zu hören. „Ihr werdet tun, was Eve von euch verlangt“, als Rose begann zu sprechen, brachen auch sofort Protestrufe der Trolle aus. „Ihr könnt uns zu nichts zwingen!“
„Nur weil wir Hexen sind, heißt das nicht, dass wir unschuldig sind. Ich bin nicht so nett wie meine Freundinnen und habe keinerlei Probleme damit eure Population auf null zu reduzieren, solltet ihr weiterhin das Leben anderer Wesen gefährden.“ Es wurde schlagartig still um sie herum.
Die Bergtrolle, nicht bekannt für ihre Intelligenz, bevorzugten in solchen Fällen ihre eigene Art der Kommunikation und ihr Oberhaupt antwortete Rose mit Keulenhieben.
Schwung für Schwung kam er ihr mit dem aus einem dicken Baumstamm gefertigten Schlagwerkzeug näher. Nervös wechselte Ragen auf die andere Seite von Julie, fern von Rose und fern von möglichen Treffern. Jedoch war sie die Einzige mit Sorgenfalten im Gesicht.
Alle anderen aus dem Zirkel standen seelenruhig an ihrem Platz und beobachteten das Geschehen mit wachen Augen. In solchen Momenten war der Unterschied zwischen Ragen und ihren Freundinnen deutlich sichtbar. Ihr Vertrauen ineinander und ihre Fähigkeiten überschatteten jegliche Angst.
Bevor ein äußerst kräftiger Schlag Rose den Schädel spalten konnte, prallte die Keule an ihrer Feuerwand ab. Doch damit nicht genug. Rose dirigierte ihr Deflektionsschild immer weiter in seine Richtung, trieb ihn Schritt für Schritt zurück, bis sie ihn schlussendlich zwischen einer Felswand und ihrem Schild gefangen hielt.
Umso mehr er sich gegen ihre Fähigkeit sträubte, desto stärker drückte Rose das Schild gegen ihn. Nach Luft schnappend zappelte er in seinem engen Gefängnis herum.
„Wir werden uns nicht wiederholen und ihr werdet euch in eure Höhlen zurückziehen. Die Nixen werden fortan diese Quellen hier nutzen. Keiner von euch wird sie je belästigen.“
Der Troll grummelte Rose als Antwort bloß entgegen. Für diese Unverschämtheit drückte die Feuerhexe noch etwas fester zu, bis er um Vergebung brüllte. Seine Stimme war nur noch ein Kratzen. Die Luftnot veränderte sie in ein Krächzen. So ließ Rose von ihm ab und scheuchte die Rotte allein durch Blickkontakt in ihre Höhlen. Keiner der Trolle traute sich, auch nur eine der anderen Hexen bittend anzuschauen.
„Nicht schlecht“, gab Ragen zu. Eve kam auf Rose zu, bedankte sich und machte sich auf den Rückzug.
„Die Bergquellen gehören euch. Lasst eure schuppigen Hände von meiner Schwester und schwingt eure fischartigen Ärsche ins Wasser.“ Die Nixen konnten dabei nur ihren Rücken sehen, und hüpften nach einer verabschiedenden Geste der Lufthexe freudig in Richtung des rettenden Nasses. Dankbar gab Jo ein Seufzen von sich, als sie wieder genug Luft zum Atmen hatte. Schnell heftete sich die Wasserhexe an die Fersen ihrer Schwester, bevor es sich die magischen Wesen noch einmal anders überlegten.
Auch die anderen Drei schlossen sich an.
„Mir hat keiner gesagt, dass wir zu solchen Mitteln greifen dürfen, um magische Konflikte zu lösen.“
„Naja, dürfen ist auch nicht ganz richtig. Solche Methoden sind eigentlich untersagt.“ Ragen machte große Augen, als sie Julies Antwort hörte.
„Eigentlich? Betrifft ‚eigentlich’ nicht eigentlich alle? Rose kommt doch nicht von einem anderen Stern.“
„Jede von uns wurde kurze Zeit nach Erhalt der Kräfte in die Regeln und Gebräuche dieser speziellen Gesellschaft eingeführt. So wie du jetzt, doch Rose war einfach nicht zu fassen.“ Julie machte eine kurze Pause. „Sie war meist Tage unterwegs um Dämon für Dämon zu killen. Das hat ihr einen gewissen Ruf eingebracht.“ Ihre Stimme nahm einen verschwörerischen Klang an.
„Es kann ganz hilfreich sein - wie heute - jedoch schau dir das Verhalten bitte nicht ab. Eine gute Hexe, die auf Arschloch macht genüg.“ Vor Schreck wären Ragen und Julie beinahe in die Luft gesprungen.
„Mayen!“, schimpften die Mädchen. Sie war neben ihnen aufgetaucht und hatte ihren Senf dazugegeben.
Ein wissendes und herzliches Lächeln beruhigte ihre aufgeschreckten Herzen. Ragen fasste alle ihren Mut zusammen, drehte sich zu Rose hin und schenkte ihr ein Lächeln voller Anerkennung.
Rose lächelte zurück.

Ein aufregender Nachmittag mit neuer Enthüllung ging, der Meinung der Mädchen nach, etwas zu spät zu Ende. Danach war jeder von ihnen eine Ruhephase gegönnt. Jedoch wollte sich der Alltag partout nicht einstellen. Alpträume hielten sie nachts wach; Rose ertrug die Stille ihres leeren Zuhauses nicht und die Anzahl der Notfälle wollte nicht sinken. Julies Erlebnis verpasste dem Ganzen noch ein Krönchen.
Sie und Katie waren im Parkcafé Soleil verabredet. Völlig ungezwungen und losgelöst vertieften sich die Freundinnen in ihre Unterhaltung. Für einen kurzen Moment konnte Julie wieder eine normale Gymnasiastin sein, sich frei von allen Problemen fühlen.
Wenn da nicht im Dickicht dieses merkwürdig blasse Licht erstrahlte. Sachte hüpfte es auf und ab; Stück für Stück kamen sie näher. Die dunklen Umrisse, die der Schein zu beleuchten versucht, wirkten für die Augen ungeübter nichtmagischer Menschen surreal. Es war schwer eine feste Gestalt auszumachen. Bis hochgewachsene wunderschöne und bleiche Geschöpfe den Schutz der Bäume verließen und sich inmitten der Parkwiese versammelten.
Schaulustige Fußgänger blieben wie angewurzelt stehen und besorgte Mütter zogen ihre Kinder aus der Reichweite dieser unwirklich erscheinenden Fremden.
Julie vergaß ihre Gabel auf halben Weg zum Mund. Die Geisthexe faszinierte der Anblick so gar nicht, es war mehr eine überraschte Reaktion auf ihr Erscheinen. Auch wenn sie dieser Spezies unter den magischen Wesen in dieser Weise noch nicht begegnet war, erinnerte sie sich genau an ihre Seelenführung und das bläulich schimmernde Licht der Elfen. Wie zum Himmel sollte sie das erklären?
Ihr vorangegangener Heißhunger auf den Erdbeer-Käsekuchen vor ihr war prompt vergangen. Schlecht gelaunt ließ sie die Gabel achtlos auf den Teller fallen. Das laute Klirren interessierte niemanden. Alle waren sie vom Anblick der Neuankömmlinge gefangen. So überraschte es die Blondine, als Katie ihr das Handy entgegen hielt. Sie fing an sich an ein Leben mit magischer bester Freundin zugewöhnen. Ergänzte sie sogar in solchen Momenten. Die junge Hexe ertappte sich dabei die Vorstellung zu genießen Katie in solchen Situationen an ihrer Seite zu haben. Allerdings war dies unmöglich. Kurz unachtsam und ein Dämon würde nichts als Asche oder abgenagte Gebeine von ihr übrig lassen. Dann wäre sie wirklich allein. Nur daran zu denken verursachte Julie eine Gänsehaut.

Nachrichten über sonderliche Erscheinungen überfüllten die Medien, weshalb seit dem Zwischenfall der Elfen eine Berichterstattung nach der anderen über die Fernseher der Hexe flimmerte. Umstürzende Gewässer und vertriebene Lichtgestalten waren mitunter nur der Anfang des Chaos. Sich stark vermindernde Feenpopulation und sich häufende Revierstreitigkeiten hielten die Hexen auf Trab.Widerwillig fälschten sie Krankenscheine oder schwänzten auf die Schnelle ihre Stundenjobs. Die Gefahr erwischt zu werden war groß, jedoch war es noch wahrscheinlicher, dass die Stadt ohne deren zutun in kürzester Zeit überrannt werden würde.
Zwischen Höflichkeitsbesuchen und lebensrettenden Maßnahmen mutierte das Haus der Schwestern in ein Trainingslager für kämpfende Hexen.
Erstaunlich gut kamen sie in den Tagen miteinander aus. Getrennten Badezimmern sei dank. Während dieser Zeit kümmerte Fay sich um den schwächelnden Greg. Aufwecken konnte sie ihn zwar, aber er war noch immer ein Schatten Seinerselbst.
Egal wie oft Ragen versuchte sich an ihr vorbei zu stehlen, ihre Ahnin war der jungen Hexe eine Meile voraus.
»Ich möchte aber mit ihm reden«, flehte sie fast auf Knien. Zu wissen, dass Antworten auf ihre vielen Fragen in greifbarer Nähe waren, sie aber immer vor verschlossener Tür stand nagten an ihrer bereits geschundenen Seele. Mit den Worten »Er ist noch nicht soweit«, wimmelte die ehemalige Hexe ihre Nachfolgerin ab. Ragen sollte nicht mit einem Mann konfrontiert sein, der sich nur wage, an seinen Namen erinnern konnte. Sobald Vater und Tochter aufeinander treffen, wird es vieles für Ragen zu verkraften geben (mal wieder), eine schöne Erinnerung sollte dennoch bleiben. Sie sollte sehen dürfen, was für ein sympathischer und charismatischer Mann ihr Vater war. Genau den Mann sollte sie kennen lernen, der auch ihre Mutter verzaubert hatte.
Die Tage schritten voran, die Fortschritte der Mädchen immer deutlicher und Ragens Laune trübsinniger. Mit jedem Tag war das steigende Fehlen der jungen Erdhexe spürbarer. Sorgen machte sich in ihnen breit, dennoch gab Eve ihren Freundinnen keine Chance zu viele Gedanken daran zu verschwenden.
Die Stadt brauchte ihre Hilfe und vermutlich sogar Ragen. Leider konnten sie nichts an dem ändern, was ihr so schwer auf der Seele lastete.
Derweil war Rose kurz davor ihren Stolz über Bord zu werfen und ihr Training einzustampfen. Ihr Schutzschild wollte nicht schneller werden, als es ohnehin schon war. Dass Julie ihr immer davon rannte, kränkte sie.
»Glaube mir, ich werde es schaffen. Keine Ahnung, wie lange es brauchen wird, allerdings wird dich meine Deflektion dann ordentlich zu Boden reißen«, ließ die Schwarzhaarige verlauten. Die beiden kamen gerade zurück in den Garten, nachdem sie sich in der Küche eine kleine Erfrischung genehmigt hatten.
Kichern war zu vernehmen und es stammte tatsächlich von Julie. »Lachst du mich aus?«, fragte Rose sie verwirrt. Sie war auf einem Absatz stehen geblieben, der ihren Größenunterschied ein klein wenig auszugleichen schaffte. Bloß ein Schritt von Julie und schon konnte sie wieder auf ihre Trainingspartnerin herab sehen. »Die Magie, die schnell genug ist, um mich zu kriegen, muss erst noch erfunden werden.«
Die Schwestern hätten es zwar nie zugegeben, dass sie der Unterhaltung unabsichtlich gelauscht hatten, doch ihre erheiterten Gesichter verrieten sie. Prompt wurde jede von ihnen mit einem bösen Blick der Feuerhexe bestraft. Einige Monate zuvor hätten sie davor noch Angst haben müssen, jetzt jedoch entwickelte die einstige Außenseiterin eine humorvollere sarkastische Seite.
Dieser kleine Zwischenfall reichte zum Ansporn alle mal. Während Julie vor dem beweglichen Schutzschild floh, sinnierte die Verursacherin über weitere Möglichkeiten nach. So kam die interessante Idee in ihr auf, wie es wohl aussehen würde, wenn Julie ihr Schild direkt vorm Latz bekommen würde. Ein kleines Ablenkungsmanöver hier und viel Konzentration auf der anderen Seite, schon würde es theoretisch funktionieren. Dafür müsste ihre Fähigkeit ihr auch gehorchen. »Was für ein Scheiß«, schnaubte Rose. Obwohl die Bewegung des Schildes ein Fortschritt war, reichte es der Hexe nicht. Diese Stufe war für sie noch nicht genug. Die Anderen waren zwar auch noch nicht weiter, jedoch wollte sie sich nicht davon aufhalten lassen. Ihr Plan von vorhin nahm einen festen Platz in ihren Gedanken ein. Die Magie in ihr füllte diesen Gedanken plötzlich aus. Pochende Wellen durchzogen ihren Körper und Julie endete vor einem Schild. Mit voller Wucht endete ihr Ausweichmanöver an einem Schild, dass sie zu Boden zu riss. Es konnte ihr die Füße vom Boden ziehen, weil es auf einmal da war. Wie aus dem Nichts knallte die Geisthexe gegen eine plötzlich erscheinende Deflexion.
In der Aufregung um diese neue Errungenschaft von Rose, bemerkte keine wie Eve ein paar Zentimeter über dem Boden schwebte, zu Boden glitt und dann auf sie zugestürmt kam.
»Ich habe es geschafft«, keuchte Rose vor Erstaunen. »Unglaublich«, kam es von Jo und Julie bekam gerade einmal ein Stöhnen zustande. Eve half ihr freundlicherweise auf die Beine. Rose allerdings war noch leicht weggetreten, diese Überraschung hatte sie überhaupt nicht erwartet.
»Habt ihr das gesehen?«
»Das ist doch ein Scherz, oder?«, jaulte Julie. »Ich bin direkt davor gerannt. Mit Hyperspeed.«
»Ich hole dir etwas Eis.« So wandte sich Eve wieder ab, klopfte Rose im Vorbeigehen auf die Schulter und ließ ihr ein »Herzlichen Glückwunsch« da.
Sekunden später hatte sich die schwarzhaarige Hexe wieder gefangen. Sie überbrückte den Abstand zu Julie und nahm sie seitlich bei den Schultern. Dieser Zusammenprall bescherrte Julie höllische Kopfschmerzen, wodurch sie bei jedem Schritt ins Wanken geriet. Jo ging vor.
»Julie kommt auf die Terrasse«, rief sie ihrer großen Schwester entgegen. Glücklich keinen Balanceakt bis hinten in den Garten vollziehen zu müssen, lud sie die Wasserflasche, vier Plastikbecher, eine Karaffe voller Eiswürfel sowie zwei Handtücher auf dem Terrassentisch ab.
Julie wurde auf einem der dazu passenden Stühle geparkt. Bekam von Jo einen Becher zu trinken und Eve schüttete eine Ladung Eiswürfel auf eines der ausgebreiteten Handtücher, verknotete es fest und warf es ihr zu.
Für diesen Tag war Julie definitiv bedient gewesen. So musste Rose sich damit abfinden, diese neue Variante ihrer Fähigkeit vorerst kein weiteres Mal ausprobieren zu können. Zumindest nicht am lebenden Objekt.
Wenige Tage später beherrschte Rose das Erscheinen ihres Schildes außerhalb ihrer Reichweite beinahe perfekt. Aber auch nur beinahe. Einmal wollte sie es erscheinen lassen und dann auch noch bewegen. Zuerst wunderte sie sich, wieso nichts passierte, bis sie ihr eigenes Schild im Kreuz spürte. Mit einem erschreckten Laut vorangehend landete Rose vornüber im matschigen Gras. Zu ihrem Unmut war der Boden vom Regen der letzten zwei Tage sehr aufgeweicht.

