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Raen – Das Siegel des Orakels
von
Anette Strohmeyer




„Der Mensch ist wie Feuer. Seine Flamme lodert heiß,
wärmt die einen und verbrennt die anderen!“




„I`ll find my way home.”
(Vangelis)





Erster Teil:




„Chorta - Heimat“




Prolog




Das Schicksal beobachtete ihn, jede seiner Bewegungen, das wusste er genau. Es wartete nur darauf, dass er einen Fehler beging, um ihn hernach bestrafen zu können. Denn das Schicksal war von Natur aus boshaft. Trotzdem konnte er nicht anders. Er musste es tun.
Aber eigentlich wurde er dazu gezwungen, es war nicht einmal sein eigener Wille. Oder doch? Raen schüttelte den Kopf, wer überschaute das in diesem Durcheinander noch. Der Krieg verwirrte den Geist der Menschen. Im Krieg waren die guten Taten von den schlechten kaum voneinander zu unterscheiden.

1. Kapitel



Roman wanderte unruhig vor der Tür auf und ab. Nervös kaute er an seinem Daumennagel. Hinter der Tür lag seine Frau Alea in den Geburtswehen. Es war nicht sein erstes Kind, das gerade dabei war, sich seinen Weg auf diese Welt zu bahnen, seine Frau hatte vor zwei Jahren schon einer kleinen Tochter das Leben geschenkt. Roman setzte sich, sprang aber sogleich wieder auf. Es war früh am Morgen, draußen war es noch stockdunkel. Mitten in dieser kalten Winternacht waren sie nach einem Dutzend zermürbenden Reisetagen endlich hier angekommen. Doch trotz der bleischweren Erschöpfung, die ihn schon seit vielen Wochen wie ein vertrauter Freund begleitete, fühlte sich Roman jetzt nicht müde. Die Spannung des Wartens hielt ihn wach.
Aus einem drängenden Impuls heraus nahm er sich den Gurt mit dem Schwert von der Schulter. Er konnte dessen Gewicht nicht mehr länger ertragen, außerdem wollte er sein Neugeborenes nicht auf den Arm nehmen, während er eine Waffe bei sich hatte, das frisch geborene Leben nicht gleich mit dem Tod in Berührung bringen. Denn noch vor wenigen Tagen hatte dieses Schwert in seiner Hand das Blut der Feinde getrunken. Roman erschauerte bei der Erinnerung an den aussichtslosen Krieg, der im Süden des Landes wütete. Und sein Kopf quoll plötzlich über von den Bildern des verzweifelten Widerstandes und des sinnlosen Blutvergießens. Es zerriss ihm sein Herz, dass es so wenig Hoffnung für sie alle gab, und dass er allein so machtlos war. Es quälte ihn, zu wissen, dass er nicht in der Lage sein würde, seine Familie zu beschützen, wenn es dem erst Feind gelänge das Gebirge zu überwinden. Seine Familie, die heute Nacht noch um ein weiteres Mitglied wachsen sollte.
Roman setzte sein Auf und Ab vor der Tür fort und versuchte, seine bitteren Sorgen zu verscheuchen. Die Göttin des Schicksals hatte die Fäden ihres Netzes so gesponnen, wie sie es für richtig hielt. Sie hatte ihnen die Gunst entzogen und beschlossen, sie leiden zu lassen. Roman biss sich auf die Lippe. Sets musste ein Menschenwesen gehorsam sein und demütig all das hinnehmen, was das Schicksal für ihn bereithielt. Mit einem Lächeln auf den Lippen und Gott Hyaun im Herzen, wie es die Priester Hys immer predigten.
Roman zwang seine Aufmerksamkeit mit Gewalt auf das, was hinter der Tür zum Geburtszimmer vor sich ging. Jeden Moment konnte es soweit sein. Er blieb stehen und horchte auf Geräusche, doch es rührte sich nichts in dem Raum, der für Krieger während des Geburtsvorganges verboten war. Die Tür blieb verschlossen.
Matt lehnte Roman sich gegen die Wand.
„Mit Hyaun im Herzen“, flüsterte er vor sich hin und fragte sich, ob sein zweiter Nachkomme wohl wieder ein Mädchen sein würde, oder diesmal doch ein Junge. Er dachte an mögliche Namen, die mit denselben Buchstaben beginnen sollten, wie die Namen des Vaters oder der Mutter. So war es Sitte. Roman und Alea. Der Junge musste also mit einem R beginnen und das Mädchen mit einem A, wie auch ihre erste Tochter Andra hieß. Roman überlegte: Ro, Re, Ra ...
Der Schmerz kam so rein und unvermittelt, dass Roman augenblicklich ins Wanken geriet. Gleißende Blitze schossen durch seinen Kopf, zerschnitten seine Gedanken wie blanke Messer. Erschrocken stöhnte er auf, und schlagartig wurde ihm speiübel, aber die Pein, die er spürte, war nicht seine eigene. Was er empfing, war der letzte innere Aufschrei eines anderen Menschen. Es war grauenvoll. Mit trockener Kehle schleppte Roman sich zu der kleinen Bank gegenüber der Tür und ließ sich darauf fallen. Die Hände auf den metallenen Stirnreif auf seiner Stirn gepresst, saß er da und horchte zitternd auf die entsetzlich verzerrte Stimme, die in seinem Kopf widerhallte. Sie klang unendlich verzweifelt, erschöpft und mutlos, schlimmer noch als er sich selbst in diesen dunklen Tagen des Unterganges hätte fühlen können.
„Höret, meine treuen Diener, mein geliebtes Volk von Hy! Mit nicht sehr großem Bedauern verlasse ich diese Welt, die mir nichts mehr zu bringen vermag, außer Schmerz und Demütigung. Aber wenigstens bleibt mir die Gewissheit, dass die Gabe des Geistes jetzt in den Schoß meines Volkes zurückkehren wird. Es war mir eine besondere Ehre, ihr Träger gewesen zu sein, auch wenn ich versagt habe. Mein geliebtes Volk, ... ich wünsche euch ... Glück!“ Danach war nichts mehr, nur hohle Stille.
Roman, der regungslos dahockte, war in jenem Moment nicht der einzige gewesen, den die Stimme des Prinzen von Hy mit solch unerträglicher Wucht erreicht hatte. Überall im Land hatten sämtliche Krieger, erstarrt vor Entsetzen, der qualvollen Sterbebotschaft ihres Setna gelauscht, der ihr Oberhaupt und in Besitz der heiligen Kräfte Hyauns war - ihr von Gott erwählter Beschützer, der nun nicht mehr war.
Während ganz Hy in dem kalten Schweigen, das nach der Botschaft des Prinzen folgte, unschlüssig und erfüllt von Trauer verharrte, begann Romans Sohn sein Leben mit einem ersten kräftigen Schrei. Als spürte er trotz seiner Unschuld, welch Tragödie sich soeben abgespielt hatte. Roman bemerkte die aufkommende Unruhe in dem Geburtsraum durch den Nebel seiner geistigen Starre und er bemühte sich, seine Sinne zu sammeln. Schließlich öffnete sich die Tür vor ihm und mit tränenumschleierten Augen nahm er seinen Sohn entgegen, der im selben Augenblick in die Welt der Menschenwesen getreten war, als ein anderer sie für immer verlassen hatte.

Etwas später saß Roman auf dem Bett, in dem seine Frau lag. Glücklich und angstvoll zugleich sahen sie sich an. Den kleinen Jungen hatte er immer noch in seinen Armen, doch seine Gedanken konnten nicht von der tapferen Selbsttötung des Prinzen lassen, von der alle anderen im Zimmer nicht wissen durften.
„Bleibst du jetzt hier?“, fragte Alea, ihr hoffnungsvoller Tonfall war unüberhörbar.
Roman senkte den Blick. „Nein, ich fürchte nicht.“
„Aber ... wieso denn nicht?“ Sie sah ihn mit großen Augen an, und er dachte, wie selig sie doch war, da sie von all den schrecklichen Dingen da draußen nichts ahnte.
„Es ist noch nicht vorbei, Alea. Wir müssen uns bereit machen, nach Norden über den Nori zu fliehen“, versuchte er, ihr so schonend wie möglich beizubringen. „Nur zur Vorsicht. Nördlich des Flusses seid ihr vorerst sicher.“
„Wir sollen hier weg und Shari verlassen?“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Roman nickte erneut. Auch ihm behagte die Vorstellung nicht, seine Heimat aufgeben zu müssen, aber es war die einzige Möglichkeit, nach dem Fall der Provinzen im Süden die Menschen der Clans nördlich des Junghal-Gebirges zu retten. Wenn die Feinde den Pass über die Berge eroberten und ins Zentralland vordrangen, würde der Fluss ein nur schwer zu überwindendes Hindernis sein.
„Es muss sein. Bete zu Hyaun, dass wir bald wieder zurückkehren können.“ - ‚Dass wir überhaupt zurückkehren werden’, fügte er in Gedanken hinzu, rang sich aber ein zuversichtliches Lächeln ab. Er reichte Alea den Säugling und strich ihr neckend über die Wange. „Das hast du gut hinbekommen.“ Roman ruckte sein Kinn in Richtung des Kindes und Alea strahlte stolz. Es war ein wenig Balsam auf seiner gequälten Seele.
Danach schwiegen sie eine ganze Weile, auch die Hebamme war still und wirkte bekümmert. Ungewiss war ihre Zukunft.
Draußen stieg langsam die orange leuchtende Sonne zu einem neuen Tag im ausgehenden Eismond über die verschneiten Hügel, und ihre Strahlen fielen sanft durch das Fensterglas in den Raum.
„Er soll Raen heißen“, sagte Roman unvermittelt einer Eingabe folgend. „Raen - Sohn des Lichts, Sohn der Hoffnung!“ Beide sahen sie das kleine Bündel an, aus dem zwei glänzende Augen scheinbar wissend zurückblickten.
Es klopfte an die Tür.
„Ja, herein“, rief Roman. Die Tür ging auf und sein Onkel Richol erschien. Der Clanchef von Shari entschuldigte sich für die Störung.
„Komm nur herein, Onkel.“ Roman wurde schwer zu Mute, wie gerne hätte er jetzt auch seinen Vater Roido bei sich gehabt. Er hatte dessen Tod noch immer nicht verwunden. Vor vier Jahren war er an der Alten Grenze bei Auseinandersetzungen mit den Askharern getötet worden.
„Wo ist meine Mutter? Ist sie auch da?“, fragte Roman seinen Onkel.
„Sie wartet draußen.“
„Sie soll hereinkommen und ihren neuen Enkel begrüßen“, sagte dieses Mal Alea und bedeutete der Hebamme, dass sie Romans Mutter hereinlassen sollte. Als Farna den kleinen Raum betrat, herrschte für kurze Zeit Trubel, denn alle wurden von der betagten aber fröhlichen Frau herzlich gedrückt und natürlich erhielt auch der kleine Raen eine besonders liebevolle Portion Aufmerksamkeit. Als Alea und Farna damit beschäftigt waren, dem Kind alle erdenklichen Liebkosungen zuteil werden zu lassen, nahm Richol Roman zur Seite und sah ihn vielsagend an.
„Hast du es auch gespürt?“, fragte er schließlich leise.
Roman wusste, was sein Onkel meinte, und nickte. „Unserem mutigen Setna sei Dank, jetzt kann die Gabe des Geistes zurückkehren und auf den neuen Setna übergehen! Möge sich Hyaun erbarmen und sich seiner geschundenen Seele annehmen, damit sie schnell zu den Ahnen der Winde finde. Sein Opfer hat es verdient.“
Jetzt war es Richol, der nickte. Beide Männer schwiegen einen Moment andächtig.
„Hoffentlich ist der neue Setna bald gewählt“, setzte Richol das Gespräch flüsternd fort. „Wer weiß, wann die Askharer das nächste Mal angreifen.“
„Aber unsere Leute bewachen doch den Pass. Die roten Schlächter können gar nicht unbemerkt durchbrechen, es ist der einzige Weg über die Berge.“
„Ja, aber was sollen wir tun, wenn sie da sind, bevor der neue Setna gewählt ist?“
„Na, mit allem, was wir haben, den Pass verteidigen!“
Richol sah Roman verständnislos an. Es war ihm vollkommen undenkbar, ohne die Anweisung des Setna zu handeln. Der Prinz von Hy gab stets die Befehle, nie war es anders gewesen. Deshalb war die Situation auch so vertrackt.
„Der Setna wird gewählt sein, wenn es passiert. Er wird bei uns sein, dessen bin ich gewiss“, beschied Roman zuversichtlicher, als er sich eigentlich fühlte. „Wann müssen wir aufbrechen?“
„Noch heute. Am besten, du gehst und packst die Sachen deiner Familie zusammen, aber nur so viel, wie ein Pferd tragen kann.“
Roman bemerkte, wie sein Onkel unbewusst seinen Blick in Aleas Richtung schweifen ließ.
„Sie wird es schaffen!“, entgegnete er und schaute ebenfalls auf seine Frau. Sie sah nicht im Geringsten erschöpft aus, im Gegenteil, sie wirkte außergewöhnlich lebendig. Ihre langen, braunen Haare umrahmten ihr schmales Gesicht mit den geröteten Wangen, und ihre Augen leuchteten wie zwei grüne Sonnen. Aber Richol hatte Recht, auch wenn Alea genug Kraft haben sollte, für das Neugeborene wäre es unsicher, ob es die lange Reise durch Schnee und Kälte überstand.
Plötzlich pochte es erneut an der Tür, doch diesmal schwang sie einfach auf, noch bevor jemand seine Einwilligung dazu geben konnte.
Ein junger Krieger trat ein und ging sofort auf Roman zu. Man konnte sehen, dass er sehr erregt war.
„Was ist los?“, fragte Roman ungehalten über die Störung.
Der junge Bursche, ganz in Schwarz gekleidet wie die beiden älteren Krieger, wurde rot.
„Da ist ein Bote für dich Roman. Er wartet in der Eingangshalle des Nordturmes.“
„Was für ein Bote? Etwa von der Grenze?“
„Nein, ein ganz merkwürdiger Mann, er ist ... wie soll ich es sagen ... ganz weiß.“
„Weiß?“
„Im Gesicht!“
Roman und Richol sahen sich an. Und als hätte sie beide eine unsichtbare Nadel gestochen, eilten sie ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer.
Schüchtern blickte der junge Krieger in die verwunderten Gesichter der restlichen Familienmitglieder.

„Das kann nicht sein ... kann nicht sein“, keuchte Roman immer wieder, während er zusammen mit Richol die Treppen des Waschhauses herunter stürmte. Doch sein Onkel erwiderte nichts darauf. Beide wussten, um was für einen Boten es sich handelte, und beide waren gleichermaßen erstaunt.
Sie hasteten über den Hof und erreichten die Stufen, die zum Eingang des Turmes hinaufführten. Erst dort verlangsamten ihren Schritt. Roman öffnete die schwere Tür. In der Halle standen zwei Krieger, und hinter ihnen wartete regungslos eine in einen weißen Umhang gehüllte Gestalt. Ihr Kopf war unter einer Kapuze verborgen.
Richol gab den Männern ein Zeichen, die sofort die Halle verließen.
Roman wollte auf den Boten zu gehen, doch sein Onkel hielt ihn zurück.
„Ich komme nicht mit“, raunte er. „Das musst du alleine tun. Ich kümmere mich derweil darum, dass alles Wichtige für die Flucht eingepackt wird. Viel Glück!“ Mit diesen Worten zog er sich zurück. Er hatte genug gesehen, um sich seiner Vermutung sicher zu sein.
Nachdem sich die Tür hinter Richol geschlossen hatte, und die leisen Geräusche aus den angrenzenden Küchenräumen das einzige war, das noch an sein Ohr drang, näherte sich Roman mit Bedacht der im Licht der Öllampen geisterhaft schimmernden Gestalt.
Diese schlug ohne jegliche übertriebene Geste die Kapuze zurück und entblößte ihren kahl geschorenen Schädel. Romans Augen weiteten sich überrascht. Der Bote war tatsächlich weiß. Weiß wie der Schnee draußen auf den Hügeln. Nein. Roman runzelte die Stirn, das war irgendwie nicht ganz richtig, er war farblos, das traf eher zu. Als hätte jemand alle Farbe aus ihm heraus gelaugt.
Auf dem fahlen Gesicht war keine Regung zu erkennen.
Schließlich bewegten sich die scheinbar blutleeren Lippen: „Seid Ihr Hyaun-Banskeid-Roman-Ra-Roido-adh-Chor-Shari - Krieger Hyauns, Sohn von Roido aus dem Clan der Shari?“
Roman blinzelte. „Ja, der bin ich.“
„Ich heiße Solrhan, ich bin ein Jünger des ehrwürdigen Orakels Soghul von Tulga und ich überbringe Euch eine Botschaft!“ Eine Hand, ebenso durchscheinend wie die Haut um seine grellblauen Augen, teilte den feinen, weißen Stoff des Umhanges und streckte ihm einen Brief entgegen. Er trug das unverkennbare, schwarze Siegel Tulgas. „Es ist eine Botschaft, die nur für Euch bestimmt ist, Banskeid Roman. Kein anderer darf sie lesen, oder etwas über ihren Inhalt wissen, außer Euch. Ihr wisst, wovon ich spreche?“
Roman nickte und streckte seine Hand aus. Leicht wie eine Feder berührte das gefaltete Papier seine Handfläche, doch schwer wie unter einer stählernen Last begann seine Hand zu zittern. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Warum bekam ausgerechnet er eine Botschaft des Orakels? Er war doch nur ein einfacher Krieger, eine solch unbedeutende Person, wie ein kleines Menschenwesen im Universum der großen Mächte es überhaupt nur sein konnte. Nur wichtige Männer erhielten die Aufmerksamkeit des ehrwürdigen Soghuls. So hatte er das zumindest gehört. Warum also er? Und was mochte der Inhalt ihm wohl bereit halten? Gutes oder Schlechtes? Roman sank der Mut, und abermals überkam ihn Übelkeit.
„Wenn Ihr erlaubt, ziehe ich mich jetzt zurück. Ich werde noch gleich abreisen. Lebt wohl, Banskeid Roman“, sagte der Bote mit einer Verbeugung und ging an ihm vorbei.
Roman sah dem wehenden Umhang hinterher, sein Unwohlsein stand ihm deutlich in sein blasses Gesicht geschrieben. Eine Weile verharrte er unschlüssig. Plötzlich durchfuhr ein Schaudern sein Körper, und er erlangte die Gewalt über sein Denken zurück, lange nachdem der Bote fort war. Rasch eilte er mit dem Brief in der Hand hinaus. Auf dem Hof der Festung schnappte er so lange nach frischer Luft, bis er sich wieder vollständig gefangen hatte. Er blickte sich um. Niemand war zu sehen, doch Roman wollte sicher gehen, nicht gestört zu werden, während er den Brief las, und so machte er einen Bogen um das Waschhaus und stieg, obwohl es ungemütlich kalt war, auf die Westmauer des Chorten. Als er oben angekommen war und einen kurzen Blick in die schneebedeckte Ferne geworfen hatte, kam ihm in den Sinn, dass sich das Orakel vielleicht geirrt haben könnte. Schnell sah er auf den zerknickten Brief in seiner Hand. Er drehte ihn um und strich ihn glatt. Doch da stand noch immer in derselben geschwungenen Handschrift des Orakels sein Name.
Mit zusammengebissenen Zähnen erbrach er das Siegel und faltete das Papier auseinander. Während er die ersten Zeilen las, und die Kraft der Prophezeiung ihn in ihren Bann zog, bemerkte er nicht, wie es anhaltend windiger wurde und über den Hügeln graue Wolken aufzogen. Im Nu hatten sie das Licht der Sonne verschluckt.
Erst, als Roman geendet hatte, stellte er fest, dass er vor Kälte zitterte und nicht allein nur wegen der Schnee verheißenden Kälte eine Gänsehaut am ganzen Leib spürte. Sein Magen wogte flau, und in seinen Beinen nagte die Erschöpfung der vergangenen Monate. Gerne hätte er sich einfach hingesetzt und ausgeruht, doch das war jetzt ganz und gar unmöglich.
Wieder starrte er auf den Brief in seinen klammen Fingern. Er konnte und wollte nicht glauben, was er da soeben gelesen hatte. Es war eine Katastrophe.
Es begann leicht zu nieseln, und der Wind pfiff ihm unangenehm um die Nase, aber er las den Brief noch ein zweites Mal:

„Roman Shari,

für diese Botschaft wurde ich, Soghul von Tulga, durch Al Nor,
dem Hüter der Zukunft, bestimmt,
um für Euch zu sehen, was nur für Eure Augen ist!
Vernehmt also das Geschenk, welches die Zukunft Euch macht:

Ihr werdet Dinge sehen, an denen Ihr zweifeln werdet.
In diesem Moment, erinnert Euch!
Traditionen und alte Regeln werden gebrochen,
um andere zu erhalten.
Die Blume muss gedeihen und sterben,
um ihre Samen in die Erde zu geben,
damit sie neu erblühen kann.
Erinnert Euch!
Die Wege göttlicher Geister sind wundersam.

Der schwarze Winter führt den schwarzen Schnee
wie der dunkle Bruder das düstere Heer
unaufhaltsam über das Land Hy.
Umhüllt wird das Licht,
und nur ein Kampf kann es wieder befreien
oder für immer löschen.
Prinz gegen Prinz,
der Kampf der Setna.
Aus dem Volk der Hy wird der Andersdenker hervortreten
und anstelle des Schicksals entscheiden,
ob das Licht weiter erstrahlen und noch größer sein wird als zuvor,
oder ob es düster wird für immer.

Frieden ist sein einziger Sinn,
der Sohn des Lichts,
Raen.

Verbündeter der Zukunft
Soghul von Tulga.“


Als er aufblickte, platzten Roman die ersten eiskalten Tropfen des Schneeregens ins Gesicht, doch er bekam es kaum mit. Seine Gedanken schwirrten durcheinander wie ein Schwarm aufgebrachter Bienen, bereit, schonungslos zuzustechen. Und das taten sie auch. Raen! Sein gerade eben erst geborener Sohn, sollte ein Andersdenker sein? Einer, der sich gegen das Schicksal stellte? Einer, der Traditionen brach? Die Ungeheuerlichkeit dieser Worte jagten Roman einen Schauer über Kopfhaut und Rücken, und unwillkürlich duckte er sich gegen den Regen, als seien die Tropfen Schläge. Niemand konnte dem Schicksal entgegentreten und es herausfordern, ohne von ihm bestraft zu werden! Das Orakel musste sich irren. Es musste! Es konnte doch gar nicht wissen, dass Raen heute vor nicht einmal einer Ka-Stunde geboren worden war.
Oder doch? Orakel wissen mehr als normale Menschen. Sie sprechen mit den Göttern, sind im Besitz der Wahrhaftigkeit. Jede Faser in Roman sträubte sich gegen das, was seine Finger da hielten. Er sah auf die Prophezeiung. Obwohl das Papier bereits nass war, blieb die Tinte leserlich. Ein Orakel hatte immer Recht. Diese Erkenntnis erschütterte ihn mehr als die Furcht vor dem Krieg. Es würde so kommen, wie Soghul es vorausgesagt hatte, und er konnte nur hoffen, dass Raen sie nicht alle mit ins Verderben reißen würde. Sein Sohn würde sich gegen die Macht des Schicksals auflehnen. Oh, welch frevlerische Untat, welch schrecklich schlimmes Geheimnis! Roman hob die Hand vor den Mund und hauchte den Atem dagegen. Er musste einen klaren Kopf behalten, niemand durfte ihm etwas anmerken. Mittlerweile war auch seine Kleidung völlig durchnässt und mit Schneeflocken behaftet. Über die Brustwehr der Festung hinweg schaute er auf die entfernten Hügel am Rande des Clangebietes, die durch den Vorhang aus Schnee und Regen nur noch als graue Silhouetten auszumachen waren. Warum musste das Schicksal ausgerechnet ihm eine solch schwere Bürde auferlegen? Waren denn der Krieg und die bittere Niederlage, das Elend und der schmerzende Verlust von Heimatboden nicht bereits genug der Dinge, die ein Mann ertragen konnte? Roman wurde vom Schmerz überwältigt, heraufquellende Tränen mischten sich mit den geschmolzenen Schneeflocken auf seinem Gesicht. Und bei all seiner Qual vergaß er, dass Selbstmitleid eine große Sünde war. Immer tiefer verstrickte er sich in diesem bittersüßen Gefühl, das tröstlich und beißend zugleich war. Die Grenze zu der größten aller Sünden, die ein Hy begehen konnte, rückte gefährlich nahe. Und ohne zu wissen warum, trat Roman schließlich auch diesen letzten Schritt.
„Warum? Warum ich? Warum mein Sohn?“, flüsterte er tonlos in die kalte Luft und besiegelte seinen Frevel: er haderte mit seinem Schicksal!
Das blickte bereits kalt und unerbittlich auf ihn herab. Zaizura, die Schicksalsgöttin, vergaß und verzieh nie, und sie würde dieses unverschämte, winzige Menschenwesen, das sich erdreistet hatte, sie um Bevorzugung anzubuhlen, bestrafen, damit es sich wieder an die Gesetze der Unabänderlichkeit des Universums erinnerte!

Roman löste sich aus seiner gleichgültigen Taubheit. Er steckte den Brief Soghuls in den Ausschnitt seiner Jacke und stieg die Mauer hinab. Dabei bemerkte er, dass er am ganzen Leib schlotterte. Er musste sich dringend aufwärmen. Also ging Roman wieder zurück in das geheizte Geburtszimmer. Alea fragte nicht, wo er gewesen war, denn sie war es gewohnt, dass Roman als Krieger oft unerwartet fortgerufen wurde. Und außerdem gingen sie diese Dinge auch nichts an. Da seine Kleidung nass war, blieb Roman neben dem Kohlebecken stehen.
„Was soll ich für dich einpacken?“, erkundigte er sich mit belegter Stimme und hielt seine Handflächen der aufsteigenden Wärme entgegen.
„Ach, nur das kleine Beutelchen aus meiner Truhe und warme Kleidung, das ist mir wichtig.“
„Gut, dann ruhe jetzt noch ein wenig. Wir werden bald aufbrechen.“ Roman sah zum Fenster, draußen schneite es in immer dichteren Flocken. Mit unguten Gefühlen dachte er an ihre bevorstehende Wanderung und betete still, Hyaun möge seine kleine Familie beschützen. Einzig und allein die wiedererwachte Stimme des neu erwählten Prinzen in seinem inneren Ohr machte ihm ein wenig Hoffnung. Die Stimme war ein tröstliches Summen, das fühlbar anwuchs. Und auch wenn das Schweigen des Prinzen gerade mal eine Ka-Stunde gedauert hatte, war es Roman so vorgekommen, als hätte der Setna sie für immer verlassen. Erleichtert atmete er durch die Nase aus, die Verantwortung lag nicht mehr auf ihren Schultern. Der Setna würde entscheiden. Doch änderte das etwas? Er wusste es nicht und wagte es auch nicht, noch mehr solcher lästerlichen Gedanken ins Leben zu rufen. Was er soeben getan hatte, war schlimm genug. Seine Finger glitten unbewusst über seinen goldenen Stirnreif.
„Geht es dir gut?“, wollte Alea besorgt wissen.
„Es ist alles in Ordnung“, log Roman und machte sich daran das Zimmer zu verlassen. Doch seine Frau hielt ihn zurück.
„Roman, warte. Ich liebe dich, das sollst du wissen, und ich bin dankbar für jeden einzelnen Tag, den an meiner Seite warst. Und egal, was morgen passiert, ich werde keine Angst davor haben.“ Sie lächelte ihn an. Roman nickte dankbar und ging.

Gegen Mittag nahm das Schneetreiben eine bedrohliche Dichte an, aber das hinderte den gesamten Shari Clan nicht daran, sich mit Sack und Pack, den Kindern wie den Alten, auf den Weg zu machen. Eine endlose Kette aus Menschen und Tieren, flankiert von den Kriegern zu Pferde, wand sich entlang der kaum noch zu erkennenden Pfade durch die bewaldeten schneebedeckten Hügel - immer weiter fort von dem Chorten, in dem kein Licht mehr brannte und die Räume langsam auskühlten. Niemand warf einen Blick zurück, ein jeder verbiss sich Schmerz und Kälte und stapfte voran. Bald hatten die undurchdringlichen Schleier aus Flocken das dunkle Band der flüchtenden in der weißen Landschaft verschluckt. Scheinbar friedlich lag der verlassene Chorten da, doch hinter den Bergen im Süden lauerte die Gefahr.

2. Kapitel



Als König Katthike die Blutlache um den toten Gefangenen erblickte, begann er zu toben. Den Wachsoldaten neben ihm schlug er mit einem einzigen brutalen Fausthieb nieder. Sein legendärer Zorn war entfesselt, noch ehe es seiner Umgebung gelungen war sich in Sicherheit zu bringen. Erregt lief er im Kreis um die am Boden liegende Leiche des Hy herum, dabei hinkte er stark. Seine gedrungene muskulöse Figur sandte heiße Wellen der Wut aus und alle Anwesenden duckten sich angstvoll, wenn er in ihre Nähe kam.
„Zur Hölle mit euch allen! Wie konnte das passieren?“, brüllte er in die Stille des Kerkerraumes, und seine gewaltige Stimme hallte von den Wänden wieder.
„Bin ich denn nur von Nichtsnutzen und elendig verdummten Trotteln umgeben?“ Er kam vor dem zweiten Soldaten zum Stehen und starrte ihn mit seinen eisblauen Augen an. Der Soldat senkte sofort seinen Blick und stammelte: „Eure Majestät, e-er ... also irgendwie hat er die Wache überwältigt und h-hat sich mit dessen Messer erstochen!“
Der König verzog das wutrote Gesicht und fletschte die Zähne, als wollte er seinem Gegenüber wie ein Wolf an die Kehle fallen.
„Ist nicht jeder, der mit diesem Gefangenen Kontakt hatte, mehrmals ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass bei ihm äußerste Vorsicht und Wachsamkeit geboten sind!“, zischte er scharf.
Der Soldat nickte zitternd, verlegen um eine Antwort.
„Du erbärmlicher Bastard!“, schrie Katthike, und seine Stimme überschlug sich fast. Wie zu erwarten war, schlug er auch diesen Soldaten nieder, und da ihm das noch nicht zu genügen schien, trat er ihm noch ein paar Mal mit voller Wucht direkt ins Gesicht. Es knackte hörbar, und der Soldat gab keinen Laut mehr von sich. Blut strömte ihm aus der Nase, und sein Blick wurde glasig. Als der König von Askhar aufsah, wichen alle noch einen weiteren Schritt weiter vor ihm zurück, schabten verzweifelt mit ihren Rücken an der grobgehauenen Kerkerwand und wünschten sich, ein Fluchtweg möge sich auftun.
Gereizt blitzte Katthike den Rest seiner zu Tode geängstigten Untertanen an. Ihre Unfähigkeit, mit der sie das einzigartige Geschenk der Götter so gedankenlos zunichte gemacht hatten, war eigentlich der beste Grund dafür, sie sofort um ihre verlausten Köpfe kürzer zu machen, diese rückratlosen Kerkerratten. Aber da war noch etwas, das ihn bis über alle Maßen erzürnte, und er wusste nicht, was ihn in diesem Moment ärger beleidigte: die vertrottelte Nachlässigkeit seiner Soldaten, die ihn soeben um ein Vermögen gebracht hatte, oder, dass es diesem Hundesohn von einem Hy gelungen war, sich seiner Gewalt zu entziehen, ihm einfach durch die Finger zu schlüpfen wie fliehendes Wasser! Er zwang seinen Blick auf das beinahe lächelnde Gesicht des Toten zu seinen Füßen.
„Du lachst mich aus, was? Du hyaunischer Teufel, bist mir entkommen!“, knurrte er und trat dem Toten ins Gesicht. Der aber lächelte ungehemmt weiter. Katthike wandte sich angewidert ab.
Verdammt sei er, nun war das Geheimnis des Auns dahin! Und dabei waren sie kurz vor dem Ziel gewesen. Die Foltermeister hatten bisher exzellente Arbeit geleistet, und der Hy war bereits am Rande der Kraft seines Verstandes angelangt. Noch ein wenig länger und er hätte bestimmt geredet. Doch jetzt war er tot, und das Aun nutzlos. Katthike wandte sich abrupt um. Wo war es überhaupt? Auf der Stirn des Hy jedenfalls nicht.
Er fluchte laut, und in dem kargen Verlies zuckten alle verbliebenen, unglückseligen Gestalten zusammen. Angestrengt versuchten sie, möglichst gleichgültige Gesichter aufzusetzen, und ein jeder bejammerte im Stillen sein Schicksal, ausgerechnet hier und jetzt an dieser Stelle zusammen mit dem wütenden König sein zu müssen. Wieder packte Katthike einen der Wachsoldaten und schüttelte ihn heftig.
„Du Missgeburt, wer hat es gestohlen? Sprich! Wer hat das Aun?“
„Ich-ich war es nicht, Majestät“, brabbelte der Soldat, außer sich vor Furcht, „keiner von uns war es. Es war schon fort, als wir das Verlies betraten. Bitte, es ist die Wahrheit.“
Katthike hob die Faust, und der Soldat schloss die Augen. Doch unerwartet hielt der König inne. Sein Instinkt sagte ihm, dass etwas nicht stimmte. Er ließ von dem Mann ab, der fast ohnmächtig forttaumelte, und ging zu dem von dem Gefangenen überwältigten Soldaten hinüber, der ein paar Ellen von der Tür entfernt in einer großen Blutlache lag. Er drehte ihn um. Die Kehle war sauber durchschnitten worden. Für einen kurzen Moment verspürte Katthike eine gewisse Achtung vor der harten Kompromisslosigkeit der Krieger aus Hy, die sich so sehr vom einfältigen und schwächlichen Rest ihres Volkes abhoben. Sein Blick fiel auf die Messerscheide des toten Soldaten. Aber was war das? Das Messer war noch da! Er sah zu dem Hy. Es war eindeutig der Griff eines anderen Messers, das diesem aus der Brust ragte. Irgendjemand anderes musste ihm also geholfen haben. Und dieser Jemand hatte mit Sicherheit auch das Aun entfernt und mit sich genommen. Aber wer bei allen Namen der Dämonen konnte das gewesen sein? Der König witterte eine Verschwörung direkt unter seiner Nase, in seinem Palast. Er sprang auf, wischte sich die Hände am Saum seines Waffenrockes ab und verließ eilig den Raum.

Wenig später war auf sein Geheiß der gesamte Hofstaat mit all seinen Untergebenen, Soldaten, Dienern und sämtlichen inländischen wie ausländischen Sklaven auf dem großen Innenhof des Palastes versammelt. Es war ungewöhnlich kalt für Askhar in diesem Winter, und tatsächlich rieselten vereinzelt einige Schneeflocken vom Himmel, was die Reizbarkeit des Königs nur noch verschlimmerte, denn er hasste die Kälte.
Zur selben Zeit durchsuchten die Soldaten der Königlichen Leibwache die Quartiere der Dienerschaft und der Sklaven nach dem verschwundenen Stirnreif.
Es herrschte Totenstille auf dem Platz, alles wartete bang, zitternd vor Furcht und Kälte. Mit noch immer brodelnder Wut in den Eingeweiden ging König Katthike heftig hinkend vor den Reihen seiner Untergebenen auf und ab, neben ihm seine engsten Vertrauten: Sein erster Berater Lata und der Oberste General der Armee, Herzog Kasai.
Katthike blieb stehen und sah eindringlich in die Menge. Alle senkten sofort ihren Blick, denn es war verboten, Seine Königliche Hoheit direkt anzusehen.
„Hört mir alle gut zu!“, schmetterte Katthikes gereizte Stimme über den Platz. „Und ich meine, wahrhaftig gut! Mein wertvoller Gefangener aus Hy ist tot. Er hat sich das Leben nehmen können, weil einer von euch ihm dabei geholfen hat. Einer unter euch ist ein Verräter!“ Er machte eine Pause, um das Gesagte wirken zu lassen Dann sprach er weiter: „Wenn der Verräter sich zu erkennen gibt, oder derjenige, der etwas darüber weiß, mir seinen Namen liefert, dann verschone ich den Rest von euch. Es ist mir ganz egal, was ihr tut, wenn ich den Verräter nicht bekomme, werde ich euch alle exekutieren lassen! Dort draußen“, er deutete über die Mauer, „wartet genug williges Volk, um eure Plätze einzunehmen!“
Ein entsetztes Raunen machte die Runde und die Furcht trat nun offen zu Tage. Doch keiner rührte sich. Jeder beäugte misstrauisch seinen Nachbarn. Wer war der Verräter, der sich feige zwischen ihnen versteckte und sie alle mit in den Abgrund reißen wollte?
„Nun, ich höre?“ Katthike zog sein Schwert, welches bedrohlich im matten Licht des Wintermorgens aufblinkte. Wieder ging ein Aufstöhnen durch die Reihen.
„Wir waren es nicht, Eure Majestät, so glaubt uns doch! Wir flehen Euch an, verschont uns, Euer Gnaden!“, schrie eine schrille Stimme stellvertretend für seine Gruppe aus den hinteren Reihen des Palastpersonals, das sich als Reaktion darauf sogleich der Läge nach auf den Boden warf.
„Wir waren es auch nicht!“, rief ein anderer von den Arbeitssklaven herüber. „Warum sollten wir das auch tun, wir haben doch nichts zu klagen. Eure Hoheit ist doch stets gnädig und großzügig zu uns. Es waren bestimmt die Hy-Sklaven! Wer sonst sollte ihrem verdammten Krieger wohl helfen wollen?“ Er zeigte mit seinem Finger auf die Versammlung dürrer, gebeugter Menschen vor ihm.
„Schweigt! Schweigt alle, ihr elenden Hunde! Das ist nicht das, was ich hören will. Schluss damit. Ich werde euch jetzt zeigen, welch gnädige Behandlung euch allen zuteil werden wird, wenn ihr nicht endlich mit der Wahrheit rausrückt!“ Bei diesen Worten war Katthike auch schon neben einem der Hy-Sklaven angekommen. Er legte seine freie Hand auf die Schulter des zitternden Mannes, der schnell die Augen schloss, weil er es nicht einmal vermochte, auf die Stiefelspitzen des Königs zu schauen. Katthike drückte ihn auf die Knie.
„Ich möchte die Wahrheit. Die Wahrheit im reinsten Sinne sozusagen. Wenn ich bitten darf! Ihr Hy sagt doch stets die Wahrheit, oder nicht? Das Lügen ist euch doch so unbekannt wie dem Stein das Schwimmen. Sei du diesem verlogenen Pack ein Vorbild und sprich. Also, ich höre.“ Er durchbohrte den Mann mit seinem eiskalten Blick, der im Kontrast zu seiner glühenden Wut stand. Aber der Hy hatte sich vor Angst kaum noch unter Kontrolle, und nicht nur Tränen rannen feucht an ihm herab. Ein dunkler Fleck breitete sich vorn auf seiner Hose aus. Nur unverständliche Worte kamen aus seinem Mund.
„Ich kann dir nicht folgen! Sprich gefälligst in einer Sprache, die ich verstehen kann!“, brüllte der König ihn an, doch der Hy war unfähig zu sprechen.
„Verdammt noch mal“, zischte Katthike kaum hörbar, angewidert von der Schwäche des Mannes und grub mit Gewalt seine Finger in dessen Schulter.
„Kannst du nicht sprechen, oder willst du es nicht? Hm? Du da, komm sofort her!“, schrie er plötzlich und zeigte auf den Arbeitssklaven, der zuvor so unverschämt gesprochen hatte. Der löste sich aus seiner Gruppe und kam mit zögernden Schritten und blassem Gesicht auf den König zu, den Blick soweit gesenkt, wie es ihm möglich war. Hätte er eben doch besser seinen Mund gehalten, dachte der Sklave bitter.
„Los, los, ein bisschen schneller!“, dröhnte der König am Rande seiner Geduld.
Als der Sklave bei ihm angekommen war und sich so tief verbeugte, dass sein Körper fast einen rechten Winkel bildete, streckte Katthike seine freie Hand offen in Richtung des Generals aus. Ein Zeichen, ihm sein Schwert geben. Der General zog es aus der Scheide und reichte es dem König, der es dann wiederum dem Sklaven vor die Nase hielt.
„Nimm es, und töte ihn!“, war der eisige Befehl. Der Sklave starrte entsetzt auf das Schwert. Aber an sein eigenes Davonkommen denkend, hob er schließlich gehorsam seine Hand und nahm den Griff des Schwertes. Es war seine einzige Chance, selbst ungeschoren zu bleiben.
„Ich warte!“ Katthikes Stimme hallte mit einem scheinbar unendlichen Echo von den umgebenden Mauern des Hofes und in den Ohren des Sklaven wider. Mechanisch bewegte dieser sich auf den Hy zu und hob das Schwert. Der Hy schluchzte laut. Bebend hing das Schwert in der kühlen Winterluft. Der König wartete ungeduldig. Und dann flog die Klinge auf den Hy hernieder und trennte dessen Kopf von der Wirbelsäule, aber eben nur soweit, dass er kraftlos nach vorn auf die Brust kippte. Augenblicklich schoss Blut in einer roten Fontäne aus dem Hals und bespritzte die neben ihm stehenden Männer, Frauen und Kinder aus Hy, die erschrocken aufschrien, es aber nicht wagten, zurückzuweichen. Mit einem dumpfen Geräusch fiel der Körper des Getöteten nach vorn auf seinen vor der Brust baumelnden Kopf, und unter der pulsierenden Wunde des Halses bildete sich ein dampfender See auf den Pflastersteinen.
„Was für eine Sauerei!“, zischte Katthike ärgerlich und wich dem Blutstrahl geschickt aus, ehe es sein Gewand besudeln konnte. Blitzschnell hob er dabei sein eigenes Schwert und vollführte einen sauberen, waagerechten Schnitt von links nach rechts. Die Augen des Arbeitssklaven quollen überrascht aus ihren Höhlen, und eine Hand fuhr unwillkürlich an seinen Hals, an dem ein dünner, roter Streifen sichtbar wurde. Dann kippte er nach vorn, und sein Kopf kullerte über das Pflaster, bis er zu Füßen des Generals liegen blieb. Der stieß ihn ungerührt mit der Stiefelspitze fort wie einen etwas zu groß geratenen Kiesel.
„So geht das!“, sagte Katthike abschließend und blickte auf. „Seht ruhig alle hin. Es wird noch sehr viel mehr Blut dieses Pflaster tränken, wenn sich der Schuldige nicht bald meldet!“ Mit einem Tuch, das der General ihm gereicht hatte, wischte er die Schwertklinge sauber, befreite es vom Blut des schmutzigen Sklaven, welches dennoch reiner war als sein eigenes! Dieser Gedanke machte ihn plötzlich erneut rasend und ohne Vorwarnung schlug er mit seinem Schwert zwei Frauen und ein Kind in der ersten Reihe nieder. Wieder ertönten entsetzte Schreie. Der König hatte völlig die Kontrolle über sich verloren und als er erneut ausholen wollte, sprach sein General mit allem gebotenen Respekt, während der Berater Lata im Hintergrund nur weiter sein verächtliches Lächeln zeigte.
„Haltet ein, Eure Majestät! Bitte macht Euch nicht unnötig die Hände schmutzig! Wenn Ihr es wünscht, dann wird die Königliche Leibwache unter meinem Befehl damit fortfahren.“ Katthike sah seinen Obersten General lange bebend an, dann nickte er knapp. Der General gab den Soldaten der Leibgarde ein Zeichen und sie trieben die Hy-Sklaven in eine Ecke des Hofes und den Rest in eine andere, wo sie sich alle auf die kalten Steine knien mussten. Kasai ordnete an, dass jede Stunde jeweils abwechselnd ein Hy und danach ein anderer Sklave getötet werden sollte, bis der Verräter entweder mit unter den Getöteten wäre oder sich stellte.
Der König, dem ein Soldat seiner Leibwache gerade mitgeteilt hatte, dass bei den Quartierdurchsuchungen nichts Verdächtiges gefunden worden war, überließ die Exekutionen dem General und zog sich mit seinem immer noch grinsenden Berater zurück in den Palast.

Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, saß König Katthike alleine grübelnd in seiner Bibliothek, welche mit einer scheinbar wirren Mischung aus Büchern und Landkarten aus den verschiedensten Winkeln des Kontinentes vollgestopft war. Aber alles hatte seine exakte Ordnung, und für Katthike waren die Bücher das, was er schlicht als Quell des Wissens bezeichnete. Sie waren ein Fenster in den Kopf der anderen Völker und deshalb scheute er auch keine Mühen, viele der erworbenen Werke ins Askharische übersetzen zu lassen. Er blickte auf die Reihen der Bücherrücken. Manche waren schmucklos, manche aber auch geprägt, oder gar mit goldenen Mustern verbrämt. Er sog den Geruch nach Pergament und Staub ein. Hier an diesem inspirierenden Ort schmiedete er seine Pläne und heckte seine Grausamkeiten aus; hier war ihm vor vielen Jahren die ehrgeizige Idee gekommen, sich ein Ehrenmal zu erschaffen, welches ihn über alle bisherigen Könige von Askhar erheben und ihn unsterblich machen sollte. Sein unstillbarer Hunger nach Macht und Anerkennung beschränkte schon lange nicht mehr allein nur auf seine eigene Lebensspanne, sondern auch auf die seiner Nachkommen. Sein Name sollte ewig in aller Munde sein.
Und nun war er seinem Ziel endlich einen ersten und entscheidenden Schritt nähergekommen. Die Götter, zu deren begünstigten Söhnen er sich zweifellos zählte, waren ihm durchaus gewogen. Ja, bei all den Triumphen, die er in den vergangenen Monaten errungen hatte, mussten sie ihn wirklich lieben! Er würde sich beeilen, ihnen in den nächsten Tagen ein üppiges Dankesopfer darzubringen und selbstverständlich auch ein erneutes Bittopfer für das weitere günstige Voranschreiten seiner Pläne.
Leider war der Mord an seinem wertvollen Gefangenen ein hässlicher Fehler auf dem makellosen Banner seines Erfolges. Und es wurmte ihn, dass wieder einmal seine Vorkehrungen nicht gut genug gewesen waren. Katthike kratzte mit den Fingernägeln auf der Tischplatte. Diese Nichtsnutze von Wächtern!
Draußen auf dem großen Innenhof fiel derweil der Kopf eines weiteren Sklaven. Nach einem Arbeitssklaven war dieses Mal ein jugendlicher Hy an der Reihe. Es waren sowieso zu viele männliche Hy-Sklaven aus dem Krieg als Gefangene mitgebracht worden. Sie taugten leider nicht viel, nicht einmal für des Königs liebsten Zeitvertreib. Sie waren nur schwer zu bändigen und ließen sich lieber zu Tode foltern, als zu gehorchen. Die Frauen waren da schon gefügiger, und auch der Krieger, der nun leider tot im Verließ lag, war in dieser Hinsicht ganz anders gewesen: Ein äußerst willfähriges Exemplar.
Die Fingerspitzen aneinander reibend blickte Katthike sinnend in die angenehm prasselnden Flammen des Kamins. Die Gedanken an die bevorstehende Verwirklichung seines Plans befriedigten ihn zutiefst. Eigentlich war alles, was er jetzt noch tun musste, warten. Wahrlich, die Götter meinten es gut mit ihm.
Es klopfte an der Tür, und kurz darauf lugte das mit der höfischen Tracht bedeckte Haupt des ersten Beraters durch den Spalt. Nur er allein hatte das Privileg, ohne Erlaubnis die Gemächer des Königs zu betreten. Jeden anderen hätte Katthike persönlich um einen Kopf kürzer gemacht, was er bewiesenermaßen sehr gut konnte. Nicht einmal sein Oberster General Kasai, die Königin oder seine eigenen Kinder hatten dieses Vorrecht, welches nur verdeutlichte, wie hoch er seinen Berater schätzte.
„Eure Majestät, es hat noch immer keiner geredet“, erklärte Lata und meinte damit die auf dem Hof versammelten unseligen Sklaven.
„Ich weiß, komm herein.“
Konsultas Lata nahm die Aufforderung gerne an und setzte sich ganz ungeniert dem König gegenüber an den Tisch, denn das war sein gewohnter Platz.
Nach einer Weile begann Katthike zu sprechen: „Ich denke, ich habe eine Ahnung, wer uns das Ganze eingebrockt hat, aber zuerst möchte ich deine Meinung hören.“
Lata lächelte verhalten, es freute ihn, dass der König ihn um Rat fragte.
„Nun, ich habe gleichfalls einen ganz bestimmten Verdacht, Majestät.“
„Nur raus damit.“
„Es ist ein Außenstehender, keiner aus dem Palast, und ich wage sogar zu behaupten, dass es nicht einmal ein Askharer war.“
Katthike nickte, und Lata fuhr fort: „Wir hatten einen Gast, der ...“
„Der Novize aus Tulga!“, ergänzte der König grimmig und blickte unbewusst auf die Stelle des Tisches, an der noch gestern Abend der Brief Soghuls gelegen hatte. Inzwischen war er im Kamin verbrannt worden. Das war ihm am sichersten erschienen und die paar Zeilen hatte er sich sowieso leicht merken können.
„Dieser fahlhäutige Verräter! Dieser dreckige Dieb!“, zischte er leise und die Wut zuckte erneut durch seine Eingeweide.
Lata schwieg und wartete, die Hände gefaltet auf seinem feinberockten Schoß.
Der Abgesandte des großen Orakels Soghul war am Tag zuvor im Palast erschienen und hatte Katthike zu seiner Freude das überreicht, was viele große Männer begehrten. Stolz war ihm die Brust geschwollen. Doch als er den Brief im zurückgezogenen Alleinsein geöffnet und gelesen hatte, war ihm der Gunstbeweis des Orakels eher wie ein Streich, wie ein hohngleicher Unfug erschienen. Denn die Botschaft hatte nicht seine eigene glorreiche Zukunft zum Inhalt gehabt. Wütend war Katthike aufgebraust und hatte den Brief in zwei Hälften gerissen. In ihm war ausschließlich nur von seinem Sohn die Rede gewesen, seinem jämmerlichen Sohn Kanaima. Katthike hatte es kaum glauben wollen. Ausgerechnet dieser verkrüppelte Taugenichts sollte vom Glück der Götter begünstigt sein? Er hatte die beiden Papierstücke wieder aneinandergehalten und das Geschriebene noch mehrere Male gelesen. Und schließlich war es ihm aufgefallen. Die Prophezeiung hatte nicht von Kanaima, seinem Sohn, gesprochen, sondern nannte einen Sohn. Das war ein großer Unterschied. Erfreut hatte er die Papierfetzen sinken lassen und in den leeren Raum gegrinst. Die Bestätigung, alles richtig gemacht zu haben, hatte ihn durchronnen wie warmer Sirup.
„Nur warum hat er das getan?“ Katthike sah seinen Berater jetzt an, und Lata horchte auf. Nun war wieder seine Meinung gefragt.
„Ich vermute, der Weißling aus Tulga hat im Auftrag des Orakels gehandelt.“
„Wie kommst du darauf?“
„Nur das Orakel konnte wissen, dass Ihr den Hy-Krieger gefangen haltet.“
Katthike blieb still und überlegte. Was brachte es Soghul von Tulga ein, den Tod des Hy zu wünschen? Was hatte das überaus geachtete Orakel mit dieser Sache überhaupt zu tun? Und wer war dieses Orakel eigentlich? Niemand wusste das so genau. Es hieß nur, Soghul sei alt wie ein Felsen lebe und zusammen mit einigen wenigen treuen Novizen in einsiedlerischer Abgeschiedenheit. Und seine erblindeten Augen hätten dieselbe Farbe wie seine Haut: nämlich reinstes, strahlendes Weiß! Aus diesem Grunde wohne er angeblich auch geschützt vor dem Licht der Sonne in einer Höhle tief im Innern des stillen Berges Tulghan, der über einen einzigen steilen, nur seinen Novizen bekannten Pfad zu erreichen war. Das Ansehen, welches das Orakel in allen umliegenden Ländern genoss, war beinahe das eines Gottes in Menschengestalt, und man sagte, seine Visionen verfehlten niemals die Wahrheit.
‚Wir werden es sehen!’, dachte Katthike grimmig und wandte sich wieder an Lata: „Aber für Soghuls Handlanger hätte es genügt, den Hy lediglich zu töten, weshalb hat er auch das Aun mitgenommen? Freilich, es ist aus Gold, aber dessen eigentliche Essenz ist doch schließlich dahin. An einem Toten funktioniert es nicht mehr. Dutzende von diesen Dingern haben wir im Krieg erbeutet, und keiner wurde geschickt, sie zu stehlen. Sie liegen immer noch in meinen Schatzkammern und warten darauf eingeschmolzen zu werden. Was also, war an diesem einen so besonders?“
„Darauf, Majestät, kann ich mir leider auch keinen Reim machen. Und ich fürchte, nur einer wird es uns sagen können: der Novize selbst.“
„Ich habe bereits alles in Gang gesetzt, um ihn zu fangen. Und wenn ich ihn habe, dann werde ich ihn eigenhändig zum Sprechen bringen!“ Katthike schlug mit der Faust auf den Tisch, dass es schepperte.
Lata lächelte unbeirrt und wünschte sich still und mit prickelnder Vorfreude, bei dieser Behandlung dabei sein zu dürfen.
„Soll der General mit den Exekutionen fortfahren, jetzt, da wir wissen, wer der Mörder war?“, fragte er.
„Nein, richte ihm aus, er soll damit aufhören“, brummte Katthike.
„Eigentlich schade! An den Anblick von frisch vergossenem Hy-Blut könnte ich mich gewöhnen. Es ist doch immer wieder ein illustres Schauspiel, wie diese frommen Schafsköpfe sich in ihr Schicksal ergeben“, antwortete Lata belustigt.
Katthike nickte, und ein Lächeln zuckte in seinem Mundwinkel. Lata wusste, dass er dieses Vergnügen durchaus mit ihm teilte. „Du kannst jetzt gehen“, sagte der König und wischte über die Tischplatte.
„Majestät“, empfahl sich Lata und verschwand, wie er gekommen war.
Katthike blickte noch eine Weile auf die geschlossene Türe und sann darüber nach, wie sehr er doch zufrieden damit sein konnte, einen solchen Getreuen wie Lata an seiner Seite zu haben. Er glaubte fest daran, dass es höhere Bestimmung gewesen war, die ihm diesen speziellen Mann in die Hände gespielt hatte. Konsultas Lata war einzigartig in seinen Eigenschaften und ein unaufhörlich sprudelnder Quell an neuartigen Gedanken. Er war erfrischend ehrlich, schlau und gerissen! Ja, dessen brillante Vorschläge übertrafen so manches Mal seine eigenen sogar noch an Grausamkeit.
Ohne große Mühen hatte Katthike ihn sich zu einem kostbaren Kleinod zurecht geschliffen. Und Lata war dabei weit mehr geworden, als nur ein loyaler Diener, der ständig vor ihm den Kratzfuß machte wie all die anderen Gecken bei Hofe: Der Konsultas war ein Freund. Neben General Kasai, der einzige Freund, dem Katthike sein Vertrauen schenkte. Das einzig Bedauerliche an Lata war nur, dass er kein Askharer war. Bei diesem Gedanken verzog König Katthike ein wenig das Gesicht. Es war wirklich zu schade! Er erhob sich. Wichtige Dinge standen jetzt an.
Als er zu den Sklaven auf den Hof trat, fiel gerade der Kopf eines weiteren Mannes, eines alten Greises, der ohnehin zu nichts mehr zu gebrauchen war. Lata hatte sich offensichtlich das Vergnügen gegönnt, noch eine weitere Exekution durchführen zu lassen. Der knochige Körper des Mannes verursachte kaum ein Geräusch, während er welk wie ein Blatt im Herbst zur Seite auf die Steine sank. Das dunkelrote Blut tröpfelte nur lustlos aus seinen vertrockneten Adern. Lata stand abseits und lächelte seltsam hingerissen.
Katthike rümpfte die Nase. ‚Diese alten Tagediebe von Sklaven sollte ich bisweilen sowieso alle abschaffen’, dachte er, ‚sie kosten nur.’
Der ausführende Soldat wischte die Klinge seines Schwertes ab, nahm Haltung an und grüßte seinen Herrscher. Der König ignorierte ihn und trat zu General Kasai. Er erkundigte er sich nach dem Stand der Suche nach dem Weißling. Doch Kasai konnte noch nichts Neues berichten. Der Novize aus Tulga und das Aun des Hy-Kriegers blieben verschwunden.

*



Das Aun des Setna von Hy befand sich sicher in einer Tasche, die er eng am Körper trug. Sorgha, Novize von Soghul, saß geduckt auf seinem schweißnassen Pferd, das in vollem Galopp über die mit Frost bedeckte Ebene flog. Sein weißes Mönchsgewand flatterte wild im kalten Wind. Er hatte einen halben Tag Vorsprung. Wenn entdeckt werden würde, dass er dem Prinzen von Hy geholfen hatte, wäre er längst am Hafen von Kantaka-Stadt, wo er an Bord eines graçenischen Handelsschiffes gehen würde. Das Schiff sollte noch in der kommenden Nacht nach Salapolis in Graçe auslaufen. Doch vorher würde er noch die Kleidung wechseln und mit einem kleinen Kunstgriff zu einem graçenischen Handelsmann werden. Niemand würde ihn mehr erkennen, es war alles gut vorbereitet worden. Sorgha wusste nicht genau, warum gerade dieses Aun so bedeutungsvoll war, aber dass sein Meister soviel Aufwand betrieben hatte, um es zu bekommen, hatte ihm schon als Grund genügt, dessen Bitte Folge zu leisten und nach Askhar zu reisen - auch wenn er dabei sein Leben riskierte.
Wiederholt dachte Sorgha an das, was er letzte Nacht erlebt hatte und was er nicht mehr würde vergessen können, so tief war es in seinem Gedächtnis eingebrannt.
Es hatte damit begonnen, dass er kurz nach Mitternacht, nachdem die Wachablösung stattgefunden hatte, wie ein Schatten in das abgesonderte Verlies im Westturm des Palastes geschlichen war. An den vorderen Wachsoldaten war er mühelos vorbeigekommen, aber den Wächter, der die Zelle des Prinzen bewacht hatte, hatte er gewaltsam beseitigen müssen. Die Tür war schwer, aber sie ließ sich mit dem Schlüssel des Toten öffnen. Mit einer Öllaterne in der Hand betrat Sorgha schließlich den Kerkerraum. Erschrocken sah er sich dort einem geschundenen, jungen Mann gegenüber, der das Oberhaupt Hys sein sollte. Bewegungsunfähig lag er auf dem schmutzigen Zellenboden und konnte lediglich seinen Kopf in Richtung des überraschenden Besuchers drehen. Sorgha sah unzählige Male grausamer Folterungen am Körper des Gefangenen. Seine Fingerkuppen waren blutig geschwollene Stümpfe, ohne Fingernägel, und schwärende, von glühenden Eisen stammende Wunden übersäten seine Arme. Bei dem Gedanken daran, was sich wohl noch alles unter dem fleckigen Leinenhemd des Gefolterten befinden mochte, überkam Sorgha ein Schauer, und erst jetzt traf sein Blick auf den des Prinzen. Verzweiflung und Schmerz verschwammen in dessen Augen zu einem trüben Schleier, doch dahinter konnte Sorgha deutlich die Entschlossenheit eines Kriegers aufflackern sehen. Noch war der Mann vor ihm nicht gebrochen, noch war er nicht bereit aufzugeben. Aber es würde mit Sicherheit nicht mehr allzu lange dauern, bis er den Martern seiner Foltermeister erliegen würde, die zweifelsohne stets darauf bedacht waren, ihrem Opfer nur Verletzungen zuzufügen, die nicht tödlich waren. Mit allergrößter Mühe und unter offensichtlichen Schmerzen setzte sich der Setna auf. Sorgha legte ihm ein Messer in die zitternde Hand, ohne zu wissen, ob der Prinz es überhaupt würde halten können. Allein der bloße Anblick seiner wunden Finger bereitete Sorgha innere Qualen. Doch die Finger des Setna schlossen sich schließlich fest um den Griff, und seine Augen blitzten dankbar auf. Sorgha konnte trotz der Pein spüren, welch spirituelle Kraft in dem Prinzen wohnte und Ehrfurcht erfüllte ihn ob der Gegenwart der Gabe des Geistes, die aus diesem Manne sprühte. Eine geheimnisvolle Aura umhüllte ihn, und sein Aun reflektierte blinkend den Schein der Öllaterne, die Sorgha an der Tür abgestellt hatte.
„Vergebt mir, Setna von Hy, dass ich nicht mehr für Euch tun kann als dies“, sprach Sorgha leise, sein Haupt gesenkt und die Hände aneinandergelegt, „aber Ihr könnt unbesorgt sein, Euer irdisches Erbe wird bei mir in sicheren Händen sein. Soghul von Tulga schickt mich, es zu ihm zu bringen!“
Der Setna kämpfte um Atem für eine Antwort und brachte die Worte mit schleppender Stimme hervor: „M-mein Name ist Raeson. Bitte, nenn mich Raeson. Ich bin es nicht würdig, dass du mich mit Setna ansprichst, denn ich ... ich habe versagt! Ich habe es nicht sehen und mein Volk nicht beschützen können, wie es eigentlich meine Aufgabe gewesen wäre!“ Tränen rannen ihm unkontrolliert über das Gesicht, und seine Hände begannen erneut heftig zu beben. Sorgha fragte sich erneut besorgt, ob der Prinz es überhaupt allein schaffen würde, sich das Leben zu nehmen. Das Orakel hatte ihn zwar darauf vorbereitet, notfalls mit Hand zu anzulegen, aber dennoch graute ihm davor.
„Verehrter Setna, Ihr habt nicht versagt!“, versuchte er, Raeson zu beruhigen. „Allein Al Nor, der erhabene Hüter der Zukunft, entscheidet, was wir sehen sollen und was nicht. Auch mein großer Herr und Meister Soghul hat es nicht sehen können. Aber diesmal ist es das Schicksal selbst gewesen, das die Tür zur Zukunft fest verschlossen gehalten hat, und gegen den Willen der höheren Mächte sind selbst unsere Götter machtlos. Doch der Wille des Universums muss geschehen, damit daraus andere Elemente neu geboren werden können!“
Der Setna sah ihn an, sein Blick hatte sich etwas geklärt. „Verbündeter der Zukunft“, sagte er mit festem Ton, „der Geist Hyauns und Sein Volk werden es dir danken, dass du die Gefahr hierher zu kommen, auf dich genommen hast!“
Sorgha nickte traurig, denn ihm war klar, was nun folgen würde.
„Verlieren wir also keine wertvolle Zeit mehr!“, flüsterte Raeson und schloss für eine Weile wie in Meditation die Augen. Danach setzte er sich mit letzter Kraft das Messer an die Brust. Kaum einen Liedschlag später drückte er sich ohne zu zögern die schmale Klinge zwischen die Rippen in sein Herz. Sorgha, der derweil taktvoll die Augen geschlossen hielt, hörte nur ein leises Seufzen, und als er sie wieder öffnete, war Raeson bereits tot zu Boden gesunken. Sanft glommen seine Konturen im Halbdunkel des Kerkers wie verhaltenes Mondlicht, das durch Wolken schimmert. Sorgha fühlte sich den Tränen nahe, so sehr berührte ihn der Mut und das Schicksal dieses Mannes, der sich für sein Volk geopfert hatte. Er sprach er ein stilles Gebet für die Seele Raesons und verneigte sich dann respektvoll.
Anschließend machte er sich vorsichtig daran, mit einem Spezialwerkzeug, welches aus Hy stammte, dem Prinzen das Aun von der Stirn zu lösen. Es war noch warm, als er es schließlich in den Händen hielt. Rasch ließ er den dünnen, goldglänzenden Stirnreif in der geheimen Tasche unter seinem Gewand verschwinden und eilte aus dem bedrückenden Gewölbe des Verlieses. An der Tür drehte er sich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf das Gesicht des Toten. Er wollte es sich einprägen. Die leuchtende Aura des Setna war nur noch eine vage Ahnung, und seine Züge wirkten jetzt entspannt und gelöst. Die Verzweiflung war der Erleichterung gewichen.
Noch in derselben Nacht hatte Sorgha, wie er es König Katthike zuvor angekündigt hatte, seine Rückreise angetreten und den Palast schon lange verlassen, als Raesons Tod dort entdeckt wurde.

Sorgha zügelte sein Pferd am Rande eines kleinen Ginsterwäldchens. Fast träge versank die fahle Sonne am Horizont im blauvioletten, winterlichen Dunst. Er schätzte, dass er nur noch knappe zwei Stunden bis zur Hafenstadt brauchen würde, trotzdem gönnte er sich und dem erschöpften Pferd einen kurzen Moment Pause. In den kahlen Büschen wechselte er seine Kleidung. Weiß leuchtete seine nackte Haut in der kalten Dämmerung, und Sorgha freute sich, als er sich endlich in die wärmende graçenische Tracht hüllen konnte, die Tasche mit dem Aun hatte er selbstverständlich immer noch eng um seine Brust geschlungen. Danach entknotete er ein anderes kleines Bündel und mehrere Döschen kamen zum Vorschein. Sie enthielten verschiedenfarbige Schminke und Pülverchen und waren eigentlich Utensilien, wie sie für gewöhnlich die Frauen aus Tan und Graçe gebrauchten. Sorgha nahm einen kleinen Spiegel aus poliertem Silber aus demselben Bündel und begann sich mit einer leicht bronzefarbenen Schminke gleichmäßig sein gesamtes Gesicht abzudecken. Danach trug er mit einem buschigen Pinsel aus Marderhaar noch etwas hautfarbenes Puder auf. Die Lippen bekamen etwas mehr Rot, und die Augenbrauen und Wimpern wurden mit einem Kohlestift dunkel eingefärbt. Anschließend betrachtete Sorgha sein neues Spiegelbild und war sehr zufrieden über seine Verwandlung. Er zog sich den Kragen des Mantels eng um den weißen Hals, wickelte sich ein Tuch um den kahlen Kopf und setzte darauf den traditionellen, breitkrempigen Filzhut der Handelsfahrer aus Graçe. Dann verstaute er die Schminkutensilien wieder in dem Bündel. So lange er nicht außer Gefahr war, würde er seine Tarnung stets auffrischen müssen.
Nachdem er noch eine Weile nachdenklich in das restliche Licht des Tages gestarrt und sich gefragt hatte, wann es das letzte Mal hier im Süden des Kontinentes wohl einen so eiskalten Winter wie diesen gegeben hatte, zog er die ledernen Handschuhe über, stieg in den Sattel und ritt weiter nach Nordwesten. Die ersten Sterne erschienen bereits hart und klar am Himmel. Auch der Vollmond würde bald aufgehen.

Bei Sonnenaufgang befand sich das Schiff mit dem falschen Graçener bereits mitten auf dem Alten Grenzmeer, wie die Meeresstraße zwischen dem ehemaligen Gebiet Hys und Askhars mittlerweile genannt wurde. Die Küsten zu beiden Seiten des Schiffes waren jeweils nur noch ein schmales graues Band, und wenn erst die Neubesiedelung der eroberten Provinzen begonnen hätte, würde regelmäßiger Fährverkehr sie an der schmalsten Stelle im Nordosten miteinander verbinden.
Die winterliche See war selbst hier auf dem Binnenmeer rau, und schwer stampfend bahnte das Schiff sich mit geblähten Segeln seinen Weg nach Graçe. Sorgha war erleichtert, trotz der fürchterlichen Seekrankheit, die ihn leiden ließ. Er hatte es geschafft seine Verfolger abzuhängen. Doch musste er weiterhin vorsichtig sein, denn der lange Arm Askhars reichte mittlerweile bis nach Graçe. Das vereinte Königreich hatte kurzerhand ein Handelsbündnis mit den Askharern abgeschlossen, die im vergangenen Sommer durch die Eroberung der südlichen Provinzen Hys so überraschend zu Nachbarn geworden waren. Und in den Küstenstädten Graçes, welche die großen Handelszentren des Landes bildeten, liefen seit kurzem auch askharische Schiffe ein. Es wimmelte dort von askharischen Händlern. Die Geschäfte zwischen den beiden Königreichen liefen gut. Doch der Großkönig von Graçe behielt auch weiterhin ein misstrauisches Auge auf die neuen Beziehungen. Manche nannten ihn einen schwachen König, denn seit seiner Amtseinführung hatte Graçe keinen Krieg mehr geführt. Aber eigentlich war es genau jener Sinn für Handel und Diplomatie, welcher die Graçener seither vor Not und kostspieligen Konflikten bewahrt hat. Graçe war ein blühendes Reich und sollte es auch bleiben. Deshalb war ein Bündnis mit Askhar nur recht und billig.
Der Wind stand günstig, und so passierte das Handelsschiff zu Beginn des zweiten Tages auf See die Meerenge von Dardanaskh, welche das Alte Grenzmeer mit dem Mittleren Meer verband. Traurig beobachtete Sorgha die immer enger werdenden Küstenlinien zu beiden Seiten des Schiffes. Zu seiner linken Hand befand sich das Königreich Askhar und zu seiner rechten die langgestreckte Halbinsel Dardane der ehemaligen Hy-Provinz Dane. Gegen den eisigen Wind blinzelnd konnte Sorgha in der Ferne am Ufer die einstigen Grenzwachttürme der Hy sehen. Die mächtigen strahlend weißen Türme säumten wie Perlen an einer Schur die gesamte Küstenlinie. Kaum ein Feind war einst an ihnen vorbeigekommen. Doch dann hatte das Schicksal sich gewendet. Die Stärke Hys war einen winzigen Moment ins Wanken geraten, und die Türme waren gefallen. Nun gehörten sie unwiederbringlich dem Feind.
Die Erinnerung an Prinz Raeson überkam Sorgha, und er musste sich beherrschen, wegen seiner aufbrodelnden Gefühle nicht aufzufallen. Ihm fröstelte, und Übelkeit schaukelte in seinem Magen das spärliche Frühstück hin und her. Er zog seinen klammen Mantel fester zu und ging unter Deck.
‚Verdammte Seekrankheit!’, dachte er wehleidig, als er in seine viel zu enge Koje kroch und auf den erlösenden Schlaf wartete, das Aun fest an seine Brust gedrückt.
Fast lautlos glitt das Schiff durch die Mündung der Passage ins offene Meer und ließ Askhar stetig weiter hinter sich.

Nur zwei Tage später lief das Schiff im Hafen von Salapolis in Graçe ein. Unerkannt ging Sorgha von Bord und sah sich vorsichtig im Hafen um. Die Nachricht über die Suche nach einem Novizen aus Tulga war wohl noch nicht bis hierher vorgedrungen. Doch das beruhigte ihn nur wenig, denn die Fänger des Königs von Askhar konnten schon auf dem nächsten Schiff sitzen, das dort vor der Küste kreuzte! Er musste Salapolis so schnell wie möglich verlassen. Ohne große Umwege begab er sich zum Viehmarkt und kaufte sich dort ein gutes Pferd. Unauffällig verließ er die Stadt in Richtung Norden. Vor ihm lag ein sehr langer Weg von vielen Tagesritten. Dabei hielt er zu der Grenze im Osten, hinter der das Neue Askhar lag, sicherheitshalber einen gehörigen Abstand.
Zwei Tage und Nächte ritt er durch und machte erst dann eine Pause. In einem kleinen Wäldchen wechselte er erneut seine Kleidung, wusch sein Gesicht und verwandelte sich wieder in einen weißhäutigen Novizen aus Tulga. Das würde ihm von jetzt an mehr Vorteile bringen, da die Abgesandten des Orakels stets und überall freies Wegerecht hatten und ihnen bereitwillig Unterkunft bereitgestellt wurde. Die Kleider und die Schminkutensilien versteckte er in einem Haufen aus froststeifen Blättern. Er brauchte sie nicht mehr. Nachdem er auch noch etwas von seinem Proviant gegessen hatte, setzte er seinen Weg schließlich fort.
Er hielt sich entlang der Flusstäler, deren Hänge immer steiler wurden und mit immer mehr Schnee bedeckt waren. Auch rastete er nur so lange, wie es nötig war, und wechselte in einer kleinen Stadt noch einmal sein Pferd. Nach einer Woche verließ er die nördliche Route und lenkte sein Pferd nach Osten die vereisten Pfade hinauf ins Karpos-Gebirge. Und dann endlich, traf er an dem einzigen Grenzübergang zwischen Graçe und Hy ein. Vor ihm ragten die schneebedeckten Spitzen des Gebirges auf, durch das sich weiter oben ein kleiner Pass nach Hy wand.
Am graçenischen Grenzposten ließen die frierenden Zöllner Sorgha unbehelligt passieren. Die letzten Meilen des schmalen Weges trieb er sein Pferd im müden Trab hinauf. Es ging immer steiler bergan, und der Schnee wurde tiefer. Jedes Mal, wenn er die Bergschulter hinauf sah, war vor ihm nichts als eine weiße Wand, an der sich die Serpentinen gerade eben festzuklammern schienen. Trotz der Kälte brach Sorgha der Schweiß aus. Wo war die Mauer mit dem Tor nach Hy? Er trieb sein Pferd bis an den Rand der Erschöpfung und es tat ihm weh, das Tier so zu schinden. Keuchend vor Anstrengung überwand es die letzte Biegung und stieß über den Rand eines kleinen Hochtales. Vor ihm ragte eine mächtige, schwarze Mauer auf, in deren Mitte ein massiver, weißer Turm stand. Sorgha steuerte auf das Tor zu, welches in der Grundfeste des Turmes eingelassen war. Es war das letzte Tor, das die Hy noch nach Westen geöffnet hielten. Alle anderen waren im Laufe der Vergangenheit zugemauert worden. Aber aufgrund des wachsenden Einflusses von Askhar auf Graçe war es womöglich nur noch eine Frage der Zeit, bis auch dieses Tor für immer verriegelt werden würde. Sorgha hielt vor der schweren Pforte, und ohne, dass er etwas gesagt hatte, öffnete sich einer der großen Flügel. Er ritt hindurch, und Fackellicht empfing ihn in dem dunklen Gang, der unter dem Turm hindurchführte. Ein Hy-Krieger kam auf ihn zu und nahm wortlos die Zügel seines Pferdes. Hinter ihm schloss sich die Tür mit einem Krachen. Sorgha hörte, wie mehrere schwere Riegel vorgeschoben wurden. Der Hy-Krieger führte ihn durch zwei weitere Tore, die sich im Innern des Ganges befanden, dann erreichten sie die andere Seite. Erst jetzt sprach der Krieger ihn an: „Sei willkommen, ehrwürdiger Diener Soghuls. Wir haben Euch erwartet. Ihr seid jetzt in Sicherheit hinter den Mauern von Hy, für die wir uns verbürgen. Aber ich muss Euch darauf hinweisen, dass diese Sicherheit gefährdet ist, wir haben Krieg!“ Er war ganz in das bedeutsame Schwarz gekleidet, das alle Krieger seines Volkes trugen, und sein der Kopfform angepasster, silbern glänzender Helm wirkte wie angegossen, gleich einer zweiten Kopfhaut. Auf der Stirn leuchtete sein Aun, das wie ein Zierband des Helmes wirkte, doch Sorgha wusste, dass es vielmehr direkt an der Stirn befestigt und zu einem Teil seines Körpers geworden war.
„Ja, ich danke Euch, Banskeid“, nickte Sorgha, als er die weich klingenden Begrüßungsworte vernommen hatte, und stieg erleichtert von seinem Pferd. Ein anderer Hy führte es sogleich in den Stall auf der Rückseite der Grenzmauer. Der Krieger, der Sorgha auf einmal recht jung erschien, war lediglich mit einem Schwert bewaffnet, das er hinten in seinem Gürtel trug. Er führte ihn hinauf in den angenehm geheizten Turm, wo er ein gastlich eingerichtetes Zimmer zum Ausruhen erhielt. Sorgha war sehr müde, doch zuerst wollte er noch einen Blick zurück werfen. Als er allein war, ging er an die Fenster eines hölzernen Erkers. Unter ihm tat sich das Tal auf, das nach Graçe führte. Gedankenvoll tastete er nach dem Aun an seiner Brust. Es war in Sicherheit und seine Aufgabe beinahe erfüllt.

3. Kapitel



„Es war im Mond des Adlers, im dritten Jahre der Regentschaft Seiner glanzvollen Erhabenheit, König Katthike, aus dem Hause Buthwal-Renandi, als im Nebel der Nacht, der Mond verhüllt, sechs mal sechs Schiffe, an den Masten die Wimpel mit der Schlange des unvergänglichen Reiches, auf Fahrt gingen. Die Segel gleich dunklen Schwingen, die Ruder flink wie schlagende Flossen, glitten die Schiffe heimlich über das schwarze Wasser des Grenzmeeres. In ihren Bäuchen sechzig mal sechzig Männer, nur mit dem einen grimmigen Wunsch in ihren Herzen: Zu siegen für ihren König.
Den Kampfschrei auf den Lippen und das Schwert fest in der Faust überraschten sie die Feinde im Schlaf, jagten sie aus ihren warmen Betten, die arglosen Narren, und trieben sie mit Rauch und Feuer aus ihren Türmen wie den Dachs aus seinem Bau.
Nicht aufzuhalten war sie, die herrliche Armee des Königs. Sie nahm die Türme und drang dem Nordstern entgegen immer weiter vor auf fruchtbarem Mutterboden, hetzte das hyaunische Volk vor sich her: Eine fliehende Brandung aus Menschen, doch hingeschlachtet unter dem gerechten Zorn der königlichen Hand Askhars.
Rot war die Farbe des Triumphes, rot tränkte das Blut der Feinde die Erde, und rot strahlte der Himmel am Abend der Schlacht. An den Feuern wurde der Sieg gefeiert, besungen der Krieger Mut. Hernach tiefer in der Nacht beratschlagten sich die Generäle an der Glut.
Das große Gebirge war kein Leichtes. Es war scharf und gezahnt: Der Fang eines Wolfes. Grau und unüberwindlich war die Schürze seines felsigen Kleides und tückisch grundlos die Schlünde und Schluchten. Doch an einem Orte öffnet es einladend seine Arme und lässt sie hindurch die Menschen, und hinüber über seinen Rücken. Ein breiter Pass, hinter dem es sich aufschließt, das hyaunische Herzland, ungeschützt wie der Schoß einer Jungfrau.
Doch wie tollwütige Ratten auf der Schwelle zum Verließ wehrte sich der Feind. Er kratzte und spuckte, biss und spie, hielt sich hartnäckig im Schutze der Felsen. Wollte der große, graue Wolf dieses Ungeziefer nicht endlich aus seinem Pelz schütteln?
Abermals berieten die Generäle mit hochroten Köpfen, der König der Askharer in seiner Schlauheit aber befahl den Rückzug.
Nur zum Scheine natürlich, um sie zu narren, die einfältige Schar der Schwarzwämse.
‚Geduld’, sagte er, ‚Geduld.’ Der Tag würde kommen, an dem die mächtige Faust Askhars sie trifft, ganz unvorbereitet im Schlaf. Und dann werden sie wieder fallen aus ihren Betten und jammern und wehklagen: ‚Oh, weh! Was nun?’
Und so appellierte der König an seine tapfere Kriegerschar, Geduld sei des großen Adlers Strategie und aller Feldherren höchste Tugend. Lasset ihn also kreisen, den ehrwürdigen Greifen, den Altvater aller Urwelten, denn seine scharfen Augen kennen die Stunde, in der es Zeit sein wird, herabzustoßen und die Klauen in das Opfer zu schlagen.
Nachdem der König gesprochen, wandte er sich um, über seinem strahlenden Haupte der Schatten des gewaltigen Vogels, und schaute frohlockend zurück auf das Land, welches nun sein: Goldgelbe Weizenfelder, so weit ein Pferd seinen Reiter tragen kann; Vieh und köstliche Weideländer; üppige Gärten und Weiler; dichte Wälder von kräftigem, urtümlichem Wuchs und reich an aller Arten Getier; Flüsse und Berge voll mit seltenen Erzen; und natürlich das sagenhafte Gold der hyaunischen Tempel.
Und er hob die Stimme und rief: ‚Dies alles, mein geliebtes Volk, schenke ich dir. Du sollst es hegen und beackern mit stolzer Hand und einfahren reiche Ernte. Pflanze den Samen in den Schoß der neuen Braut, auf dass Askhar noch größer und stärker werde und leuchte über die anderen Völker des Freien Ostens!’“
Der Chronist hatte beim Lesen rote Ohren bekommen und sah nun von der Schrift auf, die er in den vergangenen Wochen angefertigt hatte. Bang blickte er den König an, der zurückgelehnt in seinem Stuhl saß und sich nachdenklich über den schwarzen Kinnbart strich. Doch wie aus dem heiteren Nichts landete plötzlich dessen Faust auf dem Tisch. Das Tintenglas hüpfte gefährlich.
Der Chronist, ein schmales Männlein im schlichten Schreiberrock, fuhr zusammen.
„Ge-gefällt es Euch etwa nicht, Majestät?“, fragte er vorsichtig und verdeckelte mit der Linken schnell die Tinte.
„Oh, doch. Es ist hervorragend. In der Tat gut formuliert, mein Bester!“, lobte Katthike ganz ungewöhnlich heiter.
„Ich soll also nichts ändern?“
„Nur das mit dem ‚hinschlachten’ klingt vielleicht etwas zu anstößig. Denk dir etwas Schöneres aus. Den Rest kannst du genau so Wort für Wort in die Große Chronik einfügen. Sie soll ja schließlich vollständig sein. Ach, und lass am Ende noch etwas Platz. Das letzte Kapitel ist noch nicht geschrieben!“
Der Chronist schaute den König fragend an, und Katthike freute sich, wieder einmal einen Menschen in den Zustand der Verständnislosigkeit versetzt zu haben.
„Du brauchst gar nicht so zu gucken, alter Tintenkleckser. Noch diesen Winter werde ich das Kapitel Hy ein für alle Mal beenden. Meine Befehle sind bereits zusammen mit General Kasai dorthin unterwegs. Das wird mein Meisterstück!“ Wieder krachte die Hand auf den Tisch, und der Chronist zog den Kopf ein.

*



Ruckartig erwachte der neue Setna von Hy aus seinem Schlaf. Orientierungslos starrte er ins Dunkel. Doch dann kam die Erinnerung: Er hatte geträumt. Und das, was er geträumt hatte, war wichtig gewesen! Angestrengt rief er sich die verschwommenen Bilder wieder ins Gedächtnis. In den vergangenen Tagen war er binnen kürzester Zeit von den Palansetna-Priestern ohne die sonst üblichen Zeremonien und Feierlichkeiten in seine neue Aufgabe eingewiesen worden. Er hatte lernen müssen, die Visionen, die er nun, da er erwählt worden war, zu empfangen vermochte, von normalen Träumen zu unterscheiden und darüber hinaus auch noch deren wahre Bedeutung herauszufiltern. Es war schwer gewesen, die Gabe des Geistes zu kontrollieren, doch die Palansetna-Priester hatten ihm Beistand geleistet, um diese verantwortungsvolle Aufgabe so schnell wie möglich meistern zu können. Und jetzt war er der neue Setna, und Hyaun forderte mit dringlicher Stimme, dass er seine Pflicht erfüllen solle. Er ließ sich die Bilder noch einmal durch den Kopf gehen. Sie zeigten eine Armee im Anmarsch durch Schnee und Eis, eine rotschuppige Schlange mit Flügeln und einer kleinen goldenen Krone, die sich durch eine weiße Berglandschaft schlängelte, und einen über allem in der Luft kreisenden Raben.
Die Armee war zweifelsohne die von Askhar und die Schlange stand als Symbol für sie. Das konnte nur einen neuen Angriff Askhars bedeuten. Nur gut, dass die Clans des Südens schon fast alle über den Nori geflüchtet und vorerst aus der unmittelbaren Gefahr waren. Was aber hatte der Rabe zu bedeuten? Der neue Setna schloss die Augen, und in seinem Geiste tauchte der schwarze Vogel auf. Still zog er seine Kreise über den schneebedeckten Gipfeln des Junghal-Gebirges. Mehr tat er jedoch nicht, nur kreisen und beobachten. Der Rabe war das heilige Tier der Hy, er galt als Gehilfe Hyauns, war dessen Wächter. Doch was sollte er in diesem Zusammenhang bedeuten? Stand er stellvertretend für das ganze Volk Hy, oder schickte Hyaun ihn als persönlichen Boten?
‚Ich muss es herausfinden’, dachte der Setna angespannt, er hatte Angst, seiner immensen Verantwortung nicht nachkommen zu können, so wie der Setna vor ihm. Er rieb sich die Schläfen. Hoffentlich war ihm nichts von dem entgangen, was er geträumt hatte. Seine Finger berührten sein Aun, und als ob sie damit einen Kontakt zu seinem Geist hatten herstellen können, zuckte vor seinem inneren Auge ein jäher Lichtblitz durch das Bild mit dem Raben. Die Vision schien sich zu wiederholen. Der Rabe flog und flog. Plötzlich spürte der Setna, dass er dorthin gezogen wurde, und mit einem Mal waren die Augen des Raben seine eigenen Augen und dessen Schwingen seine Arme. Langsam glitt er über die Landschaft hinweg. Unter ihm stachen die kalten Spitzen des Junghal empor, und wie ein dünnes Rinnsal aus Blut schlängelte sich die Armee Askhars durch den hohen Schnee, Mann hinter Mann. Er konnte sehen, wie die Soldaten in ihren roten Rüstungen am Fuß des Passes Aufstellung bezogen, und wie dort die Krieger Hys hinter ihren provisorischen Barrikaden lauerten. Der Rabe, mit dem der Setna eins geworden war, ließ sich tiefer sinken, und als er zwischen den schneeschwangeren Steilhängen kreiste, streifte er zufällig mit seiner Flügelspitze eine der jungfräulich glitzernden Flächen. Erst war da nur ein kleiner Schnitt in der sonst unberührten, weißen Decke, doch dann ertönte ein tiefes Grollen und der Schnitt riss auf. Danach war alles weiß. Der Himmel, die Luft, die Erde, alles.
Der Setna öffnete seine Augen. Die Bedeutung der Vision war ihm nun klar. Schnell setzte er sich auf und dankte Hyaun für Seinen weisen Ratschlag. Das war womöglich ihrer aller Rettung. Dann sprang er aus dem Bett, und noch während er über sein Aun eine Botschaft an seine Krieger sandte, zog er sich an und bereitete sich auf seine Abreise vor. Die Wintersonne würde sich zwar erst in ein paar Stunden aus den nächtlichen Nebeln über den Horizont erheben, aber es war Eile geboten. Zehn Tagesritte waren es bis zur Grenze und es würde dauern, bis alle Krieger dort versammelt wären. Auf der anderen Seite der Berge würden sie dann auf die Askharer warten und die Falle zuschnappen lassen.

*



Fast zur gleichen Zeit erreichte weit im Norden in den Bergen von Ghor ein Reisender, der wie ein weißes Phantom einmal quer durch die verschneiten Wälder Hys geritten war, den stillen Berg Tulghan. Seine Reise war zu Ende, genau dort, wo sie auch begonnen hatte, und seine Aufgabe war erfüllt! Seine wertvolle Fracht legte er mit zurückhaltender, aber dennoch großer Erleichterung in die Hände des großen Orakels. Das Aun des Prinzen Raeson war endlich an dem Ort angekommen, an dem es seine neue Form und Bedeutung erhalten würde! Im heißen Schmiedefeuer lag nun seine künftige Bestimmung. Und so wurde es eingeschmolzen und neu gegossen. Unermüdliche Schmiedehämmer gaben ihm seine Härte und geübte Hände den letzten Schliff. Goldschimmernd lag es schließlich wieder in Soghuls knorriger, weißer Hand und flüsterte ihm ganz leise sein verheißungsvolles Versprechen zu. Behutsam schlug das Orakel es in ein samtenes Tuch und verwahrte es in einer kleinen Holzschatulle sicher in einer Kammer tief im Berg. Dort wartete es schlummernd auf den Tag, an dem das Versprechen eingelöst werden sollte.

*



General Kasai blickte nach Norden auf die vereisten Höhenzüge des Junghal-Gebirges. Der Eingang zum Pass, den die Hy Doban nannten, lag direkt vor ihm. Direkt hinter ihm wartete die Armee des Königs. Katthike selbst war nicht anwesend. Er war in der Hauptstadt Askhari-Kaise geblieben. Auch wenn Kasai wusste, dass der König aufgrund der Kälte und des Schnees nicht mitgereist war, war er darüber alles andere als unglücklich. Dass der König ihm das alleinige Kommando über die Armee in die Hände gelegt hatte, ehrte ihn nur umso mehr. Katthike vertraute ihm, und das war gut. Kasai lächelte in das Licht des kalten Tages. Die Aussicht darauf, dass ihm niemand in sein blutiges Handwerk pfuschen konnte, hob die Laune des Generals. Hier war er in seinem Element, hier schnatterten keine altklugen Berater dazwischen, wurden keine gegenläufigen Meinungen geäußert und keine aufreibenden Debatten geführt. Hier herrschte er, und nur er! Und diesmal würde der Triumph ihm allein gehören und nicht wie letztes Mal fälschlicherweise einem anderen zugeschrieben werden. Mit knirschenden Zähnen dachte er an die Kränkung, die ihm im Sommer wiederfahren war, als der König den Erfolg des großen Feldzuges, in dem sie das südliche Hy erobert hatten, doch tatsächlich dem ersten Berater Lata beigemessen hatte. Eine grobe Ungerechtigkeit. Wer hatte denn all die Taktiken entworfen und sie gedeihlich in die Tat umgesetzt? Und wer hatte sich schon unter Katthikes Vater, König Buthwal III., einen Namen auf dem Schlachtfeld gemacht? Dieser dahergelaufene, ausländische Hund von einem Konsultas war es bestimmt nicht gewesen! Der hatte doch nichts weiter getan, als bloß großspurige Reden zu schwingen, und als es um das Praktische ging, um das schmutzige Geschäft des Krieges, bei dem Kasai stets selbst Hand anlegen und seine Haut zu Markte trug, da hatte Lata sich fein im Hintergrund gehalten. Kasai musste sauer aufstoßen. In seinem Magen kochte es jedes Mal über, wenn er an seinen Erzrivalen bei Hofe dachte. Es war ihm ein gewaltiger Dorn im Auge, das Vertrauen des Königs mit einer solch zweifelhaften und ehrlosen Kreatur wie Lata teilen zu müssen. Zugegeben, dass dieser es vor einigen Jahren in Borgossa, einer Freien Stadt an der Küste des Mittleren Meeres, geschafft hatte, die geheimen Baupläne für die großen Kriegsschiffe an sich zu bringen, mit denen die Königliche Armee im Sommer über das Grenzmeer gesetzt war, war schon nicht zu verachten gewesen. Wie er dies allerdings gemeistert hatte, war Kasai ein Rätsel. Wahrscheinlich hatte Lata pures Glück gehabt, und nur der König wusste genau, wie es dazu gekommen war. Es konnte aber auch sein, dass nicht einmal Katthike eine Ahnung davon hatte, und Lata dieses Geheimnis wie so viele andere auch für sich behielt. Über Lata war allgemein nicht viel bekannt. Gerade mal, dass er aus Graçe stammte und dort ein Handelsfahrer im Teegeschäft gewesen sein sollte. Dieser dreckige Strolch, dachte Kasai, irgendetwas stimmte mit ihm nicht, und auch wenn der König es tat, vertraute er ihm auf keinen Fall.
Der General spie den bitteren Geschmack aus seinem Mund und unterband weitere Gedanken an das, was im Palast gespielt wurde. Es würde sich sowieso alles ändern, wenn er erst einmal im Triumph nach Hause zurückkehrte.
Er hob seinen Blick zu den zwei Gipfeln, welche den Pass nach Hy flankierten. Dann drehte er sich im Sattel und schaute zurück auf ein Meer aus roten Rüstungen, über dem ein Wald von Lanzen herausragte. Die Armee war groß und stark, und Kasai war zuversichtlich. Noch ein letztes Mal ließ er prüfend seinen Blick über den Pass schweifen, wo ein schwarzes Band sich langsam in Bewegung zu setzen begann: Die Verteidiger des Passes brachten sich in Stellung!
„Dann wollen wir mal“, sagte er leise zu sich selbst, und dabei stiegen kleine Wölkchen von seinem Mund auf. Seine prächtige, goldbesetzte Rüstung leuchtete in der Sonne.
Der Tag, an dem der General seine Armee hatte aufmarschieren lassen, war wie von den Göttern dafür gemacht. Knietiefer Pulverschnee, der die hyaunischen Krieger den Vorteil ihrer Schnelligkeit einbüßen lassen würde, und im Rücken der Angreifer strahlender Sonnenschein an einem prophetisch blauen Himmel - als sei der tiefstehende Himmelskörper ein überirdischer Verbündeter der Königlichen Armee.
Als sie am Morgen auf dem Doban-Plateau angekommen waren, das den Eingang zum Pass bildete, hatte es Kasai nicht sonderlich überrascht zu sehen, wie etwas weiter oberhalb eine schwarze Mauer aus Menschen und Pferdeleibern sie bereits erwartete. Beinahe bewunderte er das besondere Gespür der Hy, zur richtigen Zeit immer am richtigen Ort zu sein. Aber jetzt, da die Schwarzwämse in gemessenem Tempo auf sie zukamen, und er die einzelnen Krieger ausmachen konnte, unternahm er kühlen Blickes eine grobe Zählung seiner Gegner. Es waren erstaunlich wenige. Lediglich ein Zehntel seiner eigenen Stärke. Aber auch wenn sich direkt am Pass noch weitere Verteidiger versteckt hielten, schätzte Kasai seine Armee immer noch fünfmal so stark ein. Ein erregtes Kribbeln kroch über die Haut seiner Arme. Er konnte es kaum erwarten und spürte, dass heute der Pass fallen würde, heute würde er den Schlüssel zu Hy in die Hände bekommen. Dies war sein Tag! Kasai hob den linken Arm und gab das Zeichen zum Angriff.
Eine breite Front von gepanzerten Reitern mit ihren langen, schweren Lanzen machte sich auf den Weg, die heran reitenden Verteidiger zu empfangen. Zuerst im Schritt. Dahinter folgten dichte, scheinbar unendliche Reihen von Fußsoldaten in leichter Rüstung, flankiert abermals von Reitern. Kasai ließ sich in die letzte Reihe zurückfallen. Von dort aus würde er seiner Armee zusammen mit seinen Feldmeistern und den Standartenträgern auf jedem Schritt folgen. Gleich einem Kutscher auf dem Kutschbock hielt er die Zügel in der Hand und alles im Blick. Seine Befehle würden über spezeill entworfene Feldzeichen schnell bis in jede einzelne Reihe der Soldaten weitergegeben werden. Dieses System hatte er selbst ersonnen und mit den Jahren erprobt. An den Flanken und in den Reihen der Soldaten waren in regelmäßigen Abständen Standartenträger postiert, welche mit Flaggen und auf Hörnern geblasenen Tönen die Befehle signalisierten. Das ermöglichte es, eine weit größere Anzahl von Soldaten als gewöhnlich noch schneller bewegen zu können. Kasai registrierte, wie die hyaunischen Krieger dem Aufmarsch der Armee mit scheinbar stoischer Ruhe entgegensahen. Sie hatten am unteren Ende des Tals, das zum Pass hinaufführte, Halt gemacht und das askharische Heer bis über den Rand der Schotterschulter auf das Plateau kommen und sich dort neu formieren lassen. Der General schob dieses passive Verhalten der Hy auf ihre Verzweiflung zurück, die sie angesichts des übermächtigen Feindes spüren mussten. Bewegungslos bildeten sie nun eine Linie, die den Eingang zum Pass versperrte.
‚Wenn das alles ist, was ihr zu bieten habt’, dachte Kasai bissig und gab den Befehl zur Keilbildung. Dieses lächerliche kleine Aufgebot der Hy würde er jetzt durchbohren und zerschmettern!
Nur wenige Augenblicke später pflügte die askharische Angriffsspitze mit gesenkten Lanzen auf die Linie der Hy-Krieger zu. Unter den donnernden Hufen der gepanzerten Pferde stob der Schnee auf, und raues Kriegsgebrüll aus den Kehlen unzähliger Soldaten durchschnitt die Stille der Berge. Doch kurz bevor es zum Zusammenprall kam, wichen die Verteidiger nach beiden Seiten aus und bildeten eine immer breiter werdende Gasse, durch die der Keil ungebremst hindurch schoss. Trotz des knietiefen Schnees bewegten sich die Hy-Krieger auf ihren Pferden erstaunlich schnell und mit der gleichen behänden Geschwindigkeit flüchteten die zwei Gruppen von dem Keil und dem Eingang des Passes fort. Die Angriffsspitze der Askharer hatte inzwischen eine solche Wucht erreicht, dass sie einfach weiter voran das Tal hinauf zum Pass drängte.
Kasai ließ es geschehen. Wenn sie nicht diese Reihe der Hy schlugen, dann eben die nächste, die dort oben bestimmt bereits wartete.
„Diese verdammten Feiglinge“, lachte er unwillkürlich, „laufen einfach davon wie die Hasen!“
Mit wilden Schreien trieb er seine Soldaten an. Immer weiter drangen sie in das enger werdende, trichterförmige Tal vor und tatsächlich wartete dort am Ende, genau wie Kasai es vorausgesehen hatte, noch eine weitere Linie von Hy-Kriegern. Dort musste der Einlass zum Pass sein, dachte er und sah zufrieden, dass der größte Teil der Armee sich mittlerweile im Trichter befand und weiter voranstürmte, zu beiden Seiten flankiert von schneeglitzernden Hängen. Doch bei dem Anblick dieser makellos weißen Flächen, überkam Kasai mit einem Mal ein ungutes Gefühl. Ahnungsvoll prickelte es über seinen Nacken. Plötzlich riss er sein Pferd zurück und brachte es zum Stehen, was die Standartenträger und Feldmeister an seiner Seite einen Moment verwirrte und in Unordnung brachte. Einige hielten ebenfalls, der Rest jedoch sprengte weiter der Armee hinterher. Unruhig glitt Kasais Blick zwischen den Hängen hin und her, die so still und harmlos dalagen. Er vermochte einfach nicht zu sagen, warum sie auf ihn bedrohlich wirkten, doch das Prickeln verstärkte sich, und ohne noch länger zu überlegen, entschied er sich kurzerhand zum Rückzug. Die verbliebenen Feldmeister wollten den Befehl weiterleiten, doch die Kette der Verständigung war abgerissen und die Armee drückte weiter zum Pass hinauf. Noch ehe die Lücke geschlossen werden konnte, schnappte die Falle der Hy zu!
Ein fernes, dumpfes Grollen schwebte zu ihnen heran und wuchs zu einem ohrenbetäubenden Getöse, das jedes andere Geräusch in dem Tal verschluckte. Es schien aus allen Richtungen zu kommen und ließ die Erde erbeben. Die Soldaten hielten überrascht in ihrem Lauf inne und sahen sich um. Der Angriff kam zum Erliegen.
Kasai, der alles genau beobachten konnte, bemerkte nicht, dass auch sein Mund vor Entsetzten weit offen stand.
‚Der Schnee!’, war alles, was er begriff. ‚Der Schnee ist lebendig!’ Hastig wendete er sein Pferd und trieb es so schnell er konnte seitlich aus dem Eingang des Trichters hinaus. Jetzt galt es nur noch, seine eigene Haut zu retten! Panisch folgten ihm der Teil der Standartenträger, die bei ihm geblieben waren und die hintersten Reihen der Soldaten. Die Pferde strauchelten durch das verschneite Geröll und einige der Reiter stürzten. Hinter ihnen donnerten zwei brüllende Wände aus Schnee wie wütende Ungeheuer in das Tal hinab, jagten Kasai eiskalte Angst in den Nacken und begruben die durcheinandergeratene Armee des Königs unter ihren Massen. Eine weiße Wolke fegte bis in den blauen Himmel hinauf und senkte sich anschließend langsam mit tödlichem Schweigen.
Als Kasai sich außer Gefahr wähnte, zügelte er sein Pferd. Auch er war von Kopf bis Fuß weiß gepudert. Schnee klebte ihm in Bart, Augen und Ohren. Heftig blinzelnd blickte er zurück. In seinem Gesicht vermischten sich Ungläubigkeit und Wut zu einer Grimasse.
Ein schwerer Brei aus Schnee und zertrümmerten Körpern von Mensch und Tier verstopfte den Eingang zum Pass. Nicht ein Funken Leben, nicht eine Bewegung war dort noch zu erkennen, nur verrenkte Gliedmaßen und eiserstarrte Münder in aschgrauen Gesichtern.
‚Was für eine Sauerei!’, ging es Kasai durch den Kopf, denn so hätte es der König ausgedrückt, wenn er jetzt hier gewesen wäre. Sein Kehlkopf hüpfte angstvoll. Nein, vielmehr hätte Katthike einen Tobsuchtsanfall bekommen und ihn gleich mit zum Teufel gejagt. Mit der Faust drosch er auf den Sattelknauf und stieß dabei einen wütenden Schrei aus. Er hallte in der unheimlichen Stille von den weißen Wänden wider, vermochte aber nichts an der Tatsache zu ändern, dass es heute askharische Soldaten waren, deren Leichen das Schlachtfeld pflasterten. Welch fatale Niederlage, welch schwarzer Tag für das Königreich Askhar! Welch schwarzer Tag für ihn!
Lautstark machte der General seinem Zorn Luft und verfluchte bitterlich seine eigene Unerfahrenheit in diesem Gelände. Aber wie hätte er auch wissen sollen, welch mächtige und furchterregende Macht hier in den Bergen lauerte? Es war ein fremdes Land, es war verdammt noch mal Schnee. Wann gab es in Askhar schon einmal Schnee? Die Hy hatten es gewusst und es für sich genutzt.
„Oh, ihr Götter“, stöhnte Kasai und blickte hinauf in den blauen Himmel, „warum habt ihr mich derart blind ins Verderben rennen lassen?“ Doch ehe er sich weiter in seinem Selbstmitleid ergehen konnte, kamen plötzlich mehrere Dutzend Hy-Krieger auf die Gruppe Überlebender zugeritten. Wild schwenkten sie ihre Schwerter, ihre Helme blitzten im Sonnenlicht. Es waren die beiden Abteilungen, die zuvor geflüchtet waren, und jetzt griffen sie die übriggebliebenen Askharer von der Seite an. Der Todesstoß, dachte Kasai und fluchte erneut. Er schlug seinem Pferd so heftig die Sporen in die Flanken, dass es überrascht aufschrie und mit gewaltigen Sätzen auf und davon sprang. In halsbrecherischem Galopp rettete Kasai sich schließlich zusammen mit dem kläglichen Rest seiner tapferen Armee die rutschige Hangschulter vom Plateau hinab bis zu ihrer morgendlichen Ausgangsposition, wo die Versorgungseinheiten bereits unruhig auf sie warteten, denn auch sie hatten das ferne Donnergrollen vernommen und nichts Gutes geahnt. Als die zurückgebliebenen Soldaten den zerrütteten Trupp sahen, der da aus dem Schnee auf sie zugestolpert kam, brachten deren fassungslose Gesichter den General erneut in eine derartige Rage, dass er dem erstbesten mit der Breitseite seines Schwertes auf das Ohr schlug. Wie ein rasend gewordener Stier preschte er durch das Lager und ritt jeden über den Haufen, der nicht rechtzeitig aus dem Weg kam. Brüllend und schimpfend befahl er den sofortigen Rückzug.
Schnell wurde kurz darauf dem unangenehmen Ort der Schande und dem lachenden Feind der Rücken gekehrt und der beschwerliche Rückweg in sichere heimische Gefilde angetreten. Dort würden jedoch nicht Glorie und Siegesjubel sie empfangen, sondern Schmach und Schande. Ja, er war geschlagen worden, gestand Kasai sich ein, doch er würde wiederkommen, und noch einmal würde er die Schlacht nicht verlieren. Er reckte seine Faust empor in Richtung der mächtigen Berge und schwor den Hy Rache. Sie würden sich wiedersehen!

Nach der Flucht der Askharer waren die hyaunischen Krieger allein am Ort ihres Jubels zurück geblieben. Sie hatten die Anweisungen des Setna befolgt und hatten die Natur als ihre Verbündete genutzt. Es war ihnen gelungen zwei Lawinen gleichzeitig loszutreten, und im richtigen Moment waren sie ins Tal gedonnert und hatten alles Lebendige, was sich dort unten befunden hatte, zerschmettert und erstickt. Beinahe drei Viertel der askharischen Armee waren unter der kalten Gewalt der weißen Massen begraben worden.
Benommen hatten die Hy ihren großen Sieg betrachtet und ihn kaum fassen können. Die Strahlen der untergehenden Sonne blendeten ihre müden Augen, und sie dankten ihrem Gott für diesen Tag, an dem sie den Feind vernichtend geschlagen und dabei selbst nicht einen einzigen Mann verloren hatten. Sie alle waren gerettet. Askhar würde lange brauchen, um sich von dieser Niederlage zu erholen. Der Krieg war vorbei. Jetzt würde endlich Ruhe einkehren.

Doch so sehr sich die Hy auch über den wiedergewonnenen Frieden freuten, ein drohendes Unheil kam dennoch weiter unaufhaltsam auf sie zu! Not und Elend waren ringsum in Hy allgegenwärtig, und diese beiden getreuen Begleiter des Krieges konnten ihren Herrn und Meister noch lange überleben. Ohne Unterlass nagten sie in den leeren Mägen der Menschen und saugten und zerrten an deren müden Gliedmaßen, gierten nach jedem noch so kleinen Happen, der von der großen Tafel des Krieges für sie abgefallen war.
Die Eroberung der beiden südlichsten Provinzen Dane und Tepe durch Askhar hatte die Hy schwer getroffen. Neben dem Tod vieler Menschen, dem Leid der Flüchtlinge, die ihre Familien, ihre Clans und ihre Heimat verloren hatten, und dem ungewissen Schicksal derer, die nach Askhar verschleppt worden waren, stand der Verlust von Mutterboden, der einem Drittel der ursprünglichen Landesfläche von Hy entsprach. Ein Großteil dieses Gebietes war seit jeher für Getreideanbau und Viehzucht genutzt worden. Es war die Kornkammer Hys, aus der auch viele Clans des Zentrallandes nördlich des Junghal-Gebirges versorgt worden waren. Doch die vergangene Ernte des Südens war dahingeraubt von den Askharern.
Nachdem die Clans, die im tiefsten Schneetreiben über den Nori geflüchtet waren, in ihre Heimat im Schatten des nun wieder sicheren Junghal-Gebirges zurückkehren konnten, nahmen alle Chorten im Zentralland Flüchtlinge aus den verlorenen Gebieten jenseits des Gebirges auf, was die Lage natürlich nicht verbesserte. Wie sollten bloß all die zusätzlichen Leute durch den Winter gebracht werden? Niemand wusste Rat, und
über das ganze Land legte sich eine düstere, schicksalsergebene Starre. In stiller Ohnmacht beteten die Menschen zu Hyaun und versuchten, ihre kleine Lebensflamme von den täglich immer magerer werdenden Rationen zu nähren. Es war ein Kampf gegen die Zeit. Bis der Schnee schmelzen und das erste nahrhafte Grün auf den Feldern und Wiesen sprießen würde, waren noch mindestens zwei harte Monate zu überstehen.
Die Aufsicht über die Vorräte der Clans führten die Krieger, die von der Grenze zu ihren Familien zurückgekehrt waren. Auch die Zuteilung für jeden einzelnen war ihre Aufgabe. Aber so kärglich die Rationen auch waren, niemals machte man ihnen einen Vorwurf.
Auch Roman erfüllte jeden Tag gewissenhaft seine Aufgaben und war stets da, wo seine Hilfe gebraucht wurde. Zusammen mit den anderen Kriegern des Shari Clans nahm er den geschwächten Leuten ihre Arbeit ab und hielt die lebenswichtigen Abläufe der Gemeinschaft im Gange, denn ihm ging es gut. Im Gegensatz zu allen Nichtkriegern, war er kräftig und hatte genug zu essen. Schließlich musste er als Krieger seine Kampfkraft erhalten und im Falle eines erneuten Angriffs die Grenzen des Landes verteidigen. So verlangten es die Regeln der Gemeinschaft.
Aber Roman behagte das gar nicht, es fiel ihm von Tag zu Tag schwerer, sich satt zu essen, während die Leute seines Clans litten, und er war bisweilen nicht der einzige unter den Kriegern, dem dies schwer zu schaffen machte. Doch es half nichts, er musste sein quälendes Gewissen ignorieren und sich den Gesetzen beugen, ebenso wie alle anderen es taten. Denn nur wenn sich jeder an seine Aufgaben hielt, würden das Gleichgewicht im Lot bleiben und das Volk Hy weiter bestehen können.
Für eine gewisse Zeit fand Roman eine Erleichterung darin, jeden Abend im stillen Tempel zu Hyaun zu beten und sich zu wünschen, seine Leute auch vor jenen bösen Dingen beschützen zu können, die man nicht mit einem Schwert abwehren konnte!
„Wir dürfen den Mut nicht verlieren’, flüsterte er zu der Statue des Erhabenen hinauf, „Du wirst uns nicht im Stich lassen, dessen bin ich gewiss! Wir müssen nur tapfer nach vorne blicken!“
Doch mit seiner Tapferkeit war es nicht mehr weit her, als auch seine eigene kleine Familie immer rascher dahinzuwelken begann. Und um so wenig wie möglich mit ansehen zu müssen, wie seine blasse, hohlwangige Frau und die beiden kleinen Kinder auf dem Wenigen herumkauten, was ihnen zustand, flüchtete sich Roman von früh bis spät in seine ehrenvollen Aufgaben. Mit Gewalt verdrängte er den Gedanken, wie leicht er zu Gunsten Aleas und der Kinder auf seine Rationen hätte verzichten können. Aber er durfte die Regeln der Gemeinschaft nicht verletzen! Das würde nur weitere Ungerechtigkeiten heraufbeschwören, die wiederum zu Streit führen konnten. Und Streit war das schlimmste Übel in ihrer Gemeinschaft. Niemals würde ein Hy sich streiten, nie würde er im Zank die Stimme erheben, um jemand anderen zu schmähen. Unrechtes zu tun oder zu sagen, war ein schweres Vergehen. Für jeden Hy, und erst recht für einen jeden Krieger, kam das Wohlergehen der Gemeinschaft immer vor dem eigenen persönlichen Begehren. Und Roman würde sich strikt daran halten, auch wenn es ihn womöglich das Leben seiner eigenen Kinder kostete! Die Pflichten eines Kriegers forderten von ihm, beständig Opfer zu bringen. Als Lohn dafür bekam er die uneingeschränkte Unterstützung und Anerkennung seiner Mitmenschen.

Unzufrieden betrachtete Zaizura, das allmächtige Schicksalswesen, von ihrem erhabenen Sitz aus die um ihr Leben kämpfenden Menschen dort unten im Schnee. Der Hunger, den sie litten, genügte Ihr noch nicht als Strafe. Die kleinen Kreaturen waren noch viel zu hoffnungsvoll. Und um das zu ändern, sandte Sie den Hy noch ein weiteres Unglück hinzu. Fortan übernahm ein unbekanntes Fieber das Zepter und wütete ohne große Gegenwehr in den geschwächten Körpern der Hungernden. Es dauerte kaum mehr als eine weitere Woche, bis auch in Shari die ersten Toten zu beklagen waren. Beinahe die Hälfte des Clans lag fiebernd in seinen Betten. Unter den Befallenen war auch Farna, Romans Mutter. Mit einem Dutzend anderer älterer Leute siechte sie in einem Raum des Nordturmes, der zum Krankenlager erklärt worden war, vor sich hin. Die Medizi waren machtlos und konnten den Sterbenskranken das Warten auf den Tod lediglich erleichtern, indem sie ihnen regelmäßig Veda gaben, ein Gemisch aus verschiedenen Arzneien und dem Saft des Schlafmohns.
Ein Kranker nach dem anderen erlag schließlich dem rätselhaften Fieber, das nach einer hoffnungsvollen Phase der Besserung stets verstärkt wieder einsetzte und den Befallenen ins Delirium warf. Als es bei Farna so weit war, saß Roman an ihrem Bett und hielt ihre trockene, heiße Hand. Sie war nicht bei Besinnung, und Roman ließ seinen Tränen ungehemmt freien Lauf. Gerne hätte er noch einmal mit ihr gesprochen. Ihre Brust hob und senkte sich schwach und zwischen ihren Atemzügen entstanden immer größere Pausen. Roman drückte ihre Hand, damit sie spürte, dass er in dieser Stunde bei ihr war.
„Jetzt wirst du endlich Vater wiedertreffen“, flüsterte er. „Die Ahnen der Winde werden dich bestimmt freundlich aufnehmen, denn du und Vater, ihr beide seid stets treu ergeben dem Weg Hyauns gefolgt, so wie es unser aller heiligste Aufgabe ist. Euer Vorbild soll in mir weiterleben und auch das Vorbild meiner Kinder werden!“
Ein winziges Liderflackern folgte, und ein letztes Mal senkte sich ihr Brustkorb. Roman verharrte noch einige Zeit, die erkaltende Hand seiner Mutter in der seinen. Dann wischte er sich die Tränen vom Gesicht und schlug das Zeichen der drei Säulen. Schweigend verließ er den Raum.

Drei Tage später wurde Farnas Leichnam zusammen mit vier weiteren Toten, die es noch in derselben Nacht gegeben hatte, bei Sonnenuntergang auf der Westmauer des Shari-Chorten verbrannt. Der Rauch des Feuers umschwebte in grauen Schleiern die weiß getünchten Türme der Festung, auf deren Dächern schon seit dem Sommer ununterbrochen die leuchtend roten Wimpel der Trauer im Wind wehten, und vermischte sich mit dem Dunst der hereinbrechenden Nacht. Still standen die Trauernden, unter ihnen Roman, Alea und Andra an der Verbrennungsstätte und sahen in die Flammen, die wenigstens tröstende Wärme spendeten. Neben dem Geruch nach verbranntem Fleisch und Kiefernholz lag auch noch etwas anderes in der lauen Abendluft. Und keiner konnte sich dessen erwehren. Es zauberte ein zartes, hoffnungsvolles Glänzen in die müden Augen der erschöpften Menschen. Der Frühling kündigte sich an!
‚Für einige jedoch leider schmerzlich zu spät’, dachte Roman traurig. Noch bis tief in die Nacht saß er an der rituellen Verbrennungsstätte und starrte auf die heruntergebrannten Holzscheite, dessen Glut sein Gesicht in orangerotes Licht tauchte. Um ihn herum war es stockdunkel, am Himmel verschluckte eine dichte Wolkendecke jegliches Sternenlicht. Immer wieder betete Roman leise für die Seele seiner Mutter. Aber er betete auch für die anderen Leute seines Clans, die ebenfalls ihr Leben an Hunger und Krankheit verloren und ihnen somit ihren Anteil an Essensrationen überlassen hatten. Zaizura! So hat es das Schicksal gewollt. Und die Bestimmungen des Schicksals waren nun einmal unabwendbar. Leiden und Glück gingen Hand in Hand, so war es schon immer gewesen im Leben der Menschenwesen. Und ob man glücklich war und Glück erfuhr, oder einen das Unglück heimsuchte, lag allein im Ermessen Zaizuras. Nur wer dies akzeptierte, konnte Frieden mit den Höheren Mächten und in seinem eigenen kleinen Leben finden. Lediglich ein Narr verlor sich in dem Irrglauben, er könne das große, überirdische Netz des Schicksals, das von Zaizura unentwegt über ihren Köpfen neu gesponnen wurde, mit seinen eigenen Händen knüpfen.
Roman hielt inne, er hatte sich dabei ertappt, wie er sich fragte, ob es wohl jemanden auf dieser Welt gab - kein göttliches Wesen, sondern einen Menschen aus Fleisch und Blut -, der in der Lage wäre, das Muster des mächtigen Netzes Zaizuras zu ändern oder gar zu zerreißen. Ja, der Setna konnte es natürlich. Durch die Gabe des Geistes konnte er einen Blick in die Zukunft werfen und dadurch die Geschicke seines Volkes lenken. Aber der Setna war ein göttlich berührtes Wesen, sozusagen halb Gott, halb Mensch. Er stand über den weltlichen Gesetzmäßigkeiten. Erst nach der Zeit seiner Trägerschaft verwandelte er sich zurück in ein normales Menschenwesen ohne jegliche übernatürliche Fähigkeiten und wurde wieder einer von ihnen. Plötzlich drängte sich Roman eine Zeile aus der Prophezeiung Soghuls für seinen Sohn Raen ins Bewusstsein: „Für das Volk Hy wird der Andersdenker anstelle des Schicksals entscheiden, ob das Licht weiter erstrahlen und noch größer sein wird als zuvor, oder ob es düster wird für immer.“
‚Das bedeutet doch, es muss neben dem Setna noch eine Person geben, die Einfluss auf unser aller Bestimmung besitzt’, dachte er. Ein Andersdenker konnte nicht zum Setna berufen werden, das war ausgeschlossen. Roman spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Je weiter er seine Gedanken auf diesem verbotenen Terrain fortsetzte, desto unwohler wurde ihm dabei. Schon seit Wochen ließen ihn die Worte der Vorhersehung des Orakels nicht ruhig schlafen. Sie rüttelten an den tiefsten Grundfesten seiner Glaubenswelt und brachten das Gewölbe darüber gefährlich ins Wanken. Und jedes Mal musste sich Roman dazu zwingen, diese lästerlichen Gedanken rasch wieder aus seinem Kopf zu verbannen, die sich dort festzusetzen drohten, wie eine unheilvolle Krankheit.
„Raus! Raus mit euch!“, rief er in die Stille der Nacht, riss sich den Helm vom Kopf, als wäre er plötzlich zu eng dafür geworden, und schlug die Hände über den Schläfen zusammen.
„Geht fort und lasst mich in Frieden! Niemand hat Einfluss auf das Göttliche, außer die Götter selbst. Ich bin nicht der Richtige für Eure Absichten, ich bin kein Andersdenker! Ich glaube an das Schicksal!“ Er konnte froh sein, dass niemand ihn dabei hörte. Sonst hätte derjenige unweigerlich geglaubt, dass Roman zweifelsohne gerade dabei war, den Verstand zu verlieren.
„Bitte, Hyaun, hilf mir, diese unverzeihlichen Gedanken zu vergessen! Hilf mir, auf Deinem Weg zu bleiben“, flüsterte er und legte seine Hände gefaltet vor die Stirn. Er war völlig verwirrt. „Diese Prophezeiung macht mich noch wahnsinnig! Ich möchte sie vergessen. Bitte, Zaizura, verzeih mir. Verzeih mir!“ Die letzten zwei Worte wiederholte er wieder und wieder.
Nachdem er lange so verharrt, und sein Geist wieder annähernd Klarheit erlangt hatte, erhob Roman sich steif aus seiner knienden Haltung und verbeugte sich ein letztes Mal vor der Glut des Feuers, das die Seele seiner Mutter von ihrem Körper und somit auch von allem Irdischen getrennt hatte. Langsam stieg er die Mauer hinab in den dunklen menschenleeren Haupthof des nächtlichen Chorten. Tief in seinem Innern pulsierte die ungemütliche Gewissheit und wand sich immer weiter ans Licht. Roman wusste, dass er machtlos dagegen war. Die gefährlichen Gedanken hatten ihn bereits verseucht.

Die Asche von Farna und den vier anderen Toten des Clans wurde am nächsten Tag bei Sonnenaufgang von den Priestern zusammengekehrt und in ein tönernes Gefäß gefüllt. Alle nahen Anverwandten, der Oberpriester des Clans sowie fünf Gehilfen, die jeweils einen der Tonkrüge trugen, und alle, die sich sonst noch dazu verpflichtet sahen - so fern sie ausreichend bei Kräften waren -, begaben sich auf die kleine Reise zum Bestattungsberg des Clans, der sich etwa drei Meilen südlich vom Chorten entfernt im Wald befand. Langsam wanderte der Trauerzug über die von der nächtlichen Schmelze durchfeuchtete Erde der Felder, bis ihn die tröpfelnde Stille des kahlen Waldes empfing. Viele der Trauernden waren gemäß hyaunischer Tradition in Gewänder mit breiten, feuerroten Säumen gekleidet, oder hatten sich rote Tücher um Kopf oder Hals gewickelt. Rot, wie frisch vergossenes Blut, war der Trauerflor Hys. Und auch wenn diese Farbe in der tristen Mark des weichenden Winters scheinbar lebhaft und fröhlich wirkte, war sie doch ein Zeichen für Unglück, Verderben und Tod.
Am Fuße des Bestattungsfelsens angelangt, hielt der Trauerzug an, und als alle vollzählig waren, begann man mit dem Aufstieg. Selbst die Geschwächten zog man mit hinauf, gestützt oder sogar auf dem Rücken getragen. Oben auf dem kleinen, von Hand eingeebneten Plateau versammelte sich die Gemeinschaft im ungemütlich kalten Wind um einen kegelförmig aufgeschichteten Steinhaufen. In die Steine dieses Haufens waren kunstvoll Gebete eingemeißelt worden, die wiederum mit Blattgold verziert waren und die trotz des bedeckten Winterhimmels sanft schimmerten. Die fünf Gefäße mit den Überresten der Toten wurden von dem Oberpriester auf den Steinhaufen gestellt, während seine Gehilfen die monotonen Totengebete in der alten Sprache der Hy anstimmten. Nachdem das Ritual beendet war, trat Roman als einziges Kind von Farna vor und nahm das Gefäß mit ihrer Asche an sich. Die Kinder der anderen Verstorbenen taten es ihm gleich und gemeinsam gingen sie bis zu dem Rand des Plateaus. Vorsichtig sah er in die Tiefe und anschließend in die Ferne. Vor ihm breitete sich der kreisförmige Chor aus, das Gebiet seines Clans. Der Chor umringte den Chorten als ein breiter Gürtel aus Feldern und Wiesen. Nur vereinzelt duckten sich dort noch die letzten Streifen von Schneeverwehungen in die geschützten Senken der Gräben. Die Festung selbst, die auf dem Felsen eines Hügels erbaut worden war, erhob sich stolz und weißstrahlend gegen den mit düsteren Wolken verhangenen Himmel. Sie war das Sinnbild für die Geborgenheit im Schoße der Gemeinschaft und der Familie. Rauchschwaden stiegen von den Kaminen dort auf, und bei den verstreut liegenden Bauernhöfen rund um den Chorten flackerten warm die ersten Lichter auf. Denn obwohl es erst kurz nach Mittag war, herrschte bereits ein Zwielicht wie in der Dämmerung.
‚Genau der richtige Tag, um Abschied zu nehmen’, dachte Roman und fühlte sein Herz leichter werden. Er blickte wieder in den Abgrund zu seinen Füßen. Die stärker gewordenen Böen machten es riskant, dort oben so nah an der Felskante zu stehen. Er lächelte als er schließlich mit dem Bild seiner Mutter im Herzen ihre Asche in den Wind streute.
„Jetzt kannst du fliegen, liebe Mutter. Hab’ Dank für alles und grüße mir meinen Vater und die Ahnen der Winde“, sprach er laut. Hinter ihm hielten Alea und alle anderen ihre Häupter in stummer Anteilnahme gesenkt. Dann ließ er den Tontopf als Symbol für die körperliche Hülle und deren Vergänglichkeit über die Klippe fallen. Er zerschellte in der Tiefe mit einem gedämpften Knall. Die Seele brauchte nun keinen Körper mehr, sie war frei!
Roman blickte noch einmal auf, hinüber zum Chorten und auf seine Heimat, wohin sein Schicksal ihn band. Er zog sein Schwert samt Scheide aus dem Gürtel, hob es mit beiden Händen waagerecht vor sich und verneigte sich in Richtung der Heimstätte, als Erneuerung seines Treueeides als Krieger.

Nachdem sie von dem Felsen herabgestiegen waren, knoteten alle mit klammen Fingern bunte Tücher in den sechs heiligen Farben des Glaubens - Weiß, Grün, Dunkelrot, Orange, Hellblau und Goldgelb - in die Bäume rings um den Bestattungsort, wo bereits unzählige alte Fahnen zerschlissen im Wind flatterten. Vereinte man all diese Farben, so ergaben sie die siebte und heiligste aller Farben: Schwarz. Das war der Habit, in welchen sich Treue, Vertrauen und Stärke kleideten, aber auch die Farbe des Federkleides der heiligen Raben, die in den Ästen der Bäume saßen, und deren versöhnlich kollernde Rufe die Trauergemeinschaft auf ihrem Rückweg begleiteten. Der Rabe galt als Gehilfe Hyauns, der die Seelen der Verstorbenen auf seinen Schwingen hinauf in die Lüfte trug, bis sie selbst fliegen gelernt hatten. Er verband die Welt der Menschenwesen mit der Welt der Götter, das Reich der Endlichkeit mit dem Reich der Unendlichkeit. Seine Weisheit und seinen Mut wurden verehrt, und eine schwarze Feder bei sich zu tragen, galt als Symbol für Glück, ob zukünftiges oder vergangenes. An diesem Tag lagen viele Federn unter den Bäumen und mit einem flüchtigen Lächeln wurde dies von allen als ein gutes Zeichen gedeutet. Jeder konnte sich eine auflesen und sie entweder in den Gürtel stecken oder an die Bänder seiner Ärmel knoten.
Es war bereits dunkel, als die Trauergruppe frierend vor Kälte und mit vom Hunger zittrigen Gliedern endlich wieder im warmen Chorten ankamen. Und auch wenn sich jeder mit dem vertrauten, nagenden Gefühl des Hungers in seiner hohlen Leibesmitte zu Bett ging, mangelte es doch wenigstens nicht an wohltuender Wärme in den Häusern. Die züngelnden Flammen in den Feuerstellen und Kaminen wärmten die abgemagerten Körper und nährten den Geist der Hoffnung, den der nahende Frühling mit sich brachte.