Nun schufteten die Mädchen bereits seit über zwei Wochen. Mayen und Ben ließen sich in der Zeit kaum blicken, weil sie jeden Hilferuf vorher erst abchecken wollten. Zu oft waren es Fehlalarme, weil irgendein ängstliches magisches Wesen eine Panikattacke erlitt.
Jo-Ann schälte sich an einem trüben Mittwochmorgen aus dem Bett. Im Haus war es verdächtig ruhig, also linste sie auf ihren alten Wecker, der absichtlich immer 5 Minuten vorging.
10 Uhr 53. Ihre Schwester würde jetzt sagen: »Du hast den halben Tag verschlafen.« Und das machte sie stutzig. Aus dem Erdgeschoss müsste so gesehen geschäftiges Treiben zu vernehmen sein.
Noch leicht schlaftrunken torkelte die jüngste Hexe von einem Schlafquartier ins Nächste. Ragens Bett war verwaist. Rose war offensichtlich außer Haus, denn überall lagen Klamotten verstreut, als wüsste sie nicht, was zu tragen wäre. Ihre Schwester fand sie auch nicht, vermutete sie jedoch in der Küche oder auf der Terrasse.
Auf dem Weg nach unten linste Jo noch kurz bei Julie hinein und fand sie über das in braunes Leder gebundene Buch der Schatten brühten. Die Innenseiten von Julies Zauberbuch hatten so einen schönen weißsilbrigen Schimmer, der unter den aufgeschlagenen Seiten hervorlugte. Mit einem Kopfnicken begrüßten sich die zwei Mädchen und Jo verschwand kurzerhand wieder aus dem Türspalt.
Lautes Poltern hallt durch die Flure. Alles andere als leichtfüßig stampft die jüngere Hausbesitzerin in Richtung Wohnzimmer. In Gedanken die verschiedenen Möglichkeiten durchgehend, wer wo abgeblieben sein könnte. Außer vielleicht Julie, die hatte sie schon gefunden.
Ohne Bedenken riss sie die Wohnzimmertür aus dunklem Holz auf. Helles Licht ergoss sich über sie, dass sich seinen Weg durch das riesige bodenlange Fenster bahnte. Erschrocken riss sie Augen auf, anstelle sie zuzukneifen. Ihre große Schwester in der Schwebe hängen zu sehen war zu viel. Diese hatte Jos Eindringen nicht bemerkt. Ruhig und eindeutig nicht mehr stampfend trat sie in den Raum hinein. Ungläubig schüttelte die kleine Schwester ihren Kopf. Was sollte sie jetzt tun? Ihre Schwester ansprechen? Anstupsen vielleicht? In Gedanken versunken ließ sie verschwörerisch ihren Kiefer kreisen, drehte sich dann um und schmiss die Tür mit einem verschmitzten Lächeln zu.
Der Knall riss Eve aus ihrer Trance, zerstörte ihre Konzentration und somit auch die Kontrolle über ihre Fähigkeit. Wie ein nasser Sack Mehl klatschte die Lufthexe auf den Parkettboden auf.
»Autsch«, keuchte die ältere Brünette. Schulterzuckend und mit Unschuldsmine schüttelte Jo den vorwurfsvollen Blick ihrer Schwester ab. »Willkommen zurück auf dem Boden der Tatsachen.«
»Vielen Dank auch.« Mürrisch ließ sie sich auf die Beine ziehen und reckte ihre Glieder, die während ihrer konzentrierten Phase völlig versteiften.
»Hast du eigentlich Ragen gesehen?« Bevor ihr unterstellt werden könnte, sie hätte das eben ihrer Schwester mit Absicht angetan, konfrontierte Jo sie mit ihrer eigentlichen Frage. Nach Rose zu Fragen war sinnlos. Sie mochte auch das Haus verlassen haben, dennoch ging diese Frau nicht einfach verloren. Diese Hexe hatte immer ihre Gründe und es herrschte die unausgesprochene Regel, diese am Besten nicht zu hinterfragen.
»Sie war nicht im Bett?«
»Nicht im Bett? Das Zimmer sieht aus, als würde da seit ein paar Tagen keiner mehr wohnen.«
Tief atmete Eve ein, um dann einen schweren Seufzer wieder hinaus zulassen. »Ich kümmere mich drum.«

Ohne Eves nerviges herumwuseln, Ragens Dauerbenutzung des Wasserkochers und Roses stille jedoch unverkennbare Präsenz fühlte sich ihr Zuhause plötzlich leer an. Der Sinn nach Training war ihr vergangen. Also eilte sie in Julies provisorisches Quartier, welches einst Jos Ankleidezimmer war. Dort fand sie die Blondine immer noch im Bett vor. Nur dieses Mal blätterte sie im Zwei-Sekunden-Takt die Seiten um. »Falls dir langweilig wird oder du lieber Gesellschaft eines Lebewesen anstelle eines Buches vorziehst, ich bin unten und mache mir einen Film an. Vielleicht ...«
Die Junghexe konnte nicht einmal aussprechen, da stand Julie schon vor ihr. Eine Pause würde beiden gut tun. Sollten die anderen ihre Probleme schön selber lösen.

Wieso kann meine Vergangenheit nicht meine Zukunft sein?

 »Wusste ich es doch, dass ich dich hier finde.«
Erschrocken dreht sich Ragen zu der bekannten Stimme um. Ganz ungezwungen lächelte sie ihrem Besucher entgegen. Nur es erreicht ihre Augen nicht.
»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte Eve höflich. Eigentlich wollte die Erdhexe ihr antworten, doch ihre Stimme versagte. Stundenlang schweigend in einem Gebüsch zu hocken zeigte sich nicht förderlich für ihre Stimmbänder. Also räusperte sie sich ein paar Mal. Begann aber nicht zu sprechen.
Gemeinsam teilten sich die Mädchen einen modrigen umgestürzten Baumstamm und beobachteten das Haus schräg gegenüber. Mehrere Zweige und Blätter behinderten Eves Sicht. Sie könnte es ändern, schaute aber nur in dieselbe Richtung wie Ragen, um sie nicht zu bedrängen.
»Seit Tagen versuche ich, zu ihnen zu gehen. Ich möchte ihnen sagen, dass es mir gut geht. Immerhin habe ich meinen leiblichen Vater bereits zurück, auch wenn wir uns bislang bloß angestarrt haben.« Während Ragen anfing Eve zu erzählen, was ihr auf der Seele lag, knetete sie nervös ihre Hände. Als ihre stille Zuhörerin plötzlich verlauten ließ, den Teil mit dem anderen Vater sollte sie bei der Wiedervereinigung mit ihren Eltern nicht unbedingt als Erstes erwähnen, lächelte sie ein ehrliches Lachen.
Jemanden zu haben, mit dem man fantasieren konnte, löste die angestaute Spannung, die sich über das 18-jährige Mädchen gelegt hatte. Doch bevor sie noch keine Lösung für ihre aktuellen Probleme gefunden hatte, war sie alles andere als bereit ihrer Vergangenheit gegenüber zutreten. Weder ihren Zieheltern noch ihren Blutsverwandten. Fay war eine Ausnahme. Eine Jahrhunderte alte Ausnahme.
»Ob Rose mir irgendwann verzeihen kann?«, fragte sie in die Stille hinein.
»Was soll sie dir denn verzeihen?«
»Den Tod ihrer Schwester.« Ihre Stimme glitt eine Oktave höher. Verwirrt schaute sie neben sich und beäugte Eve. »Du weißt doch selbst haargenau, dass sie mich hasst.«
»Es ist kompliziert. Sie brauchte jemanden, den sie verantwortlich machen konnte«, Eve war während der Unterhaltung abgedriftet und in Gedanken nun in der Zeit, in der all das Unglück seinen Anfang hatte.
»Wenn ich nicht besessen gewesen wäre, dann wäre Rose jetzt nicht voller Hass.«
»Das ist kein Hass. Das ist Verzweiflung und sie wird darüber hinwegkommen. Irgendwann.«
»Sie hat mich angelächelt. Also eher zurück gelächelt, als ich bei den Bergquellen mit einem Lächeln meine Anerkennung zeigte«, verkündete Ragen stolz. Das könnte der Anfang einer sich bessernden Beziehung gewesen sein. »Vielleicht fängt sie ja an, mich irgendwann zu mögen.« Ein kleiner Hoffnungsschimmer schwang in ihrer Stimme mit.
Auch Eve deutete die Reaktion der ansonsten sehr temperamentvollen Feuerhexe als gutes Omen, stand auf und wandte sich zum Gehen. »Wie wäre es, wenn du es herausfindest? Geh zu ihr.«
»Und wie soll ich das anstellen? Weiß ich, wo sie ist? Nein, natürlich nicht. Außerdem, weiß ich nicht, was ich sagen soll.« Ragen stand nun ebenfalls und deutete Eve mit ausgestrecktem Arm erst zu gehen, nachdem sie die gewünschten Antworten preisgab.
»Sie ist auf dem Friedhof. Heute wäre Jasmins Geburtstag.«
Stille. Dann ein Schlucken.
»Was soll ich ihr denn jetzt sagen?« Unsicherheit schwang deutlich in ihrer zitternden Stimme mit.
»Gar nichts. Hör einfach zu.«
Mit diesen Worten entfernte sich Eve und ließ Ragen mit der Möglichkeit selbst zu entscheiden zurück.

Ein letztes Mal schaute die 18-Jährige zurück. Zurück auf das Haus, welches sie einst zuhause nannte. Zurück auf die Vergangenheit, die für immer Vergangenheit bleiben und niemals mehr Teil ihrer Zukunft werden würde. Schweigend verabschiedete sich das Mädchen von diesem Ort. Zu schmerzhaft waren die heimlichen Besuche. Damit konfrontiert zu werden, dass alles nur eine Fassade war.
Nun war Ragen in ihrem neuen Leben angekommen, ob sie wollte oder nicht, aber in das Leben ihrer Zieheltern passte sie nicht mehr hinein.
Also war es Zeit den Schritt nach vorne zu wagen.
Die Blätter der Büsche raschelten, als sie hindurchhastete und in Richtung Innenstadt aufbrach.

Zielstrebig hastete Ragen durch die breite Verkaufsstraße der Innenstadt. Sollte sie sich nicht vertan haben, blieben ihr nicht mehr viele Minuten, um den einzigen Bus Richtung Friedhof zu erwischen.
Aus dem Augenwinkel heraus sah sie plötzlich etwas aufblitzen. Das kleine Blumenlädchen, auch bekannt unter dem Namen Blumenwunder, bot wie üblich eine breite Palette an ordinären sowie außergewöhnlichen Pflanzen an. Darunter fand sich auch eine weiße Rose. Instinktiv drehte Ragen um, zog schnell ein schönes Exemplar aus dem länglichen Topf und legte der Besitzerin das Geld daneben hin. Diese dachte natürlich, sie wäre beklaut worden, schimpfte und verfluchte lauthals die Jugend.
Nach ihren kostbaren und preisgekrönten Blumen schauend, bemerkte sie das viele Kleingeld, welches neben die Rose auf einen Haufen geworfen wurde. Misstrauisch zählte die Frau das Geld nach und hielt die exakte Summe für eine Rose in der Hand.
Schmunzelnd trat sie wieder auf die Straße und sah dem davon eilenden Mädchen hinterher.

Derweil kramte Eve ihre Bücher und Unterlagen für die Uni zusammen. Unter strenger Beobachtung von Julie und Jo-Ann durchquerte sie zig Mal das Haus, nur um eine Tasche zu packen.
»Willst du auswandern?«, fragte deshalb ihre Schwester scherzhaft. Die Mädchen pausierten ihren Film, weil sie bei den ständigen Störungen keiner von beiden auf die Handlung konzentrieren konnte. Ziemlich schlecht, wenn man einen komplizierten Zeitreisefilm vor Augen hatte.
»Ich muss in die Uni. Sonst flieg ich noch. Mein Maximalpensum an Fehlzeiten ist schon voll.« Eve sprach mehr in ihre Tasche hinein, als zu ihren Gesprächspartnern hin.
»Wir sollten vielleicht auch nicht so untätig herumsitzen«, sinnierte Julie aus heiterem Himmel. Verdutzt schaute Jo sie deshalb an, als hätte sich ihre Couchnachbarin vor ihren Augen in eine Greisin verwandelt, mit fragendem Blick inklusive. »Ich meine nur, dass ich im Haus meiner Mutter - meinem Haus - nach dem Rechten schauen sollte.«
»Wohnen da nicht irgendwelche flüchtigen Wesen?«
»Genau deshalb«, antwortete sie Jo.
Gemeinsam verließen Julie und Eve das Haus. Die Ältere hatte zwar angeboten sie nach Hause zu fahren, doch diese lehnte dankend ab. So trennten sie sich in der Auffahrt.
Im Haus war wieder Stille eingekehrt. Noch immer starrte die junge Brünette in Richtung der Tür. Sie konnte zwar niemanden mehr beim Verlassen des Hauses beobachten, doch erst einige Minuten später wandte sie sich ab.
Prompt war die Lautstärke des Fernsehers zurück, begleitet vom Knistern einer Snacktüte und beinahe sähe es so aus, als wenn nichts passiert wäre. Nur dass jemand fehlte.

Unten bemerkte niemand, wie Greg tatsächlich auf die Beine kam. Mit Fay verließ er noch leicht strauchelnd das Dachgeschosszimmer. Frische Luft würde ihm gut tun, hatte Fay ihm beigepflichtet und förmlich gezwungen auf den Balkon hinaus zu gehen. Dort lehnte er nun am hölzernen Gelände, streckte seine Glieder und atmete tiefe Züge der frischen Vorstadtluft ein.
Keiner von beiden redete ein Wort. Wieso auch? Sie hatten sich ohnehin nichts zu sagen. Natürlich konnte Fay anfangen ellenlange Entschuldigungen hinunter zu leihen, jedoch ahnte sie, dass Greg kein Fan solcher Worte war. Was geschehen ist, ist geschehen und ihre Worte konnten daran auch nichts mehr ändern. So seufzten und stöhnten sie leise vor sich hin. Die Eine aus Frust, der Andere aus Erleichterung.
Ben tauchte auf der Feuerleiter auf und Fay bat ihn wortlos, heranzutreten. Er bemerkte auch so, dass diese peinliche Stille ihr unangenehm war. So entschieden sie, dass Fay mit Mayen zum Sitz des Rates gehen sollte. Ben würde solange Greg Gesellschaft leisten.
Ohnehin war ihm nicht nach einem Besuch bei diesen starrsinnigen alten Vorsitzenden. Nach der Sache mit dem Fluchbann hätte er sich vor ihnen verantworten müssen, allerdings drückte er sich schon einige Tage mit Erfolg.
»Was für ein Wesen bist du?«, brach Greg die Stille.
»Das ist schwer zu erklären.«
»Ich hab Zeit.« Seine Stimme brummte mit jedem Ton. Ben fand es passend zu seiner großen und muskulösen Statur. Irgendetwas an ihm und der Engel konnte nicht genau benennen, was es war, ließ ihn eine tiefe Verbundenheit zu dem alten Hexer spüren. Also holte er zwei Gartenstühle aus einer Ecke und stellte jedem von ihnen einen hin. Dies konnte eine lange Unterhaltung werden.
»Ich bin ein Schutzengel«, fing Ben an.
»Und wie kommt es, dass ich dich sehen kann?« Greg mochte zwar kein Hexer mit aktiven Kräften sein, jedoch war er lange genug mit Meghan auf der Flucht gewesen, um viele verschiedene Wesen kennen lernen zu dürfen.
»Das ist der längere Part. Die Alten brauchten nämlich jemanden, der bei den Mädchen ist, wenn es passierte.«
»Jetzt nichts gegen dich, aber wäre es da nicht leichter gewesen, sie hätten ein Mädchen in ihrem Alter geschickt.«
»Das habe ich mich auch gefragt«, seufzte Ben. »Aber ihre Vertraute ist eine Frau - und eine Katze.«
Beide mussten schmunzeln.

Ragen trat hinter Rose. Wie so oft, wusste diese sofort, was um sie herum geschah. Als Zirkelmitglied gewöhnte man sich allmählich an diesen Zug. Auch wenn die Erdhexe sich manchmal fragte, ob es einen magischen Grund dafür gab.
»Ich wollte mich noch einmal bei dir entschuldigen«, begann sie leise zu sprechen. »Bei deiner Schwester ebenfalls.«
»Wie willst du dich entschuldigen, wenn du gar nicht wirklich weißt, wie es geschehen ist? Ob vielleicht gar nicht Schuld an ihrem Tod hast.« Ragen glaubte ein amüsiertes Schnauben aus ihren Worten heraus zuhören.
»Du hast immer gesagt, ich sei schuld.«
Rose seufzte laut, doch drehte sich nicht um. Beiden war es lieber sich bei diesem Gespräch nicht in die Augen sehen zu müssen. Das Erdmädchen starrte auf Roses Rücken und das Feuermädchen bedachte den Grabstein ihrer Schwester mit glasigem Blick.
»Du musst wissen, dass es einem leichter fällt zu trauern ... wenn man jemanden hat auf den man seine Wut projizieren kann.« Stille. Während Rose erzählte traute sich Ragen keinen Ton zu machen. Möglicherweise könnte es ihre Meinung ändern sich zu öffnen und das wollte sie auf keinen Fall. Dann räusperte sich die Schwarzhaarige. Ihr Hals war ganz ausgetrocknet.
»Du warst besessen, wir haben dich besiegt und du bist zurückgekommen. Dafür habe ich dich so gehasst. Wieso durftest du zurück in deine Welt, wenn es meiner kleinen Schwester verboten war. Es war einfach so viel leichter dich zu hassen, als mich selbst.«
Bei diesen Worten musste Ragen heftig schlucken. Niemals hätte sie mit solchen Zugeständnissen gerechnet. Vor allem nicht von ihr.
»Wie war deine Schwester so?« Die bedrückende Stille zwischen den beiden hielt die Jüngere nicht lange aus.
»Sie war erst 15, beinahe 16 und war schon mehrere Monate mit der Planung ihrer großen Party beschäftigt. Hätte ich sie damals nicht mit in den Wald genommen, dann würde sie heute 17 werden. Fast erwachsen sein und es mir ständig vorhalten.« Ein trauriges Lachen entfuhr ihren Lippen.
»Ich wusste gar nicht, dass damals auf der Lichtung gestorben war?« Ragen war sichtlich verwirrt, denn damals war sie selbst auch anwesend gewesen. Seit kurzem war auch diese Erinnerung zurück.
Heftig schüttelte Rose ihre Locken durch. »Du verstehst mich falsch«, begann sie. »Sie starb am Tag darauf. Der Abend im Wald hat sie beflügelt, mehr mit mir zu unternehmen. Plötzlich wollte sie morgens mit mir Laufen. Nur weil ich es eilig hatte, habe ich dem Buch der Schatten keine große Aufmerksamkeit geschenkt.« Wieder eine Pause. Nun konnte Ragen auch ihre schweren Atemzüge hören.
Kurz durchzog ein leichtes Zittern den Körper der ehemals großen Schwester. »Sie hatte es gerade erst gefunden. Und ich war der Meinung, wir könnten uns auch noch hinterher dem Buch widmen, doch das sollte dann zu spät sein.«
Ragen hatte den Anschein Rose würde nicht weiter erzählen, weil alles gesagt war, was hätte gesagt werden können. Alles Weitere ging sie nichts an, allerdings konnte sie dem Drang nicht widerstehen und musste einfach danach fragen. Sehr leise kamen ihr die Worte über die Lippen. Rose würde sie trotzdem verstehen: »Erzählst du mir, wie sie gestorben ist?«
Rose legte den Kopf in den Nacken. Sie hätte den Himmel beobachten können; nach ihrer Schwester Ausschau halten, doch Ragen glaubte zu wissen, dass sie weinte.
»Am See habe ich noch behauptet, sie müsse sich keine Sorgen machen, denn so schnell würde sie nicht sterben. Ich habe sie angelogen ...«

»Wer von euch beiden ist nun die Hexe«, vor Jasmin und Rose war ein großer bulliger Mann aufgetaucht. Er war nicht bloß aufgetaucht, sondern hatte sich wortwörtlich vor ihnen materialisiert. Die Mädchen fanden sich in einer Schockstarre wieder. Dieser Typ sah komisch aus, redete komisches Zeug und ploppte aus dem Nichts hervor. Das war schlimmer, als jeder ihrer Alpträume. Auch wenn beide hofften, dass es bloß einer gewesen wäre.
Schützend streckte Rose einen Arm zur Seite aus, um ihre kleine Schwester wenigstens ein bisschen abzuschirmen. Das sollte kaum nötig sein, denn aus ihrer Angst heraus verkroch sie sich bereits hinter ihrem Rücken. »Rose ich habe Angst«, flüsterte die 15-Jährige hinter ihr.
»Ich auch«, stammelte sie zurück. Dann wandte sie sich an ihr Gegenüber. »Wovon reden Sie? Wer sind Sie und was wollen Sie?«
Der Mann, der sich später als Dämon herausstellen sollte, rollte mit den Augen. »Kleines, das ist keine Talkshow. Ich bin bloß hier, um die Hexe zu töten.«
Er redete mit ihr, als wäre sie zu dumm um die einfachsten Dinge zu verstehen. »Hier gibt es keine Hexen«, entgegnete sie deshalb genervte, als sie eigentlich wirkte.
»Ja, ja. Das sagen sie ALLE!« Ruhig und belustigt begann er zu sprechen, zog ein Messer hervor, und bevor er seinen Satz beendet hatte, schleuderte er es ihr entgegen. Die Wucht seines Wurfarms hallte noch in seiner lauten Stimme wieder.
Instinktiv gingen die Mädchen in Abwehrhaltung. Rose riss die Arme vor ihr Gesicht und Jasmin machte sich hinter ihrem Rücken noch kleiner. Ihr Körper drückte nun so stark gegen den ihrer Schwester, dass Rose glaubte, sie wollten verschmelzen.
Etwas zischte in der Nähe von ihrem Ohr und so wagte Rose, den Blick wieder nach oben zu richten. Das Messer hatte sie nicht getroffen. Anstelle eines Messers hing zwischen ihnen und dem Angreifer eine kreisrunde, lodernde Feuerwand. Erschrocken zog sie scharf die Luft ein und das Flammenschild verwand. Der Mann hob inzwischen sein Messer wieder auf. Es lag mehrere Meter von ihnen entfernt, als wäre es von etwas abgeprallt. Da wurde Rose einiges klar. Panisch fing ihr Herz lauter an, zu klopfen.
»Du bist es also«, er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Aber wisst ihr was. Ihr zwei seit so niedlich zusammen, da kann ich doch nicht bloß eine töten. Nein, ich bin doch kein Unmensch.«
»Ach nein«, spuckte Rose aus.
»Natürlich nicht. Ich bin ein Dämon.« Verschwörerisch zuckte der Mann mit den Augenbrauen. »Ich heiße übrigens Marek.« In Rose stieg eine unbändige Wut an, über diese perverse Freude anderen Leid zuzufügen.
Sie wollte ihre kleine Schwester unter allen Umständen vor ihm schützen, aber das Feuer wollte nicht wieder erscheinen. Etwas fühlte sich falsch an und das machte sie noch wütender. So wütend, dass sie gar nicht bemerkte, wie es ihre Blockade verstärkte.
Ohne Vorwarnung steckte Mark, der Dämon, sein Messer wieder weg und vollführte merkwürdige Fingerübungen. In der Straßenlaterne ein paar Schritte weiter, fing es an zu knistern. Die Glühbirne platzte und Funken stoben, die der Dämon absorbierte. Bei diesem Anblick blieb Rose der Mund offen stehen.
Jedoch war dies noch nichts im Vergleich zu dem Ball aus purer Energie, der ihnen entgegen geschleudert wurde. Ruckartig schubste sie Jasmin beiseite und schmiss sich selbst bäuchlings auf die Erde.

Weiter und weiter scheuchte das Monster die Mädchen Querfeld ein. Das Feld mit dem halben Meter hochgewachsenem Gras, welches sich zur Linken der Straße erstreckte wurde zu seinem Spielfeld. Seine aus Energie geformten Wurfgeschosse - und es konnte wirklich jede Form annehmen - setzte die Halme in Brand. Nicht lange und die Mädchen waren in der Feuerhölle gefangen. Getrennt voneinander.
Die Panik, die sie vorangetrieben hatte, hatte dafür gesorgt, dass sie beide nicht mehr aufeinander achteten. Rose drehte sich im Kreis. Schneller und schneller. Doch der Rauch nahm ihr die Sicht.
»Jasmin?« Rauch füllte ihre Lungen und ihr Körper wurde von schweren Hustenanfällen geschüttelt. Sie musste ihre Schwester finden. Wie konnte sie, sie nur verlieren?
Verzweifelt krallten sich ihre Finger in die schwarzen Locken. »JASMIN?!«
»Ich bin hier!« Halblaut und erschöpft klang die Stimme der jüngeren Stimme, als sie Rose durch die Rauchschwaden erreichte.
Sie musste sich jetzt konzentrieren. Aus welcher Richtung kam ihr Rufen?! Okay, Planänderung.
»Komm her! Hör auf meine Stimme, Jas. Folge meiner Stimme und komm zu mir.« Angestrengt kniff Rose ihre Augen zusammen und versuchte Jasmin zu hören, wenn sie antwortet. Es kam nur keine Antwort.
Da hörte sie plötzlich schlurfende Schritte. Nur ganz schwach, weil das knisternde Feuer zu viel überdeckte. »Jasmin? Weißt du, wo der Typ ist?« Mit ihren Worten lotste sie ihre Schwester zu sich. Dann ein Schrei.
»JAS?!«
»Rose! Hilf mir.« Sie musste nicht fragen, was passiert war. Und sie musste auch nicht fragen, wo der Dämon abgeblieben war. Obwohl sie die Hexe war, er sie tot sehen wollte, jagte er ihre Schwester.
»Ich komme, halte durch.«
Energiespitzen kamen ihr entgegen. Ein gutes Zeichen, denn dann verfehlten sie auch Jasmin. Jedes Wurfgeschoss verwirbelte die Luft, dünnte die Wände aus dunklem Rauch aus und gaben den Blick auf ihre kleine Schwester frei. Ihr Gesicht angstverzerrt und ihre Schritte so bleiern. In dem Tempo würde sie niemals entkommen. Auch Roses Beine schrien bereits vor Überanstrengung. Sie ignorierte den größer werden Schmerz. Trieb ihre Muskeln an härter zu arbeiten.
Wie konnten sie nur so weit auseinander getrieben werden? Jeder Schritt war eine Qual. Jeder Meter ein Dauerlauf. Weiter, weiter. Sie musste weiter laufen. Schneller laufen.
Nicht mehr weit. Nicht mehr lange. Mit ausgestrecktem Arm rannte sie ihrer kleinen Schwester entgegen. Erleichtert, als auch sie den Arm nach ihr reckte. Die Distanz scheinbar verkürzt. Doch dann ...
Rose konnte das Licht der mörderischen Energie hinter Jasmin aufblitzen sehen. Aber es kam ihr nichts entgegen.
Stattdessen riss es ihre Schwester vom Boden. Ein erstickter Schrei ertönte und der Körper ihrer Schwester überbrückte den Abstand zueinander.
Abrupt erstarrte der Körper der Schwarzhaarigen. Ihre Atmung setzte aus und eine Träne bahnte sich den Weg.
Wenige Schritte entfernt landete Jasmin, als hätte das Monster sie geworfen. Ein großes Brandloch prangte auf ihrem Rücken. Die straßenköterblonden Haare lagen wirr um ihr Gesicht herum. Ihre Glieder eigenartig abstehend.
Roses Unterkiefer begann zu beben. Schwerfällig näherte sie sich dem Körper der 15-Jährigen. »Nein ... nein ... nein«
So wollte sie ihre Kleine nicht sehen. So sollte die ganze Geschichte nicht ausgehen. Auch wenn sie es verleugnete, jedoch war es die Wahrheit. Sie wusste, dass Jasmin schon tot war, bevor sie überhaupt den Boden erreichte.
Neben ihr sackte die junge Hexe zusammen, zog den noch warmen Körper des Mädchens an sich, strich ihr die langen Haare aus dem verschwitzten Gesicht und fing bitterlich an zu weinen.
Die Weinkrämpfe schüttelten sie und wurden von Schreien untermalt.