4. Kapitel



„Und wie ist alles ausgegangen?“, fragte Andra. Sie war in den vergangnen vier Jahren zu einem aufgeweckten Mädchen herangewachsen, und auch Raen war ein heiteres Kind, das alle mit seiner Neugier in Atem hielt. Ungeduldig zappelte er neben seiner Schwester auf der Bank. Sie saßen mit ihrem Vater im Erker des Zimmers, das er sich mit Alea teilte. Draußen war es kalt und dunkel: ein Winterabend zum Geschichtenerzählen. Ihre Mutter war noch in der Schneiderwerkstatt bei ihrer Arbeit, und so verkürzte Roman seinen Kindern die Wartezeit bis zum Nachtmahl, zu dem sich die Bewohner des Chorten stets nach Sonnenuntergang im großen Essraum versammelten.
„Dann ist endlich der Frühling gekommen, und neues Gras ist auf den Weiden gewachsen. Wir haben die Ställe geöffnet und die Pferde zum Grasen rausgelassen. Leider sind nur noch Pferde übrig gewesen. Alle anderen Tiere haben wir essen müssen!“
„Was, alle?“, rief Raen. „Auch die Ochsen? Und die Schweine?“
„Ja, alle. Wir haben wirklich sehr großen Hunger gehabt!“
„Ich kann mich daran gar nicht richtig erinnern“, sagte Andra nachdenklich.
„Du bist ja auch noch sehr klein gewesen, gerade mal zwei Jahre alt.“
„Und ich?“, fragte Raen.
„Du warst erst seit ein paar Wochen auf der Welt und so klein.“ Roman hob seine Hände in einem Abstand, in den ein Säugling hineingepasst hätte.
„Aber jetzt bin ich so groß“, Raen streckte seinen Arm in die Höhe, „und schon bald werde ich fünf Jahre alt!“
„Hoppla, aber erst nächstes Jahr um diese Zeit. Raen, du hattest gerade erst Geburtstag! Jetzt bist du erst einmal vier“, sagte Roman schmunzelnd.
„Ja, aber danach fünf!“, erwiderte Raen, stolz darauf, schon so gut zählen zu können, und verschränkte die Arme vor der Brust, was sehr ulkig wirkte. Er war für sein Alter ein recht aufgeweckter Junge und immer wissbegierig. Roman lächelte. Manchmal vielleicht sogar etwas zu wissbegierig. Raen hatte etwas über seine Großeltern erfahren wollen, und so war Roman durch dessen Fragen vom einen zum nächsten gekommen, und schließlich waren sie bei der Hungersnot im Jahre des Großen Krieges angelangt. Roman fuhr fort : „Dann ist die Zeit der Krieger gekommen. Endlich haben wir an alle zurückgeben können, was wir in der Zeit der Not von ihnen bekommen hatten. Während der Rest des Clans im warmen Sonnenschein vor den Häusern gesessen und sich erholt hat, ist die eine Hälfte von uns auf die Felder gegangen und hat sie mit unseren Pferden gepflügt, und die andere Hälfte hat am Rande des Chor Bäume für neue Felder gerodet.“
„Das ist aber doch nicht gerecht! Warum musstet ihr arbeiten und die anderen nicht?“
„Unterbrich Vater doch nicht ständig!“, tadelte Andra ihren Bruder. „Natürlich ist es gerecht! Die Krieger haben doch viel mehr zu essen bekommen, als die anderen. Also haben sie dann auch viel mehr Kraft zum Arbeiten.“
Roman musste grinsen, diesmal über Andras lehrerhaften Tonfall. Raen zog derweil eine Grimasse.
„Richtig, Andra, und wir waren sehr froh darüber, unsere Kraft endlich gebrauchen zu können. Das Fällen und Zersägen der Baumstämme ist eine sehr schwere Arbeit, aber sie hat uns gut getan. Mit den Pferdegespannen haben wir die Baumstümpfe samt Wurzeln aus der Erde gezogen und große Steine weggeschleppt, erst dann konnten wir pflügen. Unser Clanrat, in dem auch euer Großonkel Richol Mitglied ist, hat ausgerechnet, wie viele neue Felder wir brauchen, um den ganzen Clan in Zukunft ausreichend mit Getreide zu versorgen. Selbst in der Nacht haben wir gearbeitet, Holz gehackt, Reisig gestapelt und verbrannt. Deshalb haben auch ständig überall kleine Feuer geleuchtet. Es ist eine Zeit gewesen, in der wir alle die schlimmen Erlebnisse endlich vergessen konnten. Später wurde sie ‚die Nächte der kleinen Feuer’ genannt.“
„So wie auch das Fest heißt!“, rief Raen und lächelte.
„Ja, ganz genau wie das Fest, das wir seit dem jedes Jahr im Frühling feiern! Damals haben wir mit der Asche der Feuer den Boden gedüngt und sie untergepflügt. Und dann sind aus dem Norden endlich neues Saatgut und Tiere eingetroffen. Die Clans dort haben sie uns geschickt. Rinder, Schafe, Ziegen und Hühner.“
„Mäh!“, machte Andra, und die beiden Kinder kicherten vergnügt.
„Danach ging es uns sehr schnell besser, und das Glück ist wieder zu uns zurückgekehrt!“, endete Roman feierlich.
„Aber was geschah dann danach? Was war denn mit den Askharern?“, wollte Raen wissen. Die Fragen gingen ihm einfach nicht aus, dachte Roman. Er zögerte mit seiner Antwort und seufzte. Kriegsdinge gingen einen kleinen Vierjährigen nichts an. Das Unaussprechliche musste unausgesprochen bleiben. Doch Roman wusste auch, dass Raen keine Ruhe geben würde, bis er es in Erfahrung gebracht hätte. Und bevor er den anderen damit auf die Nerven gehen konnte, oder gar unbewusst alte Wunden wieder aufriss, entschied sich Roman, es ihm in stark verharmloster Form zu erzählen.
„Die Askharer haben wir erfolgreich zurückgeschlagen. Bis heute haben sie sich nicht davon erholt. Sie akzeptieren die Neue Grenze und lassen sie in Ruhe. Und wir haben dort recht schnell den Palisadenzaun errichten können, dem jetzt nach und nach die große Mauer folgt, genauso eine, wie die im Norden und Westen unseres Landes. Auch der Bau von zwei neuen Chorten und mehreren Choron ist seit dem im Gange, doch es wird noch etwas dauern, bis sie komplett fertig sein werden. Sie werden dann zusammen mit unserem gesegneten Setna und natürlich allen Kriegern Hyauns die Doban-Provinz und den Pass gut beschützen.“ Roman klopfte sich als abschließende Geste auf die Oberschenkel. „So, und jetzt wollen wir sehen, dass wir zum Essen kommen. Hopp, los!“ Er wollte aufstehen, doch da meldete sich Raen noch einmal zu Wort. Andra war schon an der Tür und rollte erneut ungeduldig mit den Augen.
„Vater, bist du auch dort gewesen und hast geholfen die Grenze zu beschützen?“
„Ja, nachdem hier im Clan alle Arbeiten abgeschlossen waren, bin ich am Doban-Pass gewesen und habe dort die Palisaden mit aufgebaut. So, und jetzt ab!“
„Warte! Was heißt eigentlich: Ihr habt die Askharer zurückgeschlagen? Was habt ihr mit ihnen gemacht und warum habt ihr das Land, das ihr verloren habt, nicht zurückgeholt?“
„Raen, das verstehst du noch nicht!“
„Ich will es aber wissen!“
„Du wirst es noch früh genug in der Schule lernen.“ Tatsächlich würde Raen diesen Sommer das erste Mal in die Schule gehen und dann hoffentlich dort alle seine Fragen beantwortet bekommen.
Roman stand auf und ging zur Tür, wo Andra wartete.
„Kommst du jetzt?“, fragte er Raen, ohne sich umzudrehen.
„Na gut.“ Der Junge sprang von der Sitzbank des Erkers und lief seiner Schwester und seinem Vater hinterher.

*

In den vergangenen Jahren war Askhar tatsächlich mit vielen anderen Dingen beschäftigt gewesen, als bloß seine Armee wieder aufzubauen. Denn das frisch eroberte Land jenseits des Alten Grenzmeeres hatte drauf gewartet, neu besiedelt zu werden. Natürlich hatte König Katthike getobt und gewütet ob der peinlichen Niederlage seiner stolzen Streitmacht. Er hatte General Kasai degradiert und ihm die ungeliebte Aufgabe des Wiederaufbaus der Armee in die Hände gelegt. Von da an hatte der alte Haudegen dem aktiven Kriegerdasein den Rücken zukehren und sich um die nicht sehr anspruchsvolle Errichtung von neuen Ausbildungslagern im ganzen Land kümmern müssen. Am eigenen Leibe hatte Kasai erfahren, wie groß der Verlust an gut ausgebildeten Soldaten und Offizieren durch seine Niederlage auf dem Schlachtfeld tatsächlich gewesen war, und dass es Jahre in Anspruch nehmen würde, bis die Armee wieder ihre alte Stärke erreicht hätte. Doch schlimmer als die Erinnerungen an seine Schuld war der unverhohlene Spott Latas. Der Konsultas hatte sein Wohngefallen über die Degradierung seines Rivalen und dessen Ausschluss aus dem engsten Beraterstab des Königs voll ausgekostet. Kasai hatte Lata verflucht und sich selbst geschworen, es der hinterhältigen Ratte zu beweisen. Er würde in den Beraterstab des Königs zurückkehren, wenn auch nicht sofort. Aber er würde zurückkehren. Und dann würde für Lata ein rauerer Wind wehen.
Bereits zwei Jahreszyklen später hatte Kasai es tatsächlich geschafft. Er hatte sein strategisches Talent genutzt und mit beeindruckender Gründlichkeit eine neue Armee aufgebaut. Eine Armee nach seinen Vorstellungen und mit Offizieren, die er selbst eingeschworen hatte. Sie waren allein ihm ergeben … und dem König natürlich. Kasai spürte, seinen Einfluss wachsen und damit auch den Druck, den er Lata damit bereitete. Sein Stern war am steigen.
Um so kam es, wie es kommen musste. Kasai wurde gerufen, um vor den König zu treten. Würdevoll trat der Hauptmann vor die Versammlung des Rates und sank zu Füßen seines Herrschers ergeben auf ein Knie nieder. Katthike legte ihm eine Hand auf die Schulter und gab seinen neuen Titel bekannt: „Mein alter Freund Kasai, ich ernenne Euch zum Obersten General der Königlichen Armee Askhars und zum Mitglied des Rates.“
Kasai neigte bescheiden sein Haupt. „Mein Schweiß und mein Blut gehören auf ewig Euch, Majestät!“, sagte er schlicht, denn er war kein Mann vieler Worte, und nachdem er den Saum des königlichen Umhanges mit den Lippen berührt hatte, erhob er sich und richtete seine Augen auf den ersten Berater. Sein kurzer Blick sagte nichts ... und doch alles. Kasai lächelte. Das zarte Flattern von Latas Lidern war ihm nicht entgangen, als dieser sich abwandte. Diese winzige Regung war mehr Lohn für seine Anstrengungen als alles andere. Es war sein Sieg über den Konsultas! Er hatte klar gestellt, dass er ein sehr entschlossener Mann war. Und Lata würde sich in Zukunft noch viel mehr vor ihm in Acht nehmen müssen.

Doch Lata hatte ganz andere Sorgen als nur den wiederauferstandenen General. Schlaflose Nächte plagten ihn, und er begann einstweilen an sich selbst zu zweifeln. Immer hatte er gewusst, was der König im Schilde führte, immer hatte er eine Ahnung davon gehabt, was dieser gerade dachte. Doch diesmal ließen ihn all seine Sinne im Stich, sein fieberhaft arbeitender Geist drehte sich im Kreise. Egal, an welcher Stelle er nachforschte, egal, wen er befragte oder bedrohte, nicht das Geringste war herauszubekommen. Es schien, als hätte der König dieses Mal ganz allein eine Tat ausgeheckt und niemanden, nicht einmal ihm, eingeweiht. Das wurmte ihn. Warum verschmähte der König ihn? Und wusste der General etwa mehr von der ganzen Sache? Aber an Kasai würde er nicht herankommen. Lata biss sich auf die Unterlippe und starrte an den dunklen Baldachin über seinem Bett. Dass er buchstäblich im Dunkeln tappte, brachte ihn beinahe in den Wahnsinn. Er hob die Hände und knetete seine Stirn. Er musste sich konzentrieren, so schwer konnte das doch nicht sein! Auf jeden Fall hatte es etwas mit dem Kind zu tun, darin trog ihn sein Gespür nicht. Der Junge, der sieben Monate nach der Niederlage Kasais zur Welt gekommen war, musste der Schlüssel zu dem seltsamen Verhalten Katthikes sein. Lata grübelte, seine Fingerspitzen wanderten von der Stirn zum Scheitel und wieder zurück. Das Kind war kein reinblütiger Abkömmling der königlichen Familie, soviel war schon einmal klar, denn die Königin war nicht guter Hoffnung gewesen, und einen Bastard von einer seiner Konkubinen würde Katthike niemals so behandeln, wie er es mit diesem Jungen tat. Nicht einmal seinem eigenen Sohn hatte er jemals so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Lata kannte sich in der Gefühlswelt des Königs recht gut aus. Katthike verabscheute seine Kinder. Ganz besonders den jungen Prinzen Kanaima, der ihm wie sein eigenes klägliches Spiegelbild vorkam. Denn er war genau wie sein Vater mit einem Klumpfuß geboren worden und „hinkte wie ein Sklave“, so pflegte es zumindest der König es auszudrücken.
Die Behinderung des Prinzen war aber lange nicht so ausgeprägt wie etwa die des Vaters selbst, dessen linker Fuß derart schlimm verwachsen und verkürzt war, dass Katthike schon beim Gehen stark humpelte. Deshalb ließ der König sich auch bei jeder Gelegenheit lieber in einer Sänfte umhertragen, als zu Fuß zu gehen. Lata musste schmunzeln, die Schwäche Katthikes und seine Versuche, sie zu verstecken, rührten ihn auf unbestimmte Weise. Der Kampf eines Mannes gegen sein Schicksal. Und wie zum Hohn von all dessen, war ausgerechnet des Königs Tochter von dem „Familienfluch“ verschont geblieben. Nur leider waren Mädchen und Frauen in Askhar nicht viel wert. Sie wurden lediglich danach bemessen, wie viele gesunde Söhne und Erben sie zur Welt brachten.
Wie dem auch sein mochte. Lata lenkte seine Gedanken zurück zu dem rätselhaften Kinde. Er zwang sich, alles, was in den vergangenen vier Jahren geschehen war, jeden einzelnen Eckpfeiler, noch einmal zu rekapitulieren: Die vernichtende Niederlage am Pass, Kasais Degradierung, die Geburt jenes Jungen, Beginn der Besiedlung Neu-Askhars, der Aufbau der Armee und schlussendlich Kasais Wiederernennung. Aber so sehr Lata die Vergangenheit auch zu durchleuchten versuchte, es gelang ihm nicht, dahinter etwas zu entdecken, das ihn auf eine Spur brachte. Ratlos ließ er die Hände sinken, sie hatten die ganze Zeit seine Stirn traktiert.
Er kam nicht weiter. Nicht einmal der merkwürdige Name des Jungen war ihm eine Hilfe. Auf den ausdrücklichen Wunsch Katthikes hin war er „Setna“ genannt worden. Setna, genau wie der hyaunische Prinzentitel, das war doch kein Zufall. Da musste etwas dahinter stecken. Nur was?
Lata seufzte, drehte sich auf die Seite und zog die Decke über die Schulter. Rätsel über Rätsel und keine Lösung in Sicht. Vielleicht würde ein neuer Tag ihn erfrischen und das Gedankenknäuel in seinem Kopf etwas entwirren. Er beschloss, sich morgen ein wenig in der Umgebung umzutun. Draußen an der frischen Luft konnte er noch am besten denken, die Wände hier begannen ihn allmählich zu bedrängen. Er schloss die Augen, und als er endlich einschlief, hatte er das Bild des Königs vor Augen. Ein breites, unheimliches Lächeln zerschnitt dessen Gesicht in zwei Hälften.

Am Morgen erschien ein Diener in Latas Zimmer, das er in der ehemaligen Hy-Festung bezogen hatte, und teilte ihm mit, der König wünsche mit ihm einen Ausritt zu unternehmen. Lata gehorchte dieser Aufforderung und ließ sich von seinem Kammerburschen sein besticktes Jagdgewand aus seinem Gepäck suchen. Sie waren nun schon seit einigen Wochen hier im Norden Neu-Askhars, da der König sich persönlich von den Fortschritten der Besiedelung und des Baus seines Sommerpalastes überzeugen wollte. Kaum, dass der Schnee in den neuen Provinzen geschmolzen war, hatten er und sein Stab sich auf die Reise gemacht, und auch den kleinen Setna mitgenommen, ganz so, als wollte er ihn stets wohlbehütet in seiner Nähe wissen. Wie ein rohes Ei behandelte er den Knaben, und nur die vertrauenswürdigsten Personen durften sich ihm nähern.
Lata verzog den Mund, als der Diener ihm die schwarze Kopfbedeckung auf das Haupt setzte und seinen langen, dunkelbraunen Zopf darunter versteckte. Der König würde auf seine alten Tage doch nicht etwa noch sentimental werden? Er schüttelte den Kopf. Nein, nein, nicht Katthike. Lata schlüpfte in den zweiten Stiefel aus weichem Leder. Der König war auch in seinem Herzen verkrüppelt, er war nicht fähig, derartige Gefühle zu entwickeln. Der Konsultas erhob sich, nahm seine Reitpeitsche entgegen und verließ das Zimmer.

Katthike lächelte, als sie aus der Festung hinausritten und wenig später von der Ruhe des Waldes empfangen wurden. Der König liebte diese hyaunischen Wälder. Oft hatte er sich gewünscht, unter den Wipfeln dieser Bäume zu Wandeln!
„Ach, ist das nicht herrlich!“, sagte er, nachdem sie ihre Pferde in den Schritt hatten fallen lassen.
„Ganz recht, Majestät, ein wunderbarer Tag“, erwiderte Lata. Er hatte bereits bemerkt, dass der König ausgezeichneter Laune war, und überlegte, welchen Grund das wohl haben mochte.
Gemächlich ritten sie immer tiefer in den Wald hinein und erfreuten sich am frischen Grün, dem Sonnenschein und der milden Luft. In einem Abstand von dreißig Schritten folgte ihnen die graugewandete Leibgarde. Lata fragte nicht und ließ sich vom König leiten. Im Grunde war es auch einerlei, wohin es ging, der Tag war schön, und mittlerweile war auch sein Gemüt schon viel leichter geworden. Hier draußen konnte er endlich wieder tief durchatmen und der zudringlichen Enge der Hy-Festung entkommen. Da es den König offenbar auch nicht nach einem dauerhaften Gespräch gelüstete, entschied sich Lata, sein Denken für eine Weile auszuschalten. Mit Muße betrachtete er die Umgebung. Die mächtigen Bäume hatten eine glatte, silbrigglänzende Rinde und ovale, gerippte Blätter. Die Äste wippten über ihren Köpfen, und bei jedem Windstoß begannen die Blätter zu flüstern. Sie tuschelten leise in einer sehr alten Sprache, die kein Mensch verstand. Lata schloss Lider und lauschte. Sein Atem ging ruhig, und er spürte nur die Bewegungen des Pferdes unter sich. In seinem Kopf begann sich ein Knoten nach dem anderen zu lösen. Lautlos und wie von Geisterhand ordneten sich die verfilzten Stränge seiner Gedanken und legten sich wie Webfäden schön sauber nebeneinander. Doch bevor alles wieder ins gewohnte Muster zurückgerückt werden konnte, wurde Lata aus seiner Besinnlichkeit gerissen.
Der König neben ihm hatte etwas gesagt. Lata öffnete die Augen, und sofort schnurrte das Knäuel wieder zusammen. Im Geiste ballte er ärgerlich eine Faust, von seinen Gefühlen jedoch drang nichts nach Außen.
„Ja, Majestät?“, fragte er.
„Sieh doch!“ Katthike, der nichts bemerkt hatte, wies mit der Rechten voraus.
Lata wandte seinen Kopf und erkannte, dass sie an einer Stelle angekommen waren, an der das Gehölz sich lichtete und den Blick auf das nicht allzu ferne Junghal-Gebirge freigab. Zarte Wolkengespinste zogen am sonst tiefblauen Himmel dahin und verfingen sich an den schneebedeckten Gipfeln. Dort oben war noch Winter, während sich hier unten im Vorland der Frühling schon längst in voller Blüte zeigte. In mehreren flachen Stufen fiel das Land vom Gebirge ab und ging in sanft gewelltes Ackerland über. Das Getreide stand schon grün auf den Feldern rund um die neu gegründeten Weiler. Nur hier und da lagen noch kleine Flecken von dunkelbraunem Boden frei, die darauf warteten, dass die Saat auch in ihrem Schoße zu sprießen begänne. Lata erblickte in der Ferne einen askharischen Bauern, der mit seinem Ochsengespann auf einem der Wege durch die Mark fuhr, und er gewahrte, dass auch der König diesem sich bewegenden Punkt mit seinen Augen folgte.
„Wahrlich, ein schöner Ausblick!“, sagte Katthike schließlich, und Lata meinte einen Hauch von Ergriffenheit in seiner Stimme wahrzunehmen. Vorsichtig musterte er den Mann neben sich, der noch immer auf den Wagen blickte und dabei blinzelte. Dann sog Katthike plötzlich lautstark die nach Frühling duftende Luft durch die Nase ein.
„Es ist doch immer wieder außerordentlich befriedigend auf das zu blicken, was man geschaffen hat, nicht wahr, mein Freund?“ Er drehte den Kopf und sah Lata an. Der nickte fein lächelnd seine Zustimmung und schaute dann wieder auf die Landschaft.
Tatsächlich hatte der König es vollbracht, die eroberten Gebiete binnen kurzer Zeit in wohlhabende und unabhängige Provinzen zu verwandeln.
Doch zuerst war die Besiedelung Neu-Askhars nur zögerlich vorangegangen, obwohl König Katthike einen vortrefflich durchdachten Erschließungsplan in seinen Händen gehalten und mit aller Macht diesen auch vorangetrieben hatte. Großzügig hatte er sogar die zuvor als Kriegsgaleeren verwendeten Schiffe zu Frachtern und Fähren umbauen lassen und einen großen Teil der Kriegsbeute für den Bau von Straßen und Städten verwendet. Das askharische Volk war jedoch weiterhin skeptisch geblieben. Ihnen war das unbekannte Land jenseits des Alten Grenzmeeres nicht geheuer. Die einfachen Leute Askhars waren es gewohnt, ein bescheidenes Dasein zu führen und es war ihnen nahezu verrückt erschienen, dass sie plötzlich fruchtbaren Boden erhalten sollten, und nichts dafür geben mussten, als bloß ihre Arbeitskraft. Und so war niemand der Einladung des Königs gefolgt. Der hatte schließlich erkannt, dass all sein Locken nichts half, und kurzerhand ganze Dörfer zusammentreiben und über das Grenzmeer schiffen lassen. Und nachdem die neuen Siedler den weichen, fetten Boden ohne große Mühen bearbeitet und die erste reiche Ernte eingefahren hatten, war der Strom der Neuankömmlinge nicht mehr abgerissen. Mit einem Mal waren die Ländereien Neu-Askhars äußerst begehrt, auch wenn die Hinterlassenschaften der vertriebenen Hy noch überall sichtbar waren. Städte wuchsen und Häfen und Handelsplätze entstanden, und bald hatten auch die ersten Adelsfamilien begonnen sich dort niederzulassen. König Katthike hatte aus vollen Händen geben können und unzählige Lehen an jene verteilt, die sich im Großen Krieg besonders verdient gemacht hatten.
Heute herrschte ein reger Fährverkehr zwischen den neuen und den alten Häfen am Alten Grenzmeer. Neue Siedler fuhren nach Norden, in der Hoffnung dort ein besseres Leben zu führen, und auf dem entgegengesetzten Wege gelangten Getreide und andere Güter ins Stammland, das in den besonders dürren Monaten nicht mehr zu bangen brauchte. Die Zeiten waren gut für Askhar, und mit Recht konnte Katthike stolz auf sein großes Werk sein. Nebenbei hatte es ihn beinahe über Nacht zu einem völlig neuen Ansehen verholfen, und nun befand er sich in dem ungewohnten Zustand, von seinem Volk bewundert und mit Hochrufen begrüßt zu werden.
Lata kniff die Augen ein wenig zusammen. In der Ferne bog der Ochsenkarren gerade in einen anderen Weg ein und entfernte sich wieder von den beiden Beobachtern. Der König hatte seinen durchdringenden Blick indes von Lata abgewandt und sprach weiter: „All dieses wunderbare Land gehört jetzt mir, und ich kann ein- und ausgehen, wie es mir gefällt.“ Er stieß einen tiefen, zufriedenen Seufzer aus. „Doch das schönste an dieser Sache ist, dass es mir niemand jemals wieder abspenstig machen wird!“ Sein rechter Zeigefinger stieß in Richtung der Berge. „Die Hy jedenfalls werden wohl kaum mehr Anspruch auf den Boden erheben, auf dem wir stehen. Diese feigen Bauerntrottel haben ihn einfach aufgegeben und mauern sich jetzt im Rest ihres Landes ein!“ Ein abfälliges Lachen entfuhr ihm.
„So ist es, Majestät“, bestätigte Lata, „das Nichtangriffsprinzip ist fest im Kodex der Hy-Krieger verankert. Es verbietet ihnen, in feindlicher Absicht in fremdes Territorium einzudringen.“
„Aber es ist doch ihr ureigenes Land, das sie sich zurückerobern würden, und kein fremdes Territorium.“
„Ja, das stimmt, ihre Gesetze besagen aber, dass ihnen ihr Land nicht mehr zusteht, wenn sie es im Kampf verloren haben! Folglich ist es ab diesem Zeitpunkt auch nicht mehr ihr eigenes Territorium.“
„Klingt einleuchtend. Aber auch dumm.“
„Sie beugen sich nur ihrem Glauben an die Macht des Schicksals.“
Wieder lachte der König: „Diese weibischen Schafsköpfe, ich werde sie nie verstehen! Immerzu dieses Schicksalsgeschwafel! Sind sie denn nicht Manns genug, es selbst in die Hand zu nehmen?“
Lata schüttelte vehement mit dem Kopf. „Das ist ihnen verboten!“
„Um so besser für uns!“ Katthike klopfte sich auf den Oberschenkel. „Aber, Lata, du weißt wie immer erstaunlich viel über diese hyaunischen Nichtnutze!“
Lata blickte verlegen zu Boden. „Ihr wisst doch, Majestät, ich war recht oft in Hy. Graçenische Handelsleute haben sie damals noch hereingelassen. Inzwischen ist aber auch das vorbei. Alle Grenzübergänge sind zugemauert. Seinerzeit habe ich hier und da etwas mitbekommen, war eben neugierig und habe meine Augen offengehalten.“
„Genau wie in Borgossa?“
Lata grinste.
„Ach, mein Lieber Konsultas, du bist wie immer viel zu bescheiden! Dein Wissen war und ist mir stets sehr dienlich.“
„Vielen Dank, Majestät!“ Lata verneigte sich geehrt.
„In den letzten Jahren hat sich viel verändert. Und es wird sich noch viel mehr verändern. Ich habe noch Großes vor mit Askhar!“ Katthike sah seinem Berater direkt in die Augen. Lata hielt seinem Blick stand. Er wusste, dass dem König das gefiel, denn das traute sich sonst niemand. Er hielt sein Gesicht, das er sich in graçenischer Manier stets glatt rasierte, bewusst ausdruckslos. Nur seine schmalen Lippen, auf denen ein gesunder roter Farbton lag, umspielte ein entspanntes Lächeln.
„Warum lässt du dir nicht einmal einen Bart wachsen, so wie er bei uns in Askhar Mode ist? Das würde dir hervorragend stehen!“, frotzelte Katthike, der Lata schon seit jeher mit dessen Eigenheit neckte, sich mit bewundernswerter Disziplin ausnahmslos jeden Morgen eigenhändig zu rasieren. Katthike selbst hatte einen makellos, eigens von seinem Leibbarbier modellierten Kinn- und Oberlippenbart, auch die schmalen Koteletten waren perfekt zurechtgestutzt und wirkten wegen der sehr dichten, schwarzen Haare wie aufgemalt.
„Majestät, Ihr wisst doch, alte Gewohnheiten soll man nicht brechen. Gestattet mir doch wenigstens diese eine Erinnerung an meine Heimat!“, war Latas Antwort.
„So wirst du aber nie einen wirklich guten Schnitt bei unseren Frauen machen! Lass dir das gesagt sein“, scherzte der König vergnügt.
„Ich kann mir ja eine üppige, goldhaarige Nord-Graçenerin nach Askhar holen! So etwas Schönes habt Ihr hier nicht zu bieten!“
„Hahaha, fürwahr, das haben wir hier nicht zu bieten! Aber es ist eine gute Idee, ich hoffe, du vergisst nicht, mir ebenfalls eine mitzubringen!“ Katthike war dafür bekannt, keine Schönheit auszulassen, die ihm über den Weg lief. Lata hingegen war etwas bescheidener und begnügte sich bei Hofe mit bloß zwei Mätressen. Aber eigentlich lenkten sie ihn nur ab, in seinen Augen waren sie lediglich eine kurze, sehr flüchtige Befriedigung. Die Erfüllung, nach der er sich sehnte, war nicht in den weichen, kraftlosen Armen einer Frau zu finden. Und auch wenn der König sich in punkto weiblichen Geschlechts stets etwas mehr Zerstreuung gönnte, so kamen sich ihrer beider Vorstellungen von wahrer Genugtuung doch sehr nahe. Wie Katthike strebte auch er nach Macht. Doch was er mit dieser Macht erreichen wollte, war sein Geheimnis. Sein Ruf jedoch war tadellos. Selbst der ewig wachsame General Kasai mit seiner feindseligen Einstellung gegenüber Lata als Ausländer konnte ihm nicht das geringste anhaben. Doch er musste aufpassen, noch immer hielt Kasai ein besonderes Auge auf ihn gerichtet. Dieser misstrauische Hund!
„Was hältst du davon, wenn wir von diesem wunderbar frischen Quellwasser dort drüben kosten?“
Lata blickte sich um. Zu Katthikes Linken plätscherte ein klares Bächlein fröhlich dahin. „Nach Euch, Majestät.“ Er wartete, bis der König sein Pferd zum Bach gelenkt hatte und bemerkte, dass in den ruhigeren Strecken des Wassers reglos Fische standen, die jedoch bei den Erschütterungen der sich nähernden Pferdehufe blitzschnell davon glitten. Behände sprang der König von seinem Pferd. Er trug heute keine Rüstung, da er sich sicher fühlte, und steckte dafür in einem bequemen Jagdanzug, der mit Leder besetzt war. Sein Schwert, ohne das er sich nie zeigte, hatte er zu seiner Linken an einem prächtigen goldverzierten Gürtel hängen.
‚Das Gold der Besiegten’, sagte sich Lata und beobachtete von seinem erhöhen Standpunkt des Pferderückens aus verstohlen, wie Katthike sich humpelnd auf den Bach zu bewegte. Wenn der Mann nicht auf einem Pferd oder seinem Thron saß, hatte er beinahe etwas Kümmerliches an sich, dachte Lata, schwang sich ebenfalls aus dem Sattel und ging zu dem Bach, wo er sich am Rand auf eine Wurzel kniete.
In großen Zügen tranken die beiden Männer das kühle klare Wasser. Nachdem jeder seinen Durst gestillt hatte, ließ Katthike sich auf einem weichen Moospolster nieder und lehnte seinen Rücken gegen einen Baum. Er signalisierte Lata, es ihm gleichzutun, und sein Berater setzte sich mit gekreuzten Beinen ihm gegenüber ins frische Gras.
Nach einer Weile Schweigen hob Katthike unvermittelt zum Sprechen an: „Du wirst es vielleicht bereits geahnt haben, aber ich habe vor, noch dieses Jahr den kleinen Setna - er ist ja inzwischen schon drei Jahre alt - zu adoptieren und zu meinem rechtmäßigen Nachfolger zu ernennen!“
Lata war völlig verblüfft, doch jahrelange Übung ließen ihn weiterhin gelassen erscheinen, was wiederum Katthike zu stören schien. In Latas Brust jedoch raste plötzlich das Herz und überschlug sich förmlich. Nun musste er doch schlucken, sein Kehlkopf hüpfte verräterisch. Das war es also, was der König im Schilde führte! Unter Mühen glättete er seine Züge.
„Majestät, wenn ich mir eine Frage erlauben darf?“
„Nur zu.“
„Wer sind die Eltern dieses Kindes?“
„Das weißt du nicht?“, rief der König erstaunt aus, um dann aber leiser weiterzusprechen, denn die Leibgarde, die in einiger Entfernung lagerte, sollte nichts von alldem mitbekommen. „Lata, du enttäuschst mich, etwas mehr Scharfsinn hätte ich schon von dir erwartet. Aber nichts für ungut. Es ist mein eigenes kleines Geheimnis“, Katthike hob den Zeigefinger, „das bald keines mehr sein wird. Du willst wissen, wer der Vater des Kindes ist?“
Lata nickte knapp. Er hasste es, vom König auf die Folter gespannt zu werden, doch er ließ ihm das Vergnügen.
„Entsinnst du dich noch an meinen Hy?“
„Der Krieger, der von dem Novizen aus Tulga ermordet wurde?“
„Ganz recht, eben jener.“
Lata erinnerte sich sehr gut daran, wie es gelungen war, den Hy-Krieger gefangen zu nehmen. Vier askharischen Spähern war er damals am verschneiten Pass in die Hände gelaufen, ganz zufällig. Natürlich hatten die Späher die unglaubliche Bedeutung ihres Fanges erkannt und sofort den Rückweg angetreten. Jedes Kind in Askhar wusste, dass ein wild gefangener Hy bei den Adeligen ein hoch gehandeltes Gut war, und es die Leute von erhabenem Stande liebten, sich mit ihnen zu schmücken wie mit wertvollen Juwelen. Und wem es darüber hinaus noch glückte, einen Krieger dieses widerspenstigen Volkes zu zähmen und lebendig an den Hof des Königs zu schaffen, dem stand eine Belohnung von dessen Körpergewicht in Gold zu. So hatte es vor ewigen Zeiten einmal König Renandi I. festgesetzt. Einen Hy-Krieger zu fangen, das klang eigentlich nicht besonders schwer, aber es war bislang ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Selbst in den Wirren des Großen Krieges hatten die Askharer keine Krieger als Gefangene nehmen können, denn lieber starben diese eines selbst zugefügten Todes, als sich in Ketten legen und versklaven zu lassen.
Lata strich sich mit dem Finger über die Unterlippe. Er selbst war damals in der großen Halle dabei gewesen, als die Späher - zu diesem Zeitpunkt waren es nur noch drei - dem König mächtig stolz den gefesselten und bewusstlosen Hy vorgeführt und danach ihren rechtmäßigen Lohn empfangen hatten. Jeder hatte sich gefragt, wie es ihnen gelungen war, den Hy daran zu hindern, sich selbst zu töten. Es stellte sich heraus, dass einer der Späher einen glänzenden Einfall gehabt hatte. Sie hatten den Hy mit jenem Rauschpulver betäubt, mit dem sich die Soldaten gerne die Wartezeit im Feld vertrieben. Das Zeug war verpönt, und die Kommandeure waren angewiesen, es einzuziehen, wenn sie es bei den Soldaten fanden. Aber in diesem Falle war es doch recht nützlich gewesen. Das hatte auch der König so gesehen und seine entzückend willfährige Errungenschaft überall in der feinen Gesellschaft herumgezeigt; hatte den Hy ausgestellt wie ein seltenes Getier. Und nachdem jeder die neue Attraktion des Palastes zu Genüge hatte bestaunen können, war der Gefangene im Verließ verschwunden. Selbst Lata hatte nicht gewusst, was der König dort mit ihm trieb. Bis jetzt.
„Ich hatte immer angenommen, Ihr würdet versuchen, ihn mit seinem Aun als Spion gegen sein Volk einzusetzen.“
„Das war nebenbei auch meine Absicht gewesen, doch unglücklicherweise ist mir dieser bleichhäutige Mordgeselle von einem Novizen dazwischengekommen! Alles andere hatte ich bereits in sicheren Händen.“ Katthike lächelte anzüglich.
Lata schwante etwas. „Und wer ... ist die Mutter?“
„Als ob das ein Rolle spielt, aber ich verrate es dir. Es ist ein askharisches Bauernmädchen.“
Lata schürzte die Lippen. Er verging beinahe vor Gier nach Wissen, doch er musste sich beherrschen. Der König würde ihm schon noch davon erzählen.
Doch Katthike schien eine Pause einlegen zu wollen, er stützte die Ellenbogen auf seine Oberschenkel und legte die Fingerspitzen aneinander. Nachdenklich blickte er an Lata vorbei.
Im Gehirn des Beraters arbeitete es derweil weiter, auch wenn sein Gesicht nichts verriet. Einige Knoten hatten sich bereits gelöst. Darunter auch jenes Rätsel um den Namen des Kindes. Es war lediglich eine Anspielung gewesen. Ein kleiner Schabernack, den sich der König erlaubt hatte. Und er war nicht darauf gekommen!
Lange unternahm der König keine Regung und sah stumm auf die bewegte Oberfläche des schnell dahin fließenden Wassers. Der Bach murmelte belustigt in ebenjener geheimnisvollen Sprache, welche auch die Blätter gesprochen hatten.
Je länger der König schwieg, desto umwölkter wurde Latas Laune. Ließ Katthike ihn bewusst zappeln, oder war das alles gewesen, was dieser ihm hatte mitteilen wollen? Lata veränderte seine Haltung, um zu signalisieren, dass er noch da war.
Katthikes Wimpern zuckten, und dann richtete sich der Blick des Königs auf seinen Berater. Kälte durchdrang Lata, und beinahe hätte er sich geschüttelt. Gerade rechzeitig noch konnte er es unterdrücken. Er kannte diesen Blick, aber noch nie hatte er ihn so intensiv auf sich gespürt. Schweiß drohte ihm auszubrechen, und er befürchtete, dass auch das heftige Pulsieren seiner Halsschlagader seine Unsicherheit verriet.
Aber so plötzlich, wie der Blick ihn getroffen hatte, war er auch wieder verschwunden, und stattdessen breitete sich ein Lächeln auf Katthikes Gesicht aus. Lata fühlte sich an seinen Traum von letzter Nacht erinnert.
„Dann will ich es mal gut sein lassen, deine Neugier soll befriedigt werden.“ Katthike nahm die Hände herunter, und nach einem selbstzufriedenen Schnalzen begann er alles zu erzählen.
„Seit langem sehne ich mich nach einem vollkommenen Nachfolger für den Thron Askhars. Und damit meine ich ganz bestimmt nicht meinen missratenen Sohn Kanaima! Er leidet genau wie unser ganzes Volk an einer Krankheit. Einer Krankheit, die unser Blut vergällt, die weitergegeben wird von Vater zu Sohn, von Sohn zu Enkel. Und nichts kann diesen fatalen Kreislauf unterbrechen. Das askharische Volk ist verdorben, unser Blut ist verdorben. Und ich sage dir, Konsultas, ein derart geschwächtes Volk kann und wird aus eigener Kraft nicht mehr stark werden. Das ist gewiss. Wir stehen am Abgrund!“
Lata verzog keine Miene seines ebenmäßigen Gesichtes, obwohl er das, was der König gerade erzählte, äußerst erregend fand. Was für eine monströse Gemeinheit hatte Katthike da wieder ausgeheckt?
„Doch die Götter haben mir eine Lösung dieses Problems offenbart. Ich werde ein Edikt für alle Gesellschaftsklassen erlassen, das zukünftig verbietet, Ehen unter Verwandten zu schließen. Und wer dagegen verstößt, wird mit dem Tode bestraft.“
„Auch die Adligen?“, fragte Lata.
„Ja, auch die Adligen! Gerade sie muss ich doch davon abhalten, ihr Blut noch weiter zu verdicken!“
„Und der Brauch?“ Es war in Askhar üblich, dass Adelsfamilien nur unter sich heirateten.
„Zur Hölle mit dem Brauch. Ich bin der König. Ich bestimme einen neuen Brauch! Das Edikt wird die ‚Musterung‘ heißen und noch diesen Sommer in Kraft treten! Und falls es nötig sein sollte, so bin ich gewillt, dies mit Waffengewalt durchzusetzen“
Lata verzog anerkennend die Lippen. Seine Achtung für den König wuchs, je tiefer er Einblick in dessen geheimste Gedankenwelt erhielt.
„Ich sehe, meine Pläne gefallen dir!“, rief Katthike erfreut aus und rieb sich die Hände.
„Gefallen? Eure Hoheit, ich bin entzückt!“, antwortete Lata ehrlich und erlaubte, dass Glanz in seine Augen trat.
„Also kann ich auf deine Unterstützung zählen?“ Es war eher eine Feststellung als eine Frage, die Katthike mit einem scheinbar spielerisch erhobenen Zeigefinger untermalte. Doch Lata wusste nur zu gut, dass Drohungen Katthikes niemals leer waren.
„Natürlich, Majestät, ich fühle mich überaus geehrt, dass Ihr mich in dieser Angelegenheit ins Vertrauen gezogen habt.“ Leicht neigte er sein Haupt mit der schwarzen Kappe. „Nur eines noch.“ Da waren noch immer einige Knoten, die gelöst werden mussten.
„Und das wäre?“ Katthikes Blick flackerte ungeduldig.
„Verratet mir, warum Ihr ausgerechnet Setna zu Eurem Thronfolger ernennen wollt?“
„Du hast doch zugehört, oder?“
Bei dem eisigen Tonfall Katthikes rutschte Lata das Lächeln aus dem Gesicht. „Ja, das habe ich. Aber ich ...“
Die Hand des Königs fuhr dazwischen. „Dann sollte dir nicht entgangen sein, dass das Edikt auch für mich Geltung hat.“
Lata wollte amüsiert auflachen, seit wann musste sich Katthike an seine Gesetze halten?
„Auch meine Ahnenreihe ist verseucht“, fuhr der König fort und stieß ungehalten seinen verkrümmten Fuß vor. „Das ist nicht zu übersehen, denke ich! Und auch mein Sohn Kanaima taugt nichts!“
„Aber er ist doch immerhin Euer leiblicher Sohn!“
„Ach, was! Ein Nichtsnutz ist er. Das, was ich für Askhars Zukunft brauche, ist gesundes Blut. Ich will einen starken König, strahlend und schön, ein makelloses Geschöpf. Einen, zu dem man aufschaut, keinen lahmenden Krüppel. Und Setna wird dieser König sein, er wird eine neue und mächtige Dynastie gründen und über das askharische Großreich herrschen, das ich ihm in die Hände legen werde! Und ich befreie mein Volk von dem Fluch des faulen Saftes!“ Mit grimmiger Inbrunst schlug sich Katthike vor die Brust.
‚ Askharisches Großreich?’, dachte Lata, hellhörig geworden. ‚Da hast du aber noch viel vor, mein Freund.’ Er nickte bedächtig. „Und wie wollt Ihr verfahren, Majestät? Was soll als nächstes geschehen?“
„Wenn wir von dieser Reise hier zurück in Askhari-Kaise sind, werde ich das Edikt erlassen und mitten in das große Geschrei, das danach folgt, die Bekanntgabe meines neuen Thronerbens ausrufen.“
Das würde wahrhaftig ein Gezeter geben! Lata konnte schon die Schreie des Protestes aus den Reihen des Adels hören. Das würde ein Spaß werden!
„Eure Majestät, Ihr plant einen Skandal“, sagte er ernst und innerlich um ein angemessen besorgtes Gesicht bemüht.
„Das wird es in der Tat, Konsultas. Aber das lass getrost meine Sorge sein. Was ich bestimme, ist Gesetz. Und wer sich dem Gesetz nicht beugt, wird eben hingerichtet! So einfach ist das!“
Unbeirrbar! Das liebte Lata an diesem Mann! Auch wenn der König rein äußerlich eine bedauernswerte Figur abgab, kannte sein Herz doch kein Erbarmen, und er schien nie die Lust daran zu verlieren, immer wieder aufs neue seine Macht an seinen Untergebenen zu demonstrieren. Katthike hätte allen Grund dafür gehabt, sich mit der derzeitigen Situation zufrieden zu geben. Er hatte neues Land erobert, hatte seinem Volk Wohlstand gebracht und sich bei ihm beliebt gemacht, und doch war da etwas in seinem tiefsten Innern, das ihm keine Ruhe ließ und ihn zwanghaft voran trieb. Katthike war nicht dafür geschaffen, einfach bloß glücklich zu sein, er brauchte den Streit und die Auseinandersetzung. Er musste sich ständig mit seinen Gegnern, ob nun tatsächlich vorhanden oder nur eingebildet, im Kampfe befinden. Das war es, was ihm echte Befriedigung verschaffte! Und während der König verbissen gegen alle Strömungen ankämpfte, schwamm Lata weiter seelenruhig in seinem Kielwasser mit und fraß dankbar die kleinen Brocken, die das große Untier für ihn übrig ließ.
„Ich werde diesen verschimmelten Termitenbau aufreißen und gründlich ausräumen!“, ergänzte Katthike entschlossen und Lata wusste, dass damit der Palast gemeint war.
Er war gespannt darauf, wie all die fetten eingebildeten Hofschranzen, die wie nimmersatte Maden an der Zitze des Reiches saugten, auf die kommenden Veränderungen reagieren würden.
„Und du wirst dabei mein Verbündeter sein!“, bestimmte der König.
„Selbstverständlich, Majestät!“ Lata verbeugte sich so tief er konnte und roch dabei das frische Gras.
„Gut, dann kehren wir jetzt zur Festung zurück. Ich verspüre einen leichten Appetit.“
Beide Männer streckten ihre Glieder und stiegen auf die Pferde. Auf dem Rückweg, den sie im gemütlichen Tempo zurücklegten, erzählte Katthike seinem Berater ganz beiläufig, wie er bereits schon vor seiner Thronbesteigung versucht hatte, den perfekten Nachfolger hervorzubringen. Und der Konsultas hörte aufmerksam zu, denn das war vor seiner Zeit gewesen, bevor er nach Askhar gekommen und Berater des Königs geworden war.
Damals hatte König Buthwal III. darauf bestanden, dass der zweiundzwanzigjährige Katthike seine eigene Nichte heiratete, die ihm kurz darauf seine beiden Kinder gebar, Prinzessin Laika und den verkrüppelten Prinzen Kanaima. Doch beide Nachkommen entsprachen ganz und gar nicht Katthikes Vorstellungen, und das dritte Kind, welches schließlich noch zur Welt kam, war eine regelrechte Monstrosität. Die wenigen Personen, die es zu Gesicht bekamen, wendeten sich schnell ab und schlugen alle möglichen Zeichen zur Abwehr des Bösen! Und tatsächlich hatte das, was da vor ihren Augen lag, nicht viel Ähnlichkeit mit einem Menschen. Die grausam unförmige Gestalt ruderte fordernd mit seinen Ärmchen und schrie schrill aus zwei Mündern, die sich in zwei aufgedunsenen Köpfen geöffnet hatten. Die Beine waren nur verkümmerte Stümpfe. Noch nicht einmal die Mutter konnte es über sich bringen, das schreiende Ding anzufassen, und so wurde es von einer beherzt einschreitenden Hebamme mit der Hand erstickt und so schnell wie möglich beseitigt. Danach sah Katthike davon ab, weitere Kinder mit seiner eigenen Frau zu zeugen. Vielmehr begann er, sich nach geeigneterer Substanz umzusehen. Beinahe gleichzeitig tat er zwei junge Mädchen auf. Eine hübsche Askharerin von nichtadeligem Stande und eine Sklavin aus Hy. Wollüstig bestieg er sie in ein und derselben Nacht und quartierte beide in seinem eigens dafür angelegten Frauenhaus ein. Beide kamen fast gleichzeitig nieder. Das Ergebnis bei der Askharerin war enttäuschend. Zwar hatte sie einen Knaben zustande gebracht, aber er hatte das verkrüppelte Bein des Vaters geerbt. Und da Katthike bereits Vater eines lahmenden Sohnes war, schied das Kind der Askharerin aus. Doch das Kind, welches die Hy-Sklavin bekommen hatte, machte einen sehr vielversprechenden Eindruck. Die Sklavin selbst war von ausgezeichneter Gesundheit und Schönheit, und sie hatte sich leicht zähmen lassen. Ihr Knabe war gesund und kräftig und hatte feingliederige Füße ganz ohne Missbildungen. Katthikes Makel hatte sich nicht auf ihn übertragen. Seine Freude darüber war beinahe überschwänglich, endlich hatte er einen geeigneten Erben. Schon schmiedete er weitere Pläne und dankte den Göttern. Doch wenige Tage später warf ihn ein unvorhersehbares Ereignis jäh wieder zurück.
Eines Morgens war das Hy-Mädchen mit dem Kind und einer Dienerin allein in ihrem neuen Gemach, das Katthike für sie hatte einrichten lassen. Ruhig stillte sie den kleinen Jungen, während warme Sonnenstrahlen durch das geöffnete Fenster auf ihr Gesicht fielen. Alles schien friedlich. Dann aber sah das Hy-Mädchen auf und mit einem kurzentschlossenen Satz war sie plötzlich auf dem Fensterbrett. Noch ehe die Dienerin sie festhalten konnte, sprang sie mitsamt dem Kind ihn ihren Armen in die Tiefe. Stumm schlug sie auf dem Pflaster des Hofes auf, und beide waren sofort tot.
Katthike war außer sich und ließ die Dienerin in den Kerker werfen. Doch ihm war schnell bewusst, dass er selbst es war, der den Fehler begangen hatte. Er war zu leichtgläubig gewesen! Das Hy-Mädchen hatte ihm etwas vorgegaukelt und ihn glauben lassen, ihr Wille sei gebrochen. Daraufhin hatte er ihre Beaufsichtigung vernachlässigt.
Doch Katthike grämte sich nicht lange, rasch fand er eine neue junge Frau aus Hy. Er hatte fünf hübsche Sklavinnen bei einem Herzog aus dem Landesinnern für sie eintauschen müssen. Ein stolzer Preis, doch dieses Mal scheute er keine Kosten. Vor den Fenstern wurden Gitterstäbe angebracht und alle scharfkantigen Gegenstände aus den Räumen entfernt. Nach der Geburt sollte das Kind sofort einer einheimischen Amme übergeben werden. Einfach alles war bedacht worden.
Neun Monate später kam die Hy-Sklavin nieder. Und kaum, dass der Geburtsvorgang abgeschlossen war, betrat Katthike den Raum, um das Kind zu begutachten. Man teilte ihm mit, dass es erneut ein Junge sei, was ihn triumphal auflachen ließ. Er nahm das Bündel mit dem Kind an sich und wickelte es aus dem Tuch. Das Lächeln gefror auf seinem Gesicht, als er die Beine des Kleinen erblickte. Sie waren so stark verkrüppelt, dass er wahrscheinlich nie hätte laufen können! Wütend schleuderte Katthike das schreiende Kind auf den Tisch, zückte seinen Dolch und tötete es mit einem einzigen Stich in den weichen, nachgiebigen Brustkorb. Danach stürzte er wild fluchend aus dem Zimmer. Die Hy-Frau wurde kurze Zeit später hingerichtet und zusammen mit ihrem Kind verscharrt.

Nach dieser Episode änderte Katthike bitter enttäuscht seinen Plan. Er würde wohl noch reineres Blut benötigen. Aber es war ungewiss, wann er das geeignete „Königsstück“ in seine Sklavensammlung bekommen würde.
Erfolglos zog ein weiteres Jahr ins Land, und Katthike fand eine gute Ablenkung in den Vorbereitungen für seine Krönung. Anschließend war all seine Aufmerksamkeit in die penible Planung des Feldzuges gegen die Hy geflossen, an der schließlich auch Lata beteiligt gewesen war. Und dann hatte er sein „Königsstück“ bekommen!
„Die Zeit ist reif, nie war mein Halt im Volke besser“, erklärte Katthike, während sie noch durch den Wald ritten. „Sie werden es verkraften, wenn kein reinblütiger Askharer auf den Thron sitzt.“
„Ja, Majestät“, murmelte Lata einsilbig. Er wollte nicht mehr reden, er musste nachdenken. Viele der Knoten in seinem Kopf hatten sich entwirrt, doch andere waren dafür neu entstanden und forderten all seine Wachsamkeit. In der vergangenen Stunde hatte er in die tiefen und schauderhaften Abgründe einer Seele geblickt, die er selbst zu kennen geglaubt hatte, und erst jetzt war er in der Lage, die eigentliche Tragweite des gefährlichem Größenwahnsinns Katthikes zu erfassen. Vorsichtig schielte er zur Seite. Der Mann, der dort ritt, war ein Ungeheuer in Menschengestalt!
Kalt rieselte es Lata über den Rücken, während sich Katthike mit seiner Hand über den Bart strich.
„Ich will, dass du gleich mit mir speist, Konsultas. Dann können wir uns noch weiter unterhalten.“
„Oh, vielen Dank, Eure Hoheit, ich fühle mich geehrt!“ Lata bemühte sich, möglichst begeistert zu wirken, insgeheim aber war ihm mulmig zumute. Er verneigte sich bis auf den Pferdhals, und niemand konnte sehen, dass er dabei angestrengt Luft ausstieß.

5. Kapitel



Es wurde ein Skandal, wie ihn das ehrwürdige Königreich Askhar noch nicht gesehen hatte! Der gesamte askharische Adelsstand geriet in Rage über den Beschluss ihres Königs, das Edikt namens „Musterung“. Immer wieder musste die Königliche Leibgarde den aufgebrachten Mob vor den Türen des Audienzsaales zur Ordnung rufen. Aber der König blieb in seiner Abgeschiedenheit und ließ niemanden außer Lata zu sich. Unbeeindruckt harrte er aus. Sollten sie doch toben.
Nachdem sich die Nachricht von dem neuen Edikt im ganzen Land verbreitet hatte, erhoben sich auch in anderen Städten die Empörten und hielten ungenehmigte Versammlungen ab. Sie verfassten Gesuche und Mahnschriften. Doch es half nichts, der König blieb hart wie der Felsen, auf dem sein Palast stand.
Und als die ersten Soldaten im Auftrag der „Musterung“ von Tür zu Tür zogen, um ihre Inspektionen durchzuführen, brachen die bereits prophezeiten Unruhen aus. Auf den Straßen herrschte Aufruhr, und überall, wo die Soldaten mit dem Zeichen der Schlange auf ihrem Wappenrock auftauchten, wurden sie beschimpft und mit Unrat beworfen. Mit aller Macht versuchte man, ihnen den Zutritt zu den Häusern zu verweigern, den Zutritt zu den Kindern. Doch die Kommandeure hatten die Befugnis, ihre Waffen zu gebrauchen, und so schlug man die Türen kurzerhand mit der Axt ein und demjenigen, der sich dahinter verschanzt hatte den Schädel.
Das Edikt sah vor, dass jedes Neugeborene fortan registriert und jede künftig vereinbarte Eheschließung zuvor geprüft und zugelassen werden musste. Ein Amt, das eigens dafür in jeder Stadt eingerichtet worden war, führte die Aufsicht über die Musterung unterstützt vom Militär.
Die Soldaten drangen in jede noch so versteckte Kammer ein, entrissen den Müttern ihre Kinder und untersuchten sie auf offensichtlich inzestuöse Krankheiten und Verkrüppelungen. Waren die Entartungen von schwerer Natur, so wurden sie auf der Stelle getötet. Waren die Schäden hingegen nur leicht oder erst später als Geistesschwäche zu erkennen, sollten diese Jungen und Mädchen, egal ob adelig oder nicht, zu einfachen Spießträgern der Armee oder Arbeiterinnen ausgebildet werden. Auf Todesstrafe sollte es ihnen verboten sein, selbst Kinder zu zeugen.
Tausende Familien wurden auseinandergerissen, sahen sich nie wieder, Tausende von Kinderleichen düngten diesen Sommer die Erde von Askhar.
Und mitten in dieses wohlgeplante Chaos setzte Katthike schließlich die Bekanntgabe, den dreijährigen Setna als seinen Sohn anzunehmen und ihn zum Thronfolger zu ernennen.
„Aber, Majestät, seid Ihr Euch sicher?“, fragte der Hofmarshall, der neben dem gleichfalls bestürzten Schreiber stand.
„Selbstverständlich bin ich mir sicher!“, brüllte er die beiden blassen Männer an. „Gebt die Botschaft raus! Oder muss ich sie etwa noch selbst schreiben?“
Die beiden verneigten sich hastig und verließen den Raum.
Wenige Tage später trommelten die Fäuste der feurigsten Anhänger der Patriotischen Liga Askhars an das Tor des Palastes. Der König ließ sie ein.
Man könne doch kein Mischlingskind und dazu noch eines von der übelsten Sorte auf den Thron setzen, klagten sie. Wo bliebe denn der Stolz Askhars? Sie rangen die Hände und appellierten an des Königs Vernunft. Doch Katthike blieb hart. Die Bittsteller schrien und zeterten Schmähungen, sie wollten ihren Herrscher nicht verstehen. Katthike ließ die am lautesten Schreienden töten. Das kühlte die Gemüter schlagartig ab, denn ihnen wurde bewusst, dass sie gegen einen Mann protestierten, der nur mit seinem kleinen Finger zu zucken brauchte, um sie alle in die Hölle fahren zu lassen!
Und so waren die Wogen im Palast bereits wieder glättetet, noch ehe draußen vor den Mauern das Volk sich in sein Schicksal ergab.

Fern von der Hauptstadt hatte der General derweil noch alle Hände voll mit der Eindämmung des Aufruhrs zu tun. Doch ohne großes Federlesen ließ er alle Aufständischen niedermetzeln, die es wagten, den Mob gegen den König aufzuhetzen, und schließlich gelang es dem begabten Kriegstaktiker, auch sein eigenes Volk in die Knie zu zwingen. Zufrieden kehrte er nach Askhari-Kaise zurück, um sich dort vom König beglückwünschen zu lassen. Doch als er im Palast ankam, fand er sich einer beispiellosen Ungeheuerlichkeit gegenüber, die sämtliche Könige Askhars in ihren staubigen Grüften hätte aufheulen lassen.
„Darf ich vorstellen, General. Dies ist Setna Hokhan, mein Thronfolger. Wenn Ihr auch ihm die Treue schwören wollt!“ Katthike schob den kleinen Jungen mit den tiefschwarzen Augen vor sich. Setna war angetan in den Farben des Königshauses und blickte neugierig zu Kasai auf.
Direkt hinter dem König lugte Lata hervor. Ein höhnisches Zucken um dessen Mundwinkel verriet, dass er in seiner Abwesenheit wieder Oberwasser in der Gunst des Königs bekommen hatte. Kasai beherrschte seine eigenen Gesichtsmuskeln, obwohl er dem Konsultas am liebsten dessen schmieriges Grinsen zertrümmert hätte. Ruhig legte er die rechte Hand auf seine Brust und verneigte sich vor dem König und dessen Bastardkind. Mit fester Stimme sagte er den Treueschwur auf. Seine askharische Seele jedoch war bis ins Mark beleidigt. Er war übergangen worden, die Patriotische Liga war übergangen worden! Dahinter konnte nur dieser räudige, ausländische Ränkeschmied von einem Konsultas stecken!
Die Blicke der Rivalen trafen sich, und Kasais Glut kühlte sich in den starren kalten Seen Latas. Fast hätte man meinen können, ein leises Zischen zu hören.
Als schließlich der Höflichkeit genüge getan war, erteilte der König dem General die Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen. Kasai senkte den Blick und bemerkte den von seinem Erbrecht enthobenen Kronprinzen Kanaima. Der Zwölfjährige stand regungslos im Schatten der kleinen Versammlung. Sein schmales Gesicht wirkte teilnahmslos, doch in seinen Augen glaubte Kasai dieselbe bittere Erkenntnis lesen zu können.
‚Wir beide sind betrogen worden. Wir beide, mein Prinz. Doch dafür wird dieser ausländische Hund büßen, das schwöre ich.’ Mit einem knappen Gruß wandte er sich schließlich ab und ging. Es drängte ihn, zu hören, was die Patriotische Liga zu unternehmen gedachte.

Prinz Kanaima jedoch blieb zurück in dem Saal, wo die Gefolgschaft des Königs sich aufzulösen begann. Niemand beachtete ihn. Ein schmerzliches Gefühl. Von Gestern auf Heute war er zu einem Nichts geworden.
Der Hofmarshall und Lata schlenderten an ihm vorbei, würdigten ihn jedoch keines Blickes. Kanaima zog die Brauen zusammen. Eine zähe schwarze Masse ballte sich in seinem Bauch zusammen. Sie wucherte und drückte, rannte gegen die Magenwand an wie ein wütender Stier. Er schluckte, doch die Übelkeit blieb. Er wandte seinen Kopf nach links. Neben ihm stand seine Schwester, ebenso durchsichtig für die Leute wie er. Tröstliche Zuflucht hatte Kanaima immer nur bei ihr finden können. Laika war nur ein Jahr älter als er und hatte das Glück, von ihrem Vater nicht ständig drangsaliert zu werden. Der König ignorierte sie schlicht, denn als weiblicher Nachkomme war sie für ihn völlig wertlos. Im besten Falle konnte er sie einem seiner treuen Vasallen zur Frau geben. ‚Doch wem konnte man dieses kleinwüchsige und nicht gerade hübsche Weibsstück schon zumuten?’ So hatte er seinen Vater einmal über Laika sprechen hören. Derlei Demütigungen gingen ihm stets leicht von der Zunge, und das hatte die beiden Kinder früh zusammengeschweißt. Vorsichtig tastete Kanaima nach der Hand seiner Schwester. Sie war kalt, aber lebendig. Er drückte sie. So war es immer gewesen, je verlorener sie sich gefühlt hatten, desto enger waren sie aneinander gerückt.
Laika erwiderte den Druck, wagte es aber nicht, ihren Bruder anzusehen. Sie fürchtete wohl, sonst weinen zu müssen. Das junge Mädchen ließ seine Hand los und ging voran zu der Tür. Doch der Junge zögerte. Hasserfüllt heftete sich sein Blick noch einmal an den Vater, der bereits zum jenseitigen Ausgang des Saales hinstrebte. Auch den kleinen Setna an der Hand der Kinderfrau erfasste er. Eine ganze Weile verging, dann erlosch das scharfe Brennen in seinem Blick, und er machte sich daran, seiner Schwester zu folgen. Den linken Fuß etwas nachziehend, hinkte er davon.

Doch ganz unsichtbar war Kanaima für seinen Vater noch nicht geworden, so gern dieser ihn und seine Schwester auch vernachlässigt hätte. Aber sie waren immerhin noch Mitglieder der königlichen Familie, und diese hatten das Recht auf eine standesgemäße Ausbildung. Für Kanaima bedeutete das vornehmlich die militärische Zucht. Und weil Katthike es Freude bereitete, seinen Sohn zu quälen, schickte er ihn noch vor Ende des Sommers in die Obhut der Leibwache, die ihn fortan zu einem der Ihren erziehen sollte.
Von da an wohnte Kanaima in dem Teil des Palastes, in dem das Dienstgesinde und die Soldaten untergebracht waren, weit weg von Laikas Gemächern. Damit waren die wertvollen Augenblicke der heilsamen Zweisamkeit für die beiden Geschwister vorbei, und der einzige Ort inmitten dieser eisigen Mauern, an dem Kanaima sich geborgen gefühlt hatte, war in unerreichbare Ferne gerückt.
Die Männer der Leibwache hausten in schlichten Mannschaftsquartieren, wo Kanaima immerhin ein Bett bekam und nicht bloß einen Strohsack. Das tägliche Leben bei den raubeinigen Kämpen war hart, und er wurde von seinen Waffenmeistern geschunden und geschliffen. Sie nahmen keinerlei Rücksicht auf seinen noch schwächlichen Körper und sein Hinken. Kanaima biss die Zähne zusammen und ertrug alles schweigend. Er verabscheute die schlechten Manieren der viel älteren Männer, ihr ständiges Geschrei, die Prügel, und ganz besonders ihre derben Scherzen, die sie mit ihm trieben. Abend für Abend verkroch er sich mit schmerzenden Knochen auf seinem harten Lager und träumte sich weit fort. Sein einziger Wunsch war es, abzuhauen; sich unbemerkt davonzumachen und für immer zu leben wie der Vagabund aus den Geschichten der Spielleute. Doch dafür hätte er seine Schwester im Stich lassen müssen, und dieser Gedanke gefiel ihm überhaupt nicht. Also riss er sich zusammen und blieb mangels an geeigneten Auswegen da, wo er war.
Seine Tage verliefen in eintöniger Routine. Nach dem Aufstehen in aller Frühe und einem kärglichen Mahl erwartete ihn der ewig kritische Rebian zum Schwertunterricht, anschließend jagte der vierschrötige und düster wirkende Capitano der Leibgarde sie alle durch den Sand der Kampfbahn. Zum Mittag gab es eine dünne Suppe, und am Nachmittag maß man sich im Reiten. Abends gab es Brot und Speck, und später hockte Kanaima im Schein der Pechfackeln und pflegte Waffen und Rüstzeug der ganzen Mannschaft. Einmal in der Woche kam der nächtliche Wachdienst hinzu, bei dem er sich bisweilen nur wach zu halten vermochte, indem er sich hasserfüllte Pläne gegen seinen kleinen Stiefbruder ausdachte. Doch bei all der Erschöpfung und den Schmerzen war Kanaima froh, nicht mehr in der unmittelbaren Nähe seines Vaters und des ganzen zerrütteten Restes seiner Familie zu sein. Tatsächlich hatte sich die raue und ehrliche Härte der Soldaten gegenüber der tückischen Verachtung seines Vaters als wahre Wohltat entpuppt. Kanaima blühte förmlich auf und erkämpfte sich durch seinen Mut der Verzweiflung allmählich den Respekt der Männer. Auch ließen ihn die anstrengenden Übungen schnell kräftiger werden, und zum ersten Mal erfuhr er, was es hieß, für eine Leistung auch Anerkennung zu bekommen. Sein kränkelndes Selbstbewusstsein genas. Im Stillen litt er jedoch weiter mit seiner Schwester, denn sie war eingesperrt in der giftigen Atmosphäre der königlichen Gemächer. Sie war ganz auf sich allein gestellt, nicht einmal bei ihrer Mutter konnte sie Schutz suchen.