Roses letzte Worte hallen noch auf dem ruhigen Friedhof nach. Ihre Geschichte trieb Tränen in die Augen der Jüngeren. Sie weinte, weil sie Mitleid mit Rose hatte. Sie weinte um ein Mädchen, dass sie nie kennen lernen würde und sie weinte um eine Vergangenheit, die niemals teil der Zukunft sein würde.
Auf Knien hockte Ragen nun geschockt und verweint hinter ihr.  Deshalb bemerkte sie nicht, wie sich die Feuerhexe zu ihr umdrehte, vor ihr in die Hocke ging und zum ersten Mal liebevoll auf sie hinab blickte. Es war, als wäre Rose in diesem Moment ein völlig neuer Mensch geworden. Ragen hatte eine Tür aufgestoßen, hinter der eine junge, traurige und eigentlich recht liebe Frau verborgen war.
»Darf ich?« Rose zeigte auf die weiße Rose, die sie für Jasmins Grab spontan mitgebracht hatte. Den Hals noch mit einem dicken Kloß verstopft, nickte das blonde Mädchen nur und öffnete ihre Finger um die Rose. In die eine Hand nahm die Schwarzhaarige die Blume und mit der anderen half sie Ragen auf die Beine und kehrte zurück zum Grabstein.
Die weiße Blume legte Rose mit einem Lächeln auf den Grabstein. Es war eine gute Entscheidung sich zu öffnen. Sie hatte den brennenden Hass in ihrem Herzen leid und vielleicht würden sie eines Tages tatsächlich Freundinnen sein. Die Entwicklung hätte ihrer kleinen Schwester sicher gefallen.
»Apropos gefallen«, nuschelte Rose vor sich hin. Ragens fragenden Blick gänzlich ignorierend griff die 19-Jährige in ihre Tasche und holte eine durchsichtige Plastikverpackung hervor. Darin befand sich etwas Weißes, doch Ragen konnte es aus der Entfernung nicht genau erkennen.
Mit einem Ploppen knibbelte Rose den Deckel ab und griff herzhaft hinein. Offensichtlich konnte man den Inhalt nicht so leicht zerstören. Im nächsten Moment wusste Ragen, was es war. Es waren Blütenblätter. Rose ließ weiße Jasminblüten vom Wind davon tragen. Es war ein atemberaubender Anblick, wie die zierlichen Blätter am Himmel tanzten.
»Ich hab dich lieb, kleine Schwester.«

Wenn die Todesfee für dich weint

Es bereits nach Mittag, als Ragen zurück ins Haus der Schwestern kam. Auf dem Friedhof hatte sie sich von Rose verabschiedet, die noch nach ihrem eigenen Zuhause schauen wollte. Denn nicht nur Julies Haus wurde notgedrungen als Flüchtlingslager gebraucht.
Dank der offenen Wohnzimmertür konnte Ragen einen Blick durch das große Fenster auf die Terrasse erhaschen. Dort saßen Ben und Greg beisammen. Sie spielten Schach.
Eine weitere emotionale Konfrontation ertrug sie an diesem Tag allerdings nicht mehr und rief nach den Mädchen, in der Hoffnung eine würde antworten. »Ich bin in meinem Zimmer«, erklang es aus der ersten Etage. Die Treppe erstreckte sich direkt neben ihr mit steiler Neigung nach oben. Ragen mochte diese Stufen nicht, sie waren steiler und höher als in moderneren Häusern.
»Kann ich mit dir sprechen?«, fragte sie sofort, nachdem sie das Zimmer betreten hatte. Die Tür stand offen, bis Jo die Frage bejahte und Ragen daraufhin für etwas Privatsphäre sorgte.
Zuerst wusste sie nicht, wie sie ihr heutiges Erlebnis auf dem Friedhof in Worte fassen sollte. Nachdem Jo sie auf ihr Bett gezogen hatte und ihr versicherte, dass sie sich Zeit nehmen kann, löste sich der Knoten mit einem lauten Seufzen. Ragen erzählte vom Friedhof, Jasmins Geschichte und wie sie einander nun mit anderen Augen sahen.
Schweigend lauschte Jo ihrer Geschichte. Ihre Augen wurden von Mal zu Mal größer und ihr Mund stand offen da.
»Nicht dein Ernst«, flüsterte die Brünette unglaublich.

Versorgt mit Tee und Gebäck - um Ragens Erzählung sacken zu lassen - machten die Zwei es sich wieder in Jos Bett bequem. Ihr Bett war eigentlich eine Couch, die breit war wie eine 1 m 40 Matratze. Die junge Hexe hatte schon immer einen Faible für außergewöhnliche Dinge.
Beide hatten ihre Beine angewinkelt, umklammerten ihre Tasse und zwischen ihnen lag das in grünes Leder gebundene Buch der Schatten. Ragens Zauberbuch.
Zu wissen, wie es bei Rose den Anfang nahm, hatte Ragens natürliche Neugier weiter beflügelt. Also bat sie Jo darum, ihr mehr von ihnen und ihrem Hexenleben zu erzählen.
Dazu benutzte die Wasserhexe das Buch. Sie schlug es auf einer beliebigen Seite auf und sollte der Eintrag mit einer Geschichte verknüpft sein, so erzählte sie davon. Ragen erfuhr von Roses unglücklicher Begegnung mit den Glitzerfeen. Staunte nicht schlecht, als sie erfuhr, dass es Vampire gibt, wie sie jagten und in Erscheinung traten. Definitiv keine Schönlinge zum Verlieben.
So blätterten sich die Mädchen Seite für Seite durch ihre vergangenen Abenteuer.

Mehr schlecht als recht folgte Eve der Vorlesung. Die aufgeschlagene Seite in ihrem Block blieb leer.
Nervös ließ sie den Kugelschreiber zwischen ihren Fingern hoch und runter wippen. Sie liebte Füller über alles. Wie die Worte sich mit ihrer geschwungenen Handschrift auf dem Papier kräuselten, ausbreiteten und ein schönes und ebenmäßiges Bild erzeugten. Für die Uni konnte sie sich das allerdings abschminken. Bereits am ersten Tag hinke sie mit ihren Notizen so stark hinterher, dass sie einen kleinen Schreibwarenladen aufsuchte, der sich auf dem Campusgelände befand, und sich eine Packung Kugelschreiber zulegte. Nicht ganz glücklich über diese Entwicklung, legte sie ihren Füller zuhause auf ihren Schreibtisch und verbannte ihn aus dem Unialltag.

»Vermisst du sie?« Ben schielte zu seinem Gegenüber auf. Er hatte gerade eben seinen Zug gemacht und wartete darauf, dass Greg reagierte. Dieser hob einen seiner Springer, überlegte kurz und setzte ihn dann bestimmt wieder auf eine neue Position auf dem Brett ab. Dann antwortete er, während Ben nun an der Reihe war zu ziehen: »Irgendwie schon. Etwas fehlt, auch wenn ich von den letzten 18 Jahren nichts mitbekommen habe, so fühlt es sich in meinem Innern leer an.«
Dieses Frage-Antwort-Spiel lief bereits seit Beginn ihrer Runde und dies wurde eine lange Runde. Beide Männer waren strategisch gut in Form. Obwohl Greg jahrelang und ohnmächtig weggeschlossen war, musste Ben eingestehen, dass er in Schach nicht sogar besser war, als der junge Bursche.
Ihre beiden Lieblingsthemen waren die Mädchen, insbesondere Ragen, über die Ben ihm leider noch nicht allzu viel erzählen konnte und Meghan. Der Schutzengel war sehr neugierig, was die praktizierende Hexe betraf. Sie würde die erste Hexe aus den Familien der Mädchen sein, die tatsächlich bei ihnen sein könnte. Sie könnte eine weitere Stütze für die Mädchen sein und besonders Ragens Unsicherheit vertreiben.

»Kann uns einer von euch helfen?!«
Aus dem Zitronenbaum hinter Greg stolperte wie aus dem Nichts eine Nymphe; ein Mädchen mit grünlich schimmernder Haut und Haaren, die an ein Gebüsch erinnerten. Vor Schreck fuhr der ältere Mann leicht zusammen. Er war es nicht gewohnt, von solcher Magie umringt zu sein. Sein Gesprächspartner stattdessen saß ruhig da, seine Muskeln angespannt und nickte dem Waldmädchen schnell zu.
»Seit ihr euch sicher? Sind die Hexen da, es ist wirklich wichtig«, ungläubig beäugte das kleine Mädchen, sie maß nicht mehr als 1 m 50, die beiden Männer. Man sah ihr an, dass sie männlichen Wesen kein großes Vertrauen entgegen brachte.
»Wie wäre es, wenn ihr uns erst einmal erzählt was passiert ist.« Ben hatte das zweite Augenpaar, das zwischen den Zweigen schwebte bereits bemerkt und winkte das Wesen hinter, dem diese hübschen violetten Augen gehörten zu sich hinüber. Zögernd setzten sich beide vor ihnen auf die Erde. Die Kälte spürten sie vor Aufregung nicht mehr. Den Kopf in den Nacken legend blickten sie zu Ben hinauf und erzählten. Sie erzählten vom Sterben ihrer Stammesbäume, die Bäume, die ihre Heimat waren.
Immer mehr ihres Dorfes kamen von Ausflügen nicht mehr zurück und mit jedem Tag und jedem weiteren vermissten Mitglied verrotteten ihre Bäume ein Stück mehr.
»Ich werde mir das am Besten einmal ansehen.«
»Wieso du? Was ist mit den Hexen? Sie sind teil unserer Natur. Sie lebt in ihnen.« Trotz flehen und lauter Fragen bestand Ben darauf, die Lage zuerst selbst beurteilen zu wollen. Den Mädchen gönnte er diesen freien Tag, denn einen weiteren falschen Alarm würde den Wesen teuer zu stehen kommen. Sollte der Eine allerdings dahinter stecken, so konnte er die Hexen immer noch miteinbeziehen.
Nicht ganz glücklich über diesen Verlauf, gewährten sie seinen Wunsch.
»Ich werde auch mitkommen.«
Vor wenigen Minuten führten die zwei Männer noch eine Unterhaltung über das Band, welches Greg mit Meghan verband. Greg erzählte von der Zeremonie, die sie als junges Paar abhielten, um sie auf allen Wegen unzertrennlich zumachen. Weil sie beide magisch waren, löste es etwas ganz Besonderes in ihnen aus. Besonders in Kombination mit Gregs Beschützerinstinkt als Mann und Vater war er immer über den Aufenthaltsort von ihr informiert. Es erwies sich als äußerst nützlich während ihrer Flucht vor der dunklen Hohepriesterin.
Jetzt allerdings spürte er kaum noch etwas. Also vermuteten sie, der Dämon könnte Meghan vor aller Magie abschirmen und das Band würde erst wieder in Kraft treten, wenn die Distanz zueinander geringer wurde. Das hofften sie zumindest.
Deshalb war Ben auch nicht dagegen, als Greg sich ihnen anschloss.
Damit niemand sie vermissen würde, hinterließ Ben den Mädchen eine Notiz auf dem Esszimmertisch, kam zurück auf die Terrasse und verschwand mit den Anderen durch die massive Gartentür.

Mit Hilfe der natürlichen Magie der Waldnymphen erreichten sie den südlichen Eichenwald in Windeseile. Die für Nymphen natürlichen Abkürzungen durch Hecken und Bäume waren für die Männer ein völlig neues Erlebnis.
»Spürst du schon etwas?« Etwas ging in Greg vor, das konnte Ben förmlich sehen. Er war neugierig, ob er Meghan vielleicht spürte.
»Ich weiß es nicht genau. Könnte auch eine Grünzeug-Allergie sein. So wie das juckt«, seine Augenbrauen hoben und senkten sich verschwörerisch. Es brachte einander zum Lachen. Sie lachten nicht laut und aus vollem Leibe, so wie man es oft von den Mädchen gewohnt war. Sie lachten in sich hinein. Das Einzige, was sie verriet, war das breite Grinsen, das Leuchten, dass ihre Augen erreichte und das Hopsen des Kehlkopfs.
»Jucken ist doch schon ein guter Anfang. Vielleicht sollten wir uns trennen«, begann Ben. »Ich gehe mit den Nymphen zum Dorf und du, du folgst deinem Juckreiz.«
»Na klasse. So schmalzig das auch klingen mag, ich würde lieber meinem Herzen folgen, um meine Frau zu finden und nicht diesem Ausschlag.«
»Mal darüber nachgedacht, dass euer Zauber vielleicht verfault ist?« Ben gluckste, als er das entsetzte Gesicht seines Partners sah. »Das war ein Scherz. Zauber werden nicht schlecht. Nicht einmal wenn man in einer muffigen Höhle eingeschlossen wurde.«
Nachdem sich die Jungs trennten, war der Schutzengel schlagartig wieder ernst. Bedacht und alarmiert sah er sich ständig um.
Greg dagegen lief, immer noch amüsiert, Querfeld ein und suchte nach der richtigen Richtung. Manchmal schlug er Haken, wie ein Kaninchen, weil sich sein Hautgefühl plötzlich veränderte. Nach kürzester Zeit musste er gestehen, dass er sich verlaufen hatte. Er konnte nur darauf hoffen Meghan zu finden und dann, mit ihrer Hilfe, aus diesem Labyrinth hinaus zu finden.

Ein panischer Aufschrei, dann helle Flammen. Die zwei Nymphen verwandelten sich in lebende Fackeln. Ben konnte nichts tun, um sie zu retten. Für Wesen der Natur gab es mitunter nichts Lebensgefährlicheres als Feuer.
Ohne Wasser oder einer Decke ließ sich der brennende Tod nicht ersticken. Er musste mit ansehen, wie die Körper der beiden zu Aschehaufen verbrannten.
Aus den Augenwinkel versuchte Ben verdächtige Bewegungen auszumachen, dass sich der Feuerleger ihm direkt zeigte, darauf war der Engel allemal nicht vorbereitet. Einen kleinen Dämon dürfte er locker in die Tasche stecken, dachte sich der Rotschopf. Allerdings hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Völlige Schwärze füllten die Augen der Person und starrten ihn mit ihrer beunruhigenden Dunkelheit direkt an. Dort wo die Iris hätte sein sollen, leuchteten blutrote und leuchtende Ringe auf.
Von Ragens Beschreibungen her war dem Zirkel bereits bekannt, zu wem dieses besondere Merkmal gehörte. Es war Daiken. Er hatte wieder einen neuen Körper, ein neues Opfer für sich gefunden.
»Ich muss dir wirklich danken.«
»Wofür?« Bens Hals war vor Nervosität staubtrocken und der Rauch verschlechterte seine Kondition. So klang er ängstlicher und zerbrechlicher, als er sich ohnehin schon fühlte.

Ein Kanon an Stiften war zu hören, wie sie auf die Blätter unter ihnen Worte kritzelten. Eves Lerngruppe notierte sich eifrig die neuen Termine. Auch sie tat so. Musste nicht jeder sofort wissen, dass sie mit Sicherheit nicht mehrmals die Woche zum Lernen kommen oder bleiben konnte. Es war schon ein Wunder, wie sie die Vorlesung geschafft hatte, ohne von einem Notruf fort geklingelt zu werden.
»Wie sieht es bei dir aus, Eve?«
»Bitte was?« Eve war in Gedanken und überhörte beinahe die Frage, die an sie gerichtet war. Zum Glück hatte sie noch ihren Namen verstanden. Leider konnte sie sich nicht an den Rest der Unterhaltung der Anderen erinnern und wusste nun nicht, was genau gemeint war.
»Welchen Termin schlägst du vor? Jeder hat einen Wunschtermin frei, schon vergessen?« Clarissa war eine besonders liebe Kommilitonin und sprach ganz ruhig mit Eve, während Annette bereits mit den Augen rollte. Sie war eine blondierte Schnepfe, die die Hexe gut und gerne ignorierte.
»Ich bin eher der Morgenmensch. Also wie wäre es vor der Vorlesung am Donnerstag?« Eigentlich hielt sich ihre Begeisterung in Grenzen noch eher zur Uni zu müssen, aber die magischen Probleme hielten sich zu diesen Uhrzeiten meistens gering. Widerwillig kratzten wieder Stifte und der Termin wurde notiert. Sie machte sich damit zwar keine Freunde, aber so würde sie zumindest auch einmal auftauchen.
Wie aus dem Nichts drang das Weinen eines Mädchens an Eves Ohr. Verwirrt blickte sie von ihrem Taschenkalender auf und sah sich um. In ihrem direkten Umfeld konnte sie nur niemanden mit einem kleinen Nervenzusammenbruch entdecken. Vermutlich war es eine Studentin, die der Druck einer Abgabe zu schaffen machte.
Es hörte und hörte nur nicht mehr auf. Konstant blieb das Weinen in ihrer Nähe, als wollte es ihre Aufmerksamkeit.
Genervt schlug Eve das kleine Buch zu und ließ es in die Umhängetasche gleiten, dann stand sie vom Gruppentisch auf und schaute um die großen Säulen und Blumenkübel herum. Sie konnte die Verursacherin partout nicht finden.
»Alles ok, Eve?« Es war Clarissa mit der besten Beobachtungsgabe, die Eve je kennengelernt hat. Die Studentin kam auf sie zu und musterte ihre Kommilitonin verwirrt.
»Hört ihr dieses Weinen denn nicht?« Kalter Schweiß rann der Hexe den Rücken hinunter. Als Clarissa den Kopf verwirrt schüttelte und fragte »Welches Weinen denn?« verkrampfte sich ihr Magen. Das durfte nicht wahr sein.
Tatsächlich war sie die Einzige, die die Schluchzer und Weinkrämpfe ganz deutlich wahrnehmen konnte, was nur eins bedeuten konnte.
Panisch wühlte sich Eve durch das Sammelsurium in ihrer Tasche und ließ dabei einen Gegenstand nach dem Anderen auf die Erde fallen. Clarissa war so lieb sich jedes Mal hinunter zu beugen, um es aufzuheben.
Nach einer gefühlten Ewigkeit fand die sie endlich ihr Handy und drückte die Kurzwahl für Zuhause.
Achtlos warf sie ihre Tasche auf den Boden und rannte Richtung Ausgang. Das Handy ans Ohr gepresst. Völlig verwirrt hob Clarissa die Tasche auf und blickte ihrer Kommilitonin fragend hinterher. Auch die Anderen der Lerngruppe standen nun dort, wie bestellt und nicht abgeholt.

»Komm schon. Geh dran!«
Erst beim dritten Versuch nahm ihre kleine Schwester endlich den Hörer ab, gleichzeitig wütend und erleichtert fragte sie nach ungewöhnlichen Vorkommnissen.
»Hier ist alles ruhig. Ragen und ich blättern gerade das Buch der Schatten durch, damit sie ein bisschen mehr über uns lernen kann. Ist etwas passiert? Bist du einem Dämon begegnet, Eve?« Nun war Jo diejenige, die beunruhigt klang.
Hinter ihr trat Ragen hervor und blickte sie alarmierend an.
»Nein, kein Dämon. Versprich mir, dass du Zuhause bleibst. Ragen soll in deiner Nähe sein und von mir aus auch alle anderen. Ich komme sofort nach Hause.«
»Du hast sie gehört, hab ich Recht?« Jos Stimme zitterte leicht. Sie zu hören war das schlechteste Zeichen, was eine Hexe bekommen könnte. Ängstlich schaute sie zu Ragen hinüber, die sofort das Schlimmste vom Schlimmsten befürchtete.
»Ich habe eine Todesfee gehört.« Eve versagte beinahe die Stimme. So schnell sie ihre Füße tragen konnten, rannte sie über das Campusgelände. Der Parkplatz war viel zu weit entfernt, weshalb viele Shuttelbusse im Einsatz waren, doch ihre Nerven hielten es so schon kaum noch aus, wie sollte sie da an einer Bushaltestelle stehen und warten.
»Ich komme zu dir und dann können wir Ben suchen.«
»Nein, du bleibst zuhause!« Eve hasste den Dickkopf ihrer Schwester. »Ich sage den anderen Bescheid und wir treffen uns dann.«
»Aber woher willst du wissen, dass ich gemeint bin?«
Jo verlor langsam ebenfalls die Nerven. Sie würde nicht untätig herumsitzen und ihre große Schwester alles machen lassen.
»Bitte versprich mir einfach, dass du dich nicht in Gefahr bringst.«
»Natürlich nicht.«
Am anderen Ende hörte Jo nur noch das typische Tuten einer toten Leitung. Ihre Schwester hatte aufgelegt und würde in den nächsten Sekunden auch Rose und Julie alarmieren.
»Was ist los?« Ragen dackelte Jo beunruhigt hinterher. Diese zog sich im Flur ihre Jacke und Schuhe an, dann eilte sie ins Wohnzimmer und durchsuchte die Schubladen. Als sie ein Aufgehübschtes paar Autoschlüssel fand, seufzte sie erleichtert.
»Wir haben es mit einer Todesfee zu tun«, antwortete Jo-Ann. »Was ist eine Todesfee? Ist sie sehr gefährlich?«
Überrascht schaute Jo sie kurz an und erinnerte sich wieder, dass Ragen damals nicht dabei gewesen war. »Es müsste alles in deinem Buch der Schatten stehen. Wir haben es nicht zum ersten Mal mit einer zu tun. Wenn es bei uns im Buch steht, dann eigentlich auch bei dir.«
Kurzerhand ließ sie Ragen stehen und verließ eilig das Haus. Einen kurzen Moment brauchte sie, um diesen verwirrenden und beängstigenden Moment zu verdauen, dann eilte sie die Treppen hinauf. In Jos Zimmer griff sie sich ihr Buch der Schatten und blätterte eilig die alten Seiten durch, bis sie den Eintrag über Todesfeen fand.
»Todesfeen, oder auch Banshee genannt, sind Frauen mit beinahe weißen Haaren und glutroten verweinten Augen, die im Dienste guter Menschen und Hexen stehen. Sie spüren, wenn es Zeit ist, für jemanden zu gehen und bereiten die Familienangehörigen auf diesen Moment vor, indem sie für sie weinen.
Wer das Weinen einer Todesfee hört, weiß um den baldigen Tod eines geliebten Menschen.
Sie sind friedliche Wesen und beeinflussen den Tod nicht. Aber sie besitzen einen mächtigen Schrei, der Glas zerspringen lässt und töten kann. Dieser kommt nur zum Vorschein, wenn das Leben einer Todesfee in Gefahr ist.
Woher sie kommen ist bislang unbekannt. Es gab bislang aber schon vereinzelte Vorkommnisse, wo auch Hexen zu Todesfeen werden konnten, wenn sie den Verlust eines geliebten Menschen nicht überwinden.«
Ein Schauer durchlief Ragen. Wenn Eve eine Todesfee gehört hatte, dann würde es Jo bald an den Kragen gehen. Sie wollte nicht, dass Jo starb und Eve ihre kleine Schwester verlor.
Ragen überlegte fieberhaft, was sie dagegen tun konnte.

Rose hörte Eve nicht bis zum Ende zu. Die hektische Atmung und die Erwähnung der Todesfee genügten und die Feuerhexe war bereits auf dem Weg zum Haus der Schwestern.
Julie hingegen bekam einen riesigen Schock, wodurch ein Teller zu Bruch ging. Sie nickte stätig bei den Worten der aufgeregten älteren Schwester, obwohl ihre Gesprächspartnerin sie nicht sehen konnte. Doch es war, als würde Eve die Geste erahnen.
Das Telefonat wurde beendet und Julie stand einfach da. Sie stand in ihrer Küche und starte ihre Tapete an, wo in regelmäßigen Abständen das Wort Kaffee in verschiedenen Sprachen zu lesen war. Tief zog sie die feuchte Luft in ihrer Küche ein und sackte auf einem der Stühle zusammen. Der Teller und seine Splitter waren für einen kurzen Moment vergessen.
Ihr Gesicht hatte sie in den Händen vergruben und die Finger verhedderten sich in ihren Haaren. Julies Gesicht sah müde aus. Müde von all den Strapazen und beinahe Toden. Erst rannte sie vor den Monstern davon und nun kam es ihr vor, als würde sie dem Tod förmlich in die Arme springen. Sie hasste dieses Leben, bei dem jeder Anruf Tod bedeuten könnte. Sie hasste, dass Dämonen und andere Wesen ihr Leben durcheinanderbrachten und sie hasste ihre Angst vor der unbekannten Zukunft, die vor ihr lag.
Schwermütig hievte sich die Schülerin auf die Beine und wandte sich zum Gehen. Ihre Ängste hin oder her, aber endlich konnte Julie sich für Eve starkmachen; sich für die Zeit nach John Blakes Tod revanchieren.

Am Parkplatz angekommen, lehnte sich Eve erleichtert an ihr Auto. Ihre Lungen brannten und ihr Herz raste und machte Anstalten jeden Moment zu zerspringen.
Sie stockte. Der Griff an die Seite ging ins Leere. Ihre Autoschlüssel befanden sich stets in einem kleinen Fach in ihrer Tasche. Die Tasche, die sie achtlos fallen gelassen hatte, als kopflos aus der Uni rannte. Eve verfluchte sich innerlich selbst für ihre Dummheit. Ihre einzige Möglichkeit wäre die Bushaltestelle zwei Straßen weiter, außerhalb des Campus.
Energie durch tiefe Atemzüge tankend straften sich ihre Schultern erneut und ihre Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. Wieder legte sie einen Sprint hin. Wütend musste sie feststellen, dass sie an Geschwindigkeit einbüßen musste.

Erst hielt die verzweifelte junge Frau das schnelle Pochen auf ihrer Haut für das Schwingen ihrer Kette. Diese hopste gewöhnlich beim Rennen nach vorne und zurück auf ihre Haut. Doch ihre Kette hing stocksteif da. Die Kettenglieder gerade wie Stangen und das Medaillon klebte förmlich auf ihrer Brust.
Das Pochen machte das Medaillon tatsächlich selbst. Es vibrierte so schnell, wie ihr eigenes panisches Herz. Diese Schwingungen schnürten ihr die Kehle zu. Schluchzer entfuhren ihr stoßweise.

Die kleine schwarze Katze hüpfte durch die eigens für sie eingebaute Klappe in den Flur. Diese Vorgehensweise war ihr wesentlich lieber, als ständig vor verschlossener Tür zu stehen. Rose konnte sie bislang nicht überreden, sich eine Katzenklappe anzuschaffen. Ihr war es lieber zu wissen, wann wer in ihrem Zuhause war, auch wenn sie selber kaum noch Zeit dort verbrachte.
Mayen reckte ihr Näschen in die Luft und versuchte eine der Bewohnerinnen auszumachen. Tatsächlich gab es einen Duft, der alle schwächer werdenden überdeckte. Sie erkannte Ragen sofort, denn dieser Geruch war ihr noch recht neu.
Wie ein junger Hüpfer eilte die Katze die steilen Treppen hinauf, stupste gegen die Tür von Ragens provisorischem Zimmer und miaute herzhaft. Allerdings öffnete sich hinter ihr die Tür. Die Tür zu Jos Zimmer.
In einer fließenden Bewegung wechselte Mayen in ihre menschliche Form und schaute Ragen nun direkt in die Augen.
»Gut, dass du da bist«, Ragen huschte an ihr vorbei, die Treppen hinunter. »Kommst du? Ich muss mit dir reden.«
Missmutig schlenderte Mayen die Stufen wieder hinab, als wenn es nicht schon schwer genug war, sie als Katze zu erklimmen. Egal wie leicht es bei Tieren immer aussehen mag, auch sie konnten aus der Puste sein.
Sie war nicht schnell genug und verlor die Hexe aus den Augen. Wie selbstverständlich folgte die Vertraute ihrem Schützling direkt in die Küche.
»Von zu viel schwarzem Tee kriegst du gelbe Zähne«, kommentierte sie den Teebeutel in Ragens Händen. Das Mädchen liebte schwarzen Tee.
»Was ich von dir wollte, waren keine Belehrungen über meine bevorzugte Teesorte, sondern ein paar Antworten.« Die Angesprochene nickte aufmerksam. »Gut«, begann Ragen. »Jo behauptete, dass wenn etwas in deren Buch der Schatten ist, dass es in meinem ebenfalls zu finden sein sollte. Sie hatte Recht, aber was bedeutet das.«
Mayen wartete, bis Ragen ihr Anliegen formuliert hatte, überlegte kurz, wie sie es ausdrücken sollte und erklärte: »Du musst wissen, dass es damals nur ein Buch der Schatten gab. Es wurde vom Rat der Ältesten zuerst nur ein Buch hergestellt, das an eine mächtige weiße Hexe ausgegeben werden sollte. Bevor dies dann aber geschehen konnte, kam eine hitzige Diskussion auf. Immerhin ist Magie Teil der Natur und jedes Element wollte von der Hexe vertreten werden.
Du wirst dir das Durcheinander vorstellen können, so viele Arten wirst du niemals wieder auf einem Haufen sehen. Die allererste Hexe war drauf und dran alles hinzuschmeißen, bis sie eine Idee hatte. Ein Test sollte herausfinden, mit welchem Element eine Hexe am kompatibelsten ist.
Meistens entscheiden Gene und Charakter darüber, wie eine Hexe mit einem Element harmoniert.« Ragen gluckste und kassierte einen fragenden Blick von Mayen, die sich keine Mühe mehr machte böse zu gucken, sollte sie unterbrochen werden. Ansonsten hätte sie nun tiefe Falten auf der Stirn.
»Ich stelle mir gerade Julie als Feuerhexe vor«, kommentierte Ragen dann. Das brachte auch Mayen zum Schmunzeln. Eine ängstliche und friedliche Person wie Julie, die passte einfach nicht zu einem temperamentvollen Element.
Damit die kleine Geschichtsstunde weiter vonstattenging, musste Ragen ihrem Gegenüber erst wieder das OK dazugeben. So verhinderte Mayen sofort wieder unterbrochen zu werden: »Der Rat sandte die elementaren Wesen aus, um potenzielle mächtige Hexen oder Ahnenreihen auszumachen. Die erste Hexe, nach der Julie übrigens benannt wurde, hieß Juliana und war die erste Elementhexe des Geistes und der Beginn aller Elementhexen.«
»Und damit alle anderen Elementhexen ebenfalls so ein Buch erhalten konnten, haben sie es einfach magisch vervielfacht, richtig?« Die junge Hexe hätte nie gedacht, dass der Ursprung ihrer Fähigkeiten durch so eine Kleinigkeit ausgelöst wurde. Ob Julie wusste, von wem sie abstammte?
»Nicht ganz«, korrigierte die Gelehrte. »Man hat das Buch durch einen Zauber in 5 Formen seiner Abbilder geteilt. Da das Buch die Magie aller Elemente beinhaltete, entstanden so fünf Bücher, die für das jeweilige Element bestimmt waren.«
Neugierig schielte Ragen auf das Buch von Rose, welches achtlos auf den Esstisch geworfen worden war und gleichzeitig kam der Gedanke an Jos Verwandlungszauber auf. »Fehlt eigentlich dann etwas in den jeweiligen Büchern? Also wenn es wirklich gespalten wurde, wie du sagst.«
»Irgendwie schon. Wichtige Information über bekannte Wesen kopierte sich in jedes Exemplar. Jede der Hexen musste auf das vorbereitet sein, was dort draußen lauert. Andererseits gibt es auch Zauber, die können besser von einem bestimmten Element benutzt werden, so wie Jos Verwandlungszauber.« Mayen schenkte sich ebenfalls eine Tasse Tee ein, den Ragen in weiser Voraussicht in einer Glaskanne aufgebrüht hatte. »Roses Mutter hatte sich zwar mal an einem solchen Zauber versucht, aber wie wir von Rose wissen, hat dieser nicht funktioniert. Manchmal weigert sich die Natur einfach. Ihr gutes Recht, wie ich finde«, fügte sie hinzu.
Die beiden Frauen setzten sich gemeinsam an den Tisch und stellten ihre dampfenden Tassen vor sich ab. »Vor ein paar Tagen hätte ich der Natur zugestimmt. Bei jemand wie Rose hätte ich mich auch geweigert zu funktionieren, aber ...«
»Aber?«
»Ich kenne sie jetzt besser und sie kann nichts für ihren Charakter. Rose ist eigentlich ganz nett.«
Mayen verschluckte sich an ihrem Tee und musste kräftig Husten. Zu ihrem Bedauern verriet die Erdhexe nichts darüber, wie sich ihre Meinung über besagte Hexe geändert hatte.
Vom Gespräch abschweifend glitt ihr Blick über Roses Buch der Schatten und blieb dann an einem kleinen weißen Zettel am Ende des Tisches hängen. Sie überhörte Ragens Frage, wo sie eigentlich Sendra gelassen hatte, die nach Bens Aussage mit Mayen zum Rat gegangen war.
Langsam erhob sich die Rothaarige und schnappte sich im Stehen den Zettel. »Ben ist am südlichen Stadtrand, im Wald?! Was will er denn da?«
Plötzlich fiel es Ragen wie Schuppen von den Augen: »Oh Gott, Mayen. Nicht Jos Leben ist in Gefahr, sondern Bens.«
»Wie bitte was?« Entsetzt starrten sich die beiden Frauen an. In Mayens Augen schwirrten die Fragen fast sichtbar hin und her, wobei es aus Ragens blanke Panik sprach.
»Stimmt ja. Ich habe vergessen dir zu erzählen, dass Eve eine Todesfee hat weinen hören.«
Sofort war es totenstill. Ragen wurde immer kleiner, während Mayens Augen immer größer und ihre Statur immer bedrohlicher wirkten.
»Sag den anderen Bescheid, wir müssen da sofort hin.«