„Prinz Kanaima, Ihre Hoheit, die Königin, verlangt nach Euch!“
Kanaima kämpfte den Unglauben zurück, der sich in seinem Gesicht abzeichnen wollte, und nickte statt dessen schüchtern.
Der junge Bote verneigte sich knapp, machte kehrt um und ging davon. Der Capitano blickte Kanaima streng an, er konnte es nicht leiden, mitten in der Übung unterbrochen zu werden.
„Capitano, ich werde von der Königin erwartet. Ihr erlaubt?“, fragte Kanaima höflich, obwohl er wusste, dass das Wort des Anführers der Leibgarde weit unter dem Befehl der Königin stand. Aber er wollte den brummigen Recken nicht noch mehr verärgern.
„Hm, geh schon, verschwinde! Aber heute brauchst du bei mir nicht mehr aufzutauchen!“, knurrte dieser.
Kanaima zog sich seinem Helm vom Kopf und ging gemessenen Schrittes vom Platz. Erst bei den Mannschaftsunterkünften gestattete er sich ein Lächeln. In seinem Quartier legte er die schwere Schutzkleidung und das raue Untergewand ab und wusch sich in einem Eimer. Er wollte sauber vor seine Mutter treten. Dabei überlegte er, was sie wohl von ihm wollen könnte. Es war seltsam, noch nie hatte sie ihn zu sich rufen lassen.
Kanaima trocknete seinen noch immer schmalen aber sehnigen Oberkörper ab und schlüpfte in den schlichten grauen Rock der Leibwache, den er schon tragen durfte und auf den er stolz war. Er legte sich einen ledernen Gürtel um die Hüfte und band sich seine Haare zu einem ordentlichen Zopf. Dann räumte er das Rüstzeug zur Seite und machte sich auf den Weg zum anderen Palastflügel.

Königin Larjha hockte in ihrer großzügigen Kammer und starrte vor sich hin. Eine Zofe hatte ihr die langen, braunen Haare gekämmt - was sie gar nicht mitbekommen hatte - und danach sich selbst überlassen. Ein weiterer unendlich langer Tag erwartete sie, eintönig und zäh, genau wie der davor. Und auch morgen würde sich nichts ändern.
Larjhas beinahe durchscheinende Hand hob sich und schwebte mehrmals durch die Luft, als verscheuche sie Fliegen, die nur sie sah. Dann fiel sie wieder kraftlos in ihren Schoß.
Früher einmal war sie eine außergewöhnliche Schönheit gewesen, die Tochter des ehrenwerten Herzogs Benthor, der aus der dritten Linie König Kurthwals I. stammte. Mit vierzehn Jahren hatte sie den viel älteren, krummbeinigen Katthike aus der ersten Linie des Königsgeschlechtes heiraten müssen, der damals der aber noch nicht einmal Thronerbe gewesen war. Sie hatte ihn zutiefst verabscheut, diesen kleinen Mann mit den stechend bösen Augen. Und sein gewaltsüchtiges Wesen hatte sich schon wenige Tage nach der Hochzeit offenbart.
Hinter Larjha raschelte es leise, doch sie rührte sich nicht. Ihre Gedanken an die Vergangenheit waren zu mächtig, als dass sie sie freigegeben hätten.
Katthike ... Er hatte sie damals eingesperrt wie ein wertvolles Pelztier. Und nur zu öffentlichen Auftritten durfte sie ihre Gemächer verlassen. Selbst die niedrigsten Sklaven des Palastes hatten mehr Freiheiten als sie. Immerhin wurde ihnen das Recht zugesprochen, um den Tod bitten zu dürfen.
Es raschelte wieder. Doch die Königin blieb wie erstarrt in ihrem Stuhl sitzen.
Aus purer Lust an ihrer Hilflosigkeit hatte Katthike sie gequält, hatte über sie verfügt, als sei sie seine Bruthenne. In kürzester Zeit hatte sie ihm drei Kinder geboren, wovon das letzte als Spiegelbild seiner verwesenden Seele auf die Welt gekommen war! Doch auch die anderen beiden Kinder wollte sie nicht in ihre Arme schließen, so sehr verabscheute sie die Fleischwerdung der brutalen Besteigungen ihres Ehegatten.
Alleingelassen in ihrer schmerzgeplagten Einsamkeit ergriff sie schließlich tiefe Trauer um ihr eigenes Schicksal und legte sich lähmend auf ihr Gemüt. So war sie in den düsteren Schatten ihres Gemaches langsam und unbeachtet verkümmert wie ein Rosenstrauch ohne Sonnenlicht. Ihr Geist war der Welt entflohen und nur ihr Körper war zurückgeblieben.
Erneut scharrte etwas über die Holzdielen. Larjha blinzelte träge, und es schien als horche sie. Eine einzige Träne, stahl sich aus ihren Augen, und im trüben Licht, das durch die Fenster fiel, rann sie glitzernd ihre Wange hinab, hinterließ eine feuchte Spur. Das Rascheln erstarb.
Da klopfte es. Die Tür schwang auf, und ein Soldat der Leibwache schob eine kleinere Gestalt vor sich in den Raum. Schnell schloss er die Türe wieder, als könne der Geist, der dahinter eingesperrt war, entfliehen. Der Riegel schabte, und es war erneut ruhig.
Königin Larjha drehte mechanisch ihren Kopf, das dunkle Haar strich ihr dabei über die Schulter und kräuselte sich wie Tentakel auf ihrer Brust. Ihre trüben Augen hatte sie so verrenkt, dass man fast nur noch das Weiße sah. Die blutleeren Lippen zuckten, blieben aber stumm.
Kanaima war stehengeblieben und blickte mit Unbehagen auf die geisterhafte Gestalt seiner Mutter. Unwillkürlich durchfuhr ihn ein Schauer. In ihrer blassen Zerbrechlichkeit schien sie ihm unwirklich und unheimlich. Sie glich einer Puppe, die man hübsch anziehen, oder in einer Abstellkammer verstauben lassen konnte, je nachdem, wie man es gerade brauchte. Er räusperte sich und verscheuchte seine schlechten Gedanken. Entschlossen trat er auf die Königin zu, nahm ihre steife kalte Hand und verbeugte sich.
„Du?“, krächzte sie schwächlich, aber es war klar, dass sie ihn nicht erkannte, denn ihr Blick floh zerstreut zu einem Punkt hinter ihm.
Kanaima sah forschend in ihr Gesicht. Warum hatte diese Person, die nicht mehr Herr über sich selbst war, ihn rufen lassen?
Hinter dem Stuhl Larjhas raschelte es. Und noch bevor Kanaima sich herumbeugen und nachsehen konnte, drang ein vergnügtes Kichern aus dem Schatten hervor.
Seine Stirn kräuselte sich.
„Laika, bist du das?“
Das Kichern wurde zu einem vergnügten Lachen, und schließlich erhob sich seine Schwester, die sich hinter dem Stuhl der Mutter versteckt gehalten hatte. Sie strahlte über das ganze Gesicht.
Larjha blieb abwesend und beäugte weiter den Punkt hinter Kanaima, als sei dort ein ferner schimmernder Stern erschienen.
„Was machst du hier?“, flüsterte Kanaima. Sein Herz schlug freudig. Seit zwei Monaten hatte er seine Schwester nicht gesehen.
„Es war eine List.“ Laika zog Kanaima hinüber zum Bett der Königin, wo sie sich setzten. Dabei fiel ihr Blick auf die blau angeschwollenen rechte Hand ihres Bruders. Sanft umfasste sie sie.
„Es ist nicht so schlimm“, wehrte Kanaima ab. Peinlich berührt von ihrer Fürsorge zog er die Hand zurück, die Rebian beim Üben mit dem Holzschwert getroffen hatte. „Sag mir lieber, wie du das angestellt hast?“
Laika lächelte verschwörerisch. „Ich habe mich heute Morgen hier eingeschlichen, und als die Zofe unserer Mutter den Rücken zugekehrt hat, habe ich sie sprechen lassen. ‚Bringt mir meinen Sohn!’“, ahmte sie das Krächzen gekonnt nach und lachte. „Das Gesicht der Zofe hättest du sehen müssen, zu Tode erschrocken war sie! Doch sie hat den Boten gerufen und ihn zu dir geschickt. Und hier bist du nun.“ Sie breitete die Hände aus.
Kanaima musste grinsen, eine solch ausgefuchste Tat hätte er seiner Schwester niemals zugetraut. Eine Weile unterhielten sie sich leise und horchten dabei immer wieder auf Geräusche vor der Tür. Aber alles blieb ruhig, nicht einmal ihre Mutter rührte sich. Sie hatten genügend Zeit.
„Oh, und weißt du schon das Neueste?“ Laika klatschte in die Hände. Kanaima schüttelte den Kopf.
„Wir dürfen bei dem Turnier der Besten dabei sein. Ja, wir müssen sogar dabei sein! Vater hat es angeordnet.“ Beim letzten Wort gab sie ihrer Stimme einen tiefen Klang, als ahmte sie den König nach. Kanaima freute sich über ihre gute Laune, aber mehr noch über diese Nachricht. Wie sehr hatte er schon befürchtet, dass ihm das Turnier dieses Jahr versagt bleiben würde. Plötzlich kam ihm ein weiterer Gedanke und es durchfuhr es ihn, als hätte ein Blitz ihn getroffen. Seine Hände öffnete und schlossen sich unruhig.
„Großartig“, flüsterte er, den Rücken steif aufgerichtet.
„Nicht war? Das wird großartig!“
„Oh, ja!“ Seine Stimme klang ungewohnt boshaft und Laika zog die Brauen zusammen.
Kanaima besann sich und zügelte seine Erregung. Er konnte später noch genug über die Möglichkeit nachdenken, die sich ihm durch das Turnier so unverhofft öffnete.
Es wurde Zeit, sie mussten sich verabschieden. Laika versprach ihrem Bruder, ihn bald wieder rufen zu lassen, und dann schlüpften die zwei Geschwister nacheinander aus der Tür und verschwanden in den dunklen Eingeweiden des Palastgebäudes.

Es würde wie ein Unfall aussehen, dachte er sich. Hellwach lag er auf seinem Lager und stellte sich immer wieder vor, was er tun wollte. Gespenstisch leuchteten die Reihen seiner Zähne in der Schwärze der Nacht auf. Er war fest entschlossen. Ganz gleich, wie klein und unschuldig Setna sein mochte, er musste sterben! Setna - dieser Zuneigung schmarotzende, kleine verrotzte Wurm - musste weg!
Niemanden würde er in sein Vorhaben mit einweihen. Wen auch? Er würde es ganz alleine tun. Und die beste Gelegenheit dafür stand kurz bevor: Das große, alljährliche Turnier der Besten, bei dem alle mutigen Krieger und Kämpfer des Landes in Turnierkämpfen ihr Können unter Beweis stellten. Kanaima liebte dieses Fest, schon immer hatte er die stolzen Krieger bewundert. Und seit er bei Rebian das Fechten erlernte, wusste er, dass er auch ein solcher Kämpfer werden wollte. Das Schwert in seiner Hand, auch wenn es nur ein Holzschwert war, gab ihm das neue und bisher unbekannte Gefühl von Macht. Ein wundervolles Gefühl, welches ihn auch jetzt durchströmte, wenn er an seinen geheimen Plan dachte. Dieses Fest würde eine unvergessliche Genugtuung werden. Setna würde sterben, und sein Vater würde ihm endlich wieder Beachtung schenken!
Doch bis dahin waren es noch zwei Wochen, und für Kanaima ging das Leben wie gewohnt weiter. Mit zunehmender Ungeduld sah er allerdings immer wieder den Arbeitern beim Bau der großen Holztribüne unten auf dem weitläufigen Turnierplatz im Zwinger der Palastanlage zu. Von Tag zu Tag wuchs sie mehr in die Höhe, bis sie endlich fertiggestellt war. Bunte Fahnen und Bänder schmückten sie. Die königliche Loge thronte ganz oben in der Mitte über den anderen, überdacht mit einem roten Baldachin aus schwerem, edlem Stoff, und das goldene Wappen des Königshauses, die geflügelte Schlange, prangte an der Brüstung.
Kanaima schätzte die Höhe der Tribüne. ‚Ja, das würde genügen!’, dachte er zufrieden.

6. Kapitel



Die Morgensonne schien Raen warm ins Gesicht und er sog die Prise Kiefernduft durch seine Nase ein, die schwach vom Wald herübergetragen wurde. Er saß am geöffneten Fenster in dem Raum seiner Eltern hoch oben im Wohnturm des Chorten, um den die Mauersegler pfeifend ihre Kreise flogen. Hier war sein Lieblingsplatz: Der hölzerne Erker mit der Sitzbank unter den Fenstern, die mit weichen Kissen gepolstert war. Von hier aus hatte man einen erhabenen Ausblick auf die Welt. Links und rechts vom Erker standen die beiden Alkoven seines Vaters und seiner Mutter. Die mit Schnitzereien versehenen Türen der Betten standen leicht offen. Roman und Alea waren schon längst aufgestanden, früh bei Sonnenaufgang an diesem herrlichen Sommertag. Schlichte, kassettenartige Holzwände trennten den gemütlichen Raum von den anderen Zimmern auf dieser Etage des Wohnturmes ab und bildeten die einzige Privatsphäre von Raens Eltern. Die tragenden Pfosten und Deckenbalken des Raumes waren wie fast überall im Chorten in dunkelrot, grün und gelb kunstvoll bemalt, genau wie der Türrahmen und die Tür, vor der ein bunter, gewebter Vorhang hing. Die glänzend polierten Holzbohlen des Fußbodens spiegelten das Licht der Sonnenstrahlen wider und erhellten den Raum freundlich, der bis auf zwei Holztruhen, einen Hocker, einen Krug mit Wasser, zwei tönernen Trinkschälchen und zwei Öllampen leer war. Das Wenige, das Roman und Alea sonst noch zusammen besaßen, befand sich in den Truhen und hinter den Türen der Staufächer in den Alkoven. Raen hatte noch kein eigenes Zimmer. Er teilte sich einen größeren Raum in der Mitte der Etage mit den anderen jüngeren Kindern. Ihre Betten waren dicke, mit Schafswolle gefüllte Matten, die direkt auf dem Holzfußboden lagen. Auch die Kinder besaßen kaum etwas Eigenes, außer ihrer Kleidung und ein wenig Spielzeug, das sie sich gemeinsam teilten.
Seit er denken konnte, hatte sich Raen von dem Fensterplatz in dem Zimmer seiner Eltern angezogen gefühlt. Vielleicht weil seine Mutter schon immer mit ihm auf dem Arm dort auf den Kissen gesessen und die Aussicht genossen hatte. Hier fühlte er sich geborgen, hoch über der Welt, die sich einladend unter ihm ausbreitete.
Er stützte seinen Kopf auf die Hände und sah hinunter in den Hof des Chorten, wo die Menschen des Clans eifrig ihrer Arbeit nachgingen. Rechts unter ihm lagen die Dächer des Tempels und der Tempelgarten, in dem er einige Priester in ihren dottergelben Roben ausmachen konnte. Im Anschluß an den Garten erhob sich die höchste Mauer der Festung mit der rituellen Verbrennungsstätte, die nur bei Feierlichkeiten betreten werden durfte. Schräg hinter dem Tempel stand einer der vier kleineren Wachttürme, die in die äußere Wehrmauer eingelassen waren. Auf ihm befanden sich die großen Trommeln und verschiedenen Signalglocken mit ihren walzenförmigen, bronzenen Klangkörpern. Direkt gegenüber ragte der zweite vierkantige Wohnturm des Chorten über acht Stockwerke vom Hof aus in die Höhe und wie auf allen anderen Dächern, wehten auch auf seiner Spitze die Fahnen in den Clanfarben Dunkelgrün, Dunkelrot und Weiß im lauen Wind. Zu Raens Linken lag das große Haupttor, eingefasst von den dicken Außenmauern der Festung, und im Innenbereich dahinter zur Sicherheit gleich ein zweites. Die Tore waren mit schweren eisenbeschlagenen Eichentüren versehen und bildeten den einzigen Zugang zum Chorten. Unter den Gebäuden der Festung befanden sich noch zahlreiche Kellergewölbe, Speicherräume und Gänge, und unter dem Tempel sollte es angeblich sogar einen geheimen Gang geben, der durch den Fels, auf dem die Festung stand, nach draußen vor die Mauern führte. Aber das hatte Raen nur von den älteren Jungen gehört, die es auch nur wieder irgendwo anders gehört hatten. Und obwohl er mit seinen Freunden rund um den Chorten schon mehrmals alles nach dem geheimen Ausgang abgesucht hatte, hatte er ihn noch nicht gefunden und zweifelte seit dem stark daran, dass es ihn wirklich gab.
Verträumt blickte er über die weiß getünchten Mauern hinweg auf den Chor. Die Felder und Wiesen der Bauern des Clans ringsum begannen gleich zu Füßen der erhaben stehenden Festung. Verstreut darin lagen die Höfe, Scheunen, das Übungsgelände der Krieger, Obsthaine und andere kleine Baumgruppen. Auf den Viehweiden grasten Kühe, Schafe und Pferde. Sie waren als kleine weiße und braune Flecken zu erkennen.
Im Anschluss an die Felder begann der Wald. Er bedeckte, so weit das Auge reichte, die sanft gewellte Hügellandschaft rund um den Chor. In noch sichtbarer Entfernung ragten hier und da die großen Wachttürme, die Choron, aus den Wipfeln der Bäume. Sie flankierten in großen Abständen die Wege durch das Land Hy. Die nächsten Nachbarn des Shari Clans waren die Leute vom Rinzai Clan, der über einen Tagesritt entfernt in westlicher Richtung lag.
Raen ließ seinen Blick erneut nach Osten schweifen und blinzelte in die Sonne, die bereits eine Handbreit über dem Hügelkamm stand. Direkt hinter der Hügelkette schlängelte sich der Fluss Resch nach Norden, wo sich die Höfe von den Getreide- und Gemüsebauern befanden, die noch zum Shari Clan gehörten, wie auch die von ihnen betriebenen Mühlen. Aber dort war Raen noch nicht gewesen. Und während er sich dachte, dass sein Vater ihn eigentlich mal dorthin mit nehmen könnte, blieb sein Blick an der nächsten Landmarke hängen, die man nur an besonders klaren Tagen wie heute sehen konnte: Die grob gezahnten Gipfel des Junghal-Gebirges am südlichen Horizont.
Anders als im Norden Hys, wo immer wieder große, steppenartige Grasflächen die Gebiete der Clans durchzogen, erstreckte sich der Wald südlich des Nori Flusses über die gesamte Landesfläche. In ihn eingebettet lagen wie hellgrün leuchtende Edelsteine die verstreuten Wirtschaftflächen der südlichen Clans. Zahlreiche Straßen, Wege und Pfade durchwebten das dichte dunkle Urgrün wie Adern einen Körper. Die Hy liebten ihren Wald, ihre Grassteppe und ihre Berge. Sie verehrten die Natur und ihre Kräfte als ein lebendiges, ganzheitliches Wesen. Hrauna, nannten sie es, und es war eine der drei heiligen Säulen, die den Thron des Gottes Hyaun stützten. Und Hrauna im Gewand des Waldes gab den Menschen im Süden, so auch denen des Shari Clans, stets die wichtigen Dinge, die sie zum Leben brauchten: Holz zum Bauen, Wild und Pflanzen als Nahrung, allen voran aber natürlich auch Schutz vor unerwünschten Eindringlingen. Nicht, dass es von diesen besonders viele gegeben hätte, aber in Hy zog man es vor, unter sich zu bleiben.
Auch Raen war ein Kind des Waldes. Oft hatte sein Vater ihn schon mit dorthin zu den mächtigen Bäumen genommen und hatte ihm aufregende Dinge gezeigt und gelehrt. Zu jeder Jahreszeit hatte der Wald ein anderes Gesicht, und obwohl Raen erst fünf Jahre alt war, spürte er voller Ehrfurcht die geheimnisvolle Kraft, die von dem atmenden grünen Riesen ausging, der schützend seine Arme um alle Lebewesen legte, die in ihm wohnten. Schnell hatte er verstanden, wie wichtig der respektvolle Umgang mit der Natur war. Denn nur wenn man sich mit ihr verbündete und nur das Nötigste von ihr nahm, war die Lebenskraft, die sie zu Geben bereit war, ein unerschöpflicher Quell. Hrauna, die Ernährerin - erste heilige Säule Hyauns.
„Raen! Komm, wir müssen zur Schule!“ Das war Andra. Sie hatte die Tür geöffnet und lugte am Vorhang vorbei ins Zimmer. „Hab’ ich es mir doch gedacht, dass du hier steckst. Wo auch sonst.“
Raen strahlte sie an. „Ich komme ja schon“, sagte er, und Andra half ihm dabei, das Fenster zu schließen.
„Du weißt, dass Mutter es dir verboten hat, das Fenster zu öffnen. Du könntest hinausstürzen!“, tadelte sie ihn leise.
„Ja, ich weiß, aber die Sonne scheint so schön und sieh mal, man kann heute bis zu den großen Bergen sehen!“
„Trotzdem sollst du auf Mutter hören, Raen! Jetzt komm, ich werde nichts davon verraten, wenn du mir versprichst, dass du das Fenster künftig zu lässt.“
„Versprochen.“ Raen sprang von der Bank und lief aus dem Zimmer.
Andra musste sich beeilen, hinterher zu kommen. ‚Warum ist er nur so unfolgsam?’, dachte sie. ‚Manchmal ist er richtig merkwürdig.’ Schnell jagte sie hinter ihm her die Holztreppe hinunter. Unten in der großen Eingangshalle im Erdgeschoss des Turmes wartete Raen grinsend. Er war aufgeregt. Ging er doch gerne zur Schule.
„So, hab’ ich dich!“ Resolut packte Andra ihn am Kragen. „Du bleibst jetzt hier. Wir warten noch auf Suneka und Akeno.“
Raen wurde ruhiger, er wusste, dass sie alle zusammen gehen mussten. Das Schulhaus war außerhalb der Festung, eine knappe Usui-Stunde entfernt. Das waren vier Lieder. Suneka und Akeno kamen die Treppe herunter, und die vier Kinder machten sich auf den Weg zum Haupttor, wo sich die Gruppe sammelte. Als sie dort ankamen, waren sie die letzten. Lasha warf ihnen einen tadelnden Blick zu. Sie war ein Lehrling der Kinderfrau des Chorten und hatte schon seit einem Jahr die Aufsicht über die quirlige Gruppe der Kleinen, und ihre Geduld wurde oft auf die Probe gestellt. Aber inzwischen hatte sie eine geübte, aber auch schon mal strenge Hand im Umgang mit den Kindern, die sie sehr gern hatten, und als sie das Signal zum Abmarsch gab, folgten sie ihr brav und stimmten das erste Lied an. Laut singend wanderten sie zielstrebig durch die Felder, auf denen die Leute bereits bei der Arbeit waren, vorbei an den Pferdeweiden und dem Hof von Henendra, dem Reitmeister, wo dessen Sohn Hereke bereits wartete und sich der Gruppe anschloss. Raen begrüßte Hereke lachend. Schon nach sehr kurzer Zeit hatten er und der ein Jahr ältere Junge sich angefreundet. Raen fand es schade, dass Hereke nicht auch im Chorten wohnte, denn dann würde er viel öfter mit ihm spielen können. Aber im Chorten lebten und wohnten hauptsächlich die Familien der Krieger, der Medizi, die Priester und die Handwerker. Die Bauernfamilien dagegen wohnten in ihren eigenen Häusern, die mit Ställen, Vorratshäusern und Scheunen umgeben waren.
Sie kamen an den Pferden vorbei, die am Wegesrand hinter der Umzäunung auf ihrer Weide standen und ebenso neugierig die singenden Kinder betrachteten. Am liebsten wäre Raen bei ihnen geblieben, aber Andra hatte ihn fest am Ärmel und zwang ihn zum Weitergehen. So konnte er sich nur den Hals verdrehen, um einige Blicke auf die schönen Tiere mit ihren langen Mähnen erhaschen zu können. Als sie um die Kurve am Holunderhain gingen und wie immer das vierte Lied anstimmten, kam das Schulhaus in Sicht. Auf der Straße kamen ihnen zwei Krieger auf ihren Pferden entgegen. Gemächlich ritten sie an der Gruppe von Kindern vorbei und lächelten ihnen zu. Raen erkannte Reni, den Cousin seines Vaters, und reckte seinen Hals, um den beiden in erhabenes Schwarz gekleideten Kriegern nachzuschauen, während Andra ihn hinter sich her zog. Er liebte den Schulweg, hier gab es so viel zu sehen!
Sie kamen am Schulhaus an, einem weiß getünchten, zweistöckigem Gebäude mit vielen Fenstern und einer überdachten Holzveranda rundherum. Ein Wohnhaus und ein kleiner Hof gliederten sich am hinteren Teil an. Dort lebten die Schulmeister mit ihren Familien. Einer von ihnen schlug gerade ein Klangeisen an, das neben dem Eingang hing, als Zeichen für den Beginn des Unterrichts.
Im Innern des Schulhauses befanden sich ebenerdig drei große Lehrräume, in denen drei verschiedene Altersklassen von Schülern unterrichtet wurden. Die Schüler saßen mit Kissen auf flachen Holzbänken, und vor ihnen auf den Fußbodenbohlen lag jeweils eine kleine geschwärzte Holztafel. Sie wurde vor dem Unterricht mit Kreidewasser eingeschlämmt und mit einem Holzstäbchen, das im Mund angefeuchtet wurde, konnte man dann die einzelnen Buchstaben schreiben. Papier, Pergament und Tinte waren sehr selten und wurden ausschließlich für Bücher und Schriften von sakraler Natur verwendet.
Jeder Schultag begann mit religiösen Unterweisungen und Gebeten. Gleichzeitig mit dem Religionsunterricht erfolgte für die beiden jüngeren Klassen das Schreiben und Lesen. Immer war in den Stunden auch ein Priester anwesend, der die Lehrmeister unterstützte.
Raen mochte das Schreiben der sehr anspruchsvollen Schrift, die nicht leicht zu erlernen, dafür aber in der Schönheit jedes einzelnen Buchstaben nicht zu übertreffen war. Er würde wie alle Kinder mindestens vier Jahre brauchen, um sie für den normalen Gebrauch zu beherrschen. Und es wurde bei allen gleich viel Wert darauf gelegt, auch wenn später der eine oder andere das Schreiben vielleicht nicht mehr benötigen würde.
Nach einer kleinen Pause ging es weiter mit der Lehre des Verhaltens gegenüber seinen Mitmenschen. Diese setzte sich aus zwei Büchern zusammen: Den Regeln der Gemeinschaft und dem Kanon der Ehre.
„So, meine lieben Kinder“, begann der Lehrmeister und hob den Zeigefinger, „was sind die ersten drei Tugenden, welche die Regeln der Gemeinschaft uns lehren?“
„Bescheidenheit, Gehorsam und Fleiß!“, antworteten die Kinder brav im Chor.
„Und was ist das höchste Glück?“
„Frieden und einen Platz in der Gemeinschaft zu finden!“
„Wovor müssen wir uns in Acht nehmen?“
„Vor dem Unaussprechlichen.“
„Wem gilt unser Dank?“
„Hyaun.“
„Wem unsere Furcht?“
„Zaizura.“ Dieses Wort flüsterten die Kinder, einige lachten dabei verstohlen. Darunter auch Raen, der noch nicht verstand, warum das Schicksal so furchteinflößend sein sollte.
„Wer beschützt uns?“ Der Lehrmeister blickte Raen streng an, und dieser versuchte wieder ernst zu sein.
„Al Setna und unsere Krieger!“, rief er mit allen anderen zusammen.
„Wer gibt uns Nahrung?“
„Hrauna!“
„Und wer gibt uns einen Platz in dieser Welt?“
„Chorta - unser Clan und unsere Familien!“
„Richtig. Sie alle drei zusammen, Hrauna, unsere ehrenwerte Mutter Natur, Chorta, der Korpus unserer Gemeinschaft und Setna, unser gesegneter Prinz, bilden die drei Säulen Hyauns, die es stets und gewissenhaft zu stützen gilt. Habt ihr das verstanden?“
„Ja, Anparta Kennar!“
„Gut, dann kommen wir jetzt zum Kanon der Ehre. Wie ihr schon wisst, ist es wichtig, einen jeden Menschen mit dem ihm gebührenden Namen anzureden. Es gehört sich nicht, jemanden falsch zu grüßen. Respekt und Ehre sind ein persönliches Gut, das es zu würdigen gilt. Auch Ihr werdet irgendwann einmal Ehre besitzen und sie wird untrennbar mit eurem Namen verknüpft sein. Ein Name ist nicht bloß ein Name, er sagt euch viel über den Träger. Was sind das für Dinge? Raen?“
Raen erhob sich und sah den Lehrmeister grübelnd an. Es waren so viele Dinge und er konnte sich nicht mehr an alle erinnern. „Ein Name enthält ...“, er war ratlos.
Der Lehrmeister lächelte milde. „Fangen wir doch mal mit deinem Namen an. Sag ihn mir.“
„Bil Raen Ra Roman adh Chor Shari.“
„Dein Name sagt uns, dass du ein Bil, ein Schüler, bist und dich im Ersten Grad befindest, außerdem dass du der Sohn von Roman bist und aus dem Clan der Shari stammst. Und was sagt mein Name? Anparta Kennar Daerin Ra Daerast adh Chor Shari.“
„Dass du ein Lehrmeister und im Vierten Grad des Lebens bist, der Sohn von Daerast aus dem Shari Clan.“
„Und wie grüßt du mich?“
Raen hob eine Hand vor den Mund und verneigte sich. Er wusste auch, dass man Gleichaltrige mit der Hand vor der Brust grüßte, ältere Personen mit der Hand vor dem Mund und Priester mit der Hand vor der Stirn.
„Sehr gut, du darfst dich wieder setzen.“
Lächelnd ließ sich Raen auf dem Sitzkissen nieder und warf einen kurzen Blick zu Hereke rüber, der zurückgrinste.
„Wir unterscheiden an die hundert verschiedene Grußformeln mit den dazugehörigen Gesten“, erklärte der Lehrmeister weiter und die Kinder lauschten. „Aber keine Angst, ihr werdet den Kanon der Ehre eines Tages beherrschen und ihn an eure eigenen Kinder weitergeben.“

Nach diesem etwas zähen Unterricht folgte ein längere Pause, in der die Kinder ihrem Drang nach Bewegung nachgeben und gemeinsam umhertollen konnten. Mit wehenden Haaren und fröhlichem Gelächter fegten sie über den Platz zwischen den Gebäuden, spielten Haschen oder mit kleinen Bällen aus Leder. Die Hy glaubten daran, dass alles im Universum auch eine Gegenseite hatte, und dass das eine nicht ohne das andere bestehen konnte: Mann und Frau, Tag und Nacht, Glück und Leid, Alt und Jung. So war es selbstverständlich, nach Bewegung Ruhe folgen zu lassen. Die Kinder wurden aus dem Spiel zusammengerufen, und man aß zusammen ein kleines Mittagsmahl, das im Wesentlichen aus Suppe oder Getreidegrütze, Brot mit Käse und einer Schale Tee bestand.
Hungrig ihr Essen vertilgend saßen die Schüler aller Klassen auf den Stufen der Veranda in der warmen Sonne. Raen hockte, seine Beine überkreuz, neben Hereke. Dieser erzählte seinem neugierigen Freund gerade von dem Hof, auf dem er wohnte, vor allem aber von den Tieren, um die sich seine Familie kümmerte. Hauptsächlich natürlich Pferde, denn Herekes Vater Henendra war der Reitmeister des Clans. Er züchtete die Pferde, die rund um seinen Hof auf dem weitläufigen Weideland standen, und zusammen mit seinen Gehilfen und den Kriegern bildete er sie aus. Die eine Hälfte der Tiere gehörten zum Gemeinschaftsbesitz des Clans, sie wurden je nach Bedarf auf die Familien aufgeteilt, und Henendra oblag die Verwaltung der Herden. Die andere Hälfte gehörte den Kriegern, denn nur ihnen war es gestattet, ein eigens Pferd zu besitzen. Auch das Pferd von Roman stand bei Henendra auf den Weiden. Ein paar Mal war Raen schon mit seinem Vater dort gewesen. Es war ein kraftvolles, schwarzes Tier, das auf Romans Pfiff hin stets treu angetrabt kam. Einmal hatte ihn sein Vater sogar auf ihm reiten lassen. Er hatte sich an der langen Mähne festgehalten und das glatte warme, nach Pferd duftende Fell gestreichelt. Am liebsten wäre er für immer dort oben sitzen geblieben. Und jedes Mal, wenn Raen einen Reiter sah, der im gestreckten Galopp und einer Staubwolke hinter sich über die Straßen preschte, wünschte er sich, endlich alt genug zu sein, um reiten zu lernen. Doch vorerst musste er sich damit begnügen in Begleitung seines Vaters oder seiner Schwester - wenn sie denn Zeit dazu hatten - die Pferde lediglich zu beobachten.
Das helle Schlagen des Klangeisens riss Raen aus seinen Tagträumen. Hereke und er sprangen auf und wuschen ihre Schalen an dem Brunnen vor dem Haus aus. Wenig später saßen sie wieder auf ihren flachen Bänken im Klassenzimmer und versuchten, aufmerksam den Lehrmeistern zu folgen, die mit Hilfe von getrockneten Samenkörnern den Kindern die ersten Grundlagen des Rechnens erklärten. Zwei Samen in einer Mulde und man gebe sieben dazu. Wie viele hatte man dann in der Mulde des Rechenbretts? Neun? Raen grübelte und unterdrückte ein Gähnen. Sein Blick blieb am geöffneten Fenster hängen, und seine Gedanken schweiften wieder einmal ab. Er sah hinüber zu den bewaldeten Hügeln.
Dort tänzelten wilde Pferde zwischen den Stämmen der Bäume; stolze, kraftvolle, weiße Pferde im satten Grün des lichtdurchfluteten Waldes; mit erhobenen Schweifen und geblähten Nüstern; ihren sanften, schwarzen Augen und den samtweichen Nasen; die schlanken Fesseln von Farnen umspielt ... . Friedlich fraßen sie das frische Gras.
Plötzlich verschwand die Sonne hinter einer Wolke, und Schatten drang zwischen die Bäume. Es raschelte im Unterholz, und die weißen Pferde wurden unruhig. Sämtliche Ohrenpaare wurden auf das Geräusch gerichtet, um dessen Ursache zu erkunden. Es raschelte erneut, und ein lautes Schnauben kam aus derselben Richtung. Das Gebüsch teilte sich, und mit hängendem Kopf brach ein sonderbar rotes Pferd daraus hervor. Bei der Berührung des Pferdes begannen die Blätter der Büsche augenblicklich zu welken. Und auch dort, wo seine Hufe auf die Erde trafen, wich das frische Grün verdorrtem Braun. Die weißen Pferde warfen ihre Köpfe hoch und wieherten aufgeregt, als das rote Pferd zu ihnen trat. Ja, es war wirklich ein seltsames Rot für ein Pferd, so ähnlich wie das von zerquetschten Himbeeren. Und mit dem Fell schien auch etwas nicht zu stimmen, es war merkwürdig feucht. Rot fielen Tropfen aus Mähne und Schweif. Es musste Farbe sein. Aber wer malte denn ein Pferd rot an? Das Pferd senkte wieder den Kopf und schüttelte sich. Kleine Tröpfchen flogen durch den Wald, trafen auf Farnblätter, Baumrinde und das weiße Fell der anderen Pferde. Diese stiegen vor Schreck und traten wild nach allen Seiten aus. Das rote Pferd hob seinen Kopf und wieherte heiser, rote Gischt sprühte aus seinen Nüstern. Und jetzt konnte man es erkennen. Es war weder Farbe noch der Saft von Himbeeren, es war Blut! Der Körper des roten Pferdes war über und über mit Blut besudelt, welches frisch aus unzähligen Wunden quoll!
Raen schrie auf und hielt sich die Hände vor das Gesicht. Er begann zu weinen. Die beiden Lehrmeister und die anderen Schüler blickten ihn verwundert an.
„Die Pferde, die Pferde!“, schrie er immer wieder angstvoll mit so viel Schrecken in seiner Stimme, das allen Anwesenden ein Schauer über den Rücken lief. Hereke und Andra sahen besorgt herüber. Eine Priesterin, gerufen vom obersten Lehrmeister, kam herbei, nahm Raen auf ihren Arm und ging mit ihm nach draußen. Den von Schluchzern bebenden Jungen auf dem Schoß saß sie schließlich auf der Veranda, strich ihm liebevoll über sein langes, braunes Haar und wiegte ihn sachte.
„Was ist mit den Pferden, Raen?“, fragte sie sanft, als er sich wieder etwas beruhigt hatte.
„Die weißen Pferde im Wald, sie sind in Gefahr!“, stammelt er. Die Priesterin runzelte die Stirn. Im Wald gab es doch gar keine Pferde, dachte sie, sagte aber nichts.
„Da kam noch ein Pferd aus dem Gebüsch. Es war rot und es tropfte aus seinem Fell.“
„Was tropfte aus seinem Fell?“
„Das Blut!“
Die Priesterin hielt in ihrer Bewegung inne und sah den Jungen eindringlich an. „Blut? Was für Blut? Raen, was ist das für eine makabere Geschichte?“
„Das ist keine Geschichte! Ich habe es gesehen. Da drüben bei den Hügeln.“ Er zeigte in die Richtung.
„Das hast du nur geträumt! Du hattest einen Tagtraum.“ Einen besonders schlimmen und äußerst ungewöhnlichen. Ob sein Vater ihm vielleicht irgendein Erlebnis aus dem Krieg erzählt hatte? Nein, vollkommen unmöglich. Das würde Roman niemals tun. Die Priesterin schüttelte den Kopf und wischte Raen mit dem Saum ihres gelben Gewandes das Gesicht trocken. Auf jeden Fall mussten seine Eltern darüber informiert werden. Fest drückte sie ihn noch einmal an sich. „Es ist alles wieder gut, du hast nur geträumt“, sagte sie, und der Junge nickte langsam.
„Ich bringe dich jetzt nach Hause.“ Sie reichte Raen ihr Handgelenk, das er dankbar annahm und den ganzen Weg bis zum Chorten nicht mehr losließ.
Im Hof des Chorten angekommen, gingen sie gleich linkerhand des Tores in die Werkstatt, in der Raens Mutter arbeitete. Sie war eine von zwölf Schneiderinnen, und der ganze Clan trug, die von ihnen genähte Kleidung, die schlicht und bequem war.
Als Alea ihren Sohn mit der Priesterin im Eingang der Werkstatt sah, sprang sie von ihrem Kissen auf und kam ihnen mit besorgter Miene entgegen. Sofort nahm sie Raen auf den Arm, der das Handgelenk der Priesterin kaum loslassen wollte.
„Einen ganz schön festen Griff hat der Kleine“, sagte diese und rieb sich den gequetschten Unterarm. „Anparta Nanmia Alea, entschuldige bitte die Störung, aber es ist etwas vorgefallen, über das ich mit dir reden muss“, grüßte die Priesterin mit zur Brust erhobener Hand.
Alea tat es ihr nach. „Hyaunset Danri, komm herein und erzähle mir, was geschehen ist.“ Sie ging mit Raen voran in einen Nebenraum, in dem sie die Stoffe lagerten und setzte sich auf einen Ballen. Raen nahm auf ihrem Schoß Platz. Die Priesterin setzte sich den beiden gegenüber.
„Nun, das war so“, begann Danri und erzählte Alea, was geschehen war.
„Blut?! Meinte er wirklich Blut?“, fragte diese erschrocken, als Danri geendet hatte.
„Ja, er sagte Lindver - Blut! Und ich weiß nicht, wie er darauf kommt!“
„Ich kann mir das auch nicht erklären ... .“ Alea sah Raen an, der sich still an sie lehnte und schon wieder zu träumen schien.
„Hat sein Vater ihm vielleicht eine Schauergeschichte aus den Kriegszeiten erzählt?“, wollte die Priesterin wissen.
Alea sah entsetzt auf. „Nein, ganz bestimmt nicht! Das würde Roman niemals tun! Das Unaussprechliche ist nichts für Kinderohren! Was denkst du nur?“ Sie war außer sich. Krieg und Blutvergießen, ja schon das Blut allein, waren schreckliche Dinge, über die man nicht redete. Es brachte Unglück, die Schrecken des Krieges durch Erzählungen wieder lebendig werden zu lassen! Jeder, der den Krieg miterlebt hatte, behielt seine Erinnerungen für sich. Nur im Tempel durfte man mit den Priestern darüber sprechen, um sich seiner Seele Erleichterung verschaffen. Alea machte das Zeichen der drei Säulen vor der Brust.
„Entschuldige bitte vielmals, Alea, aber ich musste das fragen! Es ist unerklärlich, wie Raen darauf gekommen ist. Hm, ich hoffe, es war wirklich nur ein Tagtraum, ein dummer Zufall“, entgegnete die Priesterin nachdenklich und verneigte sich leicht. „Schon gut“, erwiderte Alea, aber sie war verunsichert und beunruhigt. Wie konnte Raen von blutigen Pferden träumen? Er hatte von so etwas doch noch nie gehört, geschweige denn gesehen! Wie kam er dazu?
„Ich gehe wieder hinunter in die Schule. Falls du oder dein Mann noch mal mit mir reden wollt, dann besucht mich doch abends im Tempel. Und bringt den kleinen Burschen mit!“ Sie neckte Raen und stand auf.
Alea führte sie vor die Tür und verabschiedete sie. Raen an der Schulter haltend, sah sie der Priesterin nach, die sich im Gehen mit einer schwungvollen Bewegung den Saum ihrer gelben Robe über die Schulter warf.
Nach einer Weile begann Raen zu quengeln und Alea erwachte aus ihrer Starre. Sie bückte sich zu ihm herunter und strich ihm über die heißen Wangen.
„Was hat das nur zu bedeuten, mein kleiner Spatz? Du bist ja ganz warm, vielleicht hast du ja Fieber“, sagte sie mehr zu sich als zu ihrem Kind. „Komm, wir bringen dich erst einmal in die Küche. Dort macht Shani dir eine heiße Tasse Tee mit Honig und dann kommst du ins Bett!“ Sie hob ihn auf ihren Arm, entschuldigte sich bei ihren Kolleginnen und ging in Richtung des Nordturmes.
‚Was Roman wohl dazu sagen wird?’, dachte sie. ‚Ich glaube, ich brauche auch erst einmal einen heißen Tee, um mich zu beruhigen!’

Roman sagte nicht viel, als Alea ihm am Abend von Raen berichtete. Eine vage Ahnung überkam ihn, doch er ließ sich nichts anmerken. Die vergangenen Jahre hatte er inständig gehofft, dass das Orakel sich geirrt haben mochte. Dass Raen ein ganz normales Kind sei und zu einem ganz normalen Mitglied der Gesellschaft heranwachsen würde. Doch diese Hoffnung erhielt mit diesem Ereignis einen ersten feinen Riss. Vielleicht war es auch nur ein einmaliges Kuriosum gewesen, ein Zufall. Insgeheim aber wusste Roman es besser. Zufälle gab es nicht. Er ließ die Schultern hängen und sah aus dem Fenster in die Dämmerung. Besorgt fragte er sich, wo das alles wohl noch hinführen mochte?
„Mach dir keine Sorgen, Alea“, sagte er schließlich, „wahrscheinlich hat Raen nur unerlaubt einen Blick in die Schlachtkammer geworfen und bekommt nun die Bilder nicht mehr aus dem Kopf.“
„Dann sprich du noch einmal mit ihm darüber, Roman. Du weißt, wie die Leute über uns reden, wenn er nicht damit aufhört. Erkläre es ihm.“
„Ja, das werde ich, versprochen“, besänftigte er Aleas Furcht, während seine eigene Unruhe hell aufflackerte. Es würde nicht leicht für sie beide werden und für Raen erst recht nicht, falls die Prophezeiung sich bewahrheitete. Roman seufzte. Es war nicht gut, aufzufallen und im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Ganz und gar nicht gut.
„Dann gehe ich und sehe nach ihm. Er ist in der Küche bei Shani. Sprichst du nachher mit ihm, wenn er im Bett liegt?“ Alea sah ihn fest an.
„Ja, mache ich.“
Als seine Frau das Zimmer verlassen hatte, holte Roman heimlich den Brief Soghuls hervor, den er zusammengerollt in der Scheide seines Leichtschwertes versteckt hatte, das in seinem Schrank bei den anderen Waffen lag. Erneut las er die Worte der Prophezeiung. Ein ums andere Mal hatte es ihn gedrängt, sie auch Alea zu zeigen. Er wünschte sich sehnlich, seine Bürde teilen zu können. Doch schnell hatte er diesen Gedanken wieder verworfen. Das war einfach zu selbstsüchtig! Er musste das Geheimnis für sich bewahren, es war sein Zaizura, sein Schicksal!

7. Kapitel



Endlich war der große Tag des Turnieres gekommen. Kanaima verhielt sich vollkommen ruhig, als er nach dem Aufstehen von seinem Leibdiener Wolto abgeholt und in seine ehemaligen Gemächer gebracht wurde. Dort half ihm Wolto, den er sehr gerne mochte und der die einzige Annehmlichkeit verkörperte, die sein Vater ihm gelassen hatte, sein festlichstes Gewand anzulegen. Es sollte ein großer Tag werden und dafür wollte er angemessen gekleidet sein. Er würde als erster Königssohn gleich zur Rechten seines Vaters sitzen, auf dem Platz, der ihm rechtmäßig zustand. Aber Kanaima war sich schmerzlich bewusst, dass das nur noch Schein war, denn im Wahrheit hatte längst Setna diesen Platz eingenommen. Doch da dieser noch zu klein war und beaufsichtigt werden musste, würde Setna rechts neben Kanaima mit einem Kindermädchen an seiner Seite sitzen. Zur Linken des Königs würde die Königin und daneben seine Schwester Laika Platz nehmen - viel zu weit weg von ihm, wie er traurig fand. Aber das Bild seiner Schwester verschwamm plötzlich vor seinem inneren Auge und machte dem Bild eines Stuhles Platz. Von diesem Stuhl hing alles ab. Er bildete den Mittelpunkt seiner ganzen Aufmerksamkeit. Er stand in der Reihe, in der sie alle sitzen würden, die hohe hölzerne Lehne nahe an der Rückenbrüstung der Loge ganz oben auf der Tribüne. Niemand hatte gesehen, wie sich letzte Nacht ein Schatten dorthin geschlichen und beide Hinterbeine dieses Stuhles angesägt hatte! Es würde ein tragischer Unfall sein, wenn Setna mitsamt dem Stuhl nach hinten durch den angeschlitzten Stoff des Baldachins vier Mannslängen in die Tiefe fiel und sich den Hals brach! Kanaima lächelte.
„Freut Ihr Euch schon auf das Fest, mein junger Herr?“, fragte ihn der alte Wolto freundlich. Kanaima riss sich nur ungern aus seinen heimlichen Gedanken.
„Ja, sehr“, antwortete er mit jugendlicher Unschuldsmiene und lächelte weiter. ‚Es wird der beste Tag meines Lebens!’, dachte er.

Nach dem Morgenmahl versammelte sich die königliche Familie in der großen Halle, um gemeinsam zum Turnierplatz hinunterzugehen. Der König saß neben seiner stumpf dreinblickenden Gemahlin in einer Sänfte und wurde feierlich vorangetragen, sein beschämendes Hinken wohl verborgen. Hinter der Sänfte des Königspaares gingen Kanaima, dessen Schwester und Setna mit ihren Leibdienern, und hinter den Königskindern kamen in Reih und Glied alle weiteren Mitglieder der königlichen Familie, die größtenteils nur für das Fest angereist waren. Auch Posana, die Mutter Katthikes, war aus dem Süden angereist, denn dort befand sich ihr Sommerpalast, in den sie sich nach dem Tode ihres Mannes König Buthwal III. zurückgezogen hatte. Auch ihr Besuch war rein offizieller Natur. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte sie sich diesem lächerlichen Schauspiel verweigert! Doch noch musste sie ihrem Sohn gehorchen und jedes Jahr um diese Zeit an den Ort zurückkommen, an dem so viele schreckliche Dinge geschehen waren. Im Gegenzug strafte Posana Katthike, in dem sie jegliche Konversation mit ihm verweigerte. Sie verachtete ihren jüngsten Sohn abgrundtief, denn er hatte großes Unglück über sie und ihre Familie gebracht. Und hätte es damals in ihrer Macht gestanden, so wäre Katthike als Verräter mit aufgeschlitztem Bauch an der obersten Zinne des Palastes aufgehängt worden! Aber so war es nicht gekommen ...
Die Wintersonne strahlte warm und ein angenehm erfrischender Wind ließ die Fahnen an den Stangen und die Schleier der Frauen wehen. Unter lautem Jubel des Pöbels, der sich um den Turnierplatz drängte, betrat der festliche Zug der Königsfamilie die Tribüne. Ausgiebig ließ sich Katthike feiern, denn in einem Anflug von Freigiebigkeit hatte er dieses Fest viel größer als üblich ausrichten lassen, damit möglichtst viel einfaches Volk daran Freude finden konnte. Die Einführung der Musterung war noch keine acht Monate her, und deshalb war Katthike sehr darauf bedacht, bei jeder sich bietenden Gelegenheit schön Wetter bei seinem Volke zu betreiben. Die ganze Familie winkte steif lächelnd in die Runde und dann Platz.
Die Feierlichkeiten begannen mit dem Aufmarsch der Königlichen Armee und den obersten herzoglichen Führern, ganz vornan natürlich General Kasai auf einem prächtigen Rotfuchs. Das war etwas anderes als sonst, und die Leute wunderten sich aufgeregt flüsternd, während die Soldaten den großen Platz ausfüllten und Haltung annahmen. Als der König sich gemächlich erhob, kehrte Ruhe ein. Die Soldaten senkten ihr Haupt, auch Kasai und sämtliche Herzöge um ihn herum.
„Herzöge der Provinzen! Soldaten der Königlichen Armee Askhars!“, rief Katthike mit klarer, lauter Stimme. „Ich habe euch heute hier versammelt, um euch für eure unerschütterliche Bündnistreue zu belohnen. Als vortreffliches Beispiel sollen euer Mut und eure Tapferkeit bis in alle Ewigkeit über den Schlachtfeldern dieses Kontinentes glänzen! Ich habe dafür gesorgt, dass eure Namen und Taten in den Chroniken von Askhar lobend Erwähnung gefunden haben. Und ... “, er machte eine bedeutungsvolle Pause, „ich gebe euch die Möglichkeit, heute euren Eid zu erneuern! Hier und jetzt!“ Das war geschickt von ihm ausgedacht, denn so konnte sich keiner der vielleicht doch noch etwas unwilligen Herzöge dem Treuespruch entziehen. In aller Öffentlichkeit würde es niemand wagen, ihn nicht zu leisten. Und so war es auch.
Auf ein Zeichen der Offiziere hin erhoben alle Herzöge und Soldaten mit der rechten Hand ihre Waffen und riefen im Chor: „Heil, Euch, Katthike! König unseres unbesiegbaren Vaterlandes! Wir, Eure ergebenen Untertanen, schwören Euch Treue bis in den Tod! Heil, dem König auf dem Schlangenthron, Heil, dem Herrscher des ewig glanzvollen Reiche Askhars!“
Als abschließende Geste trat General Kasai vor, verneigte sich sehr tief, legte sich leidenschaftlich seine rechte Faust zuerst auf die Brust, dann an den Mund und reckte sie schließlich in die Luft. Ein besonderer Gruß an seinen Freund, den König, der diesen wohlwollend nickend entgegennahm. Zufrieden ließ Katthike sich wieder auf seinem Stuhl nieder. Es folgte ein langer Strom von Menschen, der es General Kasai nachtat - samt und sonders Vasallen und Lehnsherren des Reiches, die eigens für diesen Anlass angereist waren. Penibel wurde jedes Erscheinen vom Hofschreiber protokolliert. Das einfache Volk staunte nicht schlecht über die endlose Prozession der einflussreichsten Häuser Askhars und bestaunte die prächtigen und teuren Gewänder der vornehmen Damen und Herren. Ihr König musste ein wahrhaft mächtiger Gebieter sein, wenn sich so viele ehrwürdige Herrschaften vor ihm verbeugten, und hingerissen verneigten sie sich ebenfalls.
Katthike vergaß seine feierliche Miene und begann breit zu Lächeln. Das war es, was er erreichen wollte! Nicht, dass ihm die Speichelleckerei so viel bedeutete, aber das Reich war einfacher zu regieren, wenn das Volk seinen König bewunderte.
Während Katthike sich über seinen Erfolg freute, blieb der von Kanaima jedoch aus. Trotz großer innerer Anspannung versuchte der junge Prinz ruhig zu wirken und er täuschte reges Interesse an dem feierlichen Geschehen unten in der Arena vor. Doch all seine Sinne waren angestrengt nach rechts auf Setna gerichtet. Es konnte eigentlich nicht mehr lange dauern, bis der Stuhl nachgeben würde, denn der kleine, nimmer ruhige Wirbelwind turnte munter darauf umher.
Zur großen Freude des Pöbels eröffnete Katthike schließlich das eigentliche Turnier, und unter begeistert aufbrausendem Jubel kamen die Krieger in die Arena marschiert. Kanaima schielte weiterhin nach rechts. Doch nichts geschah. Der Stuhl hielt.
Die Schaukämpfe der Schwertkämpfer begannen und alle fieberten mit. Bei den Kämpfen ging es nicht um Leben oder Tod, obwohl es des öfteren zu tödlichen Verletzungen kam. Vielmehr wurde um Siegpunkte gekämpft, die von den Schiedsleuten vergeben wurden. Und wer nach drei Runden die meisten davon gesammelt hatte, galt als Gewinner der Partie. So ging es unter hektischen Wetten der Zuschauern weiter bis die zwei Gegner für den Endkampf feststanden. Kanaima wandte seinen Blick wieder unauffällig Setna zu. Der rutschte mittlerweile desinteressiert und quengelnd auf dem Stuhl hin und her, der immer noch nicht nachgeben wollte.
Kanaima begann unter seinem feinen Gewand zu schwitzen. Hatte er die Stuhlbeine etwa nicht gründlich genug angesägt? Es war ja auch sehr dunkel gewesen und er hatte es nicht gewagt, eine Kerze anzuzünden. Er versuchte, sich wieder auf die Endrunde der beiden besten Schwertkämpfer zu konzentrieren. Ein Krieger aus Neu-Askhar von den dortigen Grenztruppen und einer aus den persönlichen Reihen der Leibgarde des Königs standen sich gegenüber. Kanaima hätte auf keinen anderen gesetzt, als auf Letzteren, denn der war sein persönlicher Lehrmeister und großes Vorbild. Er bewunderte die Klarheit seiner Technik und die Leichtigkeit, mit der er in voller Rüstung sein Schwert führte. Rebian war einer der besten jungen Krieger der Leibgarde seines Vaters, und Kanaima war begierig darauf, einmal so kämpfen zu können wie er. Immerzu löcherte er Rebian mit Fragen über die Kunst des Schwertkampfes und dieser verriet ihm, ernstlich erfreut über die feurige Begeisterung des jungen Prinzen, seine besten Täuschungen und Kniffe, die wichtig für einen Sieg im Zweikampf waren.
„Kannst du auch einen hyaunischen Krieger mit dem Schwert besiegen?“, hatte ihn Kanaima einmal gefragt, denn in Askhar wie auch in anderen Ländern waren die Hy für ihre Unbesiegbarkeit im Schwertkampf bekannt - ein Geheimnis, das sie streng hüteten.
„Vielleicht könnte ich das. Ich habe viel Respekt vor der Schwertkunst der Hy. Kein Volk hat je so außergewöhnliche Schwertkämpfer hervorgebracht wie sie. Aber ich habe noch nie Mann gegen Mann gegen einen dieser Teufel gekämpft. Zu gern würde ich mit einem von denen einmal die Klinge kreuzen. Vielleicht werde ich einmal das Glück haben.“
„Ihr werdet bestimmt siegen!“
„Das weiß man nie. Aber eines ist gewiss: Ich werde immer den König beschützen, so wie ich Euch immer beschützen werde, mein Prinz! Wisst Ihr, dass es für mich eine große Ehre ist, Euch zu unterrichten?“
Nein, das hatte Kanaima nicht gewusst. Rebian war der einzige, der ihm so etwas wie väterliche Zuneigung schenkte. Und Kanaima spürte, dass der Krieger, den er so sehr bewunderte, mit gewissem Stolz die Fortschritte seines Schülers beobachtete.
„Auf, Rebian! Der Sieg ist dein“, feuerte Kanaima lautstark seinen Mentor an, der sich wacker im Sand der Arena schlug.
Dies lenkte Katthikes Aufmerksamkeit auf den Jungen. Er blickte seinen leiblichen Sohn von der Seite an und lächelte milde. Doch das entging Kaniama, da plötzlich großer Jubel ausbrach. Der Sieger der Partie stand fest! Und wie es nicht anders zu erwarten war, hieß dieser Rebian. Kanaima sprang von seinem Stuhl auf und jubelte und klatschte frenetisch. Amüsiert beobachtete Katthike ihn, dann stand auch er auf und erteilte Rebian seine Gunst. Auf sein Kommando hin betrat ein festlich gekleideter Diener die Arena und überreichte dem Schwertmeister auf einem samtenen Kissen seinen Gold schimmernden Preis. Rebian bedankte sich beim König und beim Publikum, und nachdem er auch Kanaima einen Gruß zugewunken hatte, verließ er den Turnierplatz. Jetzt standen die Künste der Bogenschützen auf dem Programm. Dafür wurden an der offenen Westseite des Platzes Zielscheiben aus Stroh aufgebaut. Kanaima hatte sich wieder gesetzt. Der König ließ sich und seiner Frau gerade Essen servieren, und der Stuhl von Setna hielt immer noch.
‚Verdammt, warum bricht er nicht?’, dachte Kanaima nervös. Setna begann wieder zu quengeln. Bestimmt war der kleine Mistkäfer müde. Kaiama sah, wie der König der Kinderfraubedeutete, sie solle das Kind in den Palast bringen, damit es etwas schlafen könne. Mit wachsendem Missfallen beobachtete Kanaima, wie die Kinderfrau Setna bei der Hand nahm, ihn zu der Treppe führte und mit ihm die Tribüne hinunterstieg.
Verdrossen starrte Kanaima zurück in die Arena, wo sich die Bogenschützen in einer Reihe gegenüber den Scheiben aufgestellt hatten. Sein Vater eröffnete, in einer Hand ein angenagtes Hühnerbein, auch diesen Wettkampf.
Nur mit halber Aufmerksamkeit verfolgte Kanaima das Schießen der Schützen. Seine Gedanken kreisten um Setna und diesen verdammten Stuhl! War sein Plan geplatzt? Würde Setna noch einmal wieder kommen? Ohnmächtige Wut breitete sich in ihm aus und vertrieb seine glänzende Siegeslaune.
‚Du elende kleine, stinkende Kröte! Warum bist du nicht schon tot!’, dachte er immer wieder düster.
„Was ist, mein Sohn? Gefällt es dir etwa nicht?“ Die Frage seines Vaters kam völlig unvermutet, denn normalerweise redete er nur mit ihm, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
‚Ha! Mein Sohn?’,dachte Kanaima wütend. ‚Hatte er dies tatsächlich soeben gesagt?’ Um Fassung bemüht antwortete er: „Bogenschießen finde ich langweilig.“
„Bogenschützen sind ein wichtiger und unverzichtbarer Bestandteil in einer Schlacht, sie können das entscheidende Zünglein an der Waage sein. Du solltest auch schießen lernen, Kanaima! Vielleicht gehen wir mal auf die Jagd.“
„Ich will aber lieber mit dem Schwert kämpfen“, sagte er trotzig. Er war irritiert über die ungewohnte Freundlichkeit seines Vaters.
„Ja“, lachte Katthike, „Rebian hat mir von deiner Begabung in dieser Hinsicht erzählt. Er ist ein guter Lehrer!“
‚Und ich bin ein guter Schüler! Außerdem kann Rebian wenigstens sagen, dass er stolz auf mich ist. Das kannst du nicht!’, dachte Kanaima und starrte die Arena.
Katthike merkte, dass sein Sohn verstimmt war und ließ ihn in Ruhe.
Die letzten vier Schützen traten gegeneinander an. Mit ihren kurzen geschwungenen Bögen schossen sie die Pfeile zielsicher in die über siebzig Schritt entfernten Strohscheiben. Und jedes Mal, wenn ein Pfeil die schwarze, nur faustgroße Mitte traf, jubelte das Publikum begeistert auf. Der Sieger dieses Wettkampfes war schließlich gleichfalls ein Mann aus den engsten Reihen des Königs, was kein Wunder war, denn Katthike war stets darauf bedacht, sich nur mit den besten Kriegern seines Landes zu umgeben, die er mit sicherem und geübtem Blick für sich auszuwählen pflegte.
Kanaima gähnte bei der Siegerehrung. Für Bogenschützen hatte er wirklich nicht viel übrig. Der direkte Kampf im Angesicht des Gegners war ihm entschieden lieber! Er warf einen verstohlenen Blick zu den Türmen des Palastes hinauf, doch dort rührte sich nichts. Setna blieb weg.
Mit dem bedrückenden Gefühl, versagt zu haben, ließ er die nächsten Schaukämpfe über sich ergehen. Er konnte einfach kein Gefallen mehr an den Festlichkeiten finden, auch wenn seine Schwester auf der anderen Seite durch leises Schnalzen immer wieder versuchte, ihn aufzumuntern. Ein Diener bot ihm ein köstlich duftendes Brathähnchen an, doch er lehnte es ab. Er hatte keinen Hunger. Den einzigen Wunsch, den er jetzt noch verspürte, war, alleine sein zu können.
Der Höhepunkt eines jeden Turniers waren die Reiterspiele. Die Krieger in ihren rotlackierten, goldverbrämten Rüstungen und auf den tänzelnden Pferden, fesselten Kanaimas Aufmerksamkeit und lenkten ihn von seinen mürrischen Gedanken ab. Seine Stimmung hob sich ein wenig, denn das Können der Reiter mit ihren zielsicheren Lanzenstichen und Schwerthieben faszinierte ihn. Auch Rebian war erneut unter den Teilnehmern. Seine mit Silber besetzte, glänzende Rüstung, wie sie alle Mitglieder der Königlichen Leibwache trugen, hob sich würdevoll von den anderen ab. Wenn er alt genug war, würde er auch so eine Rüstung tragen, dachte Kanaima und feuerte seinen Lehrmeister leidenschaftlich an. Erst als er sich zum Verschnaufen kurz hinsetzen wollte, bemerkte er, dass Setna wieder auf seinem Platz saß! Sein Herz machte einen Sprung. Scheinbar beiläufig warf er einen Blick hinüber. Setna wackelte klatschend und schrill lachend auf dem Stuhl hin und her.
‚Jetzt brich endlich, du blödes Ding, und reiß dieses quiekende Schweinchen mit dir in die Tiefe!’ Seine Gedanken waren vollständig bei Setna. Er hatte keinen Blick mehr für das Geschehen in der Arena übrig und für seinen verehrten Rebian. Aber es war wie verhext, der Stuhl hielt. Am liebsten hätte er laut geschrien! Das Turnier würde bald zu Ende sein, dies war seine letzte Chance. Er musste etwas tun!
Dann traf er seine Entscheidung. Er warf einen letzten liebevollen Blick hinüber zu seiner Schwester, die gebannt in die Arena hinuntersah, und stand unter dem Vorwand, sich die Beine vertreten zu wollen auf. Langsam drehte er sich nach rechts und ging ein paar Schritte, bis er direkt vor Sentas Stuhl war. Der kleine Junge lächelte ihn nichtsahnend an. In diesem Moment strauchelte Kanaima wie zufällig mit seinem verkrümmten Fuß und stieß hart gegen den Stuhl. Der gab ein gefährliches Knacken von sich und kippte schließlich mitsamt dem Knaben nach hinten. Kanaima versuchte, gar nicht erst ihn aufzuhalten, sondern beobachtete voller Faszination den verdutzt dreinschauenden Setna. Dieser überschlug sich einmal, und noch ehe irgend jemand ihn zu fassen bekommen konnte, fiel er durch den aufgeschnittenen Stoff der Rückwand unter der Balustrade hindurch von der Tribüne. Genau wie Kanaima es berechnet hatte. Alles starrte entsetzt auf die Stelle, wo Setna durch den Vorhang verschwunden war. Der König war aufgesprungen, Laika sah ihn schreckensbleich an und die Kinderfrau kreischte, während die Königin unbeteiligt mit leerem Blick weiter in die Arena starrte, wo der Wettstreit aufgrund des Tumultes abgebrochen wurde. Alle Augen richteten sich besorgt auf die Tribüne. Katthike war der erste, der die Sprache wiederfand.
„Los doch, ihr Idioten, seht schnell nach und holt meinen Arzt!“, schrie er fast schrill und stürzte zur Balustrade. Er riss den Stoff der Rückwand auseinander und blickte nach unten. Setna lag mit komisch verdrehten Gliedmaßen im Sand. Eine kleine Blutlache bildete einen roten Kranz um seinen Kopf. Der Dreijährige rührte sich nicht.
Weiß vor Wut drehte der König sich zu Kanaima um, der immer noch an der gleichen Stelle vor dem umgekippten Stuhl stand. Ein feines Lächeln und ein entrückter Blick gaben dessen Gesicht etwas Gespenstiges. Als er den bebenden Blick seines Vaters bemerkte, öffnete sich sein Mund. Ein hysterisches Lachen sprudelte daraus hervor und dann fiel er in Ohnmacht.

Kanaima erwachte und fand sich im Bett seines ehemaligen Kinderzimmers wieder. Helles Sonnenlicht schien durch die Fenster auf seine Bettdecke. Wolto saß neben ihm, sein faltiges Gesicht wirkte unendlich traurig. Kanaima hob seinen Kopf und wollte sprechen, doch ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Schädel. Erst jetzt bemerkte er die Bandage. Wo hatte er sich denn den Kopf aufgeschlagen?
Nur langsam kam die Erinnerung: Der kippende Stuhl, Setnas verdutzter Gesichtsausdruck, das Geschrei, der Blick seines Vaters.
Was war mit Setna? War er endlich tot?
„Wolto! Was ...“
Doch der Alte schnitt ihm das Wort ab: „Schhhh, junger Herr, sprecht jetzt nicht. Ihr braucht Ruhe!“
Kanaima schloss angestrengt die Augen. Sein Kopf schmerzte höllisch. ‚Setna musste tot sein, er war tief gestürzt und hatte sich bestimmt seinen kleinen, dreckigen Hals gebrochen!’, dachte er und dämmerte mit diesem angenehmen Gedanken wieder hinüber in den Schlaf. Setna war tot. Jetzt würde sein Vater endlich wieder ihn lieben!

Aber so sehr es sich Kanaima auch wünschte, Setna war nicht tot. Schwer verletzt hatte er den Sturz überlebt, mit gebrochenen Beinen - beim rechten hatte der Knochen gefährlich aus dem Fleisch herausgeragt, und der Arzt hatte ihn geschickt wieder richten müssen - und aufgeschlagenem Hinterkopf. Er hatte großes Glück gehabt, denn der weiche Sand am Fuß der Tribüne hatte den Aufprall seines kleinen, leichten Kinderkörpers gedämpft. Noch immer bewusstlos lag er in seinem Bett und jede seiner Regungen wurde vom Leibarzt gründlich beobachtet und sofort an den besorgten König weitergegeben.
Der saß schon den ganzen Morgen in seiner Bibliothek und schüttelte, tief in Gedanken, immer wieder mit dem Kopf. Die Untersuchung des Stuhls auf der Tribüne hatten ergeben, dass dieser tatsächlich angesägt worden war. Ein eindeutiger Beweis dafür, dass jemand nach Setnas Leben trachtete. Nur wer? Und dann dieser merkwürdige Zusammenbruch Kanaimas. Katthike trommelte nachdenklich mit den Fingern auf die hölzernen Platte seines Lesetisches, und langsam begann sich eine dunkle Ahnung in seine rastlosen Gedanken einzuschleichen: Was, wenn Kanaima etwas damit zu tun hatte? Er schüttelte erneut den Kopf. Warum sollte ein Zwölfjähriger ein kleines Kind umbringen wollen? Etwa aus Eifersucht? Neid oder gar Machtgier? Gewiss hatte er selbst sich in der Vergangenheit ganz ähnlich durch solche Motive leiten lassen, aber nur deshalb war er jetzt auch da, wo er sich befand: Auf dem Thron Askhars!
Aber politische Gründe konnte Kanaima nicht haben, dafür war er noch zu jung und hatte zu wenig Ahnung von diesem Geschäft. Katthike strich sich über den Bart. Kanaima war zwar sein ungeliebter Sohn. Er war verkrüppelt, aber er war nicht dumm. Mit Sicherheit hatte er verstanden, was die Ernennung Setnas zum Thronfolger für ihn bedeutete. Katthike schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Natürlich! Es war unglaublich! Beinahe wäre er stolz auf Kanaima gewesen. Skrupelloser, kleiner Teufel! Diese berechnende Abgebrühtheit. Und das in seinem zarten Alter. Bemerkenswert! Doch leider auch gefährlich. Gefährlich für Setna. Der Thronerbe musste um jeden Preis geschützt werden, so verlangten es nicht nur seine eigenen Pläne, sondern auch die Prophezeiung des Orakels. Wie waren doch noch die Worte? „Beschütze den einen Sohn gut, Katthike, denn er ist der Sohn des Schicksals! Er wird die Zukunft für Euer Volk entscheiden; Dann wird das Licht Askhars vereint werden mit den Lichtern dieser Welt.“ Katthike musste zugeben, dass dies offensichtlich nicht ausreichend der Fall gewesen war. Er hatte Setna in Gefahr gebracht, weil er etwas Entscheidendes außer Acht gelassen hatte: Seine eigenen Kinder. Auch sie waren, wie sich herausgestellt hatte, ein Risiko für ihn. Wie hatte Kanaima nur so etwas planen können? Im Innern Katthikes glühte die rohe Wut auf. Setna war so makellos gewesen, ein perfektes Kind - bis jetzt. Nun hatte er zwei gebrochene Beine, und der Arzt räumte ein, dass sie möglicherweise nicht wieder vernünftig verheilen würden, wodurch Setna später hinken könne! Hinken! Bei allen Göttern, es war wie ein Fluch, der ihn verfolgte, egal, was er auch tat. Katthike fluchte laut. Wie sollte er nun weiter verfahren? Sollte er seinen eigenen Sohn töten lassen? Nur aus reiner Vorsicht? Still und heimlich beseitigen - die Gelegenheit war gerade günstig. Er könnte seiner Kopfverletzung erliegen ...

An den darauffolgenden Tagen saß Katthike viele Stunden bei seinem Stiefsohn, der noch immer bewusstlos in seinem Bett lag. Grübelnd starrte er auf den hellen Verband über dessen dunklem, weichem Haar. Zu Kanaima war er bisher nur ein einziges Mal gegangen und das auch nur, um ihm mitzuteilen, dass Setna den hinterhältigen Anschlag überlebt hatte. Er hatte Kanaimas Reaktion prüfen wollen. Und tatsächlich war dessen Freude über den Besuch seines Vaters sehr schnell in betrübte Einsilbigkeit umgeschlagen. Kanaima hatte sich keineswegs gegen den Vorwurf gewehrt, der in den Worten des Königs mitgeschwungen war. Angesichts dieses stummen Geständnisses, war erneut heißer Zorn in Katthike aufgesprudelt, und am liebsten hätte er seinen Sohn gleich eigenhändig erwürgt. Es hatte ihn angewidert, ihn so daliegen zu sehen, ein wertloses Häufchen Nichts, das versucht hatte, sich an seinem mit so viel Mühe erschaffenen Wunderkind zu vergreifen.
Während Katthike seine Finger neben Setna in der Decke des Bettes vergrub und in dessen blasses Gesicht schaute, überkam ihn das ungewohnte Gefühl der Zuneigung, und sein Herz verkrampfte sich. Schrecken erfasste ihn. Genau diese Empfindung hatte er immer zu vermeiden versucht. Sie war sentimental und brachte einen bloß in überflüssige Abhängigkeiten. Liebe war der heimtückische Keim, aus dem einem ein Gewissen erwachsen konnte, und so etwas konnte er sich einfach nicht leisten! Doch trotz all dieser Gegenwehr musste Katthike feststellen, dass dieses Kind etwas in ihm rührte. Nie zuvor hatte er sich derart mit einem Menschen verbunden gefühlt, es war eine völlig neue Erfahrung. Bisher war es immer sein Vorteil gewesen, nur negative Empfindungen zu haben. Positive Gefühle forderten Kompromisse. Und dergleichen hatte es in seinem Leben bislang nicht gegeben.
Katthike wusste nicht genau warum - die plötzliche Erweiterung seiner Gefühlswelt verwirrte ihn -, aber er entschloss sich, Kanaima am Leben zu lassen. Allerdings konnte er nicht länger hier im Palast bleiben. Er musste weg, möglichst weit weg von Setna! Am besten gleich ganz fort aus Askhari-Kaise.
„Und wenn ich schon einmal dabei bin, in meiner Familie aufzuräumen“, flüsterte er zornig, „könnte ich gleich auch noch Laika loswerden!“

Die königliche Familie reagierte zurückhaltend, war aber zumindest empört, und Laika brach in Tränen aus, nachdem der König ihr und allen anderen seine Entscheidung kundgetan hatte. Katthikes Vorwurf, Kanaima solle versucht haben, Setna umzubringen, wollte keiner so recht Glauben schenken. Die Beweise des Königs waren doch sehr fragwürdig, und für die Familie sah es vielmehr danach aus, als versuche Katthike damit auf geschickte Weise seine Kinder loszuwerden. Aber der König ließ sich wie immer nicht beirren und blieb bei seinen Anordnungen. Laika würde kommenden Sommer an einen Vasallen aus Neu-Askhar verheiratet werden und dort auch in Zukunft auf dessen Lehen wohnen. Und Kanaima sollte zu seiner Tante in die Verbannung geschickt werden, wo er die Mauern der Stadt nicht mehr verlassen durfte, bis Katthike es anders entschied. Die kleine Stadt Kalav im dürren Klima am südlichen Rand des zentralen Hochlandes von Askhar war weit genug von der Hauptstadt entfernt, und Kanaima würde sich bei seiner Tante Sama-Karla, die dort ebenfalls unter Arrest stand, in bester Gesellschaft befinden. Zwei Verräter unter sich!
Seit Katthikes Krönung verbrachte die ältere Schwester des Königs ihr Leben in Gefangenschaft in der Burg von Kalav, die sich hoch über der gleichnamigen Stadt an einen kahlen Berghang duckte. Katthike selbst hatte sie vor acht Jahren dorthin verbannt. Sie hatte ihm gegenüber damals die Treue gebrochen, und diese Respektlosigkeit bestrafte er mit Einsamkeit. Gut bewacht und völlig abgeschnitten von der Außenwelt fristete sie lediglich in Gesellschaft ihrer kleinen Dienerschaft ein eintöniges Dasein in der abgelegenen Burg, umgeben von vertrockneter Ödnis so weit das Auge reichte. Die Strafe für Verräter!
Mit bitteren Freuden genoss Katthike seitdem die halbjährlichen Berichte seiner Spitzel aus Kalav, die bestätigten, dass Sama-Karla sich schwer an ihrem Alleinsein trug. Eigentlich, so dachte er, tat er ihr einen Gefallen, Kanaima zu ihr zu schicken. Das würde ihre Einsamkeit für einige Zeit lindern. Aber eben nur für eine gewisse Zeit, und wenn sie sich an Kanaimas Gesellschaft gewöhnt hätte, dann würde es sie um so mehr schmerzen, wenn er ihr Kanaima wieder wegnahm. Ein weiterer genüsslicher Tritt in den Allerwertesten seiner unloyalen Schwester!
Katthike war zufrieden mit dieser Entscheidung und blickte grimmig in die Runde. Niemand wagte etwas zu erwidern. Nur das leise verzweifelte Wimmern seiner Tochter Laika wärmte sein grausames Herz.

Schon gleich, nachdem Kanaima sein Krankenbett verlassen konnte, wurden die Abreisevorbereitungen getroffen. Der junge Prinz hatte die Entscheidung des Königs lediglich durch den Nebel der lähmenden Resignation wahrgenommen. Seit er wusste, dass Setna noch am Leben war, hatte er regungslos in seinem Bett gelegen und stumpfsinnig an die Decke gestarrt. Es war ihm egal. Erst als er von der bevorstehenden Heirat seiner Schwester mit diesem Vasallen aus Neu-Askhar hörte, keimte der Hass frisch in ihm auf. Kanaima wurde plötzlich schmerzlich bewusst, dass er Laika verlieren würde. Wahrscheinlich würde er niemals wieder allein mit ihr reden können, wenn der Vasall sie erst einmal in seinen lüsternen Fingern hatte. Das Schlimmste aber war, dass sein Vater dies alles aus voller Berechnung tat. Er ergötzte sich an ihrer Qual. Kanaima schüttelte sich aus Abscheu. Zu gern hätte er seinen Vater mit seinen eigenen Händen umgebracht. Aber er war nur zwölf Jahre alt und wusste gerade mal ein Übungsschwert zu führen.
Zusammengesunken saß er auf der Bettkante, während der alte Wolto die hölzernen Reisetruhen mit seinen Sachen füllte. Wie lange würde er weg sein? Bis Setna großjährig wäre oder noch länger? Warum war sein Vater nur so ungerecht! Eigentlich hätte Setna es verdient, weggeschickt zu werden. Kanaima fühlte den Druck der Verzweiflung immer stärker werden. Er wollte seinen Vater nie wieder sehen. Er hasste ihn - bis in alle Ewigkeit!

Ein paar Tage später verließ eine kleine Reisegesellschaft den Palast. Kanaima verabschiedete sich ohne Scham unter einer Flut von Tränen von seiner Schwester und schwor im Stillen, sich eines Tages an seinem Vater für all das, was er ihm und Laika angetan hatte, zu rächen.
Der König stand bei der kleinen Gruppe und blickte ihn distanziert an. Kein Wort des Abschieds kam über seine selbstgerechten Lippen. Zum Glück war Setna nicht anwesend. Beiden wünschte Kanaima von ganzem Herzen die Pest an den Hals. Stumm wandte er sich ab uns bestieg sein Pferd.
Als die kleine Eskorte, bestehend aus Dienern, Soldaten und Packpferden, endlich außerhalb der Sichtweite der schwer befestigten Königsburg war, und die große Stadt sie in ihre überfüllten Straßen aufnahm, fühlte sich Kanaima plötzlich erleichtert. Er war draußen, das erste Mal richtig fort von dem Palast, der überquoll von dem Gift der Schlangen, denen er Unterschlupf gewährte. Kanaima atmete tief durch. Er musste jetzt stark sein. Irgendwann würde er hierhin zurückkehren und mit all den verkommenen Kreaturen hinter diesen verhassten Mauern abrechnen! Er blickte aufrecht nach vorn.
Es war die erste lange Reise für den jungen Prinzen, und sie sollte ihn durch das zentrale Hochland weit nach Süden führen, tief in das ihm unbekannte Königreich seines Vaters.

8. Kapitel



Die Jahreszeiten bestimmten in Hy den Rhythmus, in dem die Menschen sich bewegten und ihre Aufgaben erfüllten. Nach der Aussaat im Frühling folgte die Hege der Früchte auf dem Felde und in den Gärten, und ein jeder wusste, was er zu tun hatte, damit die Ernte im Herbst reich ausfiel. Es war ein einheitlicher Tanz des Schaffens, Hand in Hand, Schulter an Schulter.
Das Land lag in ausgeglichener Ruhe, und das Leben schritt gemächlich dahin, als sei es auf einem Spaziergang durch die lichtdurchfluteten Wälder und begutachte dabei zufrieden das Tagewerk sämtlicher Kreaturen.
Ein neuer Setna wurde erwählt und bekam beim großen Krönungsfest im Tempel des Tena-lo-Ghan Clans, was so viel hieß wie „Haus am heiligen Berg“, seine Krone verliehen. Die Gabe des Geistes hatte sich auf einen Krieger aus dem Norden übertragen, und im ersten Jahr seiner Trägerschaft konnte endlich der Bau der Wachttürme am Doban-Pass abgeschlossen werden. Sie waren so schnell wie möglich erbaut worden und ragten nun einhaltgebietend hinter dem mehrere Mannlängen hohen, provisorischen Palisadenzaun empor, der die neue Grenzlinie markierte. Dahinter wuchs langsam die Mauer in die Höhe, welche den Zaun irgendwann als Verteidigungslinie ablösen würde. Doch sie war viele Meilen lang und ihr Bau würde noch Jahre in Anspruch nehmen. Es war das längste Stück Mauer, das die Hy jemals bauen würden und gleichzeitig auch das letzte, denn danach wäre das Land vollständig abgeriegelt! Im Norden, Westen und Süden trennten hauptsächlich die Gebirge Hy vom Rest der Welt, im Nordosten ging eine Mauer auf flachem Terrain über in die breiten Flüsse Biÿrken und Nori, die nach Osten hin in einem riesigen sumpfigen Delta in die Schwarze See mündeten, und die Ostgrenze Hys war eine einzige durchgehende Steilküste, die es nur ganz Wagemutigen erlaubte, bis hinunter ans Meer zu gelangen, oder von dort hinauf.
Vorläufig aber war der Doban-Pass noch der erklärte Schwachpunkt im Schutzwall rund um das Land, und deshalb kamen dort von überall die jungen Krieger Hys zusammen, um einige Jahre ihren Dienst abzuleisten und die Arbeiten an den Baustellen zu unterstützen. Und sie waren bis aufs Äußerste entschlossen, jederzeit zu ihren Schwertern zu greifen, um den Zugang zu ihrem Land gegen Eindringlinge zu verteidigen. Zwar bot das schroffe Junghal-Gebirge noch an zwei weiteren Stellen Überquerungen nach Hy, der Ein-Mann-Pass einen Tagesritt östlich des Doban-Passes und der Hohe-Pass über den weit entfernten Ostkamm des Junghal, doch diese verteidigten sich fast von selbst. Sie waren nur mit wenigen Leuten zu begehen und gefährlich steil - ein komplettes Heer mit voller Ausrüstung und Kriegsgerät bekam kein Kriegsheer der Welt dort hinüber.
Die Stimmung an der Grenze war gut. Seit Jahren hatte Askhar sich nicht blicken lassen, und mit jedem Stein, mit dem die Mauern wuchsen, wuchs auch die Zuversicht, einem neuen Angriff standhalten zu können.

Seit Raen das Blutpferd vor zwei Jahren zum ersten Mal gesehen hatte, war es immer öfter zu ihm gekommen, auch des nachts, und bald ging er abends nur noch ungern ins Bett. Seine schlechten Träume verstörten ihn. Immer wieder wachte er mitten in der Nacht schweißgebadet auf, seine langen Haare zerwühlt. Weinend vor Schrecken und die Decke über den Kopf gezogen, kämpfte er mit der Angst um den Schlaf. Blass und müde saß er dann morgens in der Schule und konnte dem Unterricht kaum folgen. Auch Hereke, mit dem Raen inzwischen fast seine ganze freie Zeit auf den Pferdeweiden verbrachte, konnte ihn nur noch schwer zum Lachen bringen.
Im Clan war man darüber sehr besorgt, allen voran natürlich Roman und Alea. Sie entschlossen sich schließlich, Hilfe beim Clanrat zu suchen und sprachen in einer kleinen einberufenen Versammlung dort vor. Nachdem die claneigenen Medizi nichts Auffälliges bei Raen hatten finden können und recht ratlos waren, entschied der Clanrat einen hohen Medizi aus Tena-lo-Ghan eigens nach Shari einzuladen. Der nahm Raen daraufhin genau ins Auge und stellte den Eltern unangenehme Fragen.
„Und du hast ihm wirklich nichts von den Dingen erzählt, die ein Krieger tut, Banskeid Roman?“
„Nein, ganz bestimmt nicht. Und er war auch nicht in der Schlachtkammer.“
„Könnte er ein Gespräch belauscht haben?“
„Das Unaussprechliche wird hier in Shari wie überall mit äußerster Vorsicht und nur im Oberen Heiligtum des Tempels behandelt. Und dort haben Kinder keinen Zutritt.“
Der Medizi nickte.
Roman musste sich beherrschen. Warum zweifelten sie an seinem Wort? Er hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen. „Ich ...“
„Schon gut, Banskeid Roman, du hast dich richtig verhalten. Du auch, Anparta Nanmia Alea.“
Roman sah, dass Alea erleichtert aufatmete.
„Ich kann bei eurem Sohn nichts feststellen, das auf eine Krankheit des Geistes hinweist. Auch körperlich ist er gesund.“ Er blickte Raen an, der vor ihm saß und dunkle Schatten um seine grünen Augen hatte, die viel zu ernst in die Welt blickten. Roman verspürte großes Mitleid mit seinem Sohn. Ein Kind sollte so etwas nicht erdulden müssen. Es sollte fröhlich sein und unbeschwert.
„Als letztes Mittel kann ich euch nur vorschlagen, euren Sohn regelmäßig in den Tempel zu schicken, um ihn dort unter Anleitung eines Priesters die höhere Meditation erlernen zu lassen. Das wird seinen Geist reinigen. Zusätzlich soll er diese schlafbringenden Kräuter vor dem Zubettgehen in Form eines Tees zu sich nehmen.“ Der Medizi reichte Roman einen kleinen Beutel.
Der bedankte sich, war sich aber nicht sicher, ob er Ersterem zustimmen sollte. „Ist die höhere Meditation für einen Siebenjährigen nicht viel zu anspruchsvoll?“
„Lass es uns doch wenigstens versuchen, Roman“, mischte sich Alea in das Gespräch. „Die beruhigende Atmosphäre des Tempels wird Raens Gemüt besänftigen.“
Dessen war sich Roman nicht so sicher, schließlich wusste er es besser. Er hatte die Unausweichlichkeit der Prophezeiung akzeptiert. Aber davon konnte er seiner Frau natürlich nichts erzählen. Um sie zu beruhigen, stimmte er dem Vorschlag des Medizi zu.
Und so kam es, dass Raen jeden dritten Tag in seiner freien Zeit gleich nach der Schule den Tempel besuchte. Und da dies schon die Grenze der Ausnahme war, die ihm der Clanrat zugestand, musste er anschließend wie alle anderen Kinder des Chorten noch seine Arbeiten für die Gemeinschaft erledigen. Aber das machte Raen nicht viel aus. Auch wenn er dadurch weniger mit Hereke zusammensein konnte, ging er schon bald recht gern in den Tempel, wo er einen neuen Freund gefunden hatte - genau genommen waren es sogar zwei. Und allmählich kehrte das Lachen in sein Gesicht zurück.
Zwar war er früher schon oft mit seinen Eltern im Tempel gewesen, doch erst jetzt offenbarte sich ihm die tiefe feierliche Ruhe, welche das Heiligtum ausstrahlte, und er konnte sich der geheimnisvollen Kraft nicht entziehen, die ihn auf magische Weise dorthin lockte. Bereits morgens in der Schule freute er sich darauf, nachmittags den Tempel zu besuchen. Auf dem Heimweg sang er dann besonders fröhlich. Im Chorten angekommen, trennte er sich von den anderen Kindern, die noch damit beschäftigt waren, sich zum Spielen zu verabreden, und überquerte zügig den Haupthof der Festung. Ehrfürchtig stieg er die Stufen zum Tempel empor, einem länglichen, rostroten Gebäude mit dem gestaffelten Dach. Das aufwendig geschnitzte Holz der drei Säulen am Eingang war ganz mit Blattgold überzogen. Rundherum erglühte das Licht der Sonne im Glanz des Goldes. Andächtig berührte Raen den kleinen, schon ganz abgegriffenen Raben am Torpfosten, murmelte die drei heiligen Namen der Säulen Hyauns, Hrauna, Chorta, Setna, und hob die Hand an die Stirn. Dann trat er durch das Tor in den großen, dämmerigen Hauptraum des Tempels. Der erste Blick des Gläubigen fiel unmittelbar auf die mächtige steinerne, teilvergoldete Statue des Gottes am gegenüberliegenden Ende des Raumes, der durch Säulenfluchten in drei lange Schiffe aufgeteilt war. Entlang dieser Schiffe standen in vielen Reihen flache Holzbänke mit Kissen darauf. Der Fußboden war aus dunklem Holz und so blank poliert, dass sich auf ihm das schimmernde Gold der Gottesstatue und die kleinen Flämmchen der Öllampen spiegelten, die den Raum etwas erhellten. Die Decke mit ihren verzierten Querbalken war recht niedrig. Von ihr hingen zwischen den Säulen kurze, bestickte Vorhänge und Wimpel herab, wodurch der langgestreckte Raum, in dem immerhin über vierhundert Leute bequem Platz fanden, sehr einladend und behaglich wirkte. An den Seitenwänden wechselten bunte Wandteppiche und Türen einander ab. Die Rückwand des Raumes, vor der die Statue Hyauns auf einem Sockel thronte, war mit einem großen, radförmigen Netz, welches das Schicksal darstellte, und weiteren religiösen Symbolen bemalt. Links und rechts der Statue führten zwei große Türen hinauf in das verbotene Obere Heiligtum des Tempels: Ein weiterer großer Altarraum, zu dem nur die Angehörigen der Krieger- und Priesterkaste Zutritt hatten. Raen war schrecklich neugierig, wie es darin wohl aussehen mochte und was die Krieger dort taten. Aber er wagte es natürlich nicht, das Verbot zu missachten. So musste er sich mit dem begnügen, was seine Fantasie ausspuckte. Er ließ seinen Blick wieder zu der großen Statue wandern und sog vernehmlich Luft ein. Heute schein der charakteristische Geruch des Melams besonders überwältigend. Der Atem Hyauns, wie das Räucherwerk von den Priestern auch genannt wurde, stieg von überall im Raum verteilten Messingschalen auf. Raen mochte den schweren, süßen Duft der blauen Schwaden, die sich träge durch den Raum wanden. Die weihevolle Atmosphäre des Altarraumes verursachte ihm immer wieder eine angenehm prickelnde Gänsehaut. Warm sickerte das Gefühl der Geborgenheit durch seine Glieder.
Er ging zu einer der großen Räucherschalen, die am Eingang zum Mittelschiff auf dreifüßigen Eisengestellen standen, und vollzog die symbolische Reinigung, indem er sich den Rauch mit beiden Händen dreimal ins Gesicht wedelte, einmal für jede heilige Säule. Dann hob er beide Hände, die Handflächen aneinandergelegt, zuerst an die Brust, dann an den Mund und abschließend an die Stirn und verbeugte sich tief in Richtung der Statue. Als er sich wieder aufrichtete und auf das Gottesbildnis zuging, bemerkte er, dass er nicht alleine in dem großen Altarraum war. Rechts auf dem um zwei Stufen erhöhten bühnenartigen Podest vor der Statue saßen einige Priester und rezitierten leise murmelnd Gebete in Alt-Hy. Raen erkannte seinen Meditationslehrer und neuen Freund unter ihnen. Beherrscht durchmaß er das mittlere Schiff, seinen Blick noch immer auf das strenge, aber gütige Gesicht des Gottes geheftet, das ihn sehr faszinierte. Die ganze Statue besaß eine fesselnde Ausstrahlung. Der erhabene Hyaun saß mit überkreuzten Beinen auf einem Sockel, in den der Gebetskanon der drei heiligen Säulen eingraviert war. Im ganzen maß Er drei Manneslängen an Höhe. Der Körper Hyauns wirkte nackt, aber wenn man genauer hinsah, konnte man erkennen, dass die Falten eines hauchdünnen Gewandes, ähnlich dem der Priester, auf der Oberfläche eingemeißelt war. Die Säume des Gewandes waren mit Gold verziert und auf dem Kopf trug Hyaun die aufwendig aus Gold gearbeitete Krone der Allwissenheit, die für die Gabe des Geistes stand. Seine linke Hand lag nach oben geöffnet einer Schale gleich im Schoß. Der rechte Arm wies angewinkelt nach vorn, und die Hand war mit der Handfläche zum Betrachter hin in segnender Geste erhoben. Die Hand bot Schutz, Bestätigung, Zuversicht oder Trost, je nachdem, was der Gläubige gerade suchte.
Als Raen bei den Priestern ankam, löste er seinen Blick von der Hand über ihnen und vollzog schüchtern das förmliche Begrüßungsritual. Hyaunset Loenka, der Meditationslehrer, sah auf und grüßte zusammen mit den anderen Priestern zurück. Dann erhob er sich und ging mit Raen in einen der kleineren Seitenräume des Tempels, die sich hinter den Türen in den Seitenwänden befanden. Diese Räume hatten im Gegensatz zum Tempelinnenraum eine Reihe von Fenstern, durch die Tageslicht hereinfiel. Sie wurden von den Priestern und Gläubigen für alle möglichen Zwecke genutzt, wie zum Beispiel Meditationsunterricht, Gebetszirkel, die nicht unterbrochen werden sollten, oder vertrauliche Gespräche. Auch der Clanrat traf sich stets dort. In den Räumen befanden sich keine Bänke, dafür aber weiche Matten, und es hatten etwa zehn bis fünfzehn Leute darin Platz.
Loenka setzte sich auf die Matte an der Tür mit dem Gesicht zum Fenster und Raen ihm gegenüber. Schräg fiel das Licht der Sommersonne durch das Fenster. Raens Schatten zeigte direkt auf Loenka und reichte ihm bis zur Brust. Es war sehr warm in dem Raum, und der Priester strich sich den Schweiß von seinem kahlrasierten Kopf. Um etwas Abkühlung zu bekommen schob er sich den übergeworfenen Saum seiner dottergelben Robe von der Schulter. Das Gewand des Priesters bestand aus einem kurzärmeligen Untergewand, einem Wickelrock und einer weiten Stoffbahn, die ein bis zwei Mal um den Körper gewunden wurde.
„Hast du wieder geträumt?“, fragte Loenka schließlich. Seine Stimme klang warm und freundlich.
„Ja, aber ich habe nichts Neues gesehen. Es ist alles so wie immer.“
Der Priester nickte. Zu Beginn hatte er lange Zeit damit verbracht, herauszufinden, welche Bedeutung die Bilder haben könnten, die Raen Nacht für Nacht sah. Doch bis heute war er noch zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen und er hoffte, der Traum würde sich eines Tages entweder in Luft auflösen oder selbst entschlüsseln.
„Nichts Neues also“, wiederholte Loenka nachdenklich.
Es klopfte an der Tür. Ein Novize brachte eine Kanne kalten Tees mit zwei Schalen und zog sich danach wieder zurück. Loenka schenkte ihnen ein, und Raen leerte die erste Schale fast in einem Zug, so durstig war er. Loenka lächelte, als Raen ihm seine leere Schale hinhielt, und er neu einschenkte. Nach der zweiten Schale Tee begann Loenka mit den einführenden Übungen zur höheren Meditation, die Raen folgsam und geduldig ausführte. Während Loenka in rhythmischen Abständen eine Zimbel anschlug und mit tiefer, sonorer Stimme Meditationsgebete aufsagte, war es Raens Aufgabe die erste Stufe der Versenkung zu erreichen. Dazu musste er sein Inneres vollkommen zur Ruhe bringen und seinen Geist leeren. Mit halbgeöffneten Augen, den Blick auf nichts Bestimmtes gerichtet, konnte er schon mindesten eine Usui-Stunde so da sitzen.
Loenka war sehr angetan von der Begabung des Jungen, der mit seinen sieben Jahren bereits das schaffte, was ein Erwachsener erst nach vielen Monaten Übung vollbringen konnte. Unbemerkt musterte er Raens entspanntes Gesicht. Der Priester war gespannt, wie lange er brauchen würde, um die weiteren Stufen der Versenkung zu erlernen. Wenn der Junge damit auch so schnell zurechtkam, dann würde er den Oberpriester darüber informieren müssen. Das wäre so außergewöhnlich, dass es sich empfahl, sich darüber zu beraten! Doch vorerst wollte Loenka Raens Fortschritte in Ruhe beobachten und es nicht gleich an die große Glocke hängen, er war schließlich ein sehr junger Schüler, bei dem sich noch viel verändern konnte.

Die Aufenthalte im Tempel und die Schulung seines Geistes verschafften Raen tatsächlich eine gewisse Erleichterung. Zwar verschwand das Blutpferd nicht aus seinen Träumen, aber durch seine immer wiederkehrende Präsenz war es schließlich bald zu einer Art verlässlichen und getreuen Begleiter geworden, den Raen sogar zu vermissen begann, wenn er einmal nicht kam. Längst hatte er seine Angst verloren und konnte nachts wieder ruhig schlafen. Das Lachen wurde wieder zum häufigsten Ausdruck auf seinem Gesicht. Er fühlte sich glücklich und es gab nichts Schöneres für ihn, als mit den anderen Kindern zur Schule zugehen und zusammen mit seinem besten Freund Hereke über die Pferdeweiden zu tollen. Die Aufregung um ihn legte sich.
Erleichtert atmeten auch Roman und Alea auf. Vielleicht war das alles ja doch nur eine einmalige Absonderlichkeit gewesen. Schon bald taten sie, als sei nichts gewesen und vergaßen die dunklen Schatten, die sich auf ihre Herzen gelegt hatten.
Loenka allerdings war weiterhin wachsam. Eine unbestimmte Ahnung keimte in ihm. Und auch wenn es ihm gelungen war, Raen in die normalen Bahnen zurückzulenken, blieb der unsichtbare Makel des Besonderen dennoch hartnäckig an ihm haften.

Der Herbst, in dem alle Leute des Clans emsig damit beschäftigt gewesen waren, die Ernte einzuholen und Vorräte für den Winter haltbar zu machen, wich dem stillen Winter. Die Speicherhäuser waren wohl gefüllt, das Vieh war in den Ställen, die Feldarbeit ruhte und die Menschen saßen in ihren warmen Häusern und warteten auf den Frühling. Raen mochte den Winter, denn jetzt hatten Kinder und Erwachsene weniger Aufgaben zu erledigen und dafür mehr Zeit für andere Dinge. Auch die Schule war für die drei kältesten und dunkelsten Monate des Jahres geschlossen. In dieser Zeit standen die Familie und Freunde im Vordergrund. Es war die Zeit, Gäste zu empfangen und selbst eingeladen zu werden. Oft wurden sogar kleine Reisen zu den Nachbarclans unternommen. Gemütlich saß man dann beisammen in den gemeinschaftlichen Räumen, im dampfenden Badehaus oder der großen Küche des Chorten, trank heißen Gewürztee, schwatzte über dies und jenes und tauschte die Neuigkeiten aus der Umgebung aus. Abends beschäftigten sich die Eltern viel mit ihren Kindern, erzählten ihnen Geschichten und spielten Spiele.
Zur selben Zeit fanden auch die großen Sitzungen des Clanrates im Tempel statt. Bei diesen wichtigen alljährlichen Treffen, bei dem ein gewählter Angehöriger der Kriegerkaste, der sogenannte Clanchef, stets den Vorsitz führte, wurden alle Vorgänge des vergangenen Jahres zusammengefasst und die Versorgung für das kommende Jahr berechnet. Alle vier Jahre wurden vom Clan die Mitglieder des Rates neu bestimmt, der sich aus je einem Vertreter der verschiedenen Berufskasten zusammensetzte, die den „Vierten Grad der Handlungsfreiheit“ innehaben mussten und alle gleichberechtigt waren. Denn nur so konnte jeder Bereich des Clans zufriedenstellend abgedeckt werden.
Den Vierten Grad der Handlungsfreiheit erlangte ein Erwachsener erst, wenn er sich für seine Rolle, seinen Platz, in der Gemeinschaft empfohlen und geheiratet hatte. Ein Kind, ein Fin, besaß noch keinen Grad, durfte also keinerlei eigene Entscheidungen treffen. Als Schüler, Bil, bekam man den Ersten Grad zugesprochen und als Lernender, Tor, im jugendlichem Alter den Zweiten. Jetzt konnte der Heranwachsende sich frei entscheiden, welche Rolle er in der Clangemeinschaft einnehmen wollte. Diese Entscheidung war, wenn sie einmal gefällt worden war, nicht wieder rückgängig zu machen, deshalb wurde sie nur sehr wohl überlegt getroffen. Den Dritten Grad erhielt ein junger Hy, wenn er seine Ausbildung abgeschlossen hatte und zum Dienenden, Set, wurde. Dies war auch der Zeitpunkt, an dem man sich schließlich auch einen Partner fürs Leben wählen und heiraten durfte, wodurch man den Vierten Grad der Meister, Anparta, erhielt und mit diesem auch endgültig die vollständige Handlungsfreiheit innerhalb des Clans - Rechte und Pflichten gleichermaßen. Man war nun verpflichtet Verantwortung zu übernehmen, aber auch berechtigt Entscheidungen zu treffen, beides natürlich stets im Sinne und zum Wohle der Gemeinschaft. Der Fünfte Grad stellte den Ruhestand dar, in den man eintrat, wenn man zu alt dafür geworden war, seine Rolle noch voll ausfüllen zu können. Dies war der Grad der Weisen, der Valparta. Den Sechsten und letzten Grad, mit dem ein Menschwesen schließlich den höchsten, angestrebten Zustand des Daseins - die Vervollkommnung der Seele - erreichte, stellte der Übergang vom Leben in den Tod dar. Mit ihm fielen sämtliche Titel von einem ab und man bekam schlicht nur noch den ehrenvollen Zusatz Al vor seinen Rufnamen gestellt.
Raen beherrschte den Kanon der Ehre mittlerweile recht gut. Doch das half nicht in allen Situationen. Verlegen kratzte er sich am Kopf, während Herekes Gesicht eine tief rote Färbung annahm. Schnell verneigten sich die beiden Jungen vor dem Älteren und riefen wie aus einem Munde: „Ja, Anparta Henendra, entschuldige bitte, wir werden es sofort wieder abwaschen!“
„Ist schon gut, aber das nächste Mal macht ihr nicht so einen Unsinn! Habt ihr verstanden? Und jetzt seht zu, dass ihr die Sauerei beseitigt, in einer Usui-Stunde will ich davon nichts mehr sehen!“, donnerte Henendras laute Stimme über sie hinweg.
Verschüchtert sahen Raen und Hereke zu ihm auf und nickten. Henendra, der nicht nur durch seine Stimme sondern auch durch seine hünenhafte Statur beeindruckte, warf ihnen noch einmal einen ernsten Blick zu und verließ dann die Scheune.
„Ja, Vater, machen wir, entschuldige vielmals!“, rief Hereke ihm hinterher.
Dann waren sie allein.

Draußen vor dem Tor schmunzelte Henendra in sich hinein. Es war schon unerhört, was die beiden da getrieben hatten, aber es war irgendwie auch sehr komisch. Und er wusste auch genau, auf wessen Mist das Ganze gewachsen war. Diesem Raen gingen die Streiche einfach nicht aus, lauter Flausen hatte der im Kopf! Wenn das sein Vater wüsste! Sicher, als kleine Buben hatten sie früher auch Schabernack getrieben. Aber das hier ging entschieden zu weit. Die harsche Standpauke war nötig gewesen, auch wenn es Henendra schwergefallen war, dabei selbst ernst zu beleiben. Der Anblick hatte nicht einer gewissen Erheiterung entbehrt. Fröhlich pfeifend stapfte er durch den Schnee zum Stall hinüber, um dort nach dem Rechten zu sehen. Sein Blick fiel auf ein paar winzige rote Tropfen, die in den Schnee gefallen waren. Erneut musste er grinsen, und vor seinem inneren Auge tauchte das rote Pferd auf, das soeben leibhaftig vor ihm gestanden hatte.

„Los, beeilen wir uns lieber!“ Hereke war ganz außer Atem, als er den Eimer Wasser zum hinteren Tor der Scheune hereinschleppte. Raen nickte und warf seinem Freund ein festgeflochtenes Strohknäuel zu, wie man es üblicherweise zum Schrubben von Fußböden benutzte.
„Aber gut sieht es doch aus, oder etwa nicht!“, sagte er stolz.
„Ja, schon.“ Henendra sah Raen an und grinste.
„Das Gesicht von deinem Vater war auch nicht schlecht.“
„Oh, war der böse!“
„Leider hat er uns erwischt, bevor wir es laufen lassen konnten. Ich hätte gerne noch viel mehr solch komische Gesichter gesehen!“ Beide Jungen schauten auf das Pferd, das angebunden inmitten der Scheune stand und knallrot angemalt war.
„Vielleicht hätten wir noch etwas draufschreiben sollen!“ Laut lachten sie los und konnten sich kaum beruhigen.
Im Chorten wurden gerade die hölzernen Elemente der Gebäude neu gestrichen und Raen hatte einen Eimer rote Farbe mitgehen lassen. Dann hatte er Hereke überredet ein weißes Pferd in die Scheune zu holen und es anzumalen. Das Tier hatte es geduldig mit sich geschehen lassen, und es hatte Spaß gemacht, mit den Pinseln die Farbe auf dem Fell zu verteilen. Und schließlich hatte das Pferd aus Raens Träumen vor ihnen gestanden, als sei es geradewegs daraus entstiegen. Treu dreinblickend hatte das Blutpferd in keiner Weise bedrohlich gewirkt, sondern eher etwas ulkig. Und Raen hatte sich gefühlt, als würde er endlich einen alten Freund treffen.
„Das nächste Mal nehmen wir grün, dann findet mein Vater es im Sommer auf der Weide nicht wieder!“, lachte Hereke.
„Ja, und wir malen Gänseblümchen drauf!“ Beide prusteten wieder los.
„Was ist? Seid ihr noch nicht fertig!“
Erschrocken sahen die beiden Jungen auf, als sie erneut die dröhnende Stimme Henendras vernahmen. Der Reitmeister hatte seinen Kopf zum Tor hereingesteckt, und sein Blick duldete diesmal keine weitere Verzögerung. Schnell machten sich Raen und Hereke daran, die Farbe aus dem Fell zu waschen. Glücklicherweise war sie noch nicht eingetrocknet und ging recht gut ab. Anschließend rieben sie das Pferd mit frischem Stroh trocken, und es schnaubte zufrieden, ob der nicht enden wollenden, wohltuenden Massage. Als sie fertig waren, wagten sie es, zum Tor zu blicken, doch Henendra war schon längst nicht mehr da. Erleichtert atmeten sie auf. Sie waren erschöpft und selbst völlig durchweicht, die Finger ganz steif vom kalten Wasser.
Hereke nahm das Pferd am Strick und gemeinsam führten sie es zurück über den Hof in den Stall. Dort wartete Henendra mit gespielt ernster Miene. Schuldbewusst senkten die beiden Jungen den Kopf und brachten das Pferd zu den anderen. Als sie still an Henendra vorbei nach draußen gehen wollten, packte er sie plötzlich an ihren klammen Krägen.
„Ihr seid ja ganz nass! Geht rein zu deiner Mutter, Hereke, und lasst euch einen heißen Tee machen. Trocknet eure Sachen, bevor ihr noch krank werdet.“
„Ja, Vater“, antwortete Hereke, der sich noch immer nicht traute seinen Vater anzusehen.
„Gut. Und keinen Unfug mehr!“ Henendra ließ die beiden Jungen los.
„Nein, Vater!“, rief Hereke und lief mit Raen durch den Schnee zum Haus hinüber.
Henendra blieb im Stall. Die Tiere mussten ihr Heu bekommen. Er rief nach seinen Gehilfen und warf einen Blick auf das Pferd, welches das Opfer des Streichs geworden war. Strahlend weiß leuchtete es im Halbdunkel des Stalls. So sauber war es wahrscheinlich noch nie gewesen.

‚Ganz schön kalt ist es’, dachte Raen ein paar Usui-Stunden später, als er auf dem Weg nach Hause war, und er steckte die Hände in die Ärmel seiner Jacke. Bis eben hatte er mit Hereke am prasselnden Herdfeuer in der Küche gesessen und seine Kleider getrocknet. Herekes Mutter hatte eine Geschichte erzählt, während die beiden Jungen in Decken gewickelt und mit roten Nasen ihren dampfenden, mit Sirup gesüßten Tee geschlürft hatten. In solchen Momenten und mit seinem besten Freund an der Seite fühlte Raen sich stets glücklich. Jetzt auf dem Heimweg lauschte er still seinen Erinnerungen und seinen eigenen Schritten, die im Schnee knirschten. Er mochte dieses Geräusch unter seinen Sohlen, denn er verband es mit den vielen schönen Stunden, die er im Winter mit seinem Freund draußen verbringen konnte. Raen blickte auf den Chorten, der vor ihm auf seiner felsigen Anhöhe thronte. Seine Mauern waren weiß wie der Schnee, und nur die hölzernen Erker und das rostrote Farbband, das jeweils die obersten Stockwerke der Gebäude zierte, hoben sich in der Dämmerung dunkel von den helleren Farbtönen der verschneiten Landschaft ab. Aus den Kaminen stiegen weiße Rauchwolken in den klaren abendlichen Himmel auf, und die Lichter hinter den Fenstern der Türme glommen mit dem bereits aufgehenden Sichelmond um die Wette. Plötzlich fiel Raen ein, dass er heute Loenka hätte besuchen sollen.
„Oje, das habe ich ganz vergessen!“, sagte er laut in die kalte Luft und begann den Rest des steilen Weges zu laufen. Am großen Tor des Chorten nickten ihm die schwarzen Gestalten der wachhabenden Krieger zu, nachdem er sie im Vorbeilaufen atemlos gegrüßt hatte. Zielstrebig trabte er weiter über den Hof und auf den erleuchteten Eingang des Tempels zu. Mehrere Stufen auf einmal nehmend sprang er die Treppe hinauf, drückte behutsam eine der großen Türen auf und schlüpfte durch den Spalt nach innen. Sofort stieg ihm der beruhigende Geruch des Melams in die Nase. Der Hauptraum war leer. Raen zog seine flachen Lederschuhe und die Stoffgamaschen aus, die dreckig und nass waren, und streifte sich Strohsandalen über die Füße, die im Eingangsbereich bereitlagen. Nachdem er das Reinigungsritual vollzogen hatte, schritt er eilig das Mittelschiff entlang nach vorne zum Altar. Noch immer war kein Mensch zu sehen. Er beschloss, sich direkt vor die Statue Hyauns zu setzen und zu warten, bis Loenka oder jemand anderes kommen würde.
Sein Atem beruhigte sich allmählich, und die wohlige Wärme des Raumes ließ ihn schläfrig werden. Er legte den Kopf in den Nacken und sah dem Gott über ihm direkt in die Augen. Der durchdringende Blick der Statue hypnotisierte ihn regelrecht. Gebannt starrte er hinauf. Es fühlte sich an, als ob er in diese pupillenlosen, allsehenden Augen hineingesogen werden würde, und plötzlich begann das große, steinerne Gesicht, sich ihm entgegen zu beugen. Er sah, wie der Mund sich öffnete. Erschrocken hob Raen die Hände.
„Raen!“, hörte er eine Stimme rufen und fuhr hoch. Verwirrt schaute er sich um, bemerkte dann aber Loenka, der gerade die Stufen vom verbotenen Heiligtum herabgestiegen kam.
„Bil Raen, ist alles gut?“, fragte der Priester.
„Ja, Hyaunset Loenka, ich bin nur kurz eingeschlafen.“ Raen verbeugte sich vor dem Priester.
„Du siehst ganz schön zerzaust und erschöpft aus, warst du den ganzen Tag draußen?“ Loenka deutete auf Raens wirre Frisur, die keine mehr war, und setzte sich neben ihm auf die flache Bank.
„Ich war bei Hereke“, lallte Raen, er hatte Mühe, seine Augen offen zu halten.
„Natürlich. Wo auch sonst“, lachte der Priester. „Und, habt ihr wieder etwas angestellt?“, fragte er, denn er wusste, wie bekannt die beiden Jungen dafür waren, ständig auf dumme Ideen zu kommen. Sie befanden sich in dem schwierigen Alter, in dem sie bewusst Grenzen erprobten. Ständig musste man ein wachsames Auge auf sie haben und sie ermahnen. Und wenn das nicht ausreichte, dann brachte man mit Stubenarrest und Sonderarbeiten schließlich auch die größten Wildfänge unter den Kindern wieder zur Räson.
„Nun? Heraus damit, ich sehe es dir doch an! Oder soll ich vielleicht Herekes Vater fragen?“, bohrte Loenka nach, als er Raens ausweichendes Lächeln sah.
„Ja, also ... wir haben ein Pferd rot angemalt.“
Loenka klappte die Kinnlade herunter. „Ihr habt was? Und warum?“
„Ich wollte sehen, wie es in echt aussieht, das Pferd aus meinen Träumen“, antwortete Raen verlegen.
„Und wie sah es aus?“
„Lustig!“
„Und wie fand Hereke es? Hatte er keine Angst?“
„Nein, wieso? Er hat auch darüber gelacht. Aber dann hat Henendra uns erwischt und wir mussten es wieder saubermachen. Er war ganz schön böse!“
„Ah ha.“ Loenka dachte nach. Eigentlich amüsierte ihn der Gedanke an ein rotes Pferd, und zu gern hätte er es gesehen. Doch das alles hatte einen z ernsten Hintergrund. Er gewahrte, dass Raen wieder die Augen zufielen.
„Ich glaube, wir lassen die Übungen für heute besser bleiben. Du bist ja ganz erschlagen. Geh nach Hause, iss etwas und leg dich schlafen. Komm einfach morgen früh wieder.“
„Ja, danke, Hyaunset Loenka. Bis morgen dann.“ Raen stand auf, verneigte sich vor dem Priester und der Statue und verließ den Tempel.
Draußen war es inzwischen dunkel geworden, und Raen beeilte sich, durch die eisige Kälte schnell in den Nordturm zu kommen. Erschöpft stieg er die Treppen in den siebten Stock hinauf. Eigentlich hätte er sich unten im Erdgeschoss in der Küche melden sollen, wo sich um diese Zeit die meisten Kinder aufhielten. Denn es war Aufgabe der Jüngeren, dort den Frauen und Männern des Hauses, den Parta Al Tena, bei der Zubereitung des allabendlichen Nachtmahles zur Hand zu gehen. Aber er war hundemüde, hatte nicht einmal mehr Hunger und wollte nur noch ins Bett.
Als er am Zimmer seiner Eltern vorbeikam, klopfte er versuchsweise, vielleicht war ja jemand da. Und tatsächlich rief ihn die Stimme seines Vaters herein. Raen öffnete die Tür und schob den Vorhang zur Seite. Die entzündeten Öllampen tauchten den Raum in sanftes Licht. Sein Vater war allein. Er hatte seinen Helm abgelegt, und nur das Aun glänzte auf seiner Stirn. In die schwarze Kriegerkluft gehüllt, wirkte er wie sein eigener Schatten. Er saß auf einem Kissen auf dem Boden, hatte sein einschneidiges Leichtschwert in der Hand und putzte es gerade mit einem Tuch. Das zweischneidige Breitschwert lehnte in seiner Scheide aus Holz, Stahl und Messing neben ihm an der Wand.
„Raen, du bist früh hier, warst du nicht im Tempel?“
„Hyaunset Loenka hat mich nach Hause geschickt, weil ich zu müde bin“, entgegnete Raen und sah das Schwert an, das sein Vater derweil vor sich auf den Boden gelegt hatte. Die scharfe, elegant gebogene Klinge blinkte ihn an. Das marmorgleiche Muster der unzähligen Stahllagen konnte Raen gut erkennen. Der Griff des Schwertes war mit dunklem Leder umwickelt und das runde durchbrochene Stichblatt, wie auch der Knauf waren aus goldgelbem Metall, von dem Raen glaubte, dass es Gold war. Eine seltsame Erregung erfasste ihn. Das Schimmern der blanken Klinge war wie ein lockendes Flüstern. Und mit einem Mal war alle Müdigkeit aus seinen Gliedern vertrieben. Neugierig trat er näher. Wofür genau benutzte sein Vater das Schwert eigentlich?
„Vater, was macht ein Banskeid, ein Krieger?“
Roman hob das Leichtschwert vorsichtig auf und legte es an seine rechte Seite, wusch sich seine Hände in der Schüssel mit Wasser, die auf der anderen Seite neben ihm stand, trocknete sie an einem zweiten Tuch, das nicht mit der Klinge in Berührung gekommen war, und winkte Raen zu sich: „Komm, hol dir ein Kissen und setz dich zu mir.“
Raen tat, wie ihm geheißen und setzte sich mit gekreuzten Beinen seinem Vater gegenüber.
„Du möchtest wissen, welches die Aufgaben eines Kriegers sind?“, begann dieser nachdenklich. Er schien unsicher, doch dann antwortete er: „Nun, die oberste Pflicht eines Banskeid besteht drin, sein Volk zu beschützen. Er muss Verantwortung für seinen Clan übernehmen und den Landfrieden sichern. Er ist ein Diener Hyauns und Al Setnas, welcher wiederum der oberste Diener des Volkes ist, wie sein Name schon sagt: Set - Diener, und Na - Volk. Mit jeder Faser seines Körpers, mit jedem ersten Gedanken seines Geistes unterliegt ein Krieger den Regeln und Gesetzen seiner Kaste, die natürlich auf den Regeln der Gemeinschaft gründen, aber zusätzlich noch viele andere Gebote beinhalten. Sein unerschütterlicher Glauben und seine Treue sollen einem jeden Hy als Vorbild gereichen. Seine außerordentliche Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit sind ein Geschenk an die Gemeinschaft. Ein Krieger hilft jeder Zeit da, wo es an Hilfe fehlt und als Symbol dafür trägt er zu jeder Zeit sein Schwert.“
‚War das alles?’, fragte sich Raen und blickte unverwandt auf das Schwert. In seinen Augen leuchtete es unheimlich, ja, geradezu begehrlich auf.
„Wie wird man ein Krieger?“
„Man wird von Hyaun erwählt.“ Sein Vater ahnte wohl, warum er das wissen wollte, denn eine argwöhnische Falte erschien zwischen seinen Augenbrauen.
Raen legte den Kopf schief und fragte: „Und wann weiß ich, dass ich erwählt wurde?“
„Man wird gerufen.“
„Hm, ich habe schon viel zu Ihm gebetet, aber ich habe Hyaun selbst noch nie rufen hören.“ Raen dachte kurz an seinen Traum, den er gehabt hatte, als er vorhin im Tempel eingenickt war. Da hatte Hyaun zu ihm gesprochen, hatte seinen Namen gerufen, oder etwa nicht? Er blinzelte.
„Hyaun spricht ja auch nicht direkt mit den Menschen. Es geschieht in deinem Kopf, es ist eine innere Stimme“, beschrieb Roman.
„Kann er mich schon gerufen haben?“
„Jetzt werd nicht ulkig, Raen!“, prustete sein Vater amüsiert. „Du bist erst sieben und viel zu jung, um ein Banskeid zu werden!“
„Wie alt warst du denn?“
„Ich war dreizehn, als ich meinen Kall, den Ruf Hyauns, erhalten habe. Damals habe ich selbst nicht so richtig begriffen, was mit mir geschah. Es war eine Stimme in meinem Kopf, in meinen Gedanken“, sein Vater tippte sich an die Schläfe, „ähnlich wie die Stimme des Setna, die ich jetzt über das Aun empfangen kann, und sie hat mich gerufen.“
„Wird Er mich auch rufen?“
Sein Vater seufzte. „Das weiß keiner. Erst wenn es soweit ist, wirst du es merken.“
„Und wofür benutzt du nun das Schwert? Es ist eine Waffe, nicht wahr?“ Offen blickte Raen seinen Vater an, der förmlich erstarrte. Er bemerkte, dass er unbewusst das Tuch zerknüllte, das er noch immer in der Hand hielt. Sein Vater schien nicht weiter darüber reden zu wollen und presste die Lippen aufeinander. Raen fürchtete schon, ihn verärgert zu haben, was natürlich das Ende des Gesprächs bedeutet hätte, doch Roman hob mit strenger Miene das Kinn und sagte:
„Ja, es ist eine Waffe. Aber woher kennst du das Wort? Es gehört nicht zu dem üblichen Wortschatz eines Siebenjährigen! Habt ihr etwa in der Schule davon gesprochen? Ich glaube, ich muss wohl mal ein erstes Wort mit den Lehrmeistern reden. Die Kinder der untersten Klasse mit dem Unaussprechlichen zu belasten, das ist wirklich unverantwortlich.“
„Ich habe es nicht aus der Schule“, gab Raen bereitwillig Auskunft.
„Woher dann?“
„Ich weiß es nicht, ich kenne es eben. Frag doch meine Schulkameraden, die kennen es nicht.“
Sein Vater sah ihn durchdringend an. „Hast du etwa ein Gespräch zwischen Banskeid belauscht? Schäm dich, Raen! Wirklich, das ist sehr ungehörig von dir!“
„Nein, ich habe niemanden belauscht, ehrlich. Ich glaube, ich habe von dem Wort geträumt“, verteidigte sich Raen.
„Geträumt?“
„Ja.“
Sein Vater winkte ab, dessen Gesicht jetzt ebenfalls sehr müde wirkte. „Vergiss das Wort, Raen. Am besten, du legst dich jetzt wirklich ins Bett.“
Raen nickte, doch es passte ihm ganz und gar nicht, dass sein Vater das Gespräch einfach so beenden wollte. Warum bekam er nie vernünftige Antworten auf seine Fragen? Sein Blick viel auf das Leichtschwert, das noch immer neben seinem Vater auf dem Boden lag, und verharrte dort nachdenklich.
Plötzlich schoss seine Hand in Richtung der Klinge vor, doch Roman reagierte blitzschnell. Er packte Raens Arm und stoppte ihn knapp über dem Stahl. Mit der anderen Hand schob er das Schwert rasch aus Raens Reichweite, dabei stieß es an die Wand und gab einen hellen, metallischen Klang von sich.
„Nicht!“, rief er aufgebracht. Seine Stimme traf Raen wie eine Ohrfeige.
Mit großen Augen sah er seinen Vater an, und erschrak ein weiteres Mal, als er dessen entsetzt verzerrten Gesichtsausdruck gewahrte.
„Du darfst es nicht anfassen! Niemals! Hast du verstanden? Es ist schlecht für dich!“
Raen spürte, wie das Entsetzen seines Vaters sich durch dessen harten Griff um sein Handgelenk fortpflanzte. Derart erbost hatte er ihn noch nie gesehen. Er war doch sonst immer so ruhig und freundlich. Aber das, was er jetzt erblickte, machte ihm Angst, und es war ihm zutiefst unangenehm.
„Entschuldige bitte, Vater! Ich ... ich wollte dich nicht verärgern!“ Tränen der Scham schossen in seine Augen. „Du tust mir weh.“ Er sah auf die Hand seines Vaters, die ihm das Blut in seinem Arm abdrückte.
Sofort ließ er sofort Raens Handgelenk los. Einen Moment verharrte der Ältere in unschlüssiger Erstarrung, legte seine Hand aber dann wieder sachte auf die Schulter seines Sohnes, um ihn zu beschwichtigen.
Raen bemerkte den Anflug von Kummer in seinen Augen.
„Ist schon gut, Raen. Es war mein Fehler! Schwerter haben in der Nähe von Kindern nichts verloren. Ich hätte sie wegpacken sollen! Sieh mich an“, sanft hob er Raens Kinn an und strich ihm einem Finger die Tränen von der Wange. „Wenn du älter bist, werde ich es dir erklären. Einverstanden?“ Aufmunternd blickte er in Raens grün schimmernde Augen, die nun wieder sehr erschöpft wirkten, ansonsten jedoch genau denen seiner Mutter glichen. „Aber vorerst versprichst du mir, dass du die Schwerter niemals wieder anfassen wirst!“
„Ja, Vater, ich verspreche es“, flüsterte Raen mit dünner Stimme. Scheu blickte er seinen Vater an, der ihn warm anlächelte, und Erleichterung durchfloss ihn.
„Geh jetzt schlafen. Du kippst mir hier ja gleich um.“
Schwerfällig stand Raen auf, legte das Kissen in den Erker und verließ schweigend den Raum. Ohne Umwege ging er in das Schlafzimmer der Kinder und legte sich auf sein Lager. Und kurz nachdem er die Bettdecke über seinen Kopf gezogen hatte, war er auch schon eingeschlafen.

In seinem Zimmer saß Roman grüblerisch in noch immer gleicher Haltung auf seinem Kissen. Er nahm das Leichtschwert auf und betrachtete es. Es lag ausgezeichnet in der Hand, und der tausendfach gefaltete Stahl der perfekt geschmiedeten Klinge war so scharf, dass man kaum einen Widerstand spürte, wenn sie durch Fleisch und Knochen glitt. Ja, es war eine Waffe, ein Werkzeug des Krieges, das Tod und Verderben brachte! So herrlich und wunderschön, gleichzeitig aber auch so grausam und kompromisslos. Roman ließ die Klinge langsam durch die Luft fahren. Das Schwert war wie ein Körperteil von ihm, sein verlängerter Arm, und wie oft hatte er es schon in das Blut des Feindes getaucht, die Klinge damit benetzt! Wie leicht war es doch, damit einen Menschen zu töten, wenn man die Grenze erst einmal überschritten hatte!
Aber all diese Dinge würde sein Sohn hoffentlich nie erfahren. Zwar war es äußerst ehrenhaft, ein Banskeid zu sein und das Schwert als heiliges Symbol tragen zu dürfen, aber es war auch eine Bürde.
„Bitte, Hyaun, erspare meinem Sohn dieses Los! Ich könnte es nicht ertragen, ihn erleiden zu sehen, was ich erleide“, flüsterte er in den stillen Raum hinein. Als Krieger wandelte man auf der Schattenseite des Universums und nahm stellvertretend für das Volk das Unaussprechliche auf sich, damit der Rest der Menschen in unbeschwertem Frieden leben konnte. Er hob die Schultern. Irgendwer musste es schließlich tun. Denn konsequent wandten sich alle Nichtkrieger von allem ab, was mit Gewalt und Blutvergießen zu tun hatte, nicht einmal geredet wurde darüber. Aber da diese Dinge nun einmal einen unvermeidlichen Platz im Universum besaßen, musste es Menschen geben, die sich in ihrem Auftrag damit befassten. Ein Krieger durfte seine Augen vor dem Unsagbaren des Universums nicht verschließen, sondern musste ihm mutig und gewappnet entgegentreten. Um sein Volk zu beschützen, hatte Roman gelernt, gewaltsam den Tod herbeizuführen - auf hundert verschiedene Arten Blut zu vergießen und nicht davor zurückzuschrecken.
Er hatte sehr wohl die Neugier in den Augen seines Sohnes aufblitzen sehen und gerne dessen Fragen offen beantwortet, doch Raen war noch nicht alt genug, um das alles verstehen zu können. Außerdem war es ihm unangenehm gewesen, von ihm mit der blankgezogenen Waffe gesehen zu werden. Auch wenn es für ihn als Krieger eine Alltäglichkeit war, sie zu tragen, sollten Kinder doch so lange wie möglich davon verschont bleiben, mit solchen Dingen in Berührung zu kommen. Die Klingen des Blutes zu berühren, brachte jedem, der nicht ein Krieger oder Priester war, erhebliches Unheil für die Seele - genau, wie es Unglück brachte mit Blut in Berührung zu kommen. Nur in der Hand eines Kriegers war das Schwert ein heiliges Instrument.
Roman stieß angestrengt Luft aus. Er hoffte, dass Raen dieses Instrument niemals würde benutzen müssen. Er steckte das Schwert in die Scheide aus dunklem Holz, auf der die Sonnenscheibe aus Gold funkelte. Dann nahm er das Breitschwert und legte beide Waffen in den unteren Schrank seines Alkovens, wo noch weitere Messer und eine kleine Streitaxt verwahrt waren. Dieser Schrank war absolut verboten für alle anderen! Selbst für Alea.
Bei dem Gedanken an seine Frau, überkam ihn Unruhe. Sollte er ihr von dem Gespräch mit Raen erzählen, oder es besser für sich behalten, um ihr die Sorge ersparen? Er hielt vor ihr sowieso schon so einige Geheimnisse zurück, da kam es jetzt auf ein weiteres auch nicht mehr an! Und obwohl Roman die Ehrlichkeit immer bevorzugte, entschied er sich, es für sich zu behalten.