»Einen so schwerwiegenden Fehler zu begehen, in meiner Gegenwart ... Ts, Ts, Ts.« Der Dämon mit den schwarzen Augen und dem blutroten Kranz, der die Iris ersetzte, lachte Ben höhnisch ins Gesicht. Er drängte ihn immer weiter zurück. Trieb ihn in beachtlicher Ruhe in die Enge.
»Ich musste damit rechnen, dass das hier passiert«, gab der Engel so gelassen wie nur möglich zurück. Sein Herz wollte ihn ständig verraten. Es klopfte so laut, dass Ben befürchtete, sein Gegenüber könnte es hören. Er selbst nahm kaum noch etwas anderes wahr als das Rauschen seines Blutes in den Ohren.
»Du weißt ja doch, wovon ich spreche.« Der Kopf des Besessenen ruckte hin und her, sein Mund verzog sich zu einer Fratze. Er mochte es offensichtlich nicht, wenn man ihn zum Narren hielt. »Ich kenne deine wahre Natur, Junge. Der Fluchbann hat mich zwar kurz aufgehalten, aber jetzt hast du ein wirklich großes Problem.«
»Du willst also meinen Körper. Wie originell«, kommentierte Ben prompt. »Hier drin gäbe es genug Platz für dich, schon wahr«, fuhr er fort. Was für einen Sinn hatte es, vor ihm im Dreck zu kriechen und um Gnade zu winseln? Natürlich keinen und das wusste Ben. Auch ein Engel hat seinen Stolz. Bis zum bitteren Ende wird er ihm die Stirn bieten.

Rücksichtslos schubst sich Eve durch die Fußgängerzone. Ständig stand ihr wer im Weg oder sie lief in jemanden hinein, der aus den Seitenstraßen kam. Ihre Arme schmerzten bereits von den vielen ungemütlichen Berührungen.
Doch sie blendete alles aus. Egal wer sie für ihr Gedränge beschimpfte, zurückschupste oder sie festzuhalten versuchte. Für Eve gab es nur ein Ziel: die Bushaltestelle zu erreichen und das schnell.
Ihr Handy klingelte in ihrer Hand. Es klingelte und klingelte, bis sie es endlich bemerkte. Die Nummer von Zuhause leuchtete auf dem Display auf und sie wollte den Anruf entgegen nehmen. Allerdings waren ihre Finger ganz steif von der festen Umklammerung und da war der Anrufer schon wieder weg. Enttäuscht blieb Eve kurz stehen und verschnaufte. Bevor sie jedoch zurückrufen konnte, klingelte ihr Handy erneut. Wieder ›Zuhause‹. Zum Glück.
»Jo?«
»Nein, Ragen hier. Hör mal, du musst sofort zum südlichen Stadtrand kommen. Es ist nicht Jo, sondern Ben.«
Ruhig hörte sich die Ältere an, was Ragen herausgefunden hatte. Das Mädchen hatte zwar keine Vision, aber da Ben zum ersten Mal alleine zu einem ›Auftrag‹ unterwegs war, tat sie Recht daran ihre Vermutung den anderen mitzuteilen.
»Ich weiß«, flüsterte Eve erstickt ins Telefon. Sie konnte es spüren, wie Bens Herz vor Aufregung und Angst immer schneller schlug.
Sie musste weiter, legte auf und begann wieder zu rennen. Dieses Mal umklammerte ihre Hand nicht das Handy, das nun in ihrer Hosentasche steckte, sondern das Medaillon. Die Verbindung zu Ben.

»Verdammt noch mal. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Bitte, lass mich in Frieden.« Wieder einmal stritten sich die beiden. Ben wollte diese Veränderung nicht wahrhaben, doch etwas war seit einigen Tagen nicht in Ordnung. Plötzlich benahm sich seine Freundin eiskalt ihm gegenüber. Kein Fünkchen Liebe war noch zu spüren.
Doch dann gab es wieder Momente, die ihr Innerstes so durcheinanderbrachten, dass er sie am Liebsten in seinen Armen halten wollte. Sie konnte sich selbst nicht erklären, wieso sie ihn plötzlich nicht mehr liebte und wenn doch Gefühle hochkamen, es ihr Schmerzen bereitete.
Der Engel wusste tief in sich drinnen, sie gehörten zusammen. Eve wollte ihn doch nicht aufgeben, aber etwas zwang sie dazu.
Um Eve zu helfen ihre Gefühle wieder zu reaktivieren und sie daran zu erinnern, dass er immer für sie da war, hatte er sich etwas Besonderes überlegt.
»Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht«, sagte er liebevoll. Verdutzt und neugierig schaute sie von ihren Händen auf. »Wozu ein Geschenk?«
Er lächelte bei ihrem ahnungslosen lieben Blick. »Ich möchte, dass du immer einen Teil von mir bei dir hast«, begann er und hielt ihr eine Schatulle mit einem Medaillon hin.
Als Eve es berührte, zuckte sie zurück. »Es pulsiert.«
»Ja das liegt daran, dass du nun mein Herz in Händen hältst.« Er legte ihr das Medaillon in die offene Hand und schloss sie.
Das Medaillon war durch Magie mit seinem Herzen verbunden und so konnte Eve ihn immer bei sich spüren. Sie konnte spüren, wie sein Herz einen Hüpfer machte, als sie sein Geschenk anlegte und so liebevoll betrachtete.

Das Einzige, was Eve nun spürte, war Panik. Seine Angst und ihre gleich dazu. Das Medaillon pulsierte immer schneller, immer unregelmäßiger ... bis es schlagartig verstummte.
Schockiert blieb Eve sofort stehen. Panisch befühlte sie mit zittrigen Fingern die Kette. Immer ein flüchtiges ›Nein, bitte nicht‹ auf den Lippen. Doch es hatte keinen Zweck. Sie würde keinen Herzschlag mehr spüren können.
Am ganzen Körper bebend, stützte sie an die Hauswand zu ihrer Rechten ab. In Sturzbächen flossen nun die Tränen ihr Gesicht hinunter. Sie wollte schreien, ihr Mund weit aufgerissen, doch der Schock war zu groß. Kein Ton wollte ihrer Kehle entweichen, ihr Gesicht vor Schmerz nur verzehrt.
In ihrem Innern löste sich plötzlich der Knoten, der ihre Gefühle für Ben fest im Griff hatte. All ihre Empfindungen, die verloren gegangene Liebe, sie quälten sie. Ein Häufchen Elend blieb kauernd zurück.
Sie hatte ihn verloren.

„Verdammt!“ Quietschend kam der Oldtimer zum Stehen. Der Wagen gehörte eigentlich den Nachbarn und die Schwestern waren damit beauftragt, ihn während des dreiwöchigen Urlaubs immer ein wenig zu bewegen. Ein wenig war in diesem Fall gelinde ausgedrückt. Die jüngste Schwester hatte das alte Auto bis an seine Grenzen gequält. Ein leichter Geruch von verbranntem Gummi hing der Luft.
Jo stand in einer Sackgasse. Eigentlich hätte sie wissen müssen, dass sie es mit dem Auto nicht bis zum südlichen Waldrand schaffen würde, jedoch kam ihr in der kurzen Zeit keine andere Alternative in den Sinn.
Sauer und aufgewühlt trat sie gegen die rotweißen Pfeiler, die dem Auto den Weg versperrten. Dabei stieß sie haltlos wüste Beschimpfungen hervor.
Der Weg bis zum Plateau war weit, hinter diesen Pfeilern erstreckte sich ein beliebter Wanderweg für Sportler und andere Frischluftfanatiker. Niemals würde sie rechtzeitig oben ankommen und Bens Leben retten können.
Hinter ihr dröhnte der Motor eines Motorrades, was sie zuerst gar nicht bemerkte, bis es neben dem Oldtimer zum Stehen kam.
»Na los, steig auf. Ich nehme dich bis da oben hin mit.«
Kurz vergaß die junge Hexe ihre Ausraster und beobachtete den Fahrer. Die Stimme war weiblich und kam ihr verdächtig bekannt vor und als offensichtliche Fahrerin den Windschutz nach oben schob erkannte sie die grünen Augen von Rose.

Vor den Treppen des Plateaus kam die Maschine zum Stehen. Oben hielt Julie bereits Ausschau nach ihnen.
Völlig erschöpft kam Jo dann mit Rose im Schlepptau die Treppen hochgerannt.
Der steinerne Balkon des Plateaus mündete in eine kurzgehaltene grüne Wiese, die sich weitläufig erstreckte. Hinter diesem Meer aus Gras erhoben sich die großen Bäume des Eichenwäldchens. Hinter ihnen war nur ein Abhang, was keiner von ihnen behagte. Zum Glück ging er nicht allzu steil abwärts.

Es dauerte nur wenige Sekunden und Mayen tauchte mit Ragen auf. Rose hatte die beiden kein einziges Mal im Rückspiegel gesehen. Wie konnte sie also so schnell und das ohne fahrbaren Untersatz es bis hier geschafft haben? Lange konnte sie nicht darüber nachdenken, denn da trat plötzlich eine Gestalt aus der Baumreihe hervor.
Es war Ben.
Schnell eilten sie ihm entgegen, froh ihn putzmunter anzutreffen. Da blieb Mayen abrupt stehen und hielt Ragen an ihrer Seite. Hastig tauschten sie Blicke aus.
»Stop, das ist ...«
Ein vor ihnen landender Feuerstrahl unterbrach Ragens Notruf. Zeit zum Denken, geschweige denn Handeln ließ man ihnen nicht. Just im nächsten Moment raste eine neue Feuerwalze auf sie zu. Beinahe wäre Jo gegrillt worden, wenn sie nicht jemand brutal zur Seite gezogen und sich dann auf sie geschmissen hätte. Nach Luft röchelnd blickte sie an die Stelle, wo ungefähr das Gesicht des Retters zu sehen sein sollte. Lange braune Haare versperrten ihr zwar kurz die Sicht, doch Jo wusste auch so schon, dass es nur ihre Schwester seine konnte. Sie erkannte sie an ihrem Geruch, der nun langsam seinen Weg in ihre Nase fand und sich über den Gestank von verbranntem Gras legte.
»Was zum Teufel ist denn bitte los?!« Ihre Schwester war von ihr herunter gerollt und gaben Jo nun frei, die sofort aufsprang, um nach dem Übeltäter Ausschau zu halten. Nicht nur ihr Blick blieb an Ben hängen. Dieser stand immer noch recht nah am Waldrand und schaute zu ihnen herüber. Bei näherer Betrachtung wurde klar, dass er sie nicht anschaute, sondern hasserfüllt anstarrte.
»Seit wann kann Ben das?«, fragte Julie verwirrt. Rose beschäftigte dagegen etwas wohl viel Wichtigeres. »Zuerst sollten wir uns fragen, seit wann er uns umbringen will!«
»Das ist nicht Ben.« Alle Anwesenden starrten die älteste Hexe mit schockgeweiteten Augen an. Rose, Julie und Jo waren verwirrt und gleichzeitig entsetzt über diese Neuigkeit, die keiner anzweifeln konnte. Ragen und Mayen schauten stattdessen betreten zu Boden. Was nützte es die Gefahr zu kennen, aber dann kläglich bei der Rettung zu versagen.
Aber Eve interessierte sich nicht für die Reaktion der Mädchen. Ihre ganze Konzentration galt dem Mann, der vor gab Ben zu sein. Ihre Blicke durchbohrten ihn - den Teufel in Engelsgewand.
Deshalb gaben die Anderen ihr auch den Weg frei und hielten sie nicht auf, als sie sich dem Dämon in Bens Körper stellten. Sie konnten sich nichts vormachen. Daiken setzte zur nächsten Runde seines Machtspiels an.
Er harrte aus, bis Eve, gefolgt von ihren Verbündeten, in Hörweite war. Etwas in ihm regte sich. Sein Körper reagierte auf die sich verringernde Distanz zur Lufthexe. Ein verächtliches Lächeln zuckte in seinem rechten Mundwinkel.
»Wow, der Junge hat bleibende Spuren in diesem Körper hinterlasse.« Niemand reagierte. Eve kniff lediglich die Augen zu Schlitzen zusammen.
»Es kribbelt. Mein ganzer Körper steht unter Strom, wenn ich dich nur ansehe«, er liebte seine perversen Provokationen. Vor allem wenn sie wirkten. Eve sprang ihm entgegen, fauchten wie eine Wildkatze und bereit mit Händen und Füßen auf ihn einzuschlagen.
»Hey, hey. Ganz ruhig Tiger.«
Gerade noch rechtzeitig konnten Julie und Rose sie zurückhalten. Die Feuerhexe kniff ihr in den Arm, um ihre Konzentration zu durchbrechen. »Du kannst ihm hinterher immer noch die Augen auskratzen, aber zuerst müssen wir überlegen, wie wir vorgehen.«
Und dann sah Eve, was Rose andeutete. Im Schatten der Bäume reihte sich eine Armee auf. Durch ihr impulsives Verhalten wurden sie hervorgelockt.