9. Kapitel



Raens achter Geburtstag war der Tag, den er sich am meisten herbeigesehnt hatte, denn jetzt durfte er endlich Reiten lernen. Roman ließ es sich nicht nehmen, die ersten Reitversuche Raens auf seinem eigenen Pferd selbst zu unterrichten, später würde das dann Henendra der Reitmeister übernehmen.
Raen liebte das Pferd seines Vaters, und es war das Größte für ihn, auf dessen Rücken zu sitzen und die Welt von dort aus zu betrachten. Hier oben fühlte er sich vollkommen sicher. Schon nach kurzer Zeit konnte er allein durch den Schnee traben, das Pferd folgsam am Zügel. Überglücklich strahlte er dabei über das ganze Gesicht. Auch Roman machte es Freude zu sehen, wie gut der Knabe mit dem großen Pferd zurechtkam. Er hatte scheinbar gute Fähigkeiten im Umgang mit den Tieren.
Kaeisan, Großer Helfer, so hieß der schwarze Hengst von Roman, tauchte jetzt immer in Raens Träumen auf. Alles andere war verschwunden, auch das Blutpferd. Es gab nur noch ihn und den Rappen. Leicht im Sattel sitzend galoppierte Raen in seinen Träumen über die Felder; die staubigen Straßen flogen unter den schnellen Hufen Kaeisans dahin, und Raen jauchzte vor Glück. Ein entspanntes Lächeln lag dann im Schlaf auf seinem Gesicht.
Der Frühling hielt Einzug, und der Neujahrstag wurde festgelegt. An ihm begann die Aussaat auf den Feldern und auch die Schule wieder. Leider blieb Raen jetzt nur noch wenig Zeit für die Reitstunden, was er sehr bedauerte, aber ohne zu murren hinnahm. Denn schließlich war er ein echter Hy und inzwischen hatte er gelernt, dass ein solcher sich niemals beschwerte und sich den ihm gestellten Aufgaben gewissenhaft widmete.
Erst mit dem Frühlingsmond erwachte der ganze Chor aus seiner Winterträgheit, und überall begann ein reges Treiben wie auf einem Ameisenhaufen. Die Arbeit auf den Feldern rief die Leute hinaus, und gemeinschaftlich wurden nach und nach alle Äcker mit dem Saatgut bestellt, das der Jahresplan des Clanrates dafür vorsah. Auf den größten Feldern baute man Weizen, Gerste, verschiedenen Kohlsorten, Rüben, Hafer, Hirse oder Flachs an, und auf den kleineren Feldern sowie in den Gärten Gemüse, Kräuter zum Würzen und Heilen, Öl- und Färberpflanzen. Anhand jahrhundertealter Erfahrungen war jeder Clan dazu in der Lage, die genauen Erträge zu errechnen, die all seine Mitglieder über das ganze Jahr hinweg zum Leben benötigten. Selbst kleinere Katastrophen und wetterbedingte Abweichungen waren mit eingerechnet. Alle packten mit an, denn jeder wusste, wie sehr sie auf ihre eigene Kraft angewiesen waren, um sich all die Güter zu erwirtschaften, die sie brauchten. Jeder war stolz auf seine Arbeit, die er leistete, Frauen und Männer gleichermaßen. Am Ende Tages saß man gemütlich vor den Häusern im Licht der untergehenden Sonne beisammen, schwatze und war sich seines Lebens zufrieden.
Mit dem Voranschreiten des Frühjahrs wurden die Tage länger und wärmer, und auch der Shari-Chor schmückte sich mit dem leuchtend grünen Kleid Hraunas. Der warme Wind ließ die Blätter der Bäume tanzen, mal rauschend, mal flüsternd, und wehte den Duft des Waldes zu den Häusern herüber, deren Fenster und Türen weit geöffnet waren, um den Muff des Winters hinauszulassen. Die Leute verstauten ihre Winterkleider in ihren Schränken und legten die leichte Sommergarderobe an. Und nachdem am Neujahrestag das beschauliche Fest der kleinen Feuer gefeiert worden war, fieberten alle nun in freudiger Erwartung dem großen Frühlingsfest entgegen, das jedes Jahr nach Beenden der Aussaat zum Vollmond des dritten Monats gefeiert wurde. Es war nach dem Chat Al Hyaun, dem Fest zu Ehren Hyauns, und dem Erntefest zwar nicht das größte, aber immerhin das wildeste Ereignis im Kalender der Hy.
Nahtlos gingen die Arbeiten auf den Feldern in die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten über. Wo man auch hinkam, hörte man die Leute darüber fröhlich plaudern. Die Häuser und der Chorten wurden mit farbigen Stoffbändern und Gestecken aus Blumen geschmückt, die vor allem die Kinder mit viel Freude in den Abendstunden bastelten.
Am Tag des Festes war das Wetter auf ihrer Seite und bescherte den Leuten von Shari herrlichen Sonnenschein. Fein herausgeputzt versammelte sich der gesamte Clan im Hof vor dem Tempel. Dicht gedrängt saßen Alte wie Junge in ihren schönsten Kleidern und aufwendig zu kunstvollen Frisuren verflochtenen Haaren auf ihren mitgebrachten Schilfmatten und warteten auf den Beginn der Zeremonie, die bei solchen Anlässen stets im Freien stattfand. Dafür war der Bereich vor dem Tempeleingang zu einem großen hölzernen Podium vergrößert worden, auf dem ein niedriger vergoldeter Altar mit sakralen Gegenständen stand. Bunte Wimpel schmückten die Eckpfeiler.
Es war nicht unangenehm, so eng beieinander zu sitzen, und alle genossen das verbindende Gefühl der Gemeinschaft. Nur die Krieger waren allein unter sich geblieben. Im verbotenen Oberen Heiligtum des Tempels praktizierten sie an diesem Tag ihre eigenen Riten.
Der Oberpriester trat feierlich hinaus auf das Podest, und sofort verstummten die Unterhaltungen, die den Chorten wie einen summenden Bienenkorb erfüllt hatten. Unter den gelbgewandeten Priestern war der Hyaunset suer der einzige, der wie die Krieger ein Aun auf seiner Stirn trug. Nachdem er sich auf seinen Platz mittig vor dem Altar gesetzt und die Gemeinde gegrüßt hatte, verneigte sich der gesamte Clan vor ihm. Eine Ka-Stunde, eine Großstunde, das entsprach vier Usui-Stunden, dauerte die Hauptzeremonie auf dem Hof, bei welcher der Oberpriester eine lange Reihe von Ritualen vollzog, die in bestimmten Abständen von Gesängen der anderen Priestern unterbrochen wurden. Die jungen Novizen assistierten wiederum den Priestern und reichten ihnen die Kultgegenstände, schlugen die Trommeln und Zimbeln im Takt, oder gingen durch die Reihen der Anwesenden und reichten den Durstigen Wasser.
Raen saß zwischen seiner Mutter und Schwester und sog jeden Moment der feierlichen Atmosphäre in sich auf. Schwerelos waberten die feinen blauen Rauchfahnen des Melams, das überall in kleinen Schälchen angezündet worden war, durch die windstille Luft. Er schloss die Augen und lauschte andächtig den rhythmischen Gebetsgesängen der Priester und glitt dank seiner guten Übung sogleich in den Zustand einer leichten Meditation. Daraus wurde er erst wieder geweckt, als die Zeremonie beendet war, und der Oberpriester seinen Segen über sie alle aussprach. Im Stillen wünschte Raen sich, dass das Samenkorn des Glückes auch dieses Jahr wieder für sie alle zusammen auf dem großen Acker des Schicksals sprießen möge!
Abschließend erhielten nun auch die Krieger, die vom verbotenen Oberen Heiligtum herabgekommen waren, den Segen durch den Hyaunset suer. Raen wusste, dass sie sich während der vergangen Stunden im oberen Tempelraum einer Zhangha-Zeremonie unterzogen hatten. Doch was dort genau vor sich ging, hatte ihm sein Vater aber leider nicht verraten. Roman kam zu ihnen herüber. Seine Augen schimmerten glasig von den Auswirkungen des Rausches durch das Zhangha-Kraut und er schirmte sie mit einer Hand gegen das helle Sonnenlicht ab. Raen sah zu ihm auf und er lächelte.
Im Hof des Chorten, der in der Zwischenzeit für das große Festmahl hergerichtet worden war, mischte sich das Volk wieder, und man nahm seine Plätze in kleinen bunten Gruppen auf den Matten ein. Jeder hatte seine Ess- und Trinkschale mitgebracht und stellte sie vor sich hin. Der ganze Hof war erfüllt von lebhaftem Geschwätz und Gelächter, und die Kinderecke übertraf die Erwachsenen noch um einiges an fröhlicher Ausgelassenheit. Dann wurde von den Frauen und Männern des Hauses das wohlduftende Essen aufgetragen. Für sie war die Zubereitung des Mahles an solch festlichen Tagen stets eine besondere Ehre, die ihnen auch immer wieder durch die vielen, nicht enden wollenden Lobbekundungen vom gesamten Clan entgegengebracht wurde. Neben den drei fetten Schweinen, die schon seit Mitternacht langsam über den Feuerstellen vor sich hingarten, gab es frisches Frühlingsgemüse, dazu gedünstete junge Wurzeln in Butter, sauer eingelegten Rettich, gesottene Eier, Mehlspeise mit Lauch und Kräutern, herzhaft dunkles Brot, in Öl ausgebackene Holunderkuchen mit Sirup aus Schlehen, süßen Griesbrei, das letzte Kompott des Winters und Gebäck. Dazu wurde Bier, Obstwein vom Vorjahr, Milch, Tee und Wasser mit oder ohne Honig gereicht. Das Mahl dauerte mit einigen Unterbrechungen bis zum Sonnenuntergang. Raen aß soviel er konnte, denn es gab nicht immer eine solche Auswahl an festlichen Genüssen. Und natürlich hatten es ihm die Süßspeisen besonders angetan.
Nach dem Essen tobte er mit den anderen Kindern quer über den Hof und schließlich lag er nach Luft pumpend und mit hitzig roten Wangen glücklich neben Hereke auf seiner Matte und schaute in den Himmel der sternenlosen, lauen Nacht empor. Aber der Höhepunkt des Festes kam erst noch: Die Musik und der Tanz. Auf dem hölzernen Podium vor dem Tempel waren mittlerweile die Instrumente aufgebaut worden. Auch hatte man dafür extra die großen Rahmentrommeln vom Wachtturm herunter geholt.
Richol, der Clanchef von Shari und Raens Großonkel, trat auf die obersten Stufen des Tempels und erklärte den Festabend für eröffnet. Lachend sprangen die Leute auf, beschwingt durch die ausgelassene Stimmung und die alkoholischen Getränke. Auch Raen und Hereke erwachten wieder zu neuer Energie, und als vier Krieger die großen Tommeln zu schlagen begannen, und die anderen Musiker mit ihren Instrumenten in ihren Takt einfielen, mischten sie sich mit den anderen Kindern unter die Tanzenden. Der Musikstil der Hy war ganz anders als ihr Naturell, nämlich laut und ungestüm! Und jeder Hy, sei er sonst auch noch so reserviert, geriet völlig aus dem Häuschen, wenn sie aufgespielt wurde. Dementsprechend arteten die Tänze aus, die mal allein, mal zu zweit oder in Gruppen bis zur totalen Erschöpfung getanzt wurden. Dabei wurde lauthals gejauchzt und die schönen Frisuren endgültig zerzaust. Ungezwungen näherten sich in dieser speziellen Nacht auch die jungen Leute, und am nächsten Morgen gab es stets das ein oder andere neue Liebespaar!
Doch so etwas interessierte Raen bisher wenig. Mädchen waren für ihn nicht mehr als Spielkameraden, auch wenn sie manchmal etwas merkwürdige Launen hatten. Er tanzte ausgelassen mit. Zwischendrin traf er sich wieder mit Hereke, den er im Getümmel verloren hatte, und sie machten am Rand eine kleine Pause. Kichernd amüsierten sie sich dabei über die fliegenden Haare und die Grimassen der Erwachsenen, und stürzten sich kurz darauf wieder in die wogende Menge.

Am nächsten Tag stand die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Roman erwachte. Helles Licht fiel durch die halbgeöffneten Türen in das Innere seines Alkovens. An ihn gekuschelt lag Alea. Vorsichtig, ohne sie zu wecken, setzte er sich auf und betrachtete sie. Erfüllt von zärtlicher Liebe strich er ihr sanft eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte leise.
„Meine kleine, wundervolle Frau“, flüsterte er und dachte an die vergangene Nacht. Angeregt durch den Tanz hatten sie sich in ihr gemeinsames Zimmer zurückgezogen und sich dem Liebesrausch hingegeben. Roman war verrückt nach seiner Frau und er pries jeden Moment der köstlichen Zweisamkeit mit ihr als besonderes Glück.
Er hatte sie mit zweiundzwanzig kennen gelernt. Das war vor zehn Jahren gewesen. Damals war er wie auch heute noch alle unverheirateten jungen Leute zu einem der Frühlingsfeste in den Nachbarclan nach Rinpal eingeladen worden. So war es üblich. Das eine Jahr ging es zum Rinpal Clan, im nächsten war der Rinzai Clan zu Gast, das Jahr darauf reiste man zum Rotenas Clan, und dann kam wieder ein anderer Clan nach Shari. Auf diese geschickte Weise wurden in Hy clanübergreifend neue Verbindungen geknüpft.
Bei dem besagten Fest vor zehn Jahren in Rinpal hatte dann die Tochter des Wassermeisters und einer Schneiderin sofort Romans Herz gewonnen. Die Neunzehnjährige hatte zwar noch eine ältere Schwester gehabt, die ebenso hübsch war, doch Aleas warmherziges Lächeln und ihre Sanftmut hatten ihn gleich für sich eingenommen und ein Feuer in seinem Inneren entfacht, das nicht mehr zu löschen gewesen war. Aleas Erscheinung war zierlich, ihr Gang anmutig und ihre langen, braunen Haare dufteten nach Jasmin. Ihre bronzefarbene Haut war dunkler als die seine, und in ihren grünen Augen blitze stets heimlich die Leidenschaft auf.
Bei dem Gedanken an ihre ersten Liebesnächte breitete sich erneut eine warme Welle der Erregung in Romans Unterleib aus. Er küsste Alea auf den Hals und atmete ihren Duft ein, in dem noch deutlich die nächtliche Vereinigung mitschwang. Langsam wachte sie auf und öffnete ihre Augen. Ihr tiefer Blick sagte mehr als irgendwelche Worte. Er nahm sie in seine Arme, und eng umschlungen lagen sie noch eine Weile da.
„Wir sollten langsam aufstehen“, sagte er schließlich. „Wir sind bestimmt die letzten.“
„Das glaube ich zwar nicht, aber nur zu.“ Alea gab ihm einen sanften Schubs.
Ächzend schwang Roman seine Beine aus dem Bett und rieb sich den Rest Schlaf aus den Augen. Er spürte, wie ihm Alea liebevoll über seinen Rücken strich und mit ihren Fingerspitzen die Narbe am linken Schulterblatt umkreiste. Sie stammte von einem Askhari-Pfeil - ein unschönes Andenken. Roman streckte sich und stöhnte als er sich erhob, die Erschöpfung der Feier steckte ihm ganz schön in den Knochen. Aber er würde bei Weitem nicht der einzige sein, dem es so erging, dachte er vergnügt. Er fuhr mit den Fingern über sein Aun und durch seine raspelkurzen, schwarzen Haare. Wenigstens blieb ihm der Kater erspart, der die Wein- und Biertrinker heimsuchen würde, denn ihm war als Krieger das Trinken von Alkohol nicht erlaubt. Nackt trat er ans Fenster, öffnete es und sah hinunter. Die Feuer der Nacht waren erloschen, und ein zarter Dunsthauch schwebte über dem Hof, in dem tatsächlich noch einige Gestalten auf ihren Matten lagen und schliefen. Andere regten sich und strebten bereits zum Waschhaus hinüber. Über allem lag eine verschlafene zufriedene Ruhe. Die frische Luft ließ Roman frösteln, und als hätte Alea seine Gedanken gelesen, kam sie zu ihm und reichte ihm sein Nachthemd, das er sich überstreifte. Dann zog er Alea an sich und küsste sie. Sanft fuhr er dabei mit den Händen unter ihr Gewand und über ihren glatten Rücken bis zu ihrem festen Po, in den er scherzhaft kniff. Alea lachte auf und verließ in vorgetäuschter Flucht den Raum, ihr Nachtgewand hinter sich her flatternd. Sie wollte die Kinder wecken, falls sie überhaupt noch schliefen. Tatsächlich tobten sie bereits im Kinderzimmer kreuz und quer über die Betten. Gespielt streng rief Alea sie zur Ordnung. Sofort trennten Andra und Raen sich von den anderen Kindern und kamen zu ihr. Lächelnd nahm sie beide in den Arm. Anschließend gingen sie gemeinsam nach unten in das Waschhaus neben dem Wohnturm, um sich der allmorgendlichen Waschung zu unterziehen. Roman begab sich dafür in das Obere Heiligtum des Tempels, wo sich die Waschräume der Krieger befanden.

Im Waschhaus, einem zweistöckigen Steingebäude mit einem Giebeldach, das quer über den Hof neben dem Südturm lag, herrschte reger Betrieb. Fröhlich wurden Alea und ihre Kinder begrüßt, und sie gingen zu den Haken an der Seitenwand, wo sie ihre Nachtgewänder auszogen und aufhängten.
In einem hyaunischen Waschhaus teilten sich Männer und Frauen gemeinsam verschiedene offene Bereiche: Eine strikte Abtrennungen gab es nur zwischen dem normalen Volk und den Kriegern und Priestern. Allein Frauen, die schwanger waren oder deren Mondblut gekommen war, konnten zum Waschen in die angrenzenden privateren Räume gehen. In Hy nahm man die Körperpflege sehr ernst und es wurde sogar behauptet, dass das bis weit über die Grenzen des Landes hinaus gebräuchliche Wort Hygiene, welches bekanntlich gleichbedeutend mit Reinlichkeit ist, seine Wurzeln im Sprachgebrauch der Hy haben soll, denn es bedeutet bei ihnen „nach Art der Hy - adhygia“. Und nach Art der Hy ein Bad zu nehmen, war eine äußerst erquickliche Angelegenheit.

Nach der morgendlichen Reinigung kehrte Alea mit ihren Kindern in ihr Zimmer im Wohnturm zurück. Roman war noch nicht wieder da, und so kämmte sie ihren Kindern die nassen Haare und band sie ordentlich zusammen. Danach schickte sie die beiden zum Anziehen ins Kinderzimmer und kümmerte sich hernach um sich selbst. Aus dem Schrank über ihrem Bett holte sie ein kleines irdenes Fläschchen. Sie legte ihr Nachgewand ab und zog den Korken aus dem Hals der Flasche. In ihr befand sich ein aromatisches Öl, mit dem sie sparsam ihre Haut einrieb. Anschließend nahm sie ihren Kamm, der aus Knochen geschnitzt war, und kämmte sich damit ausgiebig ihr Haar. Wie alle Hy legte auch sie sehr viel Wert auf eine gepflegte, lange Haarpracht. Es war die einzige Eitelkeit, die sie sich gönnten und der sie eine gewisse Zeit widmen durften. Für den heutigen Tag flocht Alea sich einen schlichten, dicken Zopf. Und nachdem sie in ihren knöchellangen, olivgrünen Rock mit dunkelroter Borte und den dunkelgrünen Dari, eine langärmelige Jacke, geschlüpft war, schlang sie sich einen Stoffgürtel mehrmals um ihre Taille und band sich den Knoten vorn, wie es für verheiratete Frauen und Männer Sitte war. Ihre Strohsandalen tauschte sie gegen einfache flache Lederschuhe mit dünner Sohle und trat frisch duftend und mit dem behaglichen Gefühl von sauberer Kleidung auf der Haut ans offene Fenster. Sie sah, wie Roman gerade zusammen mit Richol und Reni aus dem Tempel kam. Alle drei hatten frisch geschorene Köpfe. Alea konnte die drei Krieger lachen hören. Sie schloss das Fenster und strich dabei gedankenvoll über die unregelmäßige Oberfläche des grünlichen Glases, das in Form von kleinen Rauten in ein hölzernes Gitter gefasst war. Glas war sehr wertvoll und wurde nur im Norden Hys am Delta des Nori hergestellt, und um von dort in die südliche Provinz Rine zu kommen, wo sich auch der Shari Clan befand, hatten die kleinen, zerbrechlichen Platten für die Fenster einen unvorstellbar weiten Weg zurückgelegt. Alea hatte auch gehört, dass es im Norden jetzt auch Trinkgefäße aus Glas gab, die angeblich so klar waren wie in der Sonne schimmerndes Eis. Sogar im Tena-lo-Ghan Clan, dem religiösen Hauptsitz der hyaunischen Priesterschaft, sollte es schon solch unglaubliche Gefäße geben. Alea kannte nur ihr eigenes irdenes Gut, von dem sie tagtäglich aß. Sie seufzte. Ach, wie gerne würde sie einmal nach Tena-lo-Ghan reisen. Aber nicht nur, um dieses Glas zu sehen, sondern auch, um all die anderen wundervollen Dinge, von denen sie gehört und die für sie immer etwas Märchenhaftes hatten, einmal mit eigenen Augen betrachten zu können. Wie etwa den großen Krönungstempel, in den über zweitausend Leute passten, und das Tenasetna, das Haus, in dem der Setna wohnte, oder den weitläufigen Steingarten, der sich vor den Toren des mächtigsten aller Chorten befand, und eigentlich ein Kalender war, mit dem man die Zeit maß! Aleas Finger klopfte gegen das kühle Glas. Ob sie Roman noch einmal fragen sollte? Gewiss war ihr Wunsch von reichlich ungewöhnlicher Natur, denn derart weite Reisen wollte niemand gerne unternehmen. Aber irgendwie zog es sie in die Ferne zu all den sagenhaften Orten aus den Erzählungen. Sie war ganz hingerissen von dem Gedanken, aber gleichzeitig ahnte sie auch, wie schwer es werden würde, ihren Mann endlich davon überzeugen zu können. Roman war ihrem Wunsch zu Reisen bisher nicht allzu verständnisvoll begegnet. Er war viel zu fest verwurzelt mit seiner Heimat, als sich vorstellen zu können, gerne zu reisen. Aber er hatte ja auch leicht reden, denn er war ohne es selbst zu wollen schon viel herumgekommen. Mehr, als er es sich je gewünscht hatte, und Alea war bewusst, dass er es insgeheim verabscheute, fern vom heimischen Chorten zu sein. Sie schloss die Augen und lehnte ihre Stirn gegen das Glas des Fensters, was hätte sie darum gegeben, an all den Orten gewesen zu sein, die auch Roman schon gesehen hatte. Manchmal, aber nur in ganz geheimen Augenblicken, bereute sie es, das Leben und das Handwerk einer Schneiderin gewählt zu haben. Wie aufregend wäre dagegen doch das abenteuerliche Dasein eines Handelsfahrers gewesen, frei wie ein Zugvogel durch die Lande zu streifen! Doch so sehr Alea auch ihre Sehnsüchte unter Verschluss hielt, hatte sie doch das Gefühl, als läge Hyauns brennender tadelnder Blick auf ihr. Schnell besann sie sich wieder und dachte, dass sie mehr als zufrieden sein konnte mit dem, was ihr vergönnt war. Sie hatte eine glückliche Familie, einen fürsorglichen Ehemann und viele gute Freunde, die sie alle nicht missen wollte. Auch ihr Handwerk gab ihr Erfüllung, denn sie war begabt, und sie fühlte sich wohl, wenn sie in der Werkstatt mit ihren Kameradinnen über der Arbeit saß. Der ganze Clan wurde von ihnen eingekleidet. Und wenn sie sich gegenüber ehrlich war, so wusste sie nicht, ob sie überhaupt in der Lage sein könnte, dieses wundervolle Gefühl von Heimat aufzugeben und es einzutauschen für das heimatlose Herumreisen eines Händlers. Doch bei all ihren vernünftigen Gedanken schlich sich auch jetzt wieder der sehnliche Wunsch ein, einmal in die Fremde hinauszufahren, nur ein wenig weiter als über die Grenze ihres und vielleicht sogar über die des nächsten Clans, oder kühner noch, über die Gipfel der Berge im Süden hinweg bis zu den anderen Völkern. Alea nahm die Stirn vom Fenster und legte beide Hände auf die Wangen. Oh, so etwas durfte sie sich nicht wünschen! Doch plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und wurde trotzig. Warum eigentlich nicht? Warum sollte sie, nur weil es sich nicht gehörte, eine Seite in ihr leugnen, die zu ihr gehörte wie auch ihre allseits gerühmte Heiterkeit? Grimmige Entschlossenheit packte sie, und sie straffte ihren Körper. Nein, das würde sie nicht mehr länger tun, der Zwiespalt war in ihrem Herzen und das würde sie fortan akzeptieren, so wie auch Roman das würde akzeptieren müssen!
Kindliches Lachen vor der Tür riss sie aus ihrem Gedankengespinst, und sie ging, um nachzusehen, was da auf dem Flur los war. Roman kam gerade zusammen mit Hereke die Treppe hinauf. Der Freund wollte Raen abholen. Aber noch ehe Alea nach ihrem Sohn angeln konnte, denn der Knoten von dessen Gürtel löste sich in seinem Rücken bereits wieder, waren die beiden Jungen auch schon im Laufschritt verschwunden. Lächelnd über die ungestüme Freude der Knaben, wandte sie sich um und folgte Roman in das Zimmer. Unten im Hof begann mit Sicherheit gleich das Morgenmahl, welches heute wohl eher ein Mittagsmahl war, so spät war es schon. Doch auch wenn ihr Magen bei dem Gedanken an Essen ein deutliches Signal von sich gab, wollte Alea noch warten, bis Roman mit dem Ankleiden fertig sein würde. Heute konnten sie es sich leisten zu trödeln, es war ja ein Festtag. Sie setzte sich in den Erker und beobachtete ihren Mann still dabei, wie er sich seinen tiefschwarzen Dari über das weiße Untergewand streifte. Seine schwarze Kniebundhose hatte er bereits an. Die geschlitzten Schöße des Dari, auf dessen rechter Brustseite das Clanabzeichen in grün und dunkelrot gestickt war, reichten bis knapp ans Knie. Auch Roman wickelte sich einen breiten Stoffgürtel um die Hüfte, an dem sein Messer und der kleine Zhangha-Beutel befestigt waren. Zum Schluss stieg er in die hohen, dunkelbraunen Lederstiefel, deren Schäfte mit Schnallen festgezogen wurden. Das war im Wesentlichen die Kleidung eines Kriegers, es fehlten nur noch die Attribute eines solchen. Alea beobachtete Roman dabei, wie er sich hinkniete, die untere Schranktür seines Alkovens öffnete und mit Bedacht das zweischneidige Breitschwert daraus hervor holte. Die schmale kurze Parierstange und der am Ende abgeflachte Knauf glänzten golden. Ehrfurchtsvoll legte er es vor sich auf den Boden und verneigte sich grüßend davor wie vor einem lebendigem Wesen, denn jedes Schwert besaß eine Seele.
Nach diesem formellen Ritus des Schwertanlegens wählte Roman für den heutigen Tag einen breiten, geflochtenen Gurt aus dunkelgegerbten Leder und befestigte die Schwertscheide daran. Dann schlüpfte er mit der linken Schulter durch den Gurt und befestigte ihn noch einmal an seinem Gürtel. Das Schwert hing nun griffbereit auf seinem Rücken wie es zu Pferde oft üblich war. Zu guter Letzt setzte sich Roman den Helm auf. Auch in friedlichen Zeiten war es einem Krieger bestimmt, seine vollständige Tracht zu tragen als Symbol für seine ständige Bereitschaft. Der Helm aber war leicht, hauchdünn ausgeschmiedet und der jeweiligen Kopfform angepasst. Mit Leder ausgepolstert, schmiegte er sich perfekt an den Scheitel wie eine zweite Haut. Er behinderte weder die Sicht noch die Bewegungsfreiheit und war das einzige Rüstungsstück aus Vollmetall, das die Hy-Krieger sich zugestanden.
Roman schloss die Schranktüren und stand auf. Seine Erscheinung strahlte Spannkraft und Würde aus. Unendliche Liebe durchströmte Alea, als sie ihn betrachtete. Ihre Blicke trafen sich, und aus Romans braunen Augen leuchtete das gleiche starke Gefühl. Er hob ihr seinen Arm entgegen und sie kam zu ihm.
„Lass uns zum Essen gehen, meine Liebste. Ich habe einen Bärenhunger!“, lachte er und klopfte sich mit der anderen Hand auf den Bauch.
Oh, wie sie dieses Lachen liebte, wie sehr sie diesen ganzen Mann liebte! Alea nahm seinen Unterarm, schmiegte sich an ihn und ging mit ihm hinunter auf den Hof. Spürbare Spannung lag in der Luft, und immer wieder fiel in den fröhlichen Unterhaltungen dasselbe Wort: Wettrennen!
Roman lächelte, er schien sich auf das große Rennen, zu freuen, das wie jedes Jahr am zweiten Tage des Frühlingsfestes ausgetragen wurde. Alea grüßte ungezwungen in die Runde der mehr oder weniger ausgeschlafenen Leute, die auf ihren Matten saßen und bereits dabei waren, ihr Morgenmahl zu verspeisen. Da erblickte sie ihre beiden Kinder zusammen mit Hereke und dessen Eltern. Sie gingen zu ihnen hinüber, setzten sich dazu und nahmen am Essen teil, das zum einen aus einem kräftigen Eintopf von den Resten des gestrigen Tages bestand und zum anderen aus süßer Hafergrütze mit Rahm.
„Wir werden dich und Kaeisan so laut anfeuern, wie wir nur können, Vater!“, rief Andra aufgeregt. Roman zog sie neckend am Ohrläppchen.
„Kaeisan hat die längsten Beine. Er wird am schnellsten sein, da bin ich mir sicher!“, beschied Raen mit Kennermiene, und Andra und Hereke stimmten eifrig nickend zu.
„Na, bei dieser fachkundigen Auskunft muss ich mir ja wirklich noch einmal ernsthaft überlegen, wen ich gleich anfeure!“ Radast, der Mann von Shani der Kinderfrau, hatte sich zu ihnen umgedreht. Er grinste über das ganze sommersprossige Gesicht.
„Tja, meine Kinder haben halt den richtigen Pferdeverstand!“, gab Roman scherzend zurück.
„Und ich dachte immer, Henendra wäre derjenige mit dem Pferdeverstand!“, feixte Radast weiter und winkte dem Reitmeister zu, der neben Roman saß.
„Ja, natürlich. Aber wie heißt es so schön: Kindermund tut Wahrheit kund!“
Alle lachten.
Radast nickte: „Gut, gut, ich bin überzeugt. Alten Sprichwörtern soll man sich beugen!“
So ging es, bis sie alle ihren Hunger gestillt hatten. Dann machte sich die ganze Menschenmenge auf den Weg vom Chorten hinunter zu den saftig grünen Pferdeweiden zu Füßen der Festung, wo rund fünfzig der insgesamt hundert Männer und Frauen des Shari Clans, die der Kriegerkaste angehörten, ihre Pferde einfingen und sattelten. Ein Dutzend junger Krieger, die sich noch im Zweiten Grad und in der Ausbildung befanden, gingen den Reitern zur Hand und trugen geschäftig Sättel, Decken und Zaumzeug vom Hofe Henendras hinüber zu den Pferden, auf die sich die allgemeine Aufregung schon übertragen hatte. Unruhig tänzelten sie an ihren Stricken.
Alea, Raen, Andra und Hereke schauten Roman bei seinen Vorbereitungen zu. Henendra beaufsichtigte das ganze Geschehen mit prüfendem Blick. Er kannte die einzelnen Tiere gut, schließlich war er bei jeder Geburt dabei gewesen und hatte den Fohlen dabei geholfen auf die Welt zu kommen.
Auch einige Priester gingen von Reiter zu Reiter und banden den Pferden einen grünen Buchenzweig an das Zaumzeug, als Zeichen für die Würdigung Hraunas. Roman nahm den Zweig für Kaeisan in Empfang und nachdem er noch einmal den Sitz des Sattelgurtes überprüft hatte, stieg er auf. Das große schwarze Pferd und sein schwarz gekleideter Reiter bildeten eine vollkommene Einheit. Romans Helm blinkte im Licht der strahlenden Sonne, und Raen winkte ihm zu. Roman grüßte zurück, nahm die Zügel auf und trabte zur Startlinie, die sich neben der Weide auf der Straße befand.
„Das Pferd hat wirklich sehr lange Beine!“, sagte Radast, der plötzlich neben Raen aufgetaucht war, mit fachmännischem Ernst.
„Ja, nicht wahr! So lange Beine!“ Raen hob seine Hand weit über den Kopf.
„Na, dann wird Roman wohl mit dem Kopf in den Wolken reiten!“
„Das tut er doch sowieso schon. So verliebt wie er ist! Nicht wahr, Alea?“, neckte Shani mit einem Augenzwinkern, und Alea wurde rot. Die ältere Shani drückte sie freundlich an sich. „Musst dich nicht schämen für deinen Mann, er ist schon ein prima Kerl! Schau doch, er wirft dir Küsschen zu!“
Alea gluckste verschämt, und Shani winkte an ihrer Stelle Roman zu.
Raen sah von seiner, wie er fand, kindisch kichernden Mutter hinüber zu den Reitern und wünschte sich, auch dabei sein zu können. Er blinzelte ins Sonnenlicht, bis er seinen Vater schließlich unter all den dicht gedrängten, schwarzgewandeten Kriegern entdeckte. Bewundernd beobachtete er ihn. Der Griff seines Schwertes ragte über seine kantigen Schultern, und mit erhobenem Haupt saß er ruhig auf seinem nervösen Pferd. Sein Blick war konzentriert auf den Waldrand in der Ferne gerichtet. So wie sein Vater wollte er auch einmal werden.
Nachdem sich alle Reiter und Zuschauer am Start versammelt hatten, wurde es ruhig, und der Oberpriester trat vor.
„Mit diesem Rennen danken wir gemäß den Traditionen unserer Vorväter dem Wohlwollen Hraunas! Die Hufe der Pferde und der Schweiß der Reiter sollen ihre Erde fruchtbar machen, auf dass unsere große Ernährerin uns eine gute Ernte schenken möge! Dem heutigen Sieger gebührt natürlich wie immer die feierliche Ehre, zu Beginn des Erntemondes mit der Sichel den ersten Schnitt zu machen!“, erklärte der Hyaunset suer das Zeremoniell, mit dem stets die Erntezeit eingeleitet wurde. Der Sieger des Rennens schnitt im Herbst die erste Ähre, die bis zum Ende der Ernte im Tempel aufbewahrt wurde.
„Möge der Wind der Ahnen euch im Rücken sein und euch Flügel verleihen!“ Segnend hob der Oberpriester die Hände und übergab unter aufwallendem Applaus Richol das Wort. Der erklärte den Reitern die Route des Rennens. Sie führte von der Straße aus in gerader Linie in den Wald, dann rechterhand drei Meilen bis zum nächsten Wachtturm auf dem Hügel und zurück zum Chor, wo sie noch eine weite Ehrenrunde um den Chorten drehen sollten, um dann wieder an der Startlinie anzukommen.
„Seid ihr bereit?“, rief Richol den Reitern zu, die fast einstimmig mit „Hana do! - Ja!“ antworteten.
„Also dann ... LOS!“ Er gab das Zeichen für den Start, und die Reiter stießen ihren Pferden die Hacken in die Flanken. Sofort brach lauter Jubel aus, und einen Augenblick später waren sie auch schon im wilden Galopp auf und davon. Nur noch eine Staubwolke und die johlende Zuschauermenge waren geblieben. Romans Anhänger riefen immer wieder seinen Namen und hüpften dabei mitfiebernd auf und ab, so wie auch die anderen Familien ihren Favoriten lautstark anfeuerten.
Als die Reiter im Wald verschwanden, konnte man bereits nicht mehr erkennen, wo sich Roman befand. Nach und nach verteilten sich die Zuschauer auf der Wiese neben der Weide unter den blühenden Obstbäumen. In der warmen Sonne sitzend, warteten sie, bis die Reiter wieder auftauchen würden.

Roman saß dicht über den Hals von Kaeisan gebeugt im Sattel und spornte ihn immer wieder mit gellenden Lauten an. Es war eine wahre Freude, das kraftvolle Pferd unter sich und den Wind im Gesicht zu spüren. Noch befand er sich im Mittelfeld, arbeitete sich aber langsam immer weiter vor. Einen nach dem anderen überholte er, was nicht ganz ungefährlich war, denn der schmale Waldpfad war zwar weitgehend frei von Ästen, aber der Boden sehr uneben, und hier und da ragte eine heimtückische Wurzel hervor. So mancher Reiter war schon bei einem Rennen mitsamt dem Pferd gestürzt und hatte sich schwer verletzt, vom Pferd ganz zu schweigen. Aber Roman kam glatt an seinen Wettstreitern vorbei, die jedes Mal zurücklachten, wenn er ihnen etwas zurief. Spaß und Sportsgeist standen an erster Stelle, und keiner wäre auf die Idee gekommen, allein aus Missgunst dem Schnelleren den Vorrang zu verweigern.
Als die ersten Reiter den Turm umrundeten, wurden sie von den dort diensttuenden Kriegern mit Rufen und dem Klang der großen Trommel angefeuert. Für die Leute im Chor war es das Signal, dass die Reiter sich auf dem Rückweg befanden. Roman kam mit Kaeisan beständig weiter voran, aber wie viele sich noch vor ihm befanden, konnte er nicht ausmachen, dazu musste er abwarten, bis sie wieder freies Gelände erreichten.

Die Leute im Chor erhoben sich und sahen zum Rand des Waldes hinüber, wo die Reiter bald auftauchen würden. Es herrschte erwartungsvolle Stille, alle lauschten und spähten gespannt. Doch kein Reiter kam in Sicht. Die Spannung wuchs. Wo blieben sie nur? Die ersten müssten doch schon zu sehen sein. Fragend schauten sie sich an, aber nur Schulterzucken war die Antwort. Und plötzlich brach der erste Reiter aus dem Wald. Sofort entbrannte begeisterter Jubel. Zuerst unbestimmt, da man nicht erkennen konnte, um wen es sich dabei handelte, doch dann ertönte ein Name: Reni!
Der Sohn Richols führte das Rennen an. Schon kam eine langgestreckte Gruppe von Verfolgern hinter ihm auf die Wiese geschossen. Doch der erste Reiter war bereits auf die Straße um den Chorten eingebogen. Jetzt konnte Alea auch Roman in der Verfolgergruppe ausfindig machen, und sie begann erneut, ihn anzufeuern. Alle um sie herum stimmten mit ein. Sie beobachteten, wie Roman sich immer weiter nach vorne schob. Kaeisan kämpfte ausdauernd, doch dann verschwanden sie hinter dem Chorten. Ein großes Mittelfeld kam derweil aus dem Wald, aber das Hauptinteresse galt jetzt dem Punkt, an dem die Reiter wieder hinter der Festung hervorkommen würden. Es wurde ruhig. Daumen wurden so fest gedrückt, dass es schmerzte.
Und als sie schließlich wieder zu sehen waren, hielt sich Reni immer noch eisern an der Spitze. Ein Stück hinter ihm folgte eine Kriegerin namens Rika und ihr direkt auf den Fersen war Roman! Sie bogen auf die Straße ein, die durch die Weiden direkt zur Ziellinie führte. Alea, Andra und Raen schrien sich die Seele aus dem Leib, und als ob Kaeisan dies hören konnte, legte er sich noch einmal ins Zeug und trug Roman an Rika auf ihrem Schimmel vorbei. Er war jetzt etwa hundert Schritte von Reni entfernt, der nur noch eine halbe Meile vor sich hatte. Reni warf einen Blick über die Schulter auf seinen Verfolger und lachte auf. Plötzlich zügelte er sein schäumendes Pferd und wartete auf Roman, der schnell herangeflogen kam. Kurz bevor er ihn einholte, preschte Reni jedoch wieder voran, Roman jetzt dicht im Nacken. Die letzten Schritte war es ein Kopf an Kopf Rennen. Doch im Ziel bei den eifrig jubelnden Zuschauern behielt schließlich Reni die Nase vorn. Und keiner außer Roman selbst wusste, ob er sein Pferd im letzten Augenblick nicht doch zurückgenommen hatte, um Reni weiterhin den Vortritt zu lassen. Die Menge umjubelte und ehrte jeden einzelnen Reiter, der nach den beiden Siegern im Ziel eintraf. Roman wurde sofort von seiner Familie umringt und mit Fragen bestürmt. Kaeisan zitterte vor Anstrengung und mit weit geblähten Nüstern sog er die Luft ein. Doch er war ein gutes ausdauerndes Pferd und würde sich schnell erholen. Raen nahm Kaeisan am Zügel. Er lobte den „Großen Helfer“ und strich über das schweißnasse Fell des Rappen, der laut schnaubte, als wolle er damit ebenfalls seine Zufriedenheit ausdrücken.
„Wahrlich lange Beine, aber nicht lang genug, wie mir scheint! Oder hast du etwa gemogelt, Roman?“, rief Radast.
Roman lachte pustend und stieg ab. „Wie du schon sagtest, Radast: Lang, aber nicht lang genug! Außerdem hat mein Pferd dafür eine sehr kurze Nase!“, antwortete er außer Atem. Raen sah, dass er Radast mit einem Auge zuzwinkerte.
Also hatte er doch gemogelt. Egal. Stolz führte Raen Kaeisan zum Stall. Dort band er das Pferd an, holte ihm Wasser und bestand gegenüber den jungen Kriegern darauf, beim Absatteln helfen zu dürfen. Zusammen mit Hereke rieb er den Schweiß des Hengstes mit Stroh ab. Kaiesan ließ sich das gerne gefallen. Immer wieder schnaubte er entspannt.
Indes war Roman mit seinem Anhang zu seinem Cousin Reni hinübergegangen und gratulierte ihm, wobei er zuerst die Hände vor der Brust aneinander legte und sich vor ihm verbeugte wie es die Etikette verlangte. Anschließend umarmte er ihn als Mitglied seiner Familie brüderlich. Lachend klopften sie sich dabei gegenseitig auf die Schulter.
Auch der Oberpriester und Richol kamen herbei. Natürlich freute sich Richol besonders darüber, dass sein eigener Sohn dieses Jahr die Ernte eröffnen würde. Beide verneigten sich, wie Roman es getan hatte, und der Priester überreichte Reni feierlich den etwas zerrupften Buchenzweig vom Zaumzeug seines Pferdes. Reni nahm ihn entgegen und steckte ihn sich als Siegeszeichen vorne in seinen Gürtel. Die begeisterte Menge rief ein Hoch auf den Sieger aus, und Reni wurde rot. Ihm war es unangenehm im Mittelpunkt zu stehen. Bescheiden bedankte er sich für die große Ehre und schob jedes Lob, das ihm die Leute darbrachten, sogleich auf sein Pferd, ohne das er selbstverständlich nicht hätte gewinnen können.
„Ach, Reni, die wahre Güte eines Pferdes beweist sich doch immer erst durch die starke Hand, die es führt!“, lenkte einer der Krieger das Lob wieder an ihn zurück, und Reni bedankte sich auf ein Neues. So ging es immer weiter und weiter. Diese Art des übertragenen Dankes machte es einem Hy leichter, ein Lob mit der gebührenden Bescheidenheit anzunehmen, zu der er verpflichtet war.
Nachdem sich Reni in dieser Weise unzählige Male angemessen bedankt hatte, wanderte die Menge mit ihm an der Spitze wieder hinauf in den Chorten. Dort wurde zum Abschluss des Festes noch ein nachmittäglicher Tee ausgeschenkt, und dann war es auch schon Zeit, sich voneinander zu verabschieden. Den einzelnen Familien, die nicht im Chorten wohnten, half man beim Packen ihrer Siebensachen und beim Beladen der Pferde. Und schließlich machten sie sich in gemächlichem Tempo und mit den besten Wünschen auf den Heimweg, der einige Familien bis zu den entfernten Höfen am Fluss Resch hinter den Hügeln führen würde. Begleitet wurden die Reisenden von einigen Kriegern, denn ein großes Stück des Weges führte sie durch den Wald, und so sehr dieser auch den Chor beschützte, war es nach Anbruch der Dunkelheit nicht ganz ungefährlich, ihn zu durchqueren.
Die zurück bleibenden Familien des Chorten zogen sich glücklich über das gelungene Fest in ihre Räumlichkeiten der Wohntürme zurück - in ihrer Mitte die Jugendlichen vom Rinzai Clan, die Shari dieses Jahr zum Fest zu Gast hatte. Sie würden noch eine Woche bleiben und dann erst ihre Rückreise antreten. Früh gingen alle zu Bett. Denn am nächsten Morgen wartete wieder ein ganz normaler Tag voller Arbeit auf sie.

10. Kapitel



Vor den offenen Fenstern hingen lange Vorhänge. Sie wehten leicht im Wind, der nur wenig Abkühlung brachte. Vereinzelte Strahlen des Sonnenlichtes, die durch die Spalten der Vorhänge fielen, tanzten auf dem rötlichen Fliesenboden hin und her. Es war Mittag, und die Hitze des Sommers lag flimmernd über der Stadt Kalav.
Kanaima lag nur mit einem Lendentuch bekleidet auf seinem Bett. Er blickte an die Decke des großen Raumes, der vier Fenster hatte, die bis zum Boden reichten und gleichzeitig als Türen dienten. Sie führten hinaus auf einen breiten Balkon, der sich entlang der gesamten Südfront der Burg zog. Dies war eigentlich sein Winterzimmer, da es hier im Sommer viel zu heiß war. Aber Kanaima mochte den Raum. Von dem Balkon aus bot sich einem der beste Ausblick. Man konnte die ganze Stadt überblicken, die am Fuße des Burgberges lag. Sie war nicht besonders groß, erstreckte sich nur eine Meile weit in die beinahe baumlose Ebene, die momentan nur spärlich von verdorrtem Grün bedeckt war. Die Sommersonne verbrannte in diesem Landstrich alles, was sich ihr ungeschützt preisgab: Die rötlichhelle Erde der Felder, die Pflanzen, die hier mit viel Mühe bewässert werden mussten, und die Gesichter der Menschen. Aber die Winter waren mild, und der Frühling die schönste Jahreszeit. Dann waren nach den ersten Regengüssen selbst die kargen Berghänge mit einem zart grünen Teppich überzogen.
Am Horizont gen Süden lag ein weiterer kleiner Gebirgszug und dahinter das Meer! Wie gerne, so dachte Kanaima, würde er einmal das Meer sehen und darin baden. Das musste herrlich sein, gerade bei solch einer Hitze. Aber er war hier in Kalav eingesperrt, und die Wege, die er gehen durfte, beschränkten sich lediglich auf die Stadt bis hin zur Stadtgrenze und den südlichen Hang mit dem Gipfel des Berges, an dem die Burg lag. Der Berg hieß Lek und die Burg war von Kanaimas Ururgroßvater, König Renandi II., vor zweihundert Jahren als Vorposten ausgebaut worden, als die hiesige Nachbarprovinz eine Rebellion angezettelt hatte. Damals war die Stadt aufgeblüht. Viele Menschen, hauptsächlich Bauern und Landarbeiter aus der Umgebung, hatten ihre ohnehin nur kargen Höfe verlassen, waren in die Stadt gezogen und hatten ihre Söhne in die Armee des Königs geschickt, um von deren Sold zu leben. Die Händler hatten von den großen Handelsstraßen einen Abstecher nach Kalav gemacht und die Märkte waren mit Überfluss gesegnet gewesen. Die Stadt war ständig gewachsen, denn mit dem Krieg ließen sich bekanntlich schon immer gute Geschäfte machen. Dann war die Rebellion nach endlosen Kämpfen niedergeschlagen und deren Anführer hingerichtet worden, und schließlich, nach zwei Jahrzehnten, war das Heer des Königs wieder abgezogen und nur die Burg war geblieben. Einsam, die einzige Festung weit und breit. Seit dem Ende der Rebellion hatte sie leer gestanden, keiner der nachfolgenden Könige hatte sie nutzen wollen, hier im trostlosen Niemandsland mit einer sterbenden Stadt zu ihren Füßen. Doch dann hatte sie ihren neuen Zweck erhalten: Als Gefängnis!
Der Zorn regte sich in Kanaima, als er an seinen Vater dachte. Er hatte sich über all die Jahre, die er jetzt schon hier war, nicht gelegt. Im Gegenteil, er war noch gewachsen. War in seinem Inneren zu einem schwärenden Knoten herangereift mit unzähligen giftigen Blasen, die sich fortwährend blähten und pulsierten, ihm an manchen Tagen seine Eingeweide abschnürten und das bloße Atmen schwer machten. Seine Gedanken kannten dann nichts anderes mehr als brennenden Hass! Und er wusste, eines Tages würden diese Blasen aufplatzten und ihren giftigen Inhalt in sein ganzes Inneres ergießen. Dann wäre jeder verloren, der sich ihm in den Weg stellen sollte!
Kanaima atmete tief durch und schloss die Augen. Nein, heute war nicht solch ein Tag. Er versuchte, an etwas anderes zu denken und stand auf. Ungeschützt trat er auf den Balkon in die pralle Sonne. Seine gewellten Haare fielen offen auf die nackten, breiten Schultern. Er legte seine Hände auf die Brüstung - der Stein glühte förmlich unter seinen Fingern - und sah blinzelnd hinab auf die Dächer der Stadt, in der sich kaum etwas rührte. Erst am Abend würde wieder reges Treiben in ihren Straßen herrschen. Jeden Winkel von ihr hatte Kanaima schon erkundet, er kannte fast alle ihrer Geheimnisse. Für ihn gab es nichts Vertrauteres, als ihre staubigen Gassen, die verlassenen und verfallenen Häuser, den schäbigen Marktplatz, die zwielichtigen Schenken, die argwöhnischen und genügsamen Bewohner und die unverwüstlichen Mauern der Burg, die man von überall aus gut sehen konnte. Kanaima blickte auf den flimmernden Horizont. Vereinzelt zogen Raubvögel ihre Kreise hoch oben am Himmel, er konnte ihre gellenden Schreie hören.
Bald wurde es ihm zu heiß und er ging wieder zurück in sein Zimmer. Sein Hinken war in den letzten Jahren durch die ständigen Kampfübungen deutlich schwächer geworden, und es behinderte ihn kaum noch, obwohl sein Fuß noch immer einen unnatürlichen Knick hatte. Seufzend ließ er sich auf sein Bett fallen. Dieser öde Ort langweilte ihn zu Tode! Besonders im Sommer, wenn die Hitze alles lähmte. Hier konnte man gar nichts anderes tun, als ständig seine Gedanken kreisen zu lassen. Gerne hätte er jetzt sein Pferd gesattelt, um durch die Stadt zu reiten, oder mit dem Schwert trainiert und seine jugendliche Energie herausgelassen, aber dafür war es draußen einfach zu heiß. Kanaima fühlte sich unterfordert, er war inzwischen ein guter Kämpfer geworden, noch um einiges gewachsen und kräftig gebaut, und er wollte sich messen. Immerhin war es nur noch knapp ein Jahr bis zu seiner Großjährigkeit, dann würde er ein Mann sein und ein Krieger! Langsam döste er ein. Nur seine tiefen, regelmäßigen Atemzüge durchdrangen die stickige Stille.

Als er erwachte, war es gerade dunkel geworden. Der Schweiß auf seiner Haut fühlte sich kühl an. Eine Zeit lang blieb er liegen und lauschte in die Dunkelheit. Die Stadt war wieder zum Leben erwacht, ihre Geräusche drangen zu ihm hinauf. Die Vorhänge bewegten sich im lauen Lufthauch.
‚Vielleicht kann ich Tante heute überreden, mit mir zum Essen in die Stadt hinunterzugehen’, dachte er und gähnte ausgiebig. Recht oft nutzten sie diese eine Gelegenheit die Burg zu verlassen, und gingen hinunter in ein Wirtshaus, in dem der kleine gehobene Kreis der wenigen Adeligen verkehrte, die es in der Stadt noch gab. Dort genossen sie wenigstens ein klein bisschen das Gefühl von geselliger Zusammenkunft. Überall, wo sie auftauchten, wurden sie neugierig aber distanziert beobachtet. Jeder wusste, wer die hohe Dame mit dem jungen Prinzen an ihrer Seite war, und man hegte neben der Sensationslust auch ein gewisses Mitleid für das sonderbare Paar. Reden durfte selbstverständlich niemand mit ihnen. Die Wächter des Königs, die immer und überall mit dabei waren, passten auf wie abgerichtete Kampfhunde. Anfangs hatte es Kanaima noch sehr gestört auf Schritt und Tritt bewacht zu werden, doch jetzt ließ er sich nicht mehr einschüchtern. Innerhalb der Stadt durfte er sich frei bewegen und es war ihm egal, ob die Soldaten ihm folgten oder nicht. Es war ja schließlich ihr Problem mit ihm Schritt zu halten. Das alles war besser, als die eintönige Einsamkeit in der ewigen Burg!
Mit dem Verlangen nach einer Unterhaltung im Herzen sprang er auf und zog sich eine lange Tunika aus dünnem Stoff über, die er mit einem Gürtel um die Hüften schloss. Er band seine Haare zusammen und verließ das Zimmer, um seine Tante Sama-Karla zu suchen.
Er fand sie im Schein der Öllampen sitzend, auf der großen Dachterrasse über dem Westflügel, wo sie den Sonnenuntergang beobachtet hatte. Das tat sie oft allein. Manchmal weinte sie dabei. Das hatte Kanaima heimlich beobachtet. Damals hatte er noch nicht gewusst warum, und es war ihm seltsam vorgekommen. Doch heute verstand er ihre Traurigkeit, die der seinen sehr ähnelte und die schnell in Wut umschlagen konnte. Seine Tante war sehr temperamentvoll und es quälte sie zutiefst, hier in dieser widerlichen Feste, wie sie die Burg nannte, eingesperrt zu sein.
Er dachte an ihre erste Begegnung zurück, damals als er nach einer langen Reise durch staubige Landschaften mit seiner kleinen Eskorte hier in Kalav eingetroffen war. Sama-Karla hatte ihn angelächelt, ihn herzlich in ihre Arme geschlossen und gedrückt. Ein Gefühl, mit dem er zuvor nur spärlich in Kontakt gekommen war. Es war plötzlich wie eine warme Woge über ihn herein geschwappt und mit sofortiger Wirkung wie eine balsamische Medizin für sein vernachlässigtes Herz gewesen. Geborgenheit hieß diese Arznei, die man bei keinem Heiler kaufen konnte und die ein junges, heranwachsendes Herz doch so dringend benötigte. Und obwohl Sama-Karla für ihn eine fremde Frau gewesen war, hatte er sie vom ersten Augenblick an gemocht. Mit seiner Tante hatte er einen tröstlichen Ersatz für seine Mutter bekommen und eine erste richtige Ahnung davon, was es bedeutete, erwünscht zu sein. Eine Person, die es wert war, ihr Beachtung zu schenken ... und natürlich Liebe. Eine Liebe, zu der diese geisterhafte Gestalt aus dem Königspalast, die ihn geboren hatte und die er Mutter nannte, nie fähig gewesen war. Bereits nach kurzer Zeit hatte sich zwischen ihm und Sama-Karla eine solch intensive Vertrautheit entwickelt, dass Kanaima den Kummer über die Trennung von seiner Schwester überwinden konnte. Inzwischen hatte er seit vier Jahren nichts mehr von Laika gehört. Er hatte keine Ahnung, wie es ihr mit ihrem Mann in Neu-Askhar erging. Nicht einen Brief hatte er von ihr bekommen, aber dennoch betete er jeden Abend für sie.
Als Kanaima älter geworden war, hatte er herausgefunden, dass seine Tante seinen Vater noch mehr zu hassen schien, als er selbst es tat. Und das, was sie ihm dann in langen Unterhaltungen bis tief in die warmen Nächte des Südens erzählt hatte, hatte ihn später, als er allein in seinem Bett gelegen und keinen Schlaf gefunden hatte, erbeben lassen vor Scham und Wut! Dieser gemeinsame Hass war es schließlich gewesen, der sie über die Liebe hinaus noch enger zusammen geschweißt und daraus mehr gemacht hatte, als eine gewöhnliche Beziehung zwischen einer Tante und ihrem Neffen. Sie waren zu heimlichen Verbündeten geworden in einem Spiel der Verschwörung.
Unter den vielen bösen Dingen, die Sama-Karla ihm erzählt hatte, war auch die Wahrheit über den plötzlichen Tod von Katthikes älterem Bruder, dem Kronprinzen Kaunis, und die Thronbesteigung Katthikes gewesen. Am Tage nach dem Tode des alten Königs Buthwal III., der lange im Krankenbett gelegen hatte, war Kaunis morgens tot auf seiner Lagerstatt aufgefunden worden, mit ihm seine Frau und seine beiden Söhne. Man stellte fest, dass sie vergiftet wurden. Das war ein schwerer Schlag für das Königshaus, und große Verwirrung brach aus. Aber insgeheim ahnte jeder, dass es nur einen geben konnte, der zu solch einer schändlichen Tat fähig wäre! Und gerade diese Person hatte rein zufällig auch den größtmöglichen Nutzen davon. Nur konnte man dem Verdächtigten nicht das Geringste nachweisen.
Katthike tat vollkommen unschuldig, war zutiefst erschüttert und zierte sich scheinheilig die Thronfolge anzutreten. Aber es war allen bekannt, dass er es bis zu jenem Tag nie verwinden konnte, seinem vierzehn Jahre älteren Bruder den Vortritt auf den Thron lassen, und selbst für den Rest seines Lebens nur ein unbedeutendes Anhängsel der Königsfamilie ohne jegliche Macht bleiben zu müssen. Der Neid fraß sich durch seine Haut und sein Hirn und übernahm die Kontrolle über sein Denken, und um das Thronerbe für sich zu gewinnen, war ihm schließlich jedes Mittel recht. Und während sein Vater im Sterben lag, mischte Katthike schon das Gift für seinen Bruder!
Bereits wenige Tage nach den Beerdigungen, auf denen Katthike große Trauer heuchelte, ließ er sich dann schließlich doch überreden, die Nachfolge anzutreten. In einer prunkvollen Zeremonie empfing er die Krone des Reiches und den Segen der Priester. Verflogen war von da ab die Trauer. Und kurz darauf, so hatte Sama-Karla weitererzählt, verließ die Mutter des Königs, die einstmalige Königin, aus Protest den Palast. Schweigend kehrte sie ihrem jüngsten Sohn, der so viel Schande über die Familie gebracht hatte, den Rücken. Katthike tobte über diese letzte Demonstration ihrer Ablehnung, er drohte ihr und flehte sie an, aber sie ging trotzdem - und für immer. Sie wusste, er würde es nie wagen, sie umzubringen, nicht, bevor er ihre vollkommene Anerkennung besitzen würde. Stets hatte sie Kaunis bevorzugt. Er war ihr Liebling gewesen. Kaunis der Starke! Kaunis, der das Glück gehabt hatte, nicht den Makel der Verkrüppelung zu tragen. Katthike hatte ihn gehasst und immer versucht, ihn zu überflügeln, doch ganz gleich, womit es ihm gelungen war sich auszuzeichnen, stets war Kaunis der Mittelpunkt des Interesses seiner Mutter geblieben.
In der Hoffnung, wenigstens bei seiner Schwester etwas Wertschätzung zu finden, begegnete Katthike dann seiner zweiten großen Enttäuschung. Sama-Karla, die sich in Kindertagen so fürsorglich um ihn gekümmert hatte, zeigte sich zutiefst entsetzt über die gewaltsame Ausuferung seines Wesens und stieß ihn unter bösen Verwünschungen von sich. Da explodierte sein Zorn.
Er war der König, und dem König widersprach man nicht. Katthike setzte seine frisch erstandene Autorität ein und ließ Sama-Karlas Mann ins Verlies werfen, wo er ein paar Monate später von Krankheit und Hunger geschwächt starb. Die kinderlose, neununddreißig Jahre alte Verräterin verbannte er daraufhin nach Kalav! Nein, sie wollte er nicht umbringen. Das sagte er ihr auch. Sie selbst solle es tun, wenn erst der Wahnsinn der Einsamkeit sie heimgesucht hätte.
Doch den Gefallen wollte Sama-Karla ihrem Bruder nicht tun. Stolz und trotzig saß sie nun schon seit zwölf Jahren in der Burg gefangen und kämpfte tapfer dagegen an über den ewig staubigen Dächern der Stadt und der öden Ebene nicht den Verstand zu verlieren.
Auf diese Weise hatte Kanaima also erfahren müssen, dass sein Vater seinen eigenen Bruder und dessen Familie auf dem Gewissen hatte! Und er war erschrocken und beschämt darüber, wie sehr dessen Geschichte seiner eigenen ähnelte. Der Gedanke, eines Tage so zu sein wie sein Vater, war ihm unerträglich und brachte ihn schließlich dazu, den niederträchtigen Anschlag auf Setna zu bereuen.
‚Warum hast du mich genauso behandelt, Vater? Warum hast du das gleiche mit mir geschehen lassen? Du hast doch gewusst, wie das ist! Trotzdem hättest du mich beinahe auch zu einem Brudermörder gemacht! Warum?’ Immer wieder fragte Kanaima sich dies, hatte darauf jedoch noch keine Antwort finden können. Aber statt Rache schwor er sich, nicht so zu werden wie sein Vater - den er von nun an nicht mehr Vater nennen wollte - und niemals wieder derart die Beherrschung über sich zu verlieren, auch wenn sein Stiefbruder eine hassenswerte kleine Mistkröte war.
Kanaima atmete tief durch, um sich nach dieser unliebsamen Erinnerung zu beruhigen. Er legte seiner Tante sanft eine Hand auf die Schulter. Sie sah auf. Die Schatten der Nacht ließen ihr Gesicht noch älter wirken. Sie lächelte und legte ihre Hand auf die seine.
„Hast du geschlafen, mein Lieber?“, fragte sie ihn.
„Ja, Tante, tief und fest. Ich wollte dich fragen, ob wir heute noch in die Stadt hinunter gehen könnten. Hast du schon gegessen?“
„Nein, habe ich noch nicht. Aber vielleicht ist es besser, wenn wir hier bleiben. Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen.“ Sie gab dem Diener ein Zeichen, noch einen Stuhl und Kissen zu bringen. Als dieser dann das Gewünschte herbeigeholt hatte, nahm Kanaima neben ihr Platz und wartete darauf, dass sie begänne. Doch zuerst kam das Essen. Geduldig aß er das gut gewürzte Fleisch aus einer silbernen Schüssel und trank dazu verdünnten, kühlen Wein. Sama-Karla schaute den jungen Mann, den Sohn ihres verhassten Bruders, an. Er sah ihm schmerzlich ähnlich! Die kühlen blauen Augen, die scharfkantige, gebogene Nase, die geschwungenen schmalen Lippen, der erste dunkle Bartansatz auf den Wangen und am Kinn, alles eingerahmt von üppig schwarzen Haarsträhnen. Und obwohl seine Gesichtszüge denen seines Vaters glichen, so war doch Kanaimas Inneres ganz anders. Und deshalb hatte sie ihn liebgewonnen wie das eigene Kind, das ihr verwehrt geblieben war. Sie hatte Kanaima all ihre nur erdenkliche Fürsorge angedeihen lassen und alles in ihrer eingeschränkten Macht stehende getan, ihm das Leben hier in der einsamen Burg zu erleichtern. Das war nicht einfach, denn je älter er wurde, desto wütender und ungeduldiger wurde er. Der Waffenmeister, den man mitgeschickt hatte und der Kanaima in seinem Exil weiter ausgebildet hatte, gab zwar sein Bestes, um ihn zu zügeln, doch lange würde man den jungen Prinzen hier nicht mehr eingesperrt halten können! Sein übersprudelndes Verlangen nach Freiheit würde ihn zum Ausbruch zwingen. Und was dann geschah, wusste keiner. Deshalb hatte Sama-Karla Vorkehrungen getroffen. Sie wollte vermeiden, dass Kanaima etwas gegen den Willen seines unberechenbaren Vaters tun konnte. Das würde ihn nur in Gefahr bringen.
Nächsten Sommer würde er siebzehn werden und das Fest seiner Großjährigkeit in dieser traurigen Einsamkeit feiern. Dies war normalerweise das Alter, in dem ein junger Mann des Adels, wie Kanaima es nun einmal war, in die Armee eintrat und eine Ausbildung zum Offizier begann. Nach der Einschätzung des hiesigen Waffenmeisters, hatte der junge Prinz aufgrund seines glänzenden kriegerischen Talentes eine vielversprechende Karriere als Hauptmann eines Provinzheeres oder gar als Kommandeur in der Königlichen Armee vor sich. Aber würde Katthike das zulassen?
Sama-Karla hatte beschlossen, über ihren Schatten zu springen, dieses eine Mal ihren Stolz zu vergessen und ein Bittgesuch an ihren Bruder zu schreiben, in dem sie ihn inständig darum angehalten hatte, Kanaima doch wenigstens eine Ausbildung in der Armee zu ermöglichen.
In den ganzen Jahren, die Kanaima jetzt schon bei ihr war, hatte der König nicht ein einziges Wort von sich verlauten lassen. Katthike tat so, als ob sie beide nicht mehr existieren würden. Doch Sama-Karla war bewusst, dass er über alles, was hier in der Burg und in der Stadt vor sich ging, durch seine Wächter und Spione genauestens informiert war. Und dumm war sie auch nicht, deshalb bekam Katthike auch nur fast alles mit! Aber heute Nachmittag, als Kanaima geschlafen hatte, war endlich der von ihr ersehnte Reiter aus Askhari-Kaise eingetroffen und mit ihm ein Brief des Königs.
Nachdem Kanaima zu Ende gegessen hatte, sah er seine Tante erwartungsvoll an.
„Dein Vater hat eine Nachricht geschickt“, sagte sie endlich.
Kanaima fiel aus allen Wolken. Sama-Karla sah den auflodernden Hass und den Schmerz in seinen Augen.
„Was?“
„Ich habe ihm vor ein paar Wochen einen Brief zugesandt und -“
„Du hast was?“, fiel Kanaima ihr ungehalten ins Wort, er fühlte sich offensichtlich von ihr verraten.
Doch Sama-Karla ließ sich von seiner Wut, die jetzt auch auf sie gerichtet war, nicht aus der Ruhe bringen. Mit einer herrischen Handbewegung gebot sie ihm zu schweigen.
Kanaima wartete mit zusammengepressten Lippen, seine eisblauen Augen versprühten kleine Blitze.
„Also!“, sagte sie streng. „Anlässlich deiner Großjährigkeit im nächsten Jahr, hatte ich deinen Vater darum gebeten ...“
„Du hast ihn gebeten!“, platzte es erneut unbeherrscht aus ihm heraus.
„SCHWEIG!“, fuhr sie ihn an. „Jetzt ist es genug, junger Mann! Wir müssen wohl noch sehr an deinem Benehmen arbeiten! Wenn du dich weiter so ungebührlich verhältst, sage ich dir nichts mehr!“
Kanaima senkte unter sichtlichen Mühen seinen Blick.
Sama-Karla atmete scharf ein und wartete noch einen Moment, bevor sie weitersprach: „Dein Vater hat dir zugebilligt, im nächsten Sommer Kalav verlassen und nach Süden in die Küstenprovinz Bolthaischan nach Boltha-Stadt gehen zu dürfen. Dort sollst du unter die Obhut von Karlis-Renandi gestellt werden, deinem Onkel. Er ist der Verwalter der Provinz und der Hauptmann der dortigen Armee, selbstverständlich auch ein treuer Vasall des Königs. Du kannst dort eine Ausbildung zum Offizier antreten!“ Abwartend sah sie ihn an.
Kanaima hob seinen Blick. Die Überraschung hatte seine zornigen Gesichtszüge geglättet.
„Ich ... ich kann fortgehen? Heißt das etwa ...?“ Mehr brachte er nicht heraus. Überwältigt von seinen Gefühlen starrte er nach Süden in die Dunkelheit, in der sich die ferne Bergkette verbarg. Er dachte an das Meer, blau schimmernd, verheißungsvoll. Sah vor seinem inneren Auge, wie die kühlen Wellen seine Füße umspülten. Freiheit!
„Ja, Kanaima, du kannst fortgehen!“, sagte Sama-Karla mit deutlicher Wehmut in der Stimme, aber sie lächelte.
„Aber was ist mit dir?“, fragte er.
„Ich muss natürlich hier bleiben. Diese Mauern werden mein Grab sein!“
Er sah, wie ihr Tränen stiegen in die Augen.
„Tante, ich kann dich doch nicht hier alleine zurücklassen!“
Die Tränen kullerten ihr jetzt hemmungslos aus den Augenwinkeln. Sie streckte ihm beide Arme entgegen, und Kanaima kam zu ihr und umarmte sie heftig.
„Tante Karla! Was soll ich denn ohne dich tun?“, flüsterte er mit bebender Stimme.
„Kanaima, es ist ein Geschenk. Die Tür wurde für dich aufgestoßen. Geh hinaus in die Welt und hol sie dir zurück! Sie gehört dir! Dein Herz wird dir schon sagen, was du zu tun hast, und denk immer an das, worüber wir gesprochen haben. Meine Gedanken werden Tag und Nacht bei dir sein, und außerdem“, sie sah ihn verschmitzt lächelnd an, „wirst du mich bestimmt besuchen kommen! Ach, mein lieber Kanaima, sei doch nicht traurig. Du solltest dich über dieses Glück freuen!“
Sie sahen sich lange an. Sama-Karla wischte ihm sanft eine Träne von der Wange. Kanaima küsste ihre Lippen, er war erfüllt von Liebe und Dankbarkeit.
„Ja, Tante Karla, ich werde zurückkommen. Aber dann werde ich dich hier herausholen!“, sprach er ernst.
‚Das glaube ich dir, mein Prinz. Du wirst zurückkommen, gewaltiger und mächtiger als du es dir je erträumen magst! Doch das werde ich wahrscheinlich nicht mehr erleben’, dachte sie und erwiderte Kanaimas liebevollen Blick. Seine Augen waren wie das Meer, blau und voll stiller Versprechen.