»Eine wütende und kopflose Eve können wir nun absolut nicht gebrauchen«, nuschelte Ragen aufgeregt. Ihr war die Angst vor dieser brenzlichen Situation deutlich anzusehen. »Da liegst du völlig falsch«, entgegnete ihr daraufhin Jo. Sie stand direkt neben hier und hörte jedes Wort. Ragen schnaubte. »Ach ja. Die rennt los, wie eine Wilde ... ohne daran zu denken, dass sie das leicht umbringen kann. Tot nützt sie keinem was.« Nicht nur Jo war über diese Worte überrascht, auch Mayen schaute Ragen nun fragend an. Diese beobachtete wiederum nun Jo.
Jo seufzte leicht. »Glaube mir, wir können nichts Besseres gebrauchen, als eine wütende Eve.« Ragens Stimme wurde sanfter, als sie ihre letzte Frage stellte: »Warum bist du dir so sicher?«
»Weil ich sie um mich habe kämpfen sehen.« Daraufhin wusste Ragen nichts mehr zu entgegnen. »Unterschätze niemals die Macht von Eves Gefühlen für einen Menschen, der ihr Nahe steht.«
Eine kurze Pause trat ein. Mayen grübelte schon eine Weile vor sich hin und formulierte dann ihre Frage an Jo: »Glaubst du, ihre Gefühle für Ben sind wieder zurück?«
»Ich glaube, sie waren nie wirklich fort.«

Vorsichtig schritten Julie und Rose mit Eve ein paar Schritte zurück, ohne der dämonischen Horde den Rücken zu klären.
»Sehr schön. Wie überleben wir das jetzt genau?« Ragen war sichtlich nervös. Ihr erster Kampf, ehrlich gesagt war das Wort, welches ihr zuerst einfiel, Krieg, aber sie fühlte sich kein bisschen vorbereitet. »Jo und ich pflügen uns durch die linke Flanke. Rose du kommst rechts bestimmt gut allein zurecht und Eve lass ich den Vortritt. Nimm auf dem Weg zu diesem Arschloch einfach jeden Dämon mit, den du erwischen kannst.« Anerkennend nickte Rose Julie zu.
»Das hätte ich jetzt nicht von dir erwartet. Du bist also bereit zu kämpfen.« Eine Aussage, keine Frage.
»Ja.« Die Mädchen schauten einander nicht an, sondern taxierten die Formation, die sich vor ihnen zu bilden begann.
Rose schüttelte beim Sprechen immer noch ungläubig den Kopf. Der Tag war voller Überraschungen und eigentlich hasste Rose Überraschungen, aber diese hier, die liebte sie. »Du bist also zur Kämpferin geworden. Endlich mutig.«
»Nein. Verzweifelt.«

»Was wird meine Aufgabe sein?« Ragen wippte nervös von einem Fuß auf den anderen. Die Zahl der Dämonen schier ins Endlose steigend, dachte sie nur noch an ein schnelles Ende.
Mayen hatte sich etwas überlegt. »Kannst du Verbindung zur Erde herstellen? Schnell?!« Auf Ragens Stirn entstand eine tiefe Falte. Sie sah nachdenklich gerade aus, ihre Gedanken vollends in ihr Inneres gekehrt. »Ja, das müsste ich schaffen.«
»Ok, dann bleib in unserer Nähe«, begann Rose. »Eve und ich könnten ein paar übernatürlicher Augen gebrauchen.«
»Und mit was kämpfen wir?«
Auf diese Frage hin musste Mayen schmunzeln und zog aus ihrer kleinen Umhängetasche aus braunem Samt zwei Säckchen, eine Kerze und Streichhölzer hervor.
»Ein paar Waffen gefällig?«
»Nichts lieber als das.« Roses Augen blitzten förmlich auf, vor freudiger Erregung.

In den Säckchen befand sich Staub einer Glitzerfee und Koboldgold. Alles um einen auf Wassermagie basierenden Illusionszauber zu materialisieren, sich wie vor einiger Zeit schon Kampfkleidung auf den Leib zaubern zu lassen und mit den aus Magie gefestigten Waffen die Monster zurück in die Hölle zu schicken.
»Also gut. Jo, verwandle uns. Und lass den Rock weg«, befahl die älteste Hexe. »Ein hautenger Body soll es also sein. Geht klar«, antwortete die kleine Schwester verschmitzt und konnte sich ein Zwinkern nicht verkneifen.

Es wurde kein Body, denn die damals ursprünglich geplante Hose mit den gelben Seitenbändern schmiegte sich nun eng an Eves Körper.
Auch ohne Bitte hatte Jo Rose einen Gefallen erwiesen. Die rote aufgebauschte Bluse unter der Korsage verschwunden. Sie machte einem roten Tanktop Platz, welches mit einem schwarzen halbdurchsichtigen Spitzentop verziert wurde. Hängende zusätzliche Chiffonträger rundeten ihr neues Oberteil ab. Es war roter Chiffon und hatte die Form von lodernden Flammen. Die Korsage hatte die junge Hexe beibehalten, damit etwaige gegnerische Messer nicht den Weg in ihre Magengegend oder zwischen ihre Rippen fanden.
Ragens Handschuh war ihre einzige Veränderung. Denn unter diesem, trug sie nun fette Klunker, die bei Faustschlägen dem Gegner schöne Schmerzen bereiten würden.
Julies und Jos Outfits hatten lediglich festeren Stoff, der sie vor Verletzungen schützen sollte. Natürlich nur, falls ein Dämon mal schneller sein sollte als die Meisterin des Hyperspeeds.

»Dann lasst uns anfangen«, grinste Rose den Dämonen entgegen.
Eve trug einen auffälligen Gürtel um die Hüften. Sie zog acht mittelgroße und spitze Wurfmesser hervor, die nun zwischen ihren Fingern baumelten. »Ich gebe euch Rückendeckung.« Wie aufs Stichwort glitten die Messer schwirrend in die Luft und blieben dort auf die Dämonen gerichtet hängen.
»Drei«, die Mädchen beobachteten ganz genau ihre Umgebung und wägten mögliche Ausfallschritte ab. »Zwei«, auch die Dämonen kamen nun aus ihren Verstecken gekrochen, bereit zum Kampf. Bens Körper wandte seine Augen nicht von Eve ab. Natürlich wusste er, was die Hexen vorhatten, doch es interessierte ihn nicht. Keins der Messer würde gleich ihn treffen und die Dämonenschar war bloß Mittel zum Zweck. Ein Lakei mehr oder weniger juckte ihn herzlich wenig. Er grinste zufrieden, denn es würde ein Kinderspiel werden diese kleinen Mädchen zu töten.
»Eins«, Rose zog das Katana aus der Scheide auf ihrem Rücken und ließ es mit ihrem Handgelenk schwingen. Ragen blieb hinter ihr. »Los!« Eve gab den Startschuss und die Messer schnellten auf die Wand von Dämonen vor ihnen zu. Sie trafen die hässlichen Gestalten, die den Mädchen am Nächsten waren, um ihnen mehr Spielraum zu gewähren.
Julie schnellte los und schnitt einem nach dem anderen die Kehle durch. Jo dagegen blieb in sicherer Entfernung, bereit einen Dämon oder ein Wurfgeschoss einzufrieren.
»Julie!« Sekunden nach Jos Ausruf war die schnelle Hexe wieder an ihrer Seite. Jos Augen waren leicht gereizt, weil es ihnen schwerfiel, Julie zu folgen. »Du bist mir zu schnell. Ich weiß nie, wohin ich zielen muss wenn nötig.«
Rose blockte derweil einen Speer ab, der so gewaltig war, dass die Feuerhexe beim Aufprall auf ihr Schild laut aufstöhnte. Im nächsten Moment ballte sie ihre Schlaghand zur Faust und schlug zu. Nur, dass nicht ihre Faust den Dämon traf, sondern ihr Schild. Es bewegte sich wie ein verlängerter Arm.
Plötzlich hörte sie Ragen hinter sich kichern. »Was ist denn so komisch«, fragte sie verwirrt, ihr Schild immer noch aktiv. »Ach nichts«, antwortete die Erdhexe.
»Du siehst etwas, kann das sein?«
»Keine Sorge, du wirst dich großartig schlagen.« Das genügte Rose schon und sie widmete sich wieder den Dämonen.
Ihr Schild schlug Stück für Stück Löcher in deren Defensive. Da musste sie plötzlich zur Seite ausweichen und kam ins Schlingern. Ihr Schild bewegte sich mit und Rose kam auf eine eher ausgefallenere Idee.
Wie zum Triumph reckte sie ihren Arm in die Lüfte und ließ ihn kreisen. Ihr Schild ahmte die Bewegung nach und wirbelte durch die Dämonenmenge, wie ein Lasso. Somit schlug sie gleich mehrere Dämonen auf einmal nieder.
»Genau das meinte ich«, gluckste Ragen, während sie beobachtete, wie Rose Kornkreise durch die Menge zog.

Eve ließ den Gürtel zu Boden fallen, da er ihr nicht mehr von Nutzen war und sie jede Last von sich abschütteln wollte. Zielsicher bewegte sie sich durch die Kämpfenden hindurch direkt auf Daiken zu. Immer wieder versuchte sich jemand, ihr in den Weg zu stellen. Mit Hilfe ihrer Telekinese schleuderte sie die Ungeheuer fort. Mal gegen einen Baum oder einfach weg vom Kampffeld.
Mit jedem Schritt in seine Nähe blendete sie die anderen Gegner mehr und mehr aus. Sie konzentrierte sich fälschlicherweise nur noch auf ihn.
So bemerkte sie nicht, dass eine gedrungene und bullige Version eines einäugigen Dämons mit seiner Keule nach ihr ausholte und sie direkt in die Magengegend traf.
Ihr Schmerzensschrei zerriss die Luft.
Die Köpfe der Mädchen schnellten herum, auf der Suche nach ihrer Freundin. Rose konnte Eve zwar nicht sehen, doch dafür orientierte sie sich an Daiken. Ohne zu zögern, rannte sie los, hielt sich beim Ausweichen rechts und bahnte sich mit ihrem Schild so gut es ging ihren Weg. Ragen direkt hinter hier her.
Ein Zyklop stand nur noch zwischen ihnen und Eve und Rose wählte den Weg des geringsten Widerstandes. Immer noch im Sprint schmiss sie sich auf den Boden und schlitterte zwischen seinen Beinen hindurch.
Auf der anderen Seite hechte sie halb kniend zu Eve, die am Boden lag, und versuchte den Keulenhieben auszuweichen.
»Warum schleuderst du ihn nicht weg?!« Rose half ihr im Schutz des Deflektionsschildes auf.  »Dafür müsste ich mich konzentrieren können«, stöhnte Eve auf.
»Warum sind alle plötzlich erstarrt?«, fragte Ragen auf einmal. Die beiden Mädchen hatten weder bemerkt, dass Ragen zu ihnen getreten war, noch, dass es ohne weiteres still wurde.
Da hörten sie Jos Stimme aus dem Gewirr aus Körpern herüber rufen: »Hat euch mein Zauber erwischt?«
Sie guckten einander fragend an. »Nein, wir sind bei Eve.«
»Sehr gut. Bleibt in ihrer Nähe, am besten haltet ihr euch an ihr fest. Das könnte sonst gleich übel enden.«
Eve verstand, worauf ihre kleine Schwester hinaus wollte. Es war raffiniert. Sie ließ ihren Zauber über das ganze Plateau gleiten, in der Hoffnung keine der Hexen würde getroffen, um dann alle auf einmal zu vernichten. Da Eve als Blutsverwandte immun gegen Jos Zauber war, waren Rose und Ragen durch ihre Anwesenheit geschützt. Vorsichtshalber hielten sie nun einander an den Händen und drückten sich hinter Roses Schutzschild.
»Du kannst loslegen«, brüllte Eve ihrer Schwester hinüber.
Julie war zwar etwas nervös, denn Jos Vorhaben war riskant, allerdings nickte sie ihr dann aufmunternd zu.
Wie vor einem Boxkampf spielte Jo ein bisschen mit ihren Muskeln, konzentrierte sich auf jede Faser ihres Körpers und rief sich die schlimmsten Momente ihres Lebens in Erinnerung. Sie dachte an alles, was sie wütend machen konnte und löste ruckartig ihren Erstarrungszauber.
Im ersten Moment geschah überhaupt nichts und sie machte sich Sorgen, dass es etwas schief gelaufen war. Zeitverzögern rollte die Wirkung ihres Zaubers übers Feld und Dämonen zersetzten sich haufenweise in eine flüssige Form ihrer Selbst.
Als Eve, Rose und Ragen aufblickten, waren sie von einem See aus dämonischen Matsch umringt. Ragen musste würgen. »Das ist echt widerlich.«
Jo freute sich dagegen sehr und jubelte immer wieder »Jippie«. Bis Julie sie schubste. Eigentlich wollte die Blondine sie nur anstoßen und auf etwas aufmerksam zu machen, war jedoch ein bisschen zu ungehalten, so dass Jo beinahe das Gleichgewicht verlor. Ihr empörter Ausruf ging unter, als alle ebenfalls bemerkten, dass Daiken von ihrem Zauber unberührt dort stand.
»Das kann doch nicht sein Ernst sein«, fluchte Rose. Ihr Schild war verschwunden. Jo und Julie bahnten sich ihren Weg auf sie zu, darauf bedacht den Dämon nicht aus den Augen zu lassen. Jo schmollte: »Es ist ja nicht so, als könnte er sich aussuchen, ob ich ihn verhexe. Er ist einfach immun.«
»Ist schon in Ordnung. Wir finden einen Weg.«
Dankbar schaute die Brünette zu ihrer großen Schwester auf, die nun an ihrer Seite stand. »Ich bin stolz auf dich«, fügte Eve hinzu und lächelte. Ihre kleine Schwester hatte Großes vollbracht und das musste anerkannt werden.
Bens Körper stand dort unbeeindruckt und immer noch mit demselben arroganten Gesichtsausdruck. »Es gibt nichts, dass mich aufhalten kann«, seine Stimme klang so fremd und falsch in Eves Ohren. »Zumindest gibt es das nicht mehr«, fügte er verschwörerisch hinzu. Die Mädchen runzelten die Stirn, schauten einander an und wieder Daiken. Er hatte ihnen gerade einfach so einen Hinweis gegeben. Der Schlüssel für seine Vernichtung musste in der Vergangenheit liegen.
Nur, dass ihnen nicht die Zeit blieb, weiter über diese Möglichkeit nachzudenken. Theatralisch erhob er seine Arme und schrie Worte in die Welt hinaus, die keine von ihnen verstand. Mit Hexenmagie hatte das kein bisschen zu tun.
Als er endete, begann die Erde zu beben; Risse sich zwischen ihnen und dem Dämon zu bilden. »Kommt zurück! Ihr müsst da weg!« Hinter ihnen ertönte Mayens Stimme, die sie in dem Trubel beinahe vergessen hatten. Schnell stolperten sie zurück auf die steinerne Ebene des Plateaus und mussten mit ansehen, wie ein riesiges Loch sich auftat.
»Wo warst du gerade?«, fragte Ragen entsetzt die Vertraute. Sie hatte die Rothaarige während des Kampfes kein einziges Mal gesehen.
»Ich habe mich in eine Katze verwandelt und bin auf einem Baum verschwunden«, antwortete sie gleichgültig. Die junge Hexe schnappte empört nach Luft: »Du hast uns in den Kampf geschickt und bringst dich in Sicherheit?«
»Was hätte ich denn sonst tun sollen? Einem Dämon nach dem anderen die Augen auskratzen?«
»Zum Beispiel.« Ragens Stimme kletterte, wie Mayens zuvor, eine Oktave höher.