11. Kapitel



Es gab viel zu tun. Die Ernte stand vor der Tür, und im Shari Clan benötigte man jetzt jede freie Hand. Ein großer Teil der Krieger wurde wie jedes Jahr auf die Bauernhöfe aufgeteilt und dort bis zum Ende der Ernte einquartiert. So konnten sie gemeinsam mit den Bauern früh morgens ihre Arbeit auf den Feldern beginnen, ohne den weiten Weg vom Chorten zurücklegen zu müssen.
Doch ein böses Omen lag in der unbewegten Luft des schwülen Spätsommers. Selbst die Ahnen der Winde hielten sich tagelang versteckt. Und schließlich begann die arbeitsreichste Zeit des Jahres nicht etwa mit Renis feierlichem ersten Ernteschnitt, sondern mit einem gewaltigen Unwetter!
Als ob sie die Menschenwesen an ihre Macht erinnern wollte, trieb Zaizura einen schwer mit Regen beladenen Wolkenturm nach dem nächsten vom Meer her nach Hy. Sie blieben am Junghal-Gebirge hängen und entluden sich mit Gewalt. Ein heftiger Gewittersturm nach dem nächsten fegte über das Land und drückte das reife Korn auf den Feldern platt. Der Hagel schlug das Obst von den Bäumen und Schindeln den Dächern. Sogar zwei Holzscheunen stürzten ein. Während der gesamten Unwetterzeit war der Feuermeister von Shari mit seinen Gehilfen in höchster Alarmbereitschaft, denn Blitzeinschläge waren die größte Gefahr. Das hatten zumindest alle gedacht. Leider war es schließlich nicht das heiße, verzehrende Element gewesen, sondern das feuchte, alles durchdringende, das den größten Schaden angerichtete. Die starken Regenfälle lösten im Gebirge eine große Flutwelle aus, und der Resch trat so plötzlich über seine Ufer, dass er eine der drei Mühlen mit sich riss und alle Rübenfelder unter Wasser setzte, obwohl diese durch kleine Wälle vor den normalen jährlichen Hochwassern geschützt waren. Alles, was dem Wasser im Weg stand, wurde fortgespült. Glücklicherweise geschah dies nachts und nur der Nachtwächter wurde von der Flut überrascht und in die schäumende Schwärze gerissenen.
Am Morgen wagten sich die Menschen von Shari aus ihren Häusern und begutachteten den Schaden. Der Himmel war nicht mehr ganz so drohend mit Wolken verhangen, die Unwetter schienen vorbeigezogen zu sein. Jetzt war schnelles Handeln gefragt und gute Männer, die selbiges organisierten. Und Roman war einer von diesen Männern. Seine Aufgabe war es, gemeinsam mit den Bauern, den freien Helfern und zwanzig weiteren Kriegern die vorzeitige Einfuhr der Rüben auf den überschwemmten Feldern am Fluss zu bewerkstelligen. Noch waren die Rüben nicht zu voller Größe ausgreift, aber bei diesem anhaltend schwülen Wetter konnte es nicht lange dauern, bis sie im Schlamm des Flusses verderben würden. Und wenn sie nächstes Jahr wenigstens etwas Rübensirup und Viehfutter haben wollten, dann mussten sie die Ernte schleunigst vom Feld holen. Barfuß, bis über die Knöchel im Schlamm, standen Roman und die anderen schließlich zwischen den Reihen der bereits vergärenden Blätter und retteten, was noch zu retten war. Der Himmel über ihren Köpfen war grau verhangen und kündigte erneut Regen an. Mit der Rübengabel hebelte Roman eine Runkel nach der anderen aus der aufgeweichten Erde. Das ging nicht unbedingt leichter als bei Trockenheit, denn der Boden saugte an den Rüben, als sei er noch nicht bereit sie herzugeben. Es war eine kreuzbrechende Plackerei, und während Roman sich mühevoll immer weiter vorarbeitete, sammelt der Arbeiter hinter ihm die Rüben auf kleine Haufen zusammen. Ein weiterer verfrachtete sie in grobe Säcke, die wiederum von anderen Arbeitern mit einem Ochsenkarren eingeholt und auf eine von der Überschwemmung verschonte Fläche gebracht wurden, wo man die Rüben zum Trocken aufhäufte.
Roman streckte seinen Rücken. Das Hebeln und Bücken verursachte einen dumpfen Schmerz im unteren Teil seiner Wirbelsäule. Er sah seine Reihe entlang bis ans Feldende und dann hinauf zu den tiefhängenden Wolken. Noch hielt sich der Regen zurück, aber der Wind frischte auf. Warmer feuchtschwangerer Wind, der den Schweiß auf seiner Haut kaum trocknen ließ. Bald würde es dunkel werden, vielleicht schaffte er bis dahin noch den Rest seiner Reihe. Er machte sich wieder an die Arbeit und versank dabei in Gedanken. Zuerst freute er sich bloß auf das ersehnte Abendessen und auf sein trockenes Bett, doch dann sah er Alea vor sich. Sie war jetzt sicher auch bald fertig mit ihrer Arbeit. Sie half drüben am Chorten, der sich hinter den Hügeln verbarg, mit Andra und Raen beim Einsammeln und Einkochen des Fallobstes. Bestimmt schwitzten sie im Dampf der Küche genauso wie er hier draußen. In der nächsten Zeit würde er seine kleine Familie kaum zu Gesicht bekommen. Erst wenn sie die Rübenfelder komplett abgeerntet hätten, und das würde wohl noch einige Tage dauern. Seine Gedanken wanderten zu dem Morgen vor etwa einem Monat, an dem Alea ihn, nachdem sie aus dem Waschhaus wiedergekommen war, in den Arm genommen und ihm ins Ohr geflüstert hatte, dass sie noch ein Kind bekommen würden. Überrascht hatte er sie angesehen, denn nach Raens Geburt hatten sie beschlossen, keine weiteren Kinder haben zu wollten. Die Medizi habe Alea aber gesagt, die Kräuter wären dieses Jahr wohl nicht stark genug gewesen. Ihre reduzierende Wirkung auf die Fruchtbarkeit sei ausgeblieben, und Alea nicht die einzige, die unverhofft schwanger geworden sei, anderen Frauen wäre es genauso ergangen.
„Es muss beim Frühlingsfest passiert sein. Nehmen wir es als Geschenk von Zaizura!“, hatte Alea mit glücklich strahlenden Augen gesagt, und Roman hatte sich mit ihr gefreut. In diesem Moment war sie unglaublich schön gewesen und Roman hätte sie am liebsten nie wieder losgelassen!
Er bemerkte, wie er still vor sich hin lächelte. Liebe durchflutete ihn warm bis hin in seine im Schlamm steckenden Füße.
Der Hall von Glockenschlägen schwebte zu ihm herüber, und er blickte auf. Die anderen Arbeiter kamen schon ihre Furchen entlang in seine Richtung marschiert. Es dämmerte bereits. Endlich Arbeitsschluss. Erleichtert schulterte Roman seine Rübengabel und stapfte ebenfalls durch den Matsch zum Feldrand, wo sich alle sammelten. Er nahm seine Strohsandalen, seinen Dari und sein Schwert auf, denn alles hatte er dort zu Tagesbeginn abgelegt, und wanderte barfuß mit der gesamten Gruppe zum Gehöft hinüber. Alle Höfe, die zu weit vom Chorten entfern lagen, als dass man ihn nicht innerhalb einer Ka-Stunde erreichen konnte, glichen kleinen Festungen und boten den Leuten Schutz im Falle eines Krieges. Die mit dicken, hohen Mauern versehenen Außengebäude umfassten im Viereck einen geräumigen Innenhof mit Brunnen. Ein Turm war im Frontgebäude eingelassen, auf dem die verschiedenen Signalglocken hingen, darunter auch die Kriegsglocke, deren Klang glücklicherweise nur selten zu hören war. Die gesamte, massiv wirkende Anlage der Gebäude beinhaltete Ställe, Vorrats- und Lagerhaus, Gerätekammer, Werkstätten, das Wohnhaus und ein kleines Waschhaus, sozusagen alles unter einem Dach. In diesen großen Bauernhöfen konnten um die fünfzig Leute mit bis zu dreißig zusätzlichen Erntehelfern Wohnung finden.
Als der Erntetrupp das Tor durchschritten hatte, gingen die Feldarbeiter gleich in das kleine Waschhaus, während die Krieger vorher noch im Stall nach ihren Pferden sahen. Einer der Bauern hatte sie freundlicherweise schon hereingeholt, da es nach Sturm aussah. Roman ging zu Kaeisan, der mit einem Strick an den kräftigen Balken gebunden war, an dem sonst Ochsen und Kühe standen. Der große Hengst schnaubte zur Begrüßung.
„Wie siehst du denn aus, mein Freund!“ Roman verdrehte erschöpft die Augen. Kaeisan war von oben bis unten mit Schlamm verkrustet, schaute aber unschuldig drein.
„Musstest dich wohl wieder im tiefsten Schmodderloch wälzen, was?“ Seufzend beugte er seinen strapazierten Rücken, nahm eine Bürste und Stroh und rieb Kaeisan den Schmutz aus dem Fell. Das Abendessen musste noch etwas warten.
Als er fertig war, gab Roman seinem Pferd ein kleines Stück Rübe, und Kaeisan kaute genüsslich darauf herum.
„Eigentlich solltest du dafür keine Belohnung bekommen, dass du mir soviel Arbeit machst!“, sagte er streng. Danach kontrollierte er, ob der Knoten am Balken auch fest genug saß und ob genug Wasser da war. Hoffentlich würde der Sturm nicht so heftig werden, dass er die Pferde beunruhigte.
„He, was soll das?“ Lachend stupste Roman Kaeisan zur Seite, der gerade dabei war, sein Kopftuch anzuknabbern, welches er bei der Feldarbeit statt des Helmes trug. Er ging unter dem Hals des Pferdes durch und bekam von Hroenka, einem jungen Krieger, die Heugabel gereicht. Roman bedankte sich, holte von nebenan zwei große Gabeln voll Heu und gab die Forke dann an den Nächsten weiter. Nach einigen liebevollen Klapsen auf den Hals seines Pferdes verließ er den Stall. Zu seiner nicht allzu großen Überraschung regnete es draußen bereits in Strömen, und der Wind fegte böig über die Dächer hinweg. Dicht an der Mauer entlang lief Roman hinüber zum Waschhäuschen. Dort zog er seine schlammbeschmutzte Kleidung aus und wusch sich gründlich sauber. Die Kleidung blieb so wie sie war, er würde sie nur zum Trocknen aufhängen, denn schließlich würden sie morgen ja wieder im Matsch stehen. Er schlüpfte in sein Nachtgewand, das nebenan an einem Haken hing, und ging zusammen mit Hroenka über eine hölzerne Stiege an der Außenwand des Seitengebäudes hinauf in die Unterkunft der Krieger. Diese war, da nur vorübergehend wie zu jeder Erntezeit, sehr einfach ausgestattet. Auf dem Boden lag Stroh aufgeschüttet, und darauf hatte jeder eine Wollmatte ausgerollt. Es war kalt und ungehindert pfiff der Wind durch die schmalen, schießschartenartigen Fensterschlitze. Roman ging zu seinem Lager, zog sich seine noch saubere Jacke über das Nachtgewand und verschloss dann zusammen mit Hroenka schnell die Schlitze mit den dafür vorgesehenen Brettern. Jetzt blieb das schlechte Wetter draußen.
„Heute Nacht wird es ungemütlich stickig werden und wer weiß, wie viel Wasser uns Zaizura noch vom Himmel schickt!“, bedeutete Roman mit besorgtem Gesicht. Hroenka nickte schüchtern.
Gemeinsam gingen sie im selben Stockwerk durch mehrere Räume und Flure, bis sie im Haupthaus angelangt waren. Im großen, wohlig warmen Koch- und Essraum stand schon das Essen bereit. Es waren noch nicht alle da, aber Roman und Hroenka setzten sich auf den Boden, der mit Schilfmatten ausgelegt war, und empfingen jeder eine Schale mit heißem Eintopf, den sie dankbar vorsichtig in sich hinein löffelten. Genau das Richtige nach der anstrengenden Feldarbeit im zähen Schlamm. Langsam entspannten sie sich und brachten eine Unterhaltung mit dem Bauern und seiner Familie in Gang. Nach und nach kamen die restlichen Arbeiter. Es wurde über den heraufziehenden Sturm und die Ernte geredet. Alle waren besorgt über den nicht enden wollenden Regen. Das konnte die gesamte Einfuhr verderben, wenn es so weiter ging. Sie schwiegen. Ein Blitz zuckte über den Himmel, gefolgt von einem dumpfen Grollen.
Warum nur waren die Ahnen der Winde dieser Tage ständig im Kampf mit den höheren Mächten?, fragte sich Roman. Was war da über ihrer aller Köpfe im Reich des Himmels bloß los? Er blickte zum Fenster. Ein erneuter Blitz erhellte die kleinen schwarzen Vierecke aus Glas. Roman spürte die Müdigkeit an seinen Glieder ziehen und sah, dass es den anderen auch so erging. Die Runde wurde aufgelöst und ein jeder ging zu Bett, doch vorher sah Roman noch einmal im Stall vorbei. Alles war ruhig, stellte er fest. Einer der Söhne des Bauern schlief sogar bei Tieren. Roman nickte ihm zu und schleppte sich mit bleiernen Beinen die Stiege hinauf in den Schlafraum. Kraftlos fiel er auf sein Lager und zog sich die Decke über beide Ohren. Ein wenig lauschte er noch den heftigen Windböen, die an den geschlossenen Fensterläden zerrten, und dem Rauschen des Regens. Hoffentlich würde es morgen nicht noch mehr überschwemmte Felder geben. Und hoffentlich waren sie weit genug vom Fluss weg. Wer wusste schon, wie stark die nächste Flutwelle sein würde. Unruhig drehte er sich auf die andere Seite, doch kaum hatte er seine Augen geschlossen, war er auch schon eingeschlafen.

Roman erwachte ruckartig. Zuerst dachte er, ein Donnergrollen hätte ihn geweckt. Doch als er in die Dunkelheit horchte, stellte er fest, dass draußen alles still war. Das Unwetter hatte sich offensichtlich gelegt. Beruhigt zog er sich wieder die Decke über den Kopf. Plötzlich schoss ein Blitz durch die träge Masse seiner verschlafenen Gedanken, und rund um ihn herum erwachten mit einem Schlag alle zugleich! Jetzt war klar, was es gewesen war. Roman atmete tief durch und wartete mit geschlossenen Augen auf den nächsten Impuls. Als dieser kam, stöhnte Hroenka neben ihm leise auf.
Ein weiterer gleißend heller Blitz stellte in den Köpfen aller Krieger endlich die Verbindung her und eröffnete ihnen die Botschaft, die der Prinz ihnen sandte. Es war nur ein einziges Wort, welches der Setna ihnen zurief, aber dieses eine genügte, um ihnen das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.
Shazura - es würde Krieg geben!
Dröhnend hallte das gefürchtetste aller Wörter in Romans Köpfen, bis ein weiterer Blitz die mentale Verbindung abrupt beendete. Zitternd hob er eine Hand an sein Aun, das sich bei der Übertragung erwärmt hatte. Die Berührung seiner Fingerspitzen rief ein vibrierendes Echo hervor. Shazura!
Als er die Hand wieder sinken ließ, stöhnte Hroenka erneut leise auf. Der Atem des Neunzehnjährigen ging schnell. Ansonsten war es totenstill im Raum. Roman blieb ruhig und setzte sich auf, war er doch schon seit vielen Jahren daran gewöhnt, die Botschaften des Setna zu empfangen. Er konnte fühlen, wie alle Krieger hellwach auf weitere Anweisungen warteten - auf seine Anweisungen! Erst vor kurzem war er in eine höhere Verantwortung gewählt worden, und es war nun seine Aufgabe die zwanzigköpfige Gruppe von Kriegern anzuführen. Roman musste sich erst darauf besinnen, so ungewohnt war es für ihn, jetzt die Befehle zu erteilten.
„Was ... was soll ich tun?“, flüsterte Hroenka.
Roman konnte deutlich die Angst in der Stimme des jungen Mannes hören.
‚Es ist sein erster Kriegsruf’, dachte er. „Versuch ruhig zu bleiben, Hroenka. Tief durchatmen! Noch ist nichts passiert“, sagte er leise zu ihm und laut zu allen anderen: „Kommt, der Setna hat gerufen, unser Land zu beschützen! Packt eure Sachen und macht eure Pferde fertig, in einer Usui-Stunde brechen wir zum Chorten auf! Dort sammeln wir uns und warten auf weitere Anweisungen.“
Zügig, aber ohne Hast standen sie auf. Irgendjemand entzündete endlich ein Licht, und Roman sah in die angespannten Gesichter der anderen. Was dachten sie jetzt wohl? Er spürte, wie die Ungewissheit darüber, was geschehen und wo es sie hin verschlagen würde, ungewohnt heftig an seinen eigenen Nerven zerrte. Schweigend konzentrierte er sich auf das Anlegen der noch sauberen, zweiten Garnitur Kleidung und der Waffen. Sie würden vom Setna noch früh genug erfahren, welche Grenze des Landes es zu schützen galt. Roman erinnerte sich an den letzten großen Kriegsruf, der damals zu der Katastrophe geführt hatte. Wenn die Askharer jemals einen Weg über das Junghal-Gebirge fänden, oder es auf irgendeine andere Weise schaffen sollten, mit ihrer riesigen Armee nach Hy einzudringen, dann wären sie endgültig verloren. Noch einmal würde es ihnen nicht gelingen, Askhar Einhalt zu gebieten. Nur die höheren Mächte und die natürlichen Barrieren wie die Steilküste oder die Berge konnten ihnen dann noch zur Hilfe kommen. Aber im Zentralland gab es keinerlei derartige landschaftliche Hindernisse, außer vielleicht dem großen Nori. Ein unwillkürlicher Schauer packte Roman im Nacken. Die Bilder der Vergangenheit waren mit einem Mal sehr lebendig, und er konnte nur schwer dem Drang widerstehen sich zu schütteln. Er blickte sich um, aber keiner schien seinen kleinen Gefühlsausbruch bemerkt zu haben. Still betete er zu Hyaun, es möge nicht wieder die Grenze im Süden sein, die es jetzt zu verteidigen galt.
Nachdem er die Anweisung erteilt hatte, sein Pferd mit zu satteln, schlich Roman leisen Schrittes in das Wohnhaus hinüber. Es war seine Aufgabe, die schlechte Nachricht dem Vorstand des Bauernhofes zu überbringen. Mit großer Sorge dachte er daran, dass jetzt alle Krieger die Höfe und den Chor verlassen mussten und viele starke Hände bei der Ernte fehlen würden. Die Erntezeit war eine besonders schlechte Zeit für einen Krieg - das wusste mit Sicherheit auch der Feind! Aber so war nun einmal das Schicksal. Sie alle waren nur kleine Pflänzchen auf dem Acker des Universums. Manche dieser Pflänzchen wurden gehegt. Sie erblühten und trugen Früchte, sie konnten sich mehren. Andere hingegen waren dazu bestimmt, zertreten zu werden, niedergemäht, um mit ihrem Körper den Nährboden für die anderen zu bilden! Alles war ein unendlicher Kreislauf, und die Menschenwesen nur ein winziger Teil davon. Roman seufzte, betrat das Zimmer des alten Bauern und weckte ihn. Der Alte schreckte etwas unsanft hoch, blinzelte in das Licht der Öllampe und sah sich einem sehr ernsten Krieger in voller Bewaffnung gegenüber.
„Hraunaparta suer“, sprach Roman leise den Bauern an, es bedeutete soviel wie Oberster der Ernährer. „Wir müssen euch verlassen, der Setna hat uns gerufen, es wird Krieg geben!“
„Krieg? Oh, Hyaun, steh uns allen bei!“, brachte der Alte nur heiser hervor. „Wo?“
„Wissen wir noch nicht, aber ich bitte dich, zum Sonnenaufgang die Glocke zu läuten!“
„Ja, das werde ich tun. Du liebe Güte, wann war es das letzte Mal, dass wir sie geläutet haben?“
„Vor acht Jahren“, erwiderte Roman.
„Hm, wir waren lange verwöhnt von Zaizura. Aber ihr großes Netz wird ständig neu gewoben, und so müssen wir Menschenwesen das hinnehmen, was da kommen möge! Viel Glück, mein Sohn, und erhaltet den Frieden für Hy!“, krächzte der Alte und verneigte sich in seinem Nachthemd ehrerbietig vor Roman. Der nickte, nahm sein Leichtschwert auf, das er neben den Alkoven des Bauern abgelegt hatte und verließ das Wohnhaus. Auf dem Hof warteten bereits die anderen Krieger mit ihren Pferden. Sie waren bereit. Roman ging zu Kaeisan und befestigte das Leichtschwert mit dem Lederriemen vorne an seinem Sattel. Zum Schluss schnallte er seine Decke, die in einem gewachsten Stoffsack steckte, hinten auf. Das Breitschwert trug er bereits auf seinem Rücken. Dann streifte er sich seine Lederhandschuhe über und griff nach den Zügeln.
Er zögerte kurz, so als müsse er noch einen Gedanken zu Ende denken, doch dann sagte er: „Auf zum Chorten!“
Die Gruppe der Reiter flog durch das Tor und galoppierte auf den Wald zu, der sich unter dem mittlerweile sternenklaren Himmel wie eine schwarze Wand aus undurchdringlichem Dickicht vor ihnen aufbaute. Eine Welt, die man im Dunkeln besser mied. Doch in dieser nassen, vom Gewitter durchweichten Nacht hatten sich sogar die unerschrockensten Geschöpfe der Wildnis zurückgezogen und kauerten in ihren Löchern.
Als der Wald sie mit seiner triefenden feuchten Umarmung empfing, mussten sie ihr Tempo erheblich drosseln. Sie konnten kaum ihre Hand vor Augen sehen, so düster war der steile Weg vor ihnen. Nur langsam kamen sie voran.
Hoffentlich ging die Sonne bald auf, dachte Roman. Aber der neue Tag würde auch etwas mit sich bringen, gegen das sich sein Inneres sträubte. Sein Ohr erinnerte sich nur widerwillig an den Klang der Kriegsglocke, den er für sich als „Das schreckliche Lachen Zaizuras“ bezeichnete. Mit der Gewissheit, es in der Dunkelheit gut zu verbergen, gestattete er sich ein Schaudern.
Dunst stieg vom Waldboden auf, und Roman konnte die Dämmerung mehr fühlen als sehen. Es dauerte auch nicht lange und die ersten Amseln begannen vereinzelt zu singen. Sie waren die Herolde der Königreiche von Tag und Nacht und kündigten einen weiteren Machtwechsel ihrer Herrscher an. Ihre angenehm rollenden Stimmen wirkten beruhigend auf Romans Gemüt. Nach und nach wich das undurchdringliche Schwarz des Waldes einem dumpfen nebeligen Grau, aus dem die Baumstämme schemenhaft hervortraten. Immer mehr Vögel stimmten ihre Lieder an.
Keine zweihundert Schritt weiter konnte Roman endlich den Wachtturm dieser Waldstraße erkennen. Er markierte den Scheitelpunkt des Hügelkamms - von jetzt an würde es wieder bergab gehen.
Plötzlich zerschnitt ein schriller markdurchdringender Ton die friedliche frühmorgendliche Stimmung des Waldes und Romans Gedanken. Sein Herz machte einen schreckhaften Sprung, obwohl es darauf vorbereitet gewesen war. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Es war Sonnenaufgang, und über ihren Köpfen läuteten die Krieger auf dem Turm die kleine grässliche Kriegsglocke. Ihr hektisch hohes Klingen war die Stimme des Unheils und ließ die Mienen der Krieger noch finsterer werden, während diese im heller werdenden Licht des Tages den Turm passierten.

Im Chorten herrschte helle Aufregung, und die Angst sprach aus sämtlichen Gesichtern, als Romans Gruppe schließlich als letzte dort eintraf. Alle Bewohner waren im Hof versammelt und harrten eng aneinandergedrängt - die Krieger mit den Pferden in ihrer Mitte - dem, was Richol gleich verkünden würde. Der stand neben dem Oberpriester auf der höchsten Stufe des Tempels und wirkte unerschütterlich. Als Clanchef unterlag ihm die Aufteilung der Krieger in die Gefechtsgruppen und die Anweisung an den Clanrat, wie dieser sich zu verhalten hatte. Keiner konnte sehen, wie schwer ihm die Verantwortung tatsächlich auf seinen Schultern lastete. Er war nun schon achtundfünfzig Jahre alt und begann langsam sich müde zu fühlen. In einem Jahr würde er sein Amt endgültig niederlegen und die Verantwortung abgeben. Dann würde ein neuer jüngerer Clanchef gewählt werden und ihn nach langer Amtszeit von immerhin zwölf Jahren ablösen. Endlich würde er vom geschäftigen Kriegerleben in den etwas ruhigeren Weisenstand des Fünften Grades eintreten und seine schmerzenden Gelenke ausruhen können. Doch jetzt musste er seine Aufgabe so gut erfüllen, wie er nur konnte, denn alle sahen zu ihm auf und warteten darauf, dass er etwas sagte. Tief sog er die Luft ein und straffte seine Haltung. Er musste dafür sorgen, dass die Leute ruhig blieben und ihm vertrauten. Förmlich hob er die Hand zum Gruß, der stumm erwidert wurde, und begann dann laut mit fester Stimme zu sprechen. Alles blickte gebannt auf den stämmigen kleinen Mann, der ihr Anführer war.
Raen stand neben Mutter und Schwester inmitten der verängstigten Menschenmenge und reckte neugierig seinen Hals, um besser sehen können. Er hörte, wie Richol von Krieg sprach und die Krieger nun ihrer ehrenvollen, von Hyaun geforderten Pflicht nachzukommen hätten. Bis sie die nächste Nachricht des Setna erhielten, sollten sich alle Krieger im Oberen Heiligtum des Tempels versammeln. Raen blickte zu seinem Vater hinüber, der mit eiserner Miene von Kaeisan absaß. Am liebsten wäre er zu ihm gerannt und hätte ihm Hunderte von Fragen gestellt. Er wollte verstehen, was hier gerade passierte, denn seine Mutter hatte ihm nur äußerst widerstrebend und ausweichend geantwortet: „Krieg - Shazura“. Mehr nicht.
Aber was war Shazura? War es das, wovon er letzte Nacht geträumt hatte? Er wollte es unbedingt wissen und wurde immer aufgeregter. Alea, die Raens Unruhe falsch deutete, legte beide Hände auf seine Schultern und zog ihn zu sich.
„Du brauchst keine Angst zu haben, Raen. Es wird uns nichts geschehen“, flüsterte sie ihm direkt ins Ohr, Wange an Wange. Dabei bekam Raen den Eindruck, sie fürchtete sich selbst noch mehr als seine Schwester.
„Aber ich habe doch gar keine Angst Mutter!“, entgegnete Raen laut, und alle Umstehenden drehten sich zu ihm um.
Seine Mutter blickte verlegen zurück. „Habt Nachsicht. Er kennt doch bloß den Frieden!“, entschuldigte sie sich. „Wir sollten ihn alle darum beneiden, dass er nicht weiß, was Shazura ist!“
Zustimmend nickend wandten sich die Leute wieder Richol zu, der die Krieger bereits in Gruppen einteilte und die Anführer ernannte. Romans Name fiel, und Raen sah wieder zu ihm hinüber. Sein Vater wirkte unnahbar und still.
Er hat doch auch keine Angst, dachte er verdrossen, immer noch die verkrampften Hände seiner Mutter auf den Schultern spürend.
Nachdem Richol die Versammlung beendet hatte, überließen die Krieger ihre Pferde den Helfern von Henendra, die sie versorgten und die Satteltaschen mit allem füllten, was auf der Reise gebraucht werden würde. Still und ohne sich zu ihren Angehörigen umzudrehen, gingen alle Mitglieder der Kriegerkaste hinauf in den Tempel. Raen platzte beinahe vor Neugier. Was dort oben jetzt wohl vor sich ging?
Gedrückte Stille und Unschlüssigkeit legte sich über den Chorten. Keiner wagte es, sich von seinem Platz fortzubewegen. Raen beobachtete die Menschen um sich herum interessiert. Es war, als ob sich das schlechte Wetter der letzten Tage vom Himmel direkt auf ihre Gesichter niedergesenkt hätte, aschgrau und klamm. Einige kauten auf ihren Unterlippen oder kneteten den Saum ihrer Jacken. Eine Frau in seiner Nähe betete sogar leise vor sich hin, und andere weinten lautlos. Was hatten sie nur alle? Die zähe Anspannung wurde ihm beinahe unerträglich.
„Warum stehen wir denn hier jetzt so herum?“ Raen drehte sich zu seiner Mutter und sah, dass auch sie ganz blass war, selbst ihre sonst so roten Lippen waren aschfahl.
„Mutter, was ist denn mit dir?“
„Raen, sei bitte endlich still!“, fuhr sie ihn überraschend harsch mit nahezu erstickter Stimme an und blickte ihm tadelnd in die Augen. „Dein Vater und die anderen Banskeid werden in den Krieg ziehen. Das bedeutet, er wird lange weg sein und vielleicht auch nicht wiederk ...“ Sie brach mitten im Satz ab. Raen sah, wie sie hart schluckte und eine Hand vor ihr Gesicht legte. Er wollte zum Sprechen ansetzten, doch da bekam er einen Stoß von seiner Schwester. Drohend starrte sie ihn an. Ihre Lippen waren zusammengepresst, und ihre Augenbrauen kräuselten sich über ihren blitzend grünen Augen. Hör damit auf, gab sie ihm dadurch zu verstehen, lass Mutter mit deiner dämlichen Fragerei in Frieden! Demonstrativ tröstend legte Andra einen Arm um ihre Mutter und schmiegte eine Wange an ihre Schulter. Alea drückte ihre Tochter an sich. Raen beobachtete beide und kam sich in diesem Moment sehr ausgeschlossen vor. Alle schienen zu verstehen, worum es ging, nur er nicht. Aber weshalb erklärte es ihm niemand? Und warum wurde er immer abgewiesen, wenn er etwas wissen wollte?
„Ach, Raen, komm her.“ Seine Mutter streckte ihren Arm aus. „Weißt du, Shazura ist etwas sehr Schreckliches. Es geschehen viele unaussprechliche Dinge, über die man nicht reden und am besten auch gar nicht erst nachdenken sollte. Das gehört nicht zu unseren Aufgaben, Raen. Dafür hat Hyaun besondere Leute erwählt, darunter auch deinen Vater. Und der wird jetzt seine ehrenvolle Pflicht für sein Volk erfüllen und uns beschützen, in dem er Shazura von uns fernhält und den Frieden verteidigt!“ Sie sah ihn an. Besänftigt nickte Raen und ließ sich von ihr in den Arm nehmen.
„Wir warten darauf, dass der Setna den Kriegern mitteilt, wohin sie müssen. Die Gabe des Geistes verleiht unserem Prinzen die Fähigkeit, zu sehen, was bald geschehen wird, er hat das Dritte Auge. Er lässt uns niemals im Stich, er ist der Gesegnete! Hyaun möge ihn beschützen!“ Alea legte die Hände zusammen und verneigte sich in Richtung des Tempels. Raen wollte sie noch fragen, ob es wirklich Menschen mit drei Augen gab, aber er besann sich dann vorsichtshalber doch eines Besseren und schloss sich den Umstehenden an, sich vor dem Tempel zu verneigen.

Nach zwei Usui-Stunden traten die Krieger endlich wieder aus dem Tempel, und nervöse Bewegung kam in die wartende Menge. Die Angehörigen strömten auf ihre Krieger ein.
„Wo geht es hin?“, wurde immer wieder laut gefragt.
Auch Alea lief mit ihren Kindern im Schlepp zu Roman, der sehr ernst dreinblickte. Sie kämpfte sichtlich um ihre Fassung und drängte ihre Tränen zurück, sie wollte als Frau eines Kriegers als Vorbild dienen und stark sein. Roman legte ihr den Arm um die Schultern.
„Wir müssen nach Norden!“, sagte er leise. Alea schloss die Augen, der Kloß in ihrem Hals schnürte ihr die Luft ab.
„Noch ist nicht klar, was geschehen wird.“ Roman sah an den bebenden Lippen seiner Frau, wie sehr sie litt, und er strich ihr über die Wange. Sie zitterte unter seiner Berührung. Er drückte sie fester an sich und führte sie und die Kinder direkt zum Nordturm. Gemeinsam stiegen sie in den siebten Stock hinauf und schlossen ihre Zimmertür hinter sich. Die Verabschiedung der Krieger von ihrer Familie war eine sehr private Angelegenheit. In diesem Fall war es dem Ehepartner sogar gestattet, beim Anlegen des vollen Rüstzeugs behilflich zu sein.
Alea wartete mit erzwungener Ruhe, bis Roman alle Teile, die er nicht sowieso schon bei sich trug, aus dem Schrank unter seinem Bett hervorgeholt und vor sich ausgebreitet hatte. Raen und Andra hockten derweil auf der Bank im Erker, und ihre aufmerksamen Blicke verfolgten jede Bewegung. Roman nahm sich das Breitschwert vom Rücken und stellte es an die Wand. Sofort fiel ihm Alea in die Arme und hielt ihn fest umklammert. Ihm wurde schwer ums Herz. Selbstbeherrscht löste er sich sanft aus ihrer Umarmung und nahm ihr schmales Gesicht in beide Hände. Er bedeckte es von der Stirn bis zum Kinn mit kleinen Küssen.
„Meine Liebe, sorge dich nicht! Ich bin in Hyauns Hand, und Zaizura wird mich führen
Sorge dich nicht, Meine Liebe. So die hohen Mächte es wollen, sehen wir uns wieder!
Meine Liebe!“, flüsterte er sanft das Abschiedsgedicht der Krieger und sah seiner Frau dabei tief in die Augen. Doch der Damm war gebrochen und unablässig rollten die Tränen über ihr Gesicht. Sie brachte kein Wort heraus.
„Weine nur. Tränen heilen die Seele!“ Roman drückte sie noch einmal an sich. Alea, die nun heftig schluchzte, konnte nur schwer von ihm ablassen.
Es tat Roman weh, sie so zu sehen, seine geliebte kleine Frau. Wie tapfer sie doch war! Still betete er, Hyaun möge sie und die Kinder beschützen, während er fort war. Er ging zum Erker und nahm nacheinander seine Kinder in den Arm.
Es war ein Abschied auf unbestimmte Zeit ... vielleicht aber auch für immer. Das wusste allein Zaizura.
„Wie viele Menschen wirst du töten?“, fragte Raen unvermittelt, und alle erstarrten mitten in ihren Gedanken.
„Was ...?“, flüsterte Alea, die erschrocken eine Hand vor den Mund gehoben hatte.
„Raen, was soll das?“, fragte Roman ihn leise.
„Das ist doch Krieg, und die Aufgabe der Banskeid ist es doch, Menschen zu töten! Mit der Waffe da!“ Raen zeigte auf das Breitschwert an der Wand. Seine Schwester neben ihm betrachtete ihn und das Schwert abwechselnd kritisch.
„Andra, geh mal zu deiner Mutter hinüber, ja!“, forderte Roman ungewollt barsch seine Tochter auf. Wie konnte sein Sohn in diesem zerbrechlichen Moment des Abschieds solch eine Frage stellen? Das war unerhört!
„Was ist das nur mit dir? Du liebe Güte!“ Roman hockte sich vor Raen hin, damit er ihn direkt in die Augen blicken konnte.
„Ich habe etwas geträumt. Letzte Nacht!“, antwortete sein Sohn verschwörerisch.
Es schien, als freue er sich regelrecht darüber, seine ganze Familie vor den Kopf gestoßen zu haben.
„Und was hast du bitteschön geträumt?“, forschte Roman ungeduldig weiter. Das lose Mundwerk seines Sohnes ging ihm allmählich auf die Nerven.
„Ich habe von Kriegern geträumt, von fremden Kriegern hinter den Bergen im Norden. Es waren sehr viele, mehr, als wir hier in Shari haben. Und sie hatten komisch bemalte Gesichter, merkwürdige Platten am Körper und darüber Fellmäntel.“ Raen überlegte kurz. „Und sie hatten Haare im Gesicht! Sie trugen lange Lanzen und daran grüne Fahnen mit einem Tier darauf, das ich noch nie gesehen habe: Einen Stier mit Flügeln!“
Romans Augen weiteten sich vor Überraschung. Raen hatte soeben ganz genau die Krieger der wilden Tschabanen-Horden aus dem Norden beschrieben, das Wappen eines ihrer Stammesfürsten und den Ort, den sie voraussichtlich angreifen wollten. Bestürzt wischte er sich den Schweiß von der Oberlippe. Es waren nahezu die gleichen Bilder, wie sie der Setna ihnen vor wenigen Momenten erst gesendet hatte! Das war unmöglich. Was ging hier vor?
„Die fremden Krieger kommen, um zu ... töten und sie ...“
„Still jetzt!“, unterbrach Roman seinen Sohn. Er musste verhindern, dass er vor Alea noch mehr ausplapperte. Er packte Raen unsanft bei den Oberarmen. „Hör zu, das war bloß ein Traum. Vergiss ihn. Hast du verstanden? Nur ein Traum!“
Nur widerwillig nickte der Junge. Aber Roman erkannte den Trotz in dessen grünen Augen und spürte, dass es wenig Zweck hatte, Raen etwas vorzumachen.
„Nun gut, wir werden noch einmal darüber reden, wenn ich zurückkomme. Ja?“
Raen nickte erneut, dieses Mal etwas gefügiger. Roman brach der Schweiß aus. Warum nur schaffte es dieses Kind es, ihn dermaßen in die Enge zu treiben? Erst diese Träume mit dem Blutpferd und jetzt das! Warum konnte sein Sohn nicht normal sein? Er dachte an die Prophezeiung Soghuls, doch dieser Gedanke überforderte ihn. Auch fühlte er die fragenden Blicke seiner Frau in seinem Rücken. Er atmete tief durch und stieß einen überreizten Seufzer aus. Schließlich nahm er Raen noch einmal in den Arm.
„Hab keine Angst, ich komme bald zurück. Kümmere dich so lange um deine Mutter und dein baldiges Geschwisterchen, ja?“ Er zwinkerte seinem Sohn zu und lächelte.
„Wenn du keine Angst hast, dann habe ich auch keine!“, sagte Raen überzeugt.
„Versprochen?“
„Versprochen!“
Roman erhob sich und Alea kam zu ihm.
„Mach dir keine Sorgen, meine Liebste.“ Bevor sie etwas erwidern konnte, verschloss er ihre Lippen mit einem letzten langen Kuss. Danach löste er seinen Gürtel und wickelte sich dafür einen anderen, schmaleren um seine Hüfte. Er war bereit, die Schutzkleidung anzulegen. Alea reichte ihm die mit langen, dünnen Eisenelementen besetzten Gamaschen aus robustem Leder, die noch über den Stiefeln getragen wurden. Danach schnürte Roman sich die Ärmel seiner Jacke mit den dort angenähten Bändern am Unterarm fest und stülpte darüber die Unterarmschützer. Seine Frau half ihm dabei, sich den Oberschenkelschutz umzubinden. Das waren zwei mit Drahtringen bewehrte Schöße, deren lederverstärkte Ränder bis auf das Knie ragten. Zum Schluss reichte sie ihm die gesteppte, schwarzbraune Weste mit hohem Stehkragen aus dickem, festem Leder, die er über seinen Dari zog. Auf der Rückseite der Weste war ein großer, braunroter Kreis aufgenäht, der die aufgehende Sonne darstellte - das Symbol für die Hoffnung. Roman sürte, dass Alea in diesem Moment auf die kleine, zusätzliche Naht am linken Rand des Sonnenzeichens starrte. Es war die Stelle, an der er vor zwölf Jahren von einem Askhari-Pfeil getroffen worden war. Er hatte damals gerade erst seine Weihe zum Krieger des Dritten Grades empfangen und war gleich in sein erstes Gefecht geschickt worden. Doch glücklicherweise war die Spitze auf ihrem direkten Weg zu seinem Herzen am Knochen des Schulterblatts gestoppt worden. Zwei Fingerbreit hatten ihn damals vom Tod getrennt! Er hörte, wie Alea leise Hyaun beschwor, ihn auf dem Schlachtfeld zu beschützen und heil wiederzubringen.
Derweil verschloss er die Weste vorn mit den Schnallen und legte sich den breiten Stoffgürtel wieder um. Der kleine Zhangha-Beutel und das Messer hingen an ihm immer griffbereit. Der Beutel war im Tempel gerade erst frisch aufgefüllt worden und enthielt ein weiteres Privileg, das nur der Kriegerschaft Hyauns zustand. Abschließend steifte Roman sich den Gurt des Breitschwertes wieder über die Schulter, und Alea reichte ihm die Kopfhaube aus schwarzem Stoff, welche sich die Krieger bei schlechtem Wetter über den Helm zogen. Roman steckte sie sich zusammengefaltet in den Gürtel.
Raen hatte jede Bewegung seines Vaters genau beobachtet. In voller Kriegsausrüstung hatte er ihn noch nie gesehen. Beeindruckt blickte er zu ihm auf.
Von draußen dröhnten jäh Trommelschläge zu ihnen herein. Das Zeichen zum Aufbruch. Roman schaute Alea an. In ihrem Blick lagen Unsicherheit und Schmerz.

Der dumpfe harte Rhythmus des Krieges drang weiter fordernd in ihr Gehör, er duldete keinen Aufschub, und schließlich strömten alle hinaus auf den Hof. Roman trennte sich von seiner Familie und schwamm regelrecht durch die Menschenmenge auf die Gruppe von Priestern zu, die sich vor dem Tempel versammelt hatte. Unter ihnen war natürlich auch Loenka. Alea konnte sehen, wie ihr Mann den Priester zur Seite nahm und mit ihm sprach. Loenkas Blick blitzte kurz zu ihnen herüber, und Alea war sofort klar, worüber die beiden redeten. Es war ihr peinlich. Warum musste Raen ihnen ständig Schwierigkeiten bereiten. Sie senkte den Kopf.
Wie auf ein verborgenes Zeichen hin, löste sich die Priestergruppe vom Tempeleingang und bahnte sich ihren Weg durch einen Korridor aus Menschen auf die Krieger zu. Jedem einzelnen erteilten sie den Beistand Hyauns indem sie mit beiden Händen einmal fest beide Oberarme umfassten. Das sollte Kraft und Ausdauer verleihen.
Alea beobachtete, wie Roman zu seinem Pferd schritt und selbst den Segen empfing. Sie ging zu ihm herüber, und küsste ihn noch ein letztes Mal.
„Es ist Zaizuras Wille, und Hyaun wird uns beschützen!“, sprach er mit unbeirrbarer Zuversicht. Alea wurde dabei leichter ums Herz. Der starke Glaube ihres Mannes strömte in sie und verlieh ihrem eigenen Glauben eine neue beflügelte Kraft. Sie schloss die Augen und ließ ihren Geist schweben. Ja, Zaizura bestimmte über ihr aller Dasein, und man musste ihr Vertrauen schenken, wenn man sicher auf dem Weg Hyauns gehen wollte. Denn das war der einzige Weg, den ein Menschenwesen auf seiner Reise durch das Universum beschreiten konnte. Nur auf ihm empfahl man sich der Vollkommenheit, der höchsten Stufe des Daseins. Und als Belohnung erwartete jeden treu ergebenen Gläubigen nach seinem Ableben der von allen Mächten unabhängige und freie Reinzustand der unsterblichen Seele! Alea lächelte Roman zu, der auf sein Pferd gestiegen war, und Bewunderung erfüllte sie. Er war ein Erwählter Hyauns und er durfte Seinem Volk den größten Dienst erweisen, zu dem ein Menschwesen je ermächtigt werden konnte.
‚Ich komme wieder, meine Liebe’, formten seine Lippen lautlos, und Alea erfüllte diese Gewissheit bis tief in ihr Herz. Sie lachte ihm ihr schönstes Lachen entgegen, welches kein schöneres Geschenk zum Abschied hätte sein können.
Noch einmal blickten alle Krieger gesammelt zum Tempel, wo der Oberpriester vor dem goldenen Eingangstor stand und mit an die Stirn erhobenen Händen grüßte, dann ritten sie mit Richol an der Spitze zum Tor der Festung hinaus. Der ganze Chorten hallte wieder von glückwünschenden und lobpreisenden Lebewohlrufen. Alle winkten gemeinsam zum Abschied von der Mauer aus und sahen ihren Kriegern lange hinterher, bis sie schließlich zwischen den Bäumen im Norden verschwunden waren. Sie hatten sich nicht einmal mehr umgedreht!

Das Wetter im Süden Hys besserte sich wieder, und die heiße Spätsommersonne trocknete die durchfeuchtete Landschaft. Mit großer Mühe setzte der Shari Clan die Ernte auf den Feldern fort. Überall wurden die helfenden Hände der Krieger sehr vermisst. Und allein Zaizura war es zu verdanken, dass sich der Schaden durch das Unwetter kleiner erwies, als zuvor befürchtet. Die fehlenden Nahrungsmittel konnten durch einem Tauschhandel mit den Clans im Norden ergänzt werden und deshalb würden sie gut über den Winter kommen.
Mit nur einem lachenden Auge wurde schließlich das Erntefest gefeiert, und unter den roten Fahnen der Trauer war das festliche Geschehen nicht ganz so ausgelassen wie sonst. Denn seit Beginn des Krieges im Norden gegen die tschabanischen Horden hatte es in Shari bereits mehrere Meldungen von Gefallenen gegeben. Immer wenn ein Postreiter durch den Chor geritten kam, bangte Alea und betete. Sie rannte wie alle anderen hinaus auf den Hof und sah mit an, wie der Reiter mit versteinerter Miene einen Beutel mit kleinen Holztafeln zückte und eine davon hinausnahm. Das bloße Geräusch der klappernden Holztafeln in dem Beutel jagte Alea einen Schauer über den Rücken. Wie trockene Knochen in einem Leichensack! Ein Priester nahm die Tafel in Empfang und las still den Namen, der darauf stand. Mit traurigem Gesicht faltete er anschließend seine Hände um die Tafel und trug die Botschaft des Todes zu der Person, die der nächste Angehörige des Verstorbenen war. Angstvoll wichen die Leute vor ihm zurück, in der eitlen Hoffnung, er möge an ihnen vorbeigehen. Alea schloss fest ihre Augen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.
‚Bitte nicht, bitte nicht’, flüsterte sie tonlos und spürte den drohenden Schatten Zaizuras über sich schweben. Es war töricht. Denn das Schicksal mochte es nicht, wenn man es um etwas bat. Sie tat es wider die Vernunft. Und es war sonderbar, die Tafel wurde auch dieses Mal wieder an ihr vorbeigetragen. Im Stillen schalt Alea sich für ihre unzüchtige Erleichterung, die unaufhaltsam warm in ihr Herz flutete.. Hyaun sei Dank, Roman war am Leben!
Doch plötzlich hielt der Priester in seinem Schritt inne und wandte sich um. Eiskalt schlug Alea die Furcht entgegen. Hatte der Priester sich geirrt? Würde sie für ihre unverschämten Gedanken nun doch noch von Zaizura bestraft werden? Ihre Finger verkrallten sich schmerzhaft ineinander. Der Blick des Priesters streifte sie. Er streckte die Hand mit der Holztafel aus ...und reichte sie ihrer besten Freundin direkt neben ihr.
Ein Moment herrschte fassungslose Stille. Dann brach ihre Freundin zusammen, noch ehe sie den Namen auf der Tafel überhaupt gelesen hatte.
Alea biss sich auf die Lippen. Tränen stiegen ihr in die Augen und kaum konnte sie ihre eigene Schreckensstarre überwinden. Es gelang ihr schließlich, ihre Freundin in den Arm zu nehmen.
„Hroenka!“, wimmerte diese immer und immer wieder. Es war ihr einziger Sohn. Er war gerade erst neunzehn geworden.
Alea kümmerte sich rührend um ihre beste Freundin, in der Hoffnung ihr schlechtes Gewissen durch eine gute Tat bereinigen zu können. Aber jedes Mal, wenn ihre Freundin in ihren Armen erneut aufschluchzte, stahl sich heimlich die Erleichterung ihn ihr Mitgefühl, und Alea schämte sich für das selbstsüchtige Herzensgift. Warum hatte es ausgerechnet in ihrer Brust Heimstatt gefunden?
In den Tagen nach diesem schrecklichen Erlebnis ging Sie oft in den Tempel und bat Hyaun um Vergebung für ihre Sünden, denn allmählich überkam sie die Angst, ihre fortwährend schlechten Gedanken könnten sich auf ihr ungeborenes Kind übertragen. So etwas konnte durchaus passieren, schließlich war das Kind sehr nahe an ihrem Herzen. Sie hatte schon einige furchterregende Geschichten darüber gehört. Zaizura war grausam zu denen, die ihr nicht vertrauten.

Der Krieg dauerte an, und Hrauna kleidete sich in ein herbstliches Rot, als wolle auch sie Anteil an der Trauer der Menschen nehmen. Kaum drangen Nachrichten von der nördlichen Grenze bis zum Shari Clan durch. Aber keine Neuigkeiten waren immer noch besser als schlechte. So dachte auch Alea. Jeden Morgen stand sie mit der Sonne auf und ging den Tag über ihrer Arbeit nach. Abends genoss sie die Geselligkeit beim Nachtmahl und drückte ihre Kinder an sich. Besonders für sie wollte sie eine tapfere und selbstsichere Mutter sein. Doch wenn sie nachts allein in ihrem Alkoven lag, schien die einsame Stille in ihrem Zimmer sie zu erdrücken. Manchmal war ihr Kopfkissen durchnässt von ihren Tränen, wenn sie endlich einschlief.
Auch Andra vermisste ihren Vater sehr und fragte ihre Mutter mit steter Regelmäßigkeit, wann er denn endlich zurückkommen würde. Darauf konnte Alea natürlich nur eine einzige Antwort geben: „Zaizura wird es bestimmen, und Hyaun wird ihn beschützen!“
Das Mädchen glaubte dies und wiederholte diese Worte stets wie eine Litanei. Alea beneidete sie um ihre kindlich unbefangene Gläubigkeit.
Nur Raen verhielt sich einmal mehr vollkommen anders. Ganz gegen seine Gewohnheit fragte er nicht ein einziges Mal nach seinem Vater, und es schien, als wisse er bereits mit aller Bestimmtheit, dass Roman heil zurückkommen würde. Alea beneidete auch ihn für diesen geheimen Quell der Zuversicht. Denn im Kontrast zu allen anderen Leuten seines Clans wirkte Raen äußerst gelassen und ausgeglichen. Keinen Deut ließ er sich von der untergründig schwermütigen Stimmung beeinflussen. Unbekümmert ging er jeden Tag zur Schule, spielte mit Hereke oder besuchte den Tempel für seine Übungen. Selbst Hyaunset Loenka war voll des begeisterten Lobes für ihn. Alea teilte mit ihm das gute Empfinden über die Gabe ihres Sohnes, überall, wo er sein vergnügtes Auflachen ertönen ließ, ein zaghaftes Lächeln auf die Gesichter seiner Mitmenschen zu zaubern. Wie ein Sonnenstrahl erhellte er die düsteren Tage von Shazura.
„Dieses Kind ist etwas Besonderes, so unerfahren und gleichzeitig doch so weise“, flüsterte Alea in die Stille des Tempels und Loenka nickte.
„Und er hat doch recht“, sprach sie weiter, „warum lassen wir eigentlich zu, dass die Schatten des Schicksals uns die Freude am Leben verdunkeln? Wenn eine düstere Wolke über uns hinweg zieht, können wir sie etwa mit unseren Sorgen und lautem Gejammer verjagen?“
Der Priester schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Aber wie du es gesagt hast, wir können fröhlich sein, und vielleicht erscheint uns dann die Wolke nicht mehr ganz so finster! Wir können nicht ändern, was das Schicksal für uns bereithält, aber wir können uns über jeden neuen Morgen freuen, der uns einen weiteren Tag auf dem geweihten Boden unserer Vorväter schenkt. Natürlich müssen unsere Gedanken auch rein sein. Wir dürfen nicht verzagen.“
„Nein, Hyaunset, das wäre großes Unrecht. Nur meine guten Gedanken erfreuen Hyaun.“
Loenka lächelte milde über Aleas Ergriffenheit. Er entließ sie aus dem Gespräch und sah ihr gemeinsam mit Hyaun hinterher, wie sie beschwingt von frischer Energie den Tempel verließ.

„Raen. Ich bin dir sehr zu Dank verpflichtet“, sagte Alea am Abend zu ihrem Sohn, als er schon neben seiner Schwester in seinem Bett lag.
„Warum, Mutter?“, fragte er mit großen Augen.
„Ja, warum denn?“, wollte auch Andra wissen, die sich neugierig sich auf ihrem Lager herumgedrehte.
„Weil Raen uns gezeigt hat, dass die Angst und die Sorgen nur halb so schlimm sind, wenn man trotz allem fröhlich ist und lacht!“
„Aber Raen erzählt doch den ganzen Tag nur dummes Zeug!“, gab Andra in einem missbilligenden Tonfall von sich.
„Andra, dein Bruder erzählt kein dummes Zeug! Du kannst ihm ruhig vertrauen. Von uns allen ist er derjenige, der sich als einziger richtig verhält. Du solltest dir ein Beispiel an ihm nehmen!“
Bei dieser Zurechtweisung ihrer Mutter schob Andra unwillig den Unterkiefer vor. „Raen erzählt aber immer so komische Sachen. Die anderen lachen schon über ihn.“
„So? Wieso lachen sie denn über ihn?“
„Na, weil er behauptet, dass er weiß, wann unsere Krieger wiederkommen.“
„Ich glaube, du meinst wohl eher, dass er sagt, sie kommen bald zurück“, berichtigte Alea ihre Tochter.
Andra schüttelte den Kopf. „Nein, er sagt, er weiß es genau. Er behauptet, Vater kommt schon in zwei Wochen zurück!“
Alea bemerkte den für Andra typischen altklugen Tonfall. Sie sah Raen fragend an.
„Mutter, es stimmt, in zwei Wochen kommt er zurück und mit ihm alle anderen! Ich habe es geträumt. Am Tag nach dem nächsten Vollmond werden sie wieder hier sein. Das ist doch in zwei Wochen, oder nicht?“
Aleas Brauen zogen sich zusammen. Die Ungeheuerlichkeit, die Raen da von sich gab, verschlug ihr die Sprache. Wie konnte er ihr bloß so frech ins Gesicht lügen? Ungewollt sammelten sich Tränen in ihren Augen.
„Was ist, Mutter?“, fragte Raen.
„Ach, jetzt sieh doch mal, was du mit deinem Blödsinn schon wieder angerichtet hast! Warum musst du immer solche Sachen sagen? Lass es sein!“ Andra hatte sich aufgesetzt und warf ihm einen empörten Blick zu.
„Was habe ich denn gemacht?“ Gekränkt klopfte Raen mit seinen Händen auf die Decke. „Warum musst du ständig mit mir schimpfen?“
„Du bist ein Dickkopf!“ Andra wollte ihre weinende Mutter in den Arm nehmen.
Die anderen Kinder in den Raum begannen interessiert herüberzuäugen.
„Ach ja, ich habe doch nur gesagt, was auch wahr ist, aber du weißt ja immer alles besser!“
Andra öffnete ihren Mund und wollte gerade zum verbalen Gegenschlag auf diesen Affront ihres Bruders ausholen, als Alea sie jäh unterbrach.
„Still jetzt! Beide! Keinen Streit, das gehört sich nicht, und außerdem weckt ihr die anderen Kinder auf!“ Sie holte noch einmal tief Luft und sah ihre Tochter an. „Andra, du solltest besser deine Zunge hüten. Achte gefälligst auf das, was du sagst, du darfst nicht einfach jemanden beleidigen. Entschuldige dich bei deinem Bruder!“
Andra fügte sich der Forderung und entschuldigte sich bei Raen. Schmollend drehte sich danach auf die andere Seite und verkroch sich unter ihrer Decke. Mit einem Ohr hörte sie aber noch weiter ganz genau hin.
„Und du, Raen, hörst endlich damit auf, solche Dinge zu erzählen! Das sind ungezogene Lügen! Damit bringst du uns alle in Schwierigkeiten. Ich will nicht, dass die Leute über dich reden!“ Kopfschüttelnd über das seltsame Gebaren ihrer Kinder wollte Alea sich erheben.
„Du hast viel zu große Angst, Mutter“, sagte Raen plötzlich leise.
„Oh, Raen, bitte.“
„So glaub mir doch! Vater wird in zwei Wochen zurückkommen. Du wirst es sehen.“ Beinahe verzweifelt streckte er ihr seine Hände entgegen.
Alea stöhnte wiederwillig. Was sollte sie nur mit diesem Kinde tun?
„Nein, Raen, du bist jetzt still, hast du verstanden!“ Ein neuerlicher Kloß schnürte ihr den Hals zu und sie senkte den Kopf, damit Raen es nicht sah. Doch dann geschah etwas ganz Unerwartetes. In einer sehr erwachsen anmutenden Geste hob der kleine Junge ihr Kinn an und sah ihr bestimmt in die Augen.
„Mutter, du brauchst keine Angst zu haben. Sie kommen bald zurück. Ich weiß es, denn alles, was ich träume wird wahr!“
Alea blinzelte ihn erstaunt und benommen zugleich an.
„Ach, Raen“, stammelte sie mit belegter Stimme, „du und deine Träume ...“ Sie hatte keine Kraft mehr, sich dem widerspenstigen Willen ihres Sohnes entgegenzustellen und ergab sich. Erschöpft ließ sie sich zur Seite sinken und legte ihren Kopf auf seine Beine. Raen hob die Hand, strich ihr tröstend über das lange, weiche Haar und summte dabei. Es war, als hätten sie ihre Rollen getauscht: Ein Achtjähriger, der seine Mutter in den Armen hielt.
Alea vergrub ihr Gesicht in der Decke und weinte lautlos in sie hinein. Allzu gerne hätte sie ihrem Sohn geglaubt, entsprachen seine Träume doch ihren allersehnlichsten Wünschen. Doch es waren eben nur Träume, die Wunschträume eines Kindes und die einer einsamen Ehefrau.