Aus dem dunklen Loch, das aussah wie der Grundriss für einen viel zu großen Gartenteich, ragte auf einmal eine riesige Pfote. Das Tier, das dort herauszukriechen versuchte, war größer als jeder Bär, den die Mädchen je auf dem Discovery-Channel gesehen hatten.
Nach den Vorderpfoten kam nun ein großer Kopf zum Vorschein. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Wolf. Seine Zähne waren gelb und das Tier stank bestialisch nach Fäulnis.
Daiken amüsierte sich köstlich beim Anblick ihrer Gesichter.
»Geb dem Vieh mal ein Pfefferminz oder gleich einen ganzen Karton davon«, schrie Jo ihn an. Seine Gesichtszüge entglitten ihm. Nun amüsierten sich die Mädchen über ihn und seine überraschte Reaktion. Wütend, überrumpelt worden zu sein, schrie der Dämon seinem treuen Gefährten etwas zu: »Bring das hier zu Ende. Ich habe heute noch etwas vor.« Dann verschwand er zwischen den Bäumen hinter ihm.

»Mayen? Was ist das für ein Vieh«, fragte Julie, nachdem sie mit dem riesigen Wolf alleine waren. Er war immer noch nicht vollständig aus seinem Loch geklettert und verdeckte bereits viele hoch hinter sich. »Das ist ein Höllenhund, würde ich sagen.«
Rose und Eve stöhnten genervt. »Das können wir uns auch denken. Kennst du die Rasse?«
Bevor sie reagierte, schluckte Mayen den Kloß hinunter, der sich in ihrer Kehle versuchte zu bilden. »Das könnte ein Bargherst sein ... Ein bisschen groß geraten, weil die meisten Exemplare nur ein bisschen größer werden als ein Kalb ...«
Nervös plapperte die Vertraute drauf los. Die Augen der Jüngsten wurden immer größer. »Ein bisschen groß geraten. Das Vieh ist wie groß? 4 Meter?« Ragen schüttelte immer und immer wieder ihren Kopf. Sie hoffte, alles wäre bloß ein Alptraum und sie könnte dadurch endlich erwachen. Natürlich war ihr das nicht vergönnt.
»Kennen wir zufällig einen guten Hundeflüsterer oder einen Dompteur«, keuchte Jo-Ann, als der Höllenhund sich zu seiner vollen Größe ausstreckte. Seine leuchtend grünen Augen direkt auf die Mädchen geheftet. Das Loch unter ihm war verschwunden.
»Na dich«, bemerkte Mayen und alle Anwesenden schauten sie verwundert an. »Mayen, nein«, ermahnte sie Eve mit zusammengepressten Zähnen.
Doch die Vertraute erzählte es den anderen trotzdem. »Jo-Ann ist die Nachkommin einer besonderen Hexe. Sie konnte die magischen Wesen vom ersten Augenblick an für sich gewinnen und sie alles tun lassen, was sie wollte. Bei Thordenwar hat es schon geklappt.«

Fest entschlossen den entscheidenden Versuch zu wagen, trat Jo vor und stellte sich dem Ungetüm. Sie konnte sich kaum überwinden, ihm in seine Gift versprühenden Augen zu sehen. Etwas fühlte sich ganz und gar nicht richtig an. Es war anders als bei dem Greif.
»Ich möchte, dass du nach Hause gehst ...«
Nichts geschah.
»Sitz!«
Wieder nichts.
»Gehst du wohl ab!«, brüllte sie den Hund nun an.
Dieser brüllte eindeutig gewaltiger zurück und machte einen Satz nach vorne. Mit seinen riesigen Reißzähnen versuchte er, nach der Hexe zu schnappen.
Kopfschüttelnd und schreiend kam sie zu ihrer Gruppe zurück. Bei den Mädchen kamen nur Wortfetzen an, wie »Böser Hund« und »Nein, nein, nein«.
Achselzuckend schaute Mayen die Mädchen entschuldigend an. »Ich hab vergessen, dass es bei Dämonen nicht funktioniert.«

Die Mädchen eilten voran. Sie gingen nach einem sehr gewagten und nicht ganz unproblematischen Plan vor. Julie war für das Forsterhaus zuständig, dass Besuchern und Förstern als Unterschlupf diente. Dort konnte man sich ausruhen oder sich vor plötzlichen Regenfällen schützen. Diese große Hütte war an sich sonst nicht bewohnt. Regelmäßig sah man bloß nach ihr und füllte die Tanks nach. Genau auf diese Gastanks hatte es Julie abgesehen. In wenigen Sekunden war sie vor Ort und löste die Ventile, so dass das Gas unkontrolliert ins Hütteninnere strömte.
Die Anderen sollten den Höllenhund dorthin locken, denn Mayen erzählte ihnen, dass diese Monster genauso wie Drachen Feuerspeier waren.
Das Gas in der Hütte, das feurige Biest und die Energietrafos, die mitunter für die Stromversorgung der umliegenden Siedlungen sorgten, würden ein großes Feuerwerk auslosen. Eins, dass dem Höllentier hoffentlich den gar ausmachen wird.
Leichter überlegt als ausgeführt. Rose warf ein unbrauchbares Jagdmesser nach dem anderen von sich, weil die Krallen seiner Pranken ihre Angriffe ständig abfingen und das Material zerstörten. Jos Zauber wollte bei diesem großen Etwas nicht wirken, weil sie die Kontrolle über seine Masse nicht halten konnte. Eve erging es ebenso und versuchte es mit der altbewährten Ködertaktik.
Anfangs befürchteten sie, Mayen hätte sich geirrt, denn das Monster setzte kein Feuer gegen sie ein. Dann allerdings brach es regelmäßig in gewaltigen Schüben aus ihm heraus. Kein Flammenwerfer der Welt konnte da mitmachen.
Die Luft war vom Gestank verbrannter Natur und Haaren erfüllt. Tapfer ignorierten sie die vermischten Gerüche und setzten sich dem Tier Mal für Mal aus.
Die Sonne ging bereits unter und den Mädchen blieben nur noch wenige Kraftreserven. Ihre Ausweichmanöver wurden schlampiger, Jos Wasserfallärmel waren abgerissen und ihr Haar ganz wirr. Sie hatte mitunter als Erstes Bekanntschaft mir seinen Pfoten machen können und konnte von Glück reden, dass Julie zur Stelle war. Unter großen Kraftaufwand fing sie Jo im Flug ab und landete mit ihr am Boden.
Eve war die Einzige, die noch halbwegs gerade stehen konnte und lockte das bullige Tier von ihren Freundinnen weg. »Na komm, Großer. Komm schön her«, rief sie über das Feld hinweg. Das Monster behielt sie mit seinem rechten Auge im Blick und beobachtete vorerst nur.
Sie lief rückwärts, damit sie jede plötzliche Reaktion des Monsters einschätzen könnte; stolperte dann aber über eine Wurzel und kam ins Straucheln. Bevor Eve den Boden berührte erfasst sie die haarige Seite der Pfote und wurde zur Seite gefegt; genau in die Hütte hinter ihr. Ein lautes Krachen ertönte, Eve kam nicht mehr zum Schreien und im nächsten Moment ging die Hütte in einer Explosion in Flammen auf.
Die Tür wurde beim Aufprall aus den Angeln gerissen und die erzeugten Funken reichten aus, um das Gas im Innern zu entzünden.

Funken stoben, die Druckwelle riss die Hütte auseinander und die Hitze des Feuers war überall zu spüren.
Unkontrolliert zuckten Jos Hände und Finger. Sie wusste nicht, wohin mit ihnen, auch ihr Kopf bewegte unnatürlich verkrampft. Sie versuchte zu sprechen, doch es kam kein Ton heraus. Sie versuchte zu atmen, aber fand keine Luft dazu.
Verzweifelt drehte sich die kleine Schwester zu Mayen um. Diese kam auf Jo zu, um sie zu stützen. Das Mädchen krallte seine Finger in die Arme der Vertrauten. Erstickte Lauten drangen nun heraus, bis sie zu wimmern begann; dann zu schreien.
Jo schrie sich die Seele aus dem Leib, während die anderen, wie zu Salzsäulen erstarrt, dabei standen. Sie beobachteten das Feuer und weinten stumm.
Rose flüsterte unaufhörlich dieselben Worte: »Nein, nein. Nicht schon wieder.«
Der Schrei nach ihrer Schwester durchbrach die Stille.
»Ja, einen Moment noch. Ich bin hier ... Gleich hab ich es ... nur noch ein Stück ... verflixt.« Der Dämon in ihrem war vergessen und so scherrte auch das Tier nicht weiter, was zu seinen Füßen ablief. Die Augen der Mädchen suchten den Himmel und den Boden nach der körperlosen Stimme ab, die eindeutig zu Eve gehörte. Ob sie ein Geist war?
Wie aufs Stichwort erschienen in einem Luftwirbel Füße und auch der Rest des Körpers materialisierte sich zaghaft, während Eve herzhaft fluchte. Ein letzter Windhauch und auch ihr Kopf saß wieder an seinem Platz. »Puh ... So, das hätten wir.«
»Aber, wie? Du warst ... du bist ...« Jo fand einfach nicht die richtigen Worte und warf sich ihrer großen Schwester an den Hals. Erleichterung ging durch die Reihe und Mayen grinste von einem Ohr zum anderen.
»Eine neue Fähigkeit«, rief Mayen erleichtert aus. »Du hast es tatsächlich geschafft.«
»Ehrlich gesagt habe ich gar nichts gemacht«, gestand Eve. »Ich war plötzlich nur noch Teil des Windes und bin planlos herumgetrieben. So eine Druckwelle schubst einen ganz schön weit raus, sag ich euch.«
In diesem Moment kam auch der Rest der Truppe angelaufen und umarmte die Lufthexe kräftig.
»Wir haben da noch etwas zu tun«, kommentierte Rose verschwörerisch.
»Wenn ich auch ein Katana bekomme, bin ich dabei«, ergänzte Eve.
Die Zwei grinsten wissen und die Älteste ließ sich ebenfalls ein Schwert geben. »Ich setze aus«, bemerkte Ragen beiläufig und ließ sich an der Balustrade hinuntergleiten. Mit ihren Visionen konnte sie auch aus sicherer Entfernung helfen und war überhaupt nicht scharf auf eine weitere Trauerepisode.
Neben ihr plumpste Jo-Ann zu Boden. Auf Ragens fragend Blick antwortete sie: »Ich darf nicht mitmachen. Meine Fähigkeit bringt nicht viel bei diesem Ding.« Sie legte ihren Kopf auf Ragens Schulter nieder. Die Anspannungen des Tages waren deutlich spürbar.
Julie ärgerte den Höllenhund mit ihrer Fähigkeit und hielt ihn Schach. Bevor sie mit ihrer Aktion begannen, wollte Eve noch ein bisschen ihre neue Teleportationsfähigkeit testen.
Rose ging in Position, auf ihren Einsatz wartend. Dann das Zeichen. Julie war soweit, flitzte los und schnitt dem riesigen Ungeheuer in die Fersen. Währenddessen materialisierte sich Eve auf seinen Kopf und stieß ihm das Schwert von oben nach unten zwischen Stirn und Schnauze.
Jaulend ging das Tier zu Boden und sauste auf Rose zu, die unter ihm mit dem Schwert senkrecht nach oben wartete. Mit der Schnauze fiel es direkt auf sie und die Klinge. Erschrocken saßen Jo und Ragen sofort senkrecht.
Der Höllenhund lag reglos da. Er war tot und doch zuckte auf einmal seine Schnauze. Eve und Julie kamen zu Hilfe und versuchten das tote Fleisch anzuheben, das sich allmählich aufzulösen begann. Schwerfällig zog sich Rose unter dem Kadaver hervor. Sie war über und über mit dunkelrotem, klebrigen Blut befleckt. Julie nahm kurzerhand Sicherheitsabstand, als sie ihre Freundin so sah.
»Willst dich wohl nicht dreckig machen«, neckte sie Rose. Sie fuhr besonders langsam über ihre dreckige Kleidung. Die bis dato noch einzig saubere Stelle an Rose war nun ebenfalls mit Blut benetzt. »Weißt du«, begann sie und kam auf Julie zu. »Das sollten wir ändern.« Ruckartig überbrückte die Feuerhexe den Abstand zu ihrer Freundin und wischte ihr mit der blutigen Hand durchs Gesicht. Ihr halb entsetzter und halb belustigter Ausruf ließ auch die anderen Anwesen lachen.

Sie hatten den mitunter schlimmsten Tag ihres Lebens hinter sich gebracht und konnten doch nicht anders als miteinander zu lachen. Egal wie traurig ihre Augen in die Zukunft blickten. Für einen kurzen Moment war alles vergessen.

Epilog

Leichtfüßig betrat Daiken sein neues Heim. Das alte Herrenhaus war ein richtiges Schmuckstück. Von hier aus hatte er eine gute Sicht auf das Plateau. So nah, würden ihn die Hexen niemals vermuten.
Endlich war er wieder in einem Körper. Ein Körper, der nur ihm gehörte. In dem er sein Leben in vollen Zügen genießen konnte, vor allem als Mann. Es jagte ihm jedes mal eine Gänsehaut ein, wenn er an die Zeit in einem weiblichen Körper dachte.

In Bens Körper stieß er die Kellertür auf und rief nach Meghan. Sie solle mit ihr diesen wundervollen Tag feiern, an dem er ein neues Leben bekommen und das Hexen genommen hat.
Es kam nur keine Antwort. Daiken konnte nicht einmal jemanden atmen hören und eilte die Stufen hinab.
An dem Deckenventilator war eine kleine Schnur befestigt, mit der man die Glühbirnen einschalten konnte. Verärgert musste der Dämon feststellen, dass seine Gefangene verschwunden war.
Schnell rannte er zurück ins Erdgeschoss und direkt weiter in den ersten Stock. Dort krachte die Balkontür mit Schwung auf, als er seine Magie wie eine Druckwelle ausschweifen ließ.
Beim Plateau brannte Feuer, nicht lange und jemand würde die Feuerwehr alarmieren. Die Frage war nur, wieso er seinen Barghest nicht sehen konnte.
Seine Wut über diese Niederlage und sein Hass auf die gute Magie pulsierten in seinen Adern. Er krallte sich am Geländer fest, dass das Holz zu brechen begann.

Der Himmel verdunkelte sich schlagartig. Tiefschwarze Gewitterwolken rollten zum Plateau hinüber. Blitze durchzuckten den Himmel.
Dieser Kampf war noch lange nicht vorbei.

Impressum

Texte: Denise Reichow
Tag der Veröffentlichung: 30.11.2014

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