Aber Raens Träume sollten recht behalten. Schon in der folgenden Woche bekam der Hyaunset suer von Shari die erlösende Nachricht, auf die alle gewartet hatten.
„Der Krieg ist zu Ende!“, sandte der Setna ihm über sein Aun. Sofort rief er den Clanrat zusammen und gab die frohe Kunde weiter. Erleichtert fielen sich die Leute in die Arme, und im Schein der Herbstsonne löste sich ihre Furcht auf wie Morgennebel. Mit täglich wachsender Heiterkeit bereitete sich der ganze Clan auf die Ankunft ihrer Krieger vor. Alles wurde schön herausgeputzt, und auch wenn kaum noch Blätter an den Bäumen hingen, trat desgleichen Hrauna noch einmal in all ihrer spätherbstlichen Schönheit hervor. Die Sonne wärmte die klare frische Luft und drängte die nächtliche Kälte des nahenden Winters aus den Wäldern zurück auf die fernen, bereits mit Schneekappen bedeckten Berge. Nicht die kleinste Wolke störte das tiefe Hyazinthblau des Himmels an dem Tag, an dem die Krieger schließlich in Shari eintreffen sollten. Es war der Tag nach Vollmond, genau wie Raen es vorhergesehen hatte.
Unter all den Menschen, die sich im Laufe des Morgens festlich geschmückt auf der Nordmauer einfanden, war natürlich auch Alea, deren Bauch sich jetzt schon deutlich hervorzuwölben begann. Von ihrem Platz hinter der Brustwehr aus blickte sie sich um. Alle hochliegenden Aussichtspunkte waren dicht bevölkert. Voller Wiedersehensfreude hielten die Leute Ausschau und schnatterten aufgeregt durcheinander. Alea trug einen dottergelben Schal um ihre Schultern und schirmte mit beiden Händen ihre Augen gegen das helle Sonnenlicht ab. Ihr Blick schweifte von den Menschen auf der Mauer hinüber zum Waldrand im Norden. Doch noch tat sich nichts. Sie dachte an Raens korrekte Voraussage für diesen Tag, und ein mulmiges Gefühl überkam sie. Nur wenige wussten bisher davon. Was, wenn es weiter bekannt werden würde? Welche Folgen hätte das für sie? Sie presste ihre Lippen aufeinander. Es ging über ihre Vorstellungskraft hinaus, und deshalb brauchte sie unbedingt den Rat von Loenka und Roman.
Mit einem Mal ertönten Trommelschläge aus der Ferne, schwach aber bestimmt. Sie kamen von genau jenem Wachtturm, der sich auf dem höchsten nördlichen Hügel erhob. Das Stimmengewirr legte sich, und gespannte Ruhe trat ein. Die Rückkehrer mussten in Sicht der Wachen auf dem Turm gekommen sein. Endlich! Nicht mehr lange, und sie wären wieder daheim. Sogleich antworteten auch schon dumpf vibrierende Schläge vom Wehrturm direkt neben ihnen. Alea fuhr der mächtige Klang der großen Rahmentrommeln vibrierend durch den Körper. Sie bekam eine Gänsehaut und unterdrückte ein erregtes Zittern. Sie sah zu ihren Kindern hinüber, die etwas weiter links von ihr an der Brustwehr der Mauer standen. Andra begann mit ihren elf Jahren langsam in die Höhe zu wachsen und konnte bereits bequem über die Wehr schauen, während sich Raen immer wieder auf die Zehenspitzen stellen musste. Die gelben Bänder, die Alea ihnen morgens in die Haare geflochten hatte, leuchteten lustig in der Sonne. Sie lächelte und strich sich über ihren Bauch, in dem das kleine Leben, welches sich bald zu ihrer Familie hinzu gesellen sollte, bereits strampelte. Ein Ruf ertönte, und alle blickten gleichzeitig auf. Alea legte die Hand wieder an die Brauen und fixierte den Waldrand. Dort im braunen Dickicht bewegte sich etwas. Zuerst war es wie eine dunkle Schlange, die sich langsam in die Felder schob. Dann sprengten kleine Segmente von ihr ab, die immer schneller wurden, bis die Schlange sich schließlich in einen Schwarm Bienen verwandelt hatte. Es waren die Krieger auf ihren Pferden, die das letzte Stück des Weges im vollen Galopp zurücklegten. Die Menge auf den Mauern begann zu rufen und mit ihren Schals zu winken. Immer wieder nahmen sie sich gegenseitig in den Arm.
Die Bienen wurden zu Menschen, und schließlich konnte Alea Roman erkennen. Ihr Herz machte einen Sprung, und Freudentränen stiegen ihr in die Augen. Dankbar legte sie ihre Hände an die Stirn und schickte ein Gebet in den Himmel. Ihr Mann war heil zurück!
Die ebenfalls johlenden Krieger erreichten den Chorten, und als sie durch das Tor ritten, wurden sie mit dem „Heimkomm-Lied“ begrüßt. Aus über neunhundert Kehlen erklangen die traurig schönen Strophen des uralten Liedes, welches überall im Land stets die Einkehr der Krieger begleitete. Sanft erfüllten die Stimmen den Hof, schwebten hinauf zu den Türmen und weiter in den klaren Himmel. Die Krieger zügelten ihre Pferde und verharrten, um dem Gesang zu lauschen, der ihnen gewidmet war. Sie wirkten zerschlagen und erschöpft, einige sahen sehr ausgezehrt aus, aber sie hatten noch genug Kraft, um überglücklich zu strahlen.
Nachdem alle diesen wundervollen Moment ausgekostet hatten, eilte die Menge die Treppen der Mauern herunter und strömte ihren Kriegern entgegen - mittendrin Alea. Als sie bei Roman ankam, der inzwischen abgestiegen war, umarmte sie ihn so stürmisch, dass er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Er drückte seine Frau fest an sich und bemerkte ihren schon recht stattlichen Bauch. Glücklich bedeckte er sie über und über mit Küssen. Auch er war heilfroh, wieder zu Hause zu sein. Alea nahm sein Gesicht in ihre Hände und sah ihm tief in seine müden braunen Augen, die im Moment nur noch die Sprache der Liebe kannten. Sie spürte, dass er tief im Innern seines ermatteten Körpers schwer an dem trug, was diese Augen hatten sehen müssen. Sie sagte nichts und warf sich wieder in seine feste Umarmung.
Was in den vergangenen vier Monaten an der nördlichen Grenze des Landes geschehen war, würde sein Geheimnis bleiben. Keiner würde danach fragen, und die Krieger würden schweigen. So war die Regel. Sie mussten das Unaussprechliche für sich behalten und alleine damit fertig werden.

Nachdem das normale Leben wieder seinen geregelten und friedvollen Gang genommen hatte, und die Tage im Chor von Shari ruhiger wurden, kündigte der erste Frost den Winter und mit ihm die beschauliche Zeit an, die man im warmen Schoße der Familie verbrachte. Mehrere Wochen lang erholten sich die Krieger von den Folgen der Schlacht. Jene, die sich schon wieder bereit für die Arbeit fühlten, gingen mit den Helfern in den Wald, um Brenn- und Bauholz zu schlagen. Roman hatte in den Kämpfen gegen die Reiterhorden der Tschabanen kaum etwas abbekommen und war körperlich unversehrt geblieben. Schnell war er wieder in guter Verfassung und freute sich auf die Arbeit im Wald. Er war dankbar für die Ablenkung und dafür, nicht im Bett liegen zu müssen wie die Schwerverwundeten oder diejenigen, die das Fieber heimgesucht hatte. Und so sehr er die Gegenwart seiner Familie auch genoss, war doch die Ruhe, die ihn im Wald erwartete, genau das, was er jetzt brauchte, um seine inneren Wunden zu heilen. Den anderen Kriegern, die ihn täglich begleiteten, erging es nicht anders. Keiner redete viel, und die einzigen Geräusche, die sie in diesen Tagen begleiteten, waren das hohle Schlagen der Axt, das Reiben der Säge und das Knarren und Knirschen des Holzes, wenn ein Baum fiel. Fern waren der Lärm und das Chaos des Krieges.
Morgens überzog der Frost das blattlose, spröde Geäst mit seinem weißen eisigen Hauch, der im Laufe des Tages von der Sonne mitleidslos wieder hinfort geschmolzen wurde. Glitzernd tropften dann seine Tränen von den Bäumen. Des Nachts aber erblühten im heraufziehenden Bodennebel die kleinen blassen Kristalle auf den welken Gräsern und Farnen von Neuem, wundersam und mit der Kraft des geheimnisvollen Kreislaufs, dem alle Dinge dieser Welt unterlagen.
Jeden Abend wurde Roman von der wohligen Wärme des Chorten und der liebevollen Umarmung seiner Familie empfangen, und jede Nacht schlief er neben dem duftenden samtweichen Körper seiner Frau ein.
So gelang es ihm schließlich, seine Erinnerungen an den Krieg zu verdrängen. Er sperrte sie ganz tief in die verwundenen Gänge seines Gedächtnisses und versiegelte sie dort für immer und ewig. Das hoffte Roman zumindest, denn hin und wieder fanden einige der unerwünschten Erinnerungen noch einen Durchschlupf in sein Gemüt. Dann benötigte er die Hilfe der Priester. Sie waren an seiner Seite. Hatten ihn über all die Jahre gelehrt, eine Tür im Geiste zu erschaffen, um dahinter all das zu verbannen, was seiner Seele Schaden zufügte. Sie halfen ihm, sich von Schuld und Schmerz zu reinigen.
Doch ein bestimmtes Ereignis hatte Roman trotz all seiner Bemühungen nicht vergessen können. Unaufhörlich pochte es in seinem Bewusstsein.

Raen folgte der Bitte seines Vaters. Nachdem er am späten Nachmittag eines sehr kalten Wintertages seine Arbeiten in der Küche erledigt hatte, stieg er in den Wohnturm hinauf zum Zimmer seiner Eltern. Gerade wollte er an die Tür klopfen, als er von drinnen ihre Stimmen hörte.
„Manche Menschen verlassen ihren Chor nie, warum willst ausgerechnet du reisen?“, hörte er seinen Vater fragen.
„Es ist doch nur eine Bitte, Roman! Lass uns doch wenigstens meine Schwester in Rinpal besuchen. Ich möchte ... ach, wie oft habe ich es dir schon zu erklären versucht ...“
Schweigen folgte.
„Roman, ich möchte sehen, was hinter den Bergen ist, möchte einmal unterwegs sein, und andere Dinge zu Gesicht bekommen!“ Der klagende Klang in der Stimme seiner Mutter beunruhigte Raen. Er lauschte noch immer unerlaubt an der Tür.
„Und dann? Was machst du danach? Willst du dann immer mehr sehen, immer mehr reisen, mal hierhin und mal dorthin, und den Platz verlassen, an dem du gebraucht wirst! Bist du mit deinem Leben hier etwa nicht zufrieden?“
„Doch, natürlich bin ich zufrieden! Es ist nur ... es zieht mich irgendwie auch in die Ferne! Ich weiß, du kannst das nicht nachvollziehen, aber du hast ja schließlich auch schon gesehen, wie die Welt hinter den Hügeln oder dem Gebirge aussieht. Sogar in Tena-lo-Ghan und oben in den Bergen von Ghor warst du schon.“
Raen staunte hinter der Tür. Davon hatte sein Vater bisher noch gar nichts erzählt. Er war schon einmal in Tena-lo-Ghan gewesen? Neugierig lauschte er weiter.
„Alea, glaub mir, die Dinge, die ich gesehen habe, möchtest du niemals sehen!“ Die Worte seines Vaters klangen bitter.
„Vielleicht ja doch! Woher willst du das denn wissen?“
„Wenn das so wäre, dann hätte Hyaun dich dazu berufen. Du bist aber nun mal keine Erwählte!“
„Das weiß ich, aber wer sagt denn, dass nur Erwählte reisen dürfen.“
„Das sagt keiner.“
„Na also, warum sollte ich dann nicht reisen?“
Raen hörte, wie sein Vater missbilligend mit der Zunge schnalzte. „Niemand, der nicht muss ...“
Doch seine Mutter fiel ihm ins Wort. „Aber ich möchte doch so gerne! Ach, Roman, lass mich wenigstens nach Rinpal reisen in meine alte Heimat und zu meinen Eltern. Das kannst du mir nicht abschlagen!“ Das Bitten war fast zu einem weinerlichen Flehen geworden. Raen hatte seine Mutter noch nie so unglücklich gehört.
„Alea, reiß dich zusammen, ich bitte dich! Das hängt doch nicht allein von mir ab. Diesen Wunsch muss der Clanrat genehmigen. Aber wenn ich ehrlich bin, sind mir das in letzter Zeit ein wenig zu viel der Sonderwünsche gewesen, die unsere Familie betreffen!“ Roman war laut geworden. „Wir fallen zu sehr auf!“
Es folgte ein langes Schweigen.
„Ich verstehe dich, Mutter“, flüsterte Raen leise. Er begriff nicht, warum sein Vater so hartherzig zu ihr sein konnte. ‚Jeder will doch wissen, was hinter den Bergen ist, oder etwa nicht?’
„Verzeih mir, Roman, aber ...“ Die dünne Stimme seiner Mutter wurde von der Tür geschluckt.
„Gut, ich werde mit Richol reden. Vielleicht gewährt er dir diese Freiheit. Aber wann wirst du überhaupt reisen können? Schon bald kommt unser Kind und danach ...“
„Wir werden danach reisen!“, sagte Alea bestimmt.
Raen hörte, wie sein Vater resigniert brummte, dann Bewegung. Schnell entfernte er sich von der Tür und versteckte sich hinter der nächsten Flurecke. Kurz darauf kam seine Mutter aus dem Zimmer. Sie blieb kurz stehen, und trotz des dämmrigen Lichts konnte Raen erkennen, dass sie weinte. Still beobachtete er, wie sie die Tränen fortwischte. Sie so zu sehen, verursachte bei ihm die Anflug eines Gefühls, das er nicht einordnen konnte. Es brannte in seinem Bauch und drängte heiß bis hinauf in seinen Hals. Warum war sein Vater nur so ungerecht?
Seine Mutter straffe ihre Gestalt, drehte sich auf dem Absatz und ging die Treppe hinunter. Als Raen sie nicht mehr hörte, schlich er zur Tür seines Vaters und horchte. Drinnen war es still. Er klopfte.
„Ja!“, rief eine harte Stimme. Vorsichtig öffnete Raen die Tür.
„Ach, du bist es. Ich hatte dich fast vergessen. Komm und setz dich zu mir“, sagte sein Vater bereits etwas sanfter. Er saß im Erker.
Raen sah, dass er abwesend wirkte und stumm seufzte, als er sich ihm gegenüber auf den Kissen niederließ.
„Zuallererst“, begann sein Vater schließlich, „musst du mir versprechen, dass dieses Gespräch unter uns bleibt! Gib mir dein aufrechtes Wort als Mann und als Hy!“
Raen konnte nicht heraushören, ob sein Vater scherzte. Aber er sah kein Lachen in dessen Augen und schloss daraus, dass es wohl kein Spaß war.
„Ich verspreche es!“, sagte Raen und wartete. Seine Sinne waren durch das belauschte Gespräch alarmiert. Hoffentlich hatte sein Vater nicht vor, auch zu ihm gemein zu sein.
„Raen, weißt du, wer der Setna ist?“
Diese Frage überraschte ihn vollkommen. Natürlich wusste er, wer der Setna war. Das wusste schließlich jedes Kind!
„Der Setna ist unser gesegnetes Oberhaupt, unser Beschützer im Namen Hyauns!“, antwortete er eifrig.
„Das ist richtig, aber ich wollte eigentlich wissen, ob du seinen Namen kennst?“
Raen runzelte die Stirn. „Er heißt Al Setna.“
„Und weiter?“ Es klang ungeduldig.
„Was meinst du, Vater?“
„Na, ob du seinen richtigen Namen kennst?“
„Nein, den kennt doch keiner. Das ist doch geheim! Nur die Eingeweihten wissen es.“ Sein Vater nickte. Er schien zu überlegen.
„Kannst du mir wenigstens sagen, ob es ein Mann oder eine Frau ist?“, fuhr er schließlich mit seinen seltsamen Fragen fort.
„Ein Mann!“, gab Raen die Antwort ohne zu zögern.
„Und wie sieht er aus?“
„Er sieht so aus wie alle Krieger, hat die gleiche schwarze Kleidung an. Außerdem trägt er einen Umhang mit Kapuze, deshalb kann ich mich an sein Gesicht nicht so genau erinnern, nur an eines: Er hat blaue Augen.“
„Das stimmt!“
Raen sah, wie seinem Vater der Schweiß auf die Stirn trat. Ihm wurde unwohl.
„Du erklärst mir jetzt sofort, woher du das weißt und komm mir nicht wieder mit deinen dummen Geschichten über deine Träume!“
Der Ton seines Vaters verletzte Raen. Er schluckte. Tränen wollten ihm in die Augen steigen, doch er hielt sie zurück. Sein Vater wollte also auch zu ihm gemein sein.
„Ich ... ich ..., bitte, warum ...?“ Er wollte am liebsten fort. Wieso war sein Vater so schroff zu ihm? Er hatte doch nichts unrechtes getan. Mit einem unguten Gefühl erinnerte er sich an das vorangegangene Lauschen und spürte, wie er rot wurde. Aber sein Vater schien das nicht zu bemerken. Er starrte auf einen Punkt hinter ihm. Raen sah, dass seine Lippen bebten.
„Ich frage dich noch einmal. Woher weißt du das alles?“
Raen fühlte, wie nun doch die Tränen über seine heißen Wangen rannen und er schämte sich. Schämte sich für seine Angst und für die Ungehaltenheit seines Vaters.
„Das Blutpferd hat mir das alles gezeigt. Es nimmt mich manchmal mit auf seinem Rücken. Ich habe die Krieger in den Fellmänteln und mit den Haaren im Gesicht damals tatsächlich gesehen!“
„Das nennt man Bart, die Haare im Gesicht“, unterbrach ihn sein Vater und fuhr sich mit den Fingern über sein Kinn. Raen nickte eingeschüchtert. Er hatte das, was sein Vater soeben als Bart bezeichnet hatte, noch niemals zuvor gesehen, denn kein Mann in Hy hatte so etwas!
„Und weiter? Das Blutpferd ist also wieder da?“
„Ja. Es hat mir den Prinzen mit den blauen Augen gezeigt und auch, dass ihr alle heil nach Hause kommen werdet, am Tag nach Vollmond.“ Raen sah seinen Vater an, er atmete so schnell, als wäre er gerade mit Hereke um die Wette gelaufen. Seine grünen Augen leuchteten. „Der Setna hat gestrahlt! So, als ob er vor der Sonne stehen würde. Er ...“
„Hast du auch Botschaften von ihm empfangen?“
„Nein, was für Botschaften?“
„Na, hast du seine Stimme gehört?“ Sein Vater tippte sich gegen sein Aun. „Das kann man eigentlich nur damit und ... ach, was rede ich da!“ Er schüttelte den Kopf.
Erst nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Du hast also keine Stimme gehört?“
„Nein.“
„Gut. Das ist schon mal gut. Keine Stimme!“
Raen wusste nicht, was sein Vater damit meinte. Er sah nur dessen angespannte Gesichtszüge.
„Darf ich jetzt gehen?“, fragte er zaghaft.
Sein Vater sah ihn an. In seinen braunen Augen lag ein seltsamer, fast furchtsamer Ausdruck.
„Ja, aber vorher schwörst du mir, dass du in Zukunft deine Träume und das Blutpferd für dich behältst! Du wirst niemanden mehr davon erzählen, nicht einmal deiner Mutter oder deiner Schwester!“
„Der erzähle ich sowieso nichts mehr! Sie schimpft ständig mit mir, ich solle nicht so viel dummes Zeug reden! Immer weiß sie alles besser.“
Roman lehnte sich vor, drückte Raen sanft die Schulter und seufzte. Seine schlechte Laune schien verpufft.
„Raen, deine Träume sind jetzt unser beider Geheimnis, und du weißt, was es heißt ein Geheimnis zu hüten?“
„Ja, das weiß ich!“
„Gut, dann geh jetzt zum Essen. Ich komme nach.“
Raen zögerte.
„Ist noch was?“
„Darf ich Hyaunset Loenka auch nichts mehr erzählen?“
„Nein, dem erst recht nicht!“, fuhr sein Vater ihn an.
Eingeschüchtert zuckte Raen zusammen und verließ schnell den Raum. Die befremdliche Strenge seines Vaters ließ ihn vor der Tür erneut in Tränen ausbrechen. Er dachte an seine Mutter, die noch vor kurzer Zeit eben an derselben Stelle gestanden und geweint hatte. Und für einen Moment stieg wieder das seltsame Gefühl in ihm auf. Es schmeckte bitter, und sein Magen verkrampfte sich.
‚Jetzt hast du schon zwei Menschen weh getan, Vater! Wie konntest du nur?’ Rasch rannte Raen nach unten.
Derweil saß Roman immer noch im Erker und war tief in seine düsteren Gedanken versunken.

12. Kapitel



Mit einem Schrei erwachte Raen. Verwirrt blickte er um sich, stellte aber schließlich fest, dass er in seinem Bett im Kinderzimmer lag. Er setzte sich auf und drückte die Handballen auf seine Augen. Er hatte etwas Schlimmes geträumt, aber er wusste nicht mehr was. Nur die Stimme seines Vaters dröhnte unheilvoll durch seinem Kopf: „Es ist ein Geheimnis, Raen, und niemals darfst du es erzählen, hörst du! Niemals!“
Seit dem Abend, an dem dieses Gespräch mit seinem Vater stattgefunden hatte, hatte Raen sich strikt an sein Versprechen gehalten. Das war ihm zwar nicht weiter schwergefallen, da er seitdem nichts Besonderes mehr geträumt hatte, aber das Vertrauen in seinen Vater war dennoch erschüttert. Raen ging ihm aus dem Weg, wo er nur konnte und suchte stattdessen die Geborgenheit seiner Mutter.
Doch es hatte sich etwas verändert. Der Traum, den er soeben gehabt hatte, war anders als sonst gewesen, das fühlte er. Raen schloss fest die Augen. ‚Nein, ich werde mein Versprechen nicht brechen’, sagte er zu sich selbst. ‚Ich darf meinen Vater nicht enttäuschen!’ Er begann mit dem Oberkörper zu wippen und gab ein gequältes Stöhnen von sich. Neben ihm regte sich Andra, und er hielt inne. Er wollte sie nicht wecken. Bald würde sie in das Zimmer der älteren Mädchen wechseln und ihn hier alleine lassen! Erneut packte ihn die Furcht. Auch wenn sie im in letzter Zeit gehörig auf die Nerven ging, hatte er sie doch lieb. Mit einem Mal fühlte er sich sehr einsam. Niemandem würde er sich mehr anvertrauen können. Und mit seinem Vater wollte er nicht sprechen. Er hatte Angst, ihn wieder zu verärgern und erneut dieses gallige Ziehen im Bauch fühlen zu müssen, von dem er nicht wusste, was es war. Raen rollte sich ein, umschlang mit seinen Armen beide Beine und wünschte sich seine Mutter herbei. Mit ihrer sanften Stimme würde sie ihn trösten, während sie ihm über das Haar strich. Bei diesem Gedanken schlief er langsam wieder ein.

Die weißen Pferde und das Blutpferd standen grasend zwischen den Bäumen im Wald. Alles wirkte sehr ruhig und friedlich, doch in der Luft lag ein kaum wahrnehmbarer Hauch von Bedrohung - ein vages Gefühl, nichts Greifbares. Der Farn und die Büsche bewegten sich, aber es war nur der Wind. Ab und an hob eines der Pferde den Kopf und ließ seine Ohren kreisen. Beruhigt senkte es dann wieder seinen Hals und graste weiter. In der Mitte der Herde stand eine Stute. Sie hatte eine wunderschöne, lange Mähne und glänzend schwarze Augen. Doch die Sicherheit ihrer wachsamen Herde konnte sie nicht vor dem bewahren, was jener unsichtbare Schatten barg, der drohend über ihr schwebte und langsam begann, sich herabzusenken. Der Wind strich wieder über den Farn und ließ hoch oben das Blätterdach rauschen.

Als Raen erwachte, war es hell, und um ihn herum tummelten sich die anderen Kinder. Er drehte sich und sah Andra, die ihn geweckt haben musste, denn sie zog ihre Hand zurück und sah ihn an.
„Guten Morgen, Raen. Aufgewacht, du Schlafmütze“, sagte sie liebevoll.
„Was?“, nuschelte er benommen. Der Nachhall des Traumes hielt ihn noch in der nebelhaften Welt zwischen Schlaf und Wachsein gefangen.
Seine Schwester sprang auf, sie war bereits angezogen. „Komm, gleich gibt es Essen!“, rief sie und lief zur Tür hinaus. Die anderen Kinder folgten ihr. Raen blieb allein zurück. Sein Blick klärte sich, und er rieb sich den Schlaf aus den Augen. Nur quälend langsam verschwand das beklemmende Gefühl des Traumes, das wie ein unsichtbares Gewicht auf seiner Brust lastete. Träge erhob er sich und zog sich an. Als er die Bänder seiner Kniebundhose zuknotete, fasste Raen einen Entschluss. Da er Hyaunset Loenka und auch keinem anderen mehr etwas erzählen durfte, würde er ab sofort allein in den Tempel gehen und mit dem einzigen sprechen, der jetzt noch zur Verfügung stand. Auf ihn setzte er all seine Hoffnung: Hyaun! Das hatte ihm sein Vater schließlich nicht verboten, und was konnte ein Gott schon dagegen haben, wenn man ihm im Stillen ein Geheimnis zuflüsterte. Wusste Hyaun nicht ohnehin schon alles? Außerdem wollte Raen ja auch keine Antwort haben. Er brauchte nur jemanden, der ihm zuhörte. Und hatte dafür der Gott nicht zwei große und geduldige Ohren aus Stein?
Nach dem Morgenmahl ging er in das Waschhaus, wusch sich und kämmte seine Haare, die er dann zu einem Zopf zusammenband. Anschließend ging er nicht zu den anderen Kindern, die draußen vor dem Chorten im Schnee spielten, sondern begab sich in den Tempel. Vorsichtig schlüpfte er durch die Eingangstür und spähte in das Zwielicht des großen Altarraumes. Sofort hatte er den Duft des Melams in der Nase. Langsam ging er weiter. Heute war er nicht mit Loenka verabredet und konnte ganz alleine sein, und wie er es vermutet hatte, war auch niemand zu sehen. Er schlich durch das rechte Schiff nach vorn zum Altar, wo er hinter der letzten Säule versteckt stehen blieb und lauschte. Nur aus dem Oberen Heiligtum drangen dumpfes Gemurmel und Zimbelschläge zu ihm herunter. Die Priester hielten ihre spätmorgendliche Gebetssitzung ab, und diese konnte mindestens zwei Usui-Stunden dauern. Er hatte also genug Zeit. Raen sah zu der Statue auf. Hyaun der Erhabene blickte ruhig und wissend in die Leere des mittleren Schiffes. Der Junge begutachtete das ihm zugewandte linke Ohr des Gottes, das er in seinen bescheidenen Anspruch zu nehmen gedachte. Er löste sich von der Säule und ging seitlich die zwei Stufen des Podestes zum Sockel der Statue hinauf. Dort kniete er sich auf den Holzfußboden und legte die Hände an die Stirn. Flüsternd bat er den mächtigen Gott um Verzeihung, dass er als kleines Menschenwesen Ihn mit seiner Bitte stören würde. Mit einem Auge schielte er hinauf in das regungslose Gesicht Hyauns, meinte darin eine Art Zustimmung entdecken zu können und begann dann zu erzählen. Leise murmelte er vor sich hin.
Dass er dabei beobachtet wurde, bemerkte er nicht.
Hyaunset Loenka stand in einer der kleinen Seitentüren und sah zu dem knienden Jungen hinüber. Er war darüber nicht sonderlich verwundert, denn Raen wirkte schon seit mehreren Wochen verschlossen und gehemmt. Loenka vermutete auch einen bestimmten Grund dahinter, doch den herauszufinden, brauchte viel Geduld. Leider schien es vorerst so, als ob Raen lieber mit Hyaun darüber sprechen wollte als mit ihm. Er zog sich zurück, schloss leise die Tür und überließ den außergewöhnlichen Jungen wieder der ungestörten Zweisamkeit mit seinem Gott, mit dem er gerade eine stille Vereinbarung zu treffen schein.

Raen fühlte sich gut, seitdem er mit Hyaun gesprochen hatte, doch der schlechte Traum kam trotzdem immer wieder. Jeden Abend schlief er tapfer ein und schüttelte die schleichende Angst morgens zusammen mit der bleiernen Müdigkeit von sich ab. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch recht bald stand ihm seine Erschöpfung ins Gesicht geschrieben und oft schlief er tagsüber einfach ein. Loenkas Ahnungen verdichteten sich, und er beschloss, den Jungen bei der nächsten Sitzung auf sein Verhalten anzusprechen. Ein anderes Ereignis jedoch vereitelte seine Pläne.
Denn am nächsten Tag setzten bei Raens Mutter die Wehen ein, und alles geriet durcheinander. Große Aufregung machte sich breit, als bei Alea, die gerade in ihrer Werkstatt saß, die Schmerzen einsetzten. Rasch wurde sie ins Geburtszimmer gebracht, und wieder schloss sich die Tür sich vor Romans Nase. Wieder blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten. Raen und Andra saßen neben ihm auf der Bank und löcherten ihn mit neugierigen Fragen, die er dankbar für die Ablenkung gerne beantwortete.
Draußen wurde es allmählich dunkel und noch immer rührte sich nichts in dem Geburtszimmer. Roman begann sich Sorgen zu machen. Er stand auf und ging zu der Tür. Beinahe hätte er geklopft, besann sich dann aber doch eines Besseren. Wenn es Probleme gab, dann würde einer der Medizi ihm das schon mitteilen. Er spürte, seinen Magen knurren, schickte schließlich aber nur seine Kinder zum Essen. Er selbst blieb vor der Tür.
Nach einer Ka-Stunde öffnete sie sich, und eine Medizi kam heraus. Roman erhob sich und sah sie fragend an.
„Es gibt Probleme. Die Wehen haben keine Wirkung, das Kind kommt nicht heraus“, erklärte die Medizi mit ernster Miene.
„Liegt das Kind falsch?“ Roman fühlte seine Sorge heiß in seine Glieder schießen.
„Nein, es ist etwas anderes.“
„Aber was kann man da machen?“
„Keine Angst, wir geben ihr einen Sud aus speziellen Kräutern. Der wird das Kind schon hinaus bringen. Es kann über die ganze Nacht dauern, bis die Wirkung einsetzt. Am besten, du gehst ins Bett. Wir rufen dich, wenn es soweit ist.“
„Kann ich sie sehen?“
„Nein, tut mir leid, das geht nicht. Keine Krieger im Geburtszimmer!“, entgegnete die Medizi streng und ging zur Treppe.
„Dann bleibe ich wenigstens hier vor der Tür.“
Die Medizi nickte ihm zu und verschwand auf der Treppe nach unten.
Ratlos blieb der werdende Vater zurück. Er musste gähnen und es wurde ihm bewusst, wie spät war. Er sollte schleunigst seine Kinder ins Bett schicken, oder zumindest jemanden damit beauftragen. Steifbeinig verließ er seinen Platz vor der Tür und ging hinüber in den Wohnturm. Dort lagen Raen und Andra bereits in ihren Betten und schliefen. Shani, die Kinderfrau, hatte sich in weiser Voraussicht um sie gekümmert. Die gute Seele! Roman ging kurz zu ihr und dankte ihr. Dann lief er schnell, ohne etwas zu essen wieder hinüber ins Waschhaus und setzte sich auf seinen Platz vor dem Geburtszimmer, in dem es sehr, sehr still war. Nach einer Weile schlief er dort ein.

Die weißen Pferde wurden unruhig, unter ihnen das Blutpferd. Sie hoben ihre Köpfe und schnaubten. Der Wind flaute ab, die Blätter und der Farn erstarrten. Und als hätte der Wind ihn vorher davon abgehalten, stürzte der bedrohliche Schatten jetzt auf die Pferde hinab! Die schöne Stute knickte plötzlich ein und rollte auf die Seite, gepeinigt von Krämpfen zuckten sie mit ihren Beinen. Wild rollten ihre Augen in den Höhlen, und ihre Nüstern waren weit gebläht. Zwischen ihren Hinterbeinen regte sich etwas, und mit einem Mal waren dort zwei Vorderläufe und der Kopf eines Fohlens zu erkennen. Die Stute presste angestrengt, doch das Fohlen verharrte auf halbem Wege. Um Atem zu schöpfen legte die Stute ihren Kopf ab, wieder durchzuckten Krämpfe ihren aufgeblähten Leib , und sie wieherte gequält. Aber dann war das Fohlen endlich frei. Nach einiger Zeit versuchte es aufzustehen, was ihm mit wackeligen Beinen auch gelang. Torkelnd stakste es durch das blutige Gras. Erschöpft mühte sich die Stute ab, ebenfalls auf die Beine zu kommen, aber sie gaben immer wieder nach. Panisch wieherte sie immerzu. Plötzlich brach ein Schwall Blut aus ihren Leib und ergoss sich ins grüne Gras. Ein schriller Schrei durchdrang den Wald, dann erstarb ihr Wiehern mit einem letzten Zucken, und der Kopf der Stute fiel auf die Erde. In ihren Augen erlosch der Glanz, nur das Blutpferd spiegelte sich kalt in ihnen wider. Die Stute war tot!

Diesmal blieb Raen der Schrei in der Kehle stecken. Schweißgebadet saß er im Bett. Als er wieder klar denken konnte, kroch er unter der Decke hervor, zog sich seine Jacke über und schlüpfte in seine Schuhe. Leise verließ er das Zimmer und nachdem er kurz an der Tür seiner Eltern gehorcht hatte, stieg er die Treppen herunter. Alles war ruhig, aber als Raen unten in der Halle ankam, spürte er sein Unbehagen wachsen. Die Bilder seines Alptraumes ließen ihn noch immer nicht los. Zitternd ging er weiter hinaus auf den kalten, verschneiten Hof. Eigentlich hatte er in den Tempel gehen wollen, doch plötzlich sah er zwei Medizi aufgebracht zum Waschhaus laufen. Ein gellender Schrei ertönte in der Dunkelheit, und mit Gewalt brach sich der unheilvolle Traum seinen Weg ins Freie. Schlagartig wurde Raen klar, was er zu bedeuten hatte!
„Mutter!“, rief er alarmiert und stürmte so schnell er konnte die Treppen im Waschhaus hinauf. Als er vor dem Geburtszimmer ankam, stand die Tür halboffen. Licht fiel auf den dunklen Gang. Einen Schritt später stand Raen in dem Spalt und betrachtete wie in Trance die Szene, die sich vor ihm abspielte. Er sah seinen Vater, der mit dem Rücken zu ihm kniete und die Hand seiner Mutter hielt. Ihr Gesicht war kreidebleich, ihre Augen und ihr Mund vor Schmerzen weit aufgerissen. Sie atmete stoßweise. Erst jetzt bemerkte Raen das viele Blut zwischen ihren Beinen und die hektisch hantierenden Medizi. Aus der hinteren Ecke des Raumes hörte er die dünnen Schreie eines Neugeborenen, doch er konnte seinen Blick nicht von seiner Mutter losreißen. Das Blut war überall auf den Laken, auf der Kleidung der Medizi, auf dem Boden und sogar auf seinem Vater! Alles war rot - genau wie in seinem Alptraum!
Mit einem Mal gefror die Hektik, die den Raum eben noch aufgewühlt hatte, und alle konzentrierten ihre Blicke auf Alea. Sie hatte aufgehört zu atmen. Ihr Kopf war auf die Seite gesackt, Mund und Augen immer noch geöffnet. Raens Vater warf seine Hände vor das Gesicht und ließ sich mit seinem Oberkörper nach vorn auf das Bett fallen.
„Ido - Nein!“, sagte er mit gebrochener Stimme immer wieder laut vor sich hin. „Alea, ido!“
Die Medizi wandten sich mit hängenden Schultern ab, Raen konnte sehen, wie auch ihre Mundwinkel zitterten. Einer von ihnen ging in die Ecke mit dem Säuglingsgeschrei, und nun war Raen in der Lage, ihm mit seinen Augen bis dorthin zu folgen. Eine jüngere Medizi saß auf einem Hocker und hatte ein Bündel auf dem Arm, aus dem zwei fordernde Arme herausgereckt waren. Der alte Medizi untersuchte das Kind und ging wieder zurück zu Roman, der inzwischen heftig schluchzte. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: „Deinem Sohn geht es gut, er ist gesund!“
„Danke“, hörte Raen seinen Vater tränenerstickt antworten. Sein Kopf lag auf der Brust seiner toten Mutter und seine Arme hielten ihren Kopf umschlungen.
„Was machst du denn hier!“
Die überraschte Stimme holte Raen wieder zurück zu Bewusstsein. Er blickte auf. Schattenhaft gegen das Licht stand einer der Medizi vor ihm und versperrte ihm die Sicht.
„Mutter?“, rief Raen angstvoll.
Der Medizi drängte ihn aus dem Raum und schloss die Tür. Raen starrte auf den Heilkundigen, der ihn an den Schultern rüttelte.
„Du meine Güte, Junge! Was, um alles in der Welt, machst du hier?“
Raen reagierte nicht auf die Worte des Medizi.
„Mutter!“, rief er erneut. Wieder wurde er geschüttelt.
Dann konzentrierte sich sein Blick endlich auf das Gesicht des Medizi. Raen erkannte ihn, es war der alte, der seinem Vater mitgeteilt hatte, dass das Kind gesund war.
„Das alles ... das alles ist meine Schuld. Ich bin schuld“, stammelte er, und ihm wurde schwarz vor Augen.
Der alte Medizi fing den unterkühlten und unter Schock stehenden Jungen auf und trug ihn hinüber in den Wohnturm in das Zimmer seiner Eltern. Dort bettete er ihn in den Alkoven seiner Mutter, der fortan leer bleiben würde, und deckte ihn warm zu. Er wartete, bis Raen wieder normal atmete und ruhig schlief.
Aber der nächtliche Frieden des Chorten war längst gestört, als der alte Medizi das Zimmer verließ. Sorgenvolle Gesichter schauten fragend zu ihren Türen hinaus. Niemand konnte in dieser Nacht mehr richtig schlafen.

Aber auch der nächste Morgen brachte keine Erleichterung. Das helle Licht des Tages verdeutlichte nur umso brutaler die Tatsache, dass Alea nicht mehr am Leben war. Mittlerweile war ihr Leichnam in den Tempel gebracht worden, wo er rituell gereinigt worden war. Roman hatte sie begleitet und sich dann in das Obere Heiligtum zurückgezogen. Dort war er vollkommen zusammengebrochen. Richol und Loenka hatten ihm mit dem gebührenden Feingefühl, das ein Trauernder brauchte, zur Seite gestanden. Im Laufe des Morgens hatte Roman in einem der kleinen Nebenräume schließlich ein wenig Schlaf gefunden, nachdem Loenka ihm etwas Veda zur Beruhigung gegeben hatte. Tief ins Gebet versunken wachte der Priester über seinen Schlaf.

Raen lag mit hohem Fieber im Bett seiner Mutter. Er phantasierte. Die erschütternden Geschehnisse der vergangen Nacht waren für seinen schmalen, kleinen Körper einfach zu viel gewesen. Der alte Medizi saß neben ihm am Bett und wechselte in regelmäßigen Abständen die kalten Umschläge um seine Waden.
„Ich bin schuld“, hörte er den Jungen immer wieder flüstern. Voller Mitleid strich er ihm über die heiße Stirn. Armer Junge, dachte er, jetzt war er ohne Mutter. Etwas in seinem Gewissen rührte sich für einen Moment. Sie hatten doch alles getan, was in ihrer Macht gestanden hatte, oder etwa nicht? Die Wehen hatten keine Wirkung gezeigt, das Kind hatte sich im Mutterleib nicht gerührt. Erst nachdem Alea den Arzneitee zu sich genommen hatte, hatte es dann doch endlich damit begonnen, sich den Weg auf diese Welt zu bahnen, war aber unvermittelt mittendrin verharrt. Die erschöpfte Mutter hatte vor Schmerzen geschrien und sich hin- und hergeworfen. Mit hochrotem Kopf hatte sie immer wieder mit aller Kraft versucht das Kind, von dem bisher nur der Scheitel zu sehen gewesen war, herauszupressen. Aber es hatte sich scheinbar erneut dazu entschlossen, sich nicht weiter zu bewegen! Sie hatten Alea beruhigen wollen. Verzweifelt hatte sie nach Luft gerungen und einen weiteren Versuch gestartet. Und mit einem Mal war das Kind unter dem schrillen Aufschrei der Mutter herausgeglitten und mit ihm ein Schwall von Blut. Schnell hatten sie versucht diese innere Blutung zu stoppen, doch es hatte ihnen nicht gelingen wollen. Nichts hatte geholfen, und Alea war vor ihrer aller Augen verblutet! Der Medizi seufzte. Er fragte nicht weiter nach dem Warum, das lag nicht in der Natur eines Hy. Es war Zaizura, sie allein hatte es so gewollt.

Die einzige, die von dem Unheil noch nichts mitbekommen hatte, war Raens Schwester. Man wollte es ihr später sagen, wenn die roten Fahnen gehisst werden würden. Bis dahin kümmerte sich Shani um sie. Doch die seltsame Stimmung dieses Morgens entging dem Mädchen nicht. Sie fragte, wo Raen, ihr Vater und ihre Mutter seien. Doch Andra bekam nur ausweichende Antworten. Einzig die Frage, ob denn das Kind schon da war, wurde ihr beantwortet.
„Ja, es ist da. Andra, du und Raen, ihr habt ein kleines Brüderchen!“
„Oh, ja! Wie heißt er denn?“, fragte sie freudig, doch allein Schulterzucken war die Antwort von Shani.
Grübelnd saß Andra mit den anderen Kindern beim Morgenmahl in der großen Küche. Die Kinder waren lebhaft und fröhlich wie immer, und Shani hatte alle Hände voll zu tun, die Rasselbande im Zaum zu halten. Doch Andra entgingen die mitleidigen Blicke der Erwachsenen um sie herum nicht, und auch Kinderfrau schien sie zwischen dem Aufwischen von Verschüttetem und dem sanften Tadel hier und da genau zu beobachten.
Nach dem Essen - draußen wurde gerade die Beflaggung gewechselt - schickte Shani die Kinder in ihre Zimmer zum Aufräumen. Murrend gehorchten sie. Als Andra den anderen ins Kinderzimmer folgen wollte, öffnete sich hinter ihr eine Tür. Sie drehte sich um und sah den alten Medizi aus dem Zimmer ihrer Eltern auf den Gang treten. Ohne sie zu bemerken, ging er gleich die Treppen hinunter. Unschlüssig stand Andra da. Es war also jemand krank, dachte sie. War es ihre Mutter oder ihr Vater? Oder Raen? Er war ja nicht beim Morgenmahl gewesen. Sie wog ihre brennende Neugier gegen die Schwere der Strafe ab, die sie erhalten würde, wenn sie unerlaubt das Zimmer ihrer Eltern betreten würde, und entschied sich für die Neugier. Vorsichtig schlich sie vom Kinderzimmer zu der Tür ihrer Eltern und blickte sich wachsam um. Ihr Herz klopfte heftig vor Aufregung. Ihre Neugier war äußerst ungehörig. Doch sie wollte das Geheimnis, das scheinbar alle nur nicht sie kannten, unbedingt enträtseln! Sie horchte an der Tür. Nichts war zu hören. Ohne zu klopfen öffnete sie. Es blieb weiter still. Andra schob den Vorhang hinter der Tür vorsichtig zur Seite und spähte in den Raum. Der eine Alkoven war geschlossen, der ihrer Mutter aber war geöffnet. Darin lag jemand. Sie sah lange, zerzauste Haare. Ihr Vater konnte es somit jedenfalls schon mal nicht sein! Sie schlich näher heran. Das Gesicht der schlafenden Person war von ihr abgewandt, aber sie wusste noch im gleichen Moment, dass es Raen war, der da unter dicken Decken lag. Sie trat ans Bett. Ihr Bruder schien krank zu sein. Er stöhnte leise und drehte ihr das Gesicht zu, seine Augenlider flackerten, öffneten sich aber nicht. Sie berührte seine schweißglänzende Wange. Ihr Bruder glühte! Aber warum lag er hier und nicht im Krankenzimmer, und warum hatte man ihr nicht gesagt, dass er krank war? Während ihr noch die Fragen durch den Kopf schwirrten, öffnete Raen die Augen und sah in ihre Richtung. Überrascht wich sie etwas zurück. Doch er schien sie gar nicht wahrzunehmen. Sein Blick war glasig und seine Lippen bewegten sich. Er flüsterte etwas. Als sie sich über ihn beugte, um ihn besser verstehen zu können, schrie ihr Bruder plötzlich auf.
„Ich bin schuld! Mutter! Nein!“ Seine Stimme war schrill und ging in ein Wimmern über. Sein ganzer Körper wand sich, seine Arme hatte er empor gerissen. Mit seinen zu Fäusten geballten Händen schlug er sich selbst hart an den Kopf. Immer wieder. Andra war bis ins Mark erschrocken. Raens unheimliche Augen starrten sie an! Sie waren unnatürlich schwarz, so als bestünden sie nur aus Pupillen! Und dann die Schläge, die er sich mechanisch zu fügte. Sie wich vom Bett fort und rannte aus dem Raum. Als sie in das Kinderzimmer gelaufen kam, blickten die anderen sie an. Sie hatten den Schrei ihres Bruders gehört. Andra fühlte sich wegen ihrer Neugier ertappt. Sie machte auf ihren Hacken kehrt und rannte los. Doch sie kam nur zwei Schritte weit. Schmerzhaft prallte mit jemanden zusammen. Und als sie aufsah, nahm ihr Schrecken eine noch viel größere Dimension an. Vor ihr stand ihr Vater. Eigentlich hätte sie erleichtert sein sollen, da er endlich zu ihr gekommen war, aber sein Aussehen ließ sie an Ort und Stelle regungslos erstarren. Seine Kleidung war wie gewohnt, sein Gesicht jedoch wirkte völlig fremd. Es war aschgrau und schien uralt, und auf seinen mühsam die Fassung wahrenden Zügen lag ein Ausdruck von so überwältigender Traurigkeit, dass es Andra einen Stich versetzte. Seine geröteten Augen waren wie zwei verwundete Tiere, die sich in ihren dunklen Höhlen zu verkriechen versuchten. Steif hob er ihr eine Hand entgegen. Aber Andra verstörte es, ihren Vater in einem derartigen Zustand zu sehen, und konnte sich nicht rühren. Zu viel Angst hatte sie vor dem, was ihn so verletzt hatte. Abweisend schüttelte sie den Kopf. Sie wollte das grauenhafte Etwas, das nur darauf lauerte aus seinem Mund zu springen, um auch sie anzufallen nicht hören!
Ihr Vater tat einen Schritt auf sie zu, aber Andra wich zurück. Sie begann zu weinen, schüttelte immer heftiger ihren Kopf. Die anderen Kinder, die bis eben noch neugierig geschaut hatten, verließen angesichts dieses beängstigenden Schauspiels geschwind das Zimmer. Hilfesuchend sah sie ihnen nach. Sie spürte, wie sie mit ihrem Rücken gegen die Wand stieß. Sie saß in der Falle. Das Grauen streckte seine Finger nach ihr aus.
Plötzlich ließ sich ihr Vater vor ihr auf die Knie fallen.
„Ich bitte dich, Hyaun, gib mir Kraft!“, betete er laut. Dann schlug er die Hände vors Gesicht und verharrte in dieser Haltung. Sein leises Schluchzen riss Andra aus ihrer Hysterie, und sie hielt mit ihrem Kopfschütteln inne. Sie betrachtete ihren Vater und ihre Angst wich mit einem Mal dem Mitleid. Langsam ging sie auf ihn zu, kniete sich neben ihn hin, lehnte sich an ihn und umarmte seinen Rücken. Sie konnte sein Herz in seinem breiten Brustkorb klopfen hören, sein Atem ging ruhig. Nach einiger Zeit hob er seinen Oberkörper und nahm sie auf den Schoß. Andra schmiegte sich an ihn und wartete auf das, was er gleich erzählen würde.
Roman drückte das Mädchen und holte tief Luft. „Deine Mutter ist tot“, sagte er gerade heraus. „Sie wird zu den Ahnen der Winde gehen.“ Dann schwieg er.
Andra spürte die Tränen ihres Vaters auf ihre Haare fallen. Leise weinte auch sie und hielt dabei seinen Arm fest umklammert.
„Mein kleines Mädchen, weine nur, weine nur,“ hörte sie ihn sagen. Seine tiefe Stimme klang tröstlich in ihrem Ohr.

Im Shari-Chorten herrschte beklemmende Stille. Jeder wusste, wie stark das Band der Liebe zwischen Roman und Alea gewesen war, das nun jäh zerrissen worden war. So überraschend, überwältigend und niederschmetternd - für alle eine Mahnung an die Verletzlichkeit des Glückes. Ein furchteinflößender Fingerzeig des Schicksals, angesichts dessen sich ein jedes Menschenwesen in seiner kleinen Hilflosigkeit demütig zu beugen hatte. Zaizura hatte ihre Macht demonstriert!
Im Hauptraum des Tempels wurde Aleas Leichnam vor dem Altar aufgebahrt. Man hatte ihren Körper in ein rotes Tuch eingewickelt, aus dem nur ihr Kopf und die Hände herausschauten. Ihr Haar war ordentlich geflochten, das Gesicht wirkte friedlich, und im dämmrigen Licht der Öllampen ergab sich der Eindruck, als könnte sie jeden Moment wieder die Augen aufschlagen. Drei Tage, je einen für jede der heiligen Säulen, verweilte sie unter dem wachenden Blicke Hyauns, umgeben von den blauen Rauchfahnen des Melams, die ihren Körper sanft umschmeichelten.
Roman saß viele Stunden neben ihr, einfach so, die Gedanken mal zäh und mal in schwindelerregender Raserei. Oft berührte er die Wange seiner Frau, und immer war es wie ein entsetzliches Erwachen, die Kälte ihrer leblosen Haut zu spüren. Ein paar Mal hatte auch seine Tochter ihn zur Totenwache begleitet. Sie war sehr gefasst und hielt sich tapfer. Raen dagegen lag immer noch im Bett, obwohl sein Fieber bereits etwas nachgelassen hatte. Er war jetzt ansprechbar, und Roman hatte bei ihm gesessen und versucht mit ihm zu reden. Doch Raen hatte weiterhin abwesend gewirkt und kaum Reaktionen auf seines Zuwendungen gezeigt. Trotzdem hatte er Raen erzählt, dass er beschlossen hatte, seinem kleinen Bruder den Namen Resa zu geben, was übersetzt „Herzglück“ hieß. Frisch Verliebte gaben sich oft diesen Kosenamen.
Roman erhob sich und verließ tief in Gedanken den Tempel. Der kleine Resa hatte ein schweres Los gezogen. Von allen Anfängen des Lebens hatte er den denkbar schlechtesten zugeteilt bekommen! Nicht, dass Roman je daran gedacht hätte, dem kleinen, schreienden Knaben die Schuld am Tod seiner Mutter zu geben. Dennoch war seine Geburt untrennbar an ihren Tod geknüpft und würde ihn immer an den unüberwindbaren Verlust erinnern, der seine kleine Familie so tief getroffen hatte.
Roman erreichte den Wohnturm und stieg zwei Treppen hinauf. Nach einem Klopfen betrat er den Raum, in dem die Kinderfrau sich um die Kleinkinder kümmerte. Er grüßte Shani und ihren Lehrling Lasha und warf einen Blick auf Resa. Der winzige Säugling lag gut eingewickelt in ein Deckchen in seinem korbartigen Bett und wartete zornig brüllend auf die Ankunft der Amme, die von einem Hof östlich des Chorten angereist kam. Shani und Lasha waren redlich bemüht, dem Kleinen einen Schlauch mit lauwarmer Milch zu geben, den er jedoch immer wieder ablehnte und noch wütender schrie. Umso erleichterter waren sie alle, als sich die Tür öffnete und eine junge Frau in Begleitung ihres Ehemannes den Raum betrat. Schüchtern begrüßte sie Roman und die beiden sichtlich strapazierten Kinderfrauen nach Vorschrift der Etikette. Sie stellte sich als Hraunanparta Hariu vor, eine Bäuerin. Shani begann den kleinen Resa aus der Decke zu wickeln. Hariu setzte sich derweil auf ein Kissen am Fenster. Ihr Blick wanderte nach draußen, und Roman fing ein kurzes Aufflackern von Traurigkeit in ihren Augen auf. Shani brachte ihr das Kind und legte Resa, der immer noch wie am Spieß schrie, behutsam in ihre Arme. Ein Lächeln huschte über das Gesicht der jungen Frau, und sie strich zärtlich über die hochrote Stirn und den weichen Haarflaum auf dem Kopf des Säuglings.
„Er muss großen Hunger haben“, sagte sie und blickte Shani an.
„Er kam vor zwei Nächten zur Welt und hat seit dem alle Nahrung verweigert!“, entgegnete die Kinderfrau und vermied es Roman anzusehen.
„Na, dann will ich mal sehen, ob ich ihn ruhig bekomme.“ Hariu öffnete ihren Dari und ihr Untergewand und legte Resa an ihre weiße, prallgefüllte Brust. Der hörte sofort auf mit dem Gebrüll und nahm die Milch an, die diese junge Frau nicht mehr an ihr eigenes Kind geben konnte, da es wenige Wochen nach der Geburt gestorben war. Es war ihr erstes gewesen, und man konnte sehen, dass der Schmerz noch tief saß. Doch ihre Züge erhellten sich zunehmend mit jedem zufriedenen Schmatzen, den Resa von sich gab. Auch ihr Mann, der neben ihr am Fenster stand, sah lächelnd auf das Kind hinab.
So war das Schicksal, dachte Roman, es nahm dem einen und gab dem anderen, fügte zusammen und riss auseinander! Er seufzte verhalten.
Dennoch konnte er glücklich sein, dass Resa seine Leihmutter angenommen hatte, und diese scheinbar auch damit zufrieden war. Er sprach dem Bauernehepaar, dem Zaizura ein ähnlich schweres Leid zugefügt hatte wie ihm, seinen Dank dafür aus, dass sie bereit waren, sein Kind bei sich aufzunehmen und es aufzuziehen, bis es entwöhnt sein würde. „Es ist uns eine Ehre, Banskeid Roman“, entgegnete Mann, und Roman konnte gleichfalls Dankbarkeit in den Augen der Frau lesen. Sie hatte ihre Jacke wieder geschlossen und hob den Jungen an ihre Schulter. Shani legte ihm ein Tuch unter und alle beobachteten, wie Hariu ihm sanft auf den Rücken klopfte und ihn zum Bäuerchen bewegte. Sie wischte den kleinen Mund ab und gab Roman das Kind. Der verspürte gemischte Gefühle bei diesem Abschied. Einerseits war es sein Kind, Aleas Kind, aber andererseits war er auch froh, dass Resa bei dem jungen Bauernpaar gut aufgehoben war. Er selbst hätte sich nicht um ihn kümmern können. Ein Säugling und ein Krieger, das war undenkbar. Außerdem würden ihn seine zwei älteren Kinder schon genug in Anspruch nehmen. Er nahm sich vor, Resa auf dem Hof zu besuchen, so oft es ihm möglich war. Er gab seinem Sohn, der so winzig und zerbrechlich wirkte, einen Kuss auf die Stirn und gab es Hariu, die überglücklich strahlte.
„Danke, Banskeid Roman, wir werden für dich beten. Hyaun möge dich beschützen.“
Roman neigte leicht sein Haupt, und dann verließ das Kind, das sein Leben mit einem Schlag für immer verändert hatte, auf den Armen seiner Leihmutter den Chorten und bekam sein neues Zuhause inmitten der noch schneebedeckten Felder des Chor.

Am darauf folgenden Tag wurde alles für die Verbrennung des Leichnams vorbereitet. Die wahre Stunde des Abschieds von seiner Frau rückte für Roman immer näher. Es war etwas ganz anderes, ihre körperliche Hülle, die so reizend und vertraut gewesen war, für immer zu zerstören, statt sie im Tempel einfach wie ruhig schlafend daliegend zu sehen! Aber ihre Seele war noch nicht befreit von eben dieser Hülle, an der er so hing. Die unsterbliche Seele, die in den Händen eines Menschen wohnte, musste durch Feuer vom Körper getrennt werden. Erst dann konnte sie zu all den anderen freien Seelen in die Winde aufsteigen.
Mittags ging Roman in die Schneiderwerkstatt, um seine Jacke abzuholen. Er wurde freundlich begrüßt. Es tat ihm weh, den ehemaligen Arbeitsplatz seiner Frau zu sehen - ohne sie. Wie alle anderen Räume, in denen Alea gewesen und ihren sympathischen Geist versprüht hatte, wirkte auch dieser jetzt leer und verlassen. Aleas beste Freundin kam auf ihn zu, auch sie trug einen roten Schal um den Hals zum Gedenken an ihren Sohn Hroenka, sie hielt Romans Jacke in der Hand, die sie für ihn umgearbeitet hatte. Schweigend nahm Roman den Dari und zog ihn gleich an. Er hatte jetzt gemäß der Tradition rote Schöße und Ärmel unterhalb der Ellenbogen. Das Rot leuchtete unheilvoll im Kontrast zu dem Schwarz der restlichen Kleidung, aber Roman nickte zufrieden. Er wollte dieses Rot so lange tragen, wie seine Trauer dauern würde, und sei es bis zum Ende seines Lebens! Er ließ seinen zweiten Dari da und dankte der Schneiderin. Dann verließ er die Werkstatt, was ihn erneut bitterlich daran erinnerte, wie oft er schon hier ein- und ausgegangen war. Kaum war er draußen, übermannte ihn der herzzerreißende Kummer. Er schluchzte einmal heftig auf, hob aber sofort eine Hand vor seinen Mund. Er brauchte einen Augenblick, bevor er in der Lage war, über den Hof zum Wohnturm zu gehen - eher einem Tröpfchen Elend gleich als einem selbstbewusst ausschreitenden Manne. Drei vorbeikommende Krieger grüßten ihn, und er erwiderte ihren Gruß matt. Sie waren auf dem Weg zu einem der Wachttürme im Wald und schwer mit Vorräten bepackt. Eigentlich hätte er jetzt auch dort Dienst gehabt, aber die Schwere des Todesfalls entband ihn von all seinen Pflichten. Man gestand ihm so viel Zeit für die Pflege seiner geistigen Verfassung zu, wie er benötigen würde. So lange sprangen andere für ihn ein. Mit einem beruhigenden Gefühl dachte er an die Gemeinschaft, die ihn umgab, ihre heilende und tröstliche Geborgenheit und all die Unterstützung, die ihm und seinen Kindern so selbstlos und großherzig entgegen gebracht wurde. Im Stillen dankte er Hyaun dafür, ein Teil dieser wundervollen Gemeinschaft sein zu dürfen.

Bei der Trauerfeier war die ganze Gemeinschaft im Tempel versammelt und sprach Roman ihr aufrichtiges Beileid aus. Es war später Nachmittag, die Sonne war hinter stahlgrauen Wolken verborgen, und nur ein trübes Dämmerlicht drang bis hinunter auf die nasse Erde. Es hatte begonnen zu tauen - früh in diesem Jahr -, und überall lag schmutziger Schneematsch, durch den immer noch Leute zum Tempel patschten. Endlose Tropfkaskaden fielen von den Dächern, kalt und feucht wie die Beileidsbekundungen.
Als sich die letzten Trauergäste im Tempel eingefunden hatten, schlossen sich die Türen, um die nasse Kälte auszusperren. Roman saß mit Andra und Raen, der zwar blass, aber wieder einigermaßen auf den Beinen war, in der ersten Reihe vor dem Altar. Neben ihm hatten Aleas Eltern und ihre Schwester Platz genommen, die noch rechtzeitig von Rinpal angereist waren. Roman erinnerte sich mit schlechtem Gewissen an das Gespräch mit Alea und ihre flehende Bitte, eine Reise dorthin unternehmen zu dürfe. Sie hatte es sich so sehr gewünscht, er aber war übermäßig hart zu ihr gewesen! Sein Herz zog sich zusammen. Er blickte auf Aleas Leichnam, der zwei Stufen höher direkt vor ihnen lag. Ihr Gesicht war jetzt mit einem roten Tuch verdeckt, nur ihre Hände waren noch frei.
Die Trauerzeremonie dauerte nicht lange, eine knappe Usui-Stunde, und während Roman weitegehend gefasst war, weinten seine beiden Kinder die ganze Zeit über in ihre roten Schals. Anschließend wurde die Bahre von vier Priestern aufgeschultert und durch das Mittelschiff aus dem Tempel gebracht. Gleich hinter ihnen folgten Roman, Andra, Raen, Aleas Verwandte und Hariu, die auch gekommen war, mit Resa auf dem Arm. Aleas Leichnam wurde auf die Westmauer hinter dem Tempel getragen und dort an der Verbrennungsstätte auf dem bereits aufgeschichteten Holzhaufen abgelegt. Noch einmal versammelten sich alle, und nun gehörte Roman das letzte Wort.
Beherrscht atmete er ein. „Meine geliebte Frau, Mutter meiner Kinder, ich danke dir von ganzem Herzen dafür, dass du den Weg deines Lebens an meiner Seite gewählt hast.“ Er fühlte, wie sine Stimme zu beben begann. „Dein Andenken wird immer in meinem Herzen sein, Alea. Tonan lo nani - frei sei deine gesegnete Seele!“ Roman beugte sich vor und küsste eine Frau noch einmal durch das Tuch auf den Mund. Dann trat er zurück, damit der Oberpriester einen Beutel mit den heiligen Seelenkräutern in ihre Hände streuen konnte. Ein weiterer Priester erschien mit einer Fackel. Einen letzten Atemzug hielten alle inne, bevor das Totenfeuer pünktlich zum Sonnenuntergang in Brand gesteckt wurde. Die Flammen fanden schnell Nahrung und nahmen den Leichnam in ihre verzehrende Umarmung. Aleas zierlicher Körper, den Roman so oft im Arm gehalten und liebkost hatte, löste sich auf. Die Leute wichen vor der ungeheuren Hitze zurück, starrten aber weiter in die helle Lohe. Um sie herum wurde es rasch dunkel.
Nach und nach verließen die Trauernden die Mauer und flohen aus der Kälte in die Wohntürme. Von ihren Fenstern aus sahen sie das Feuer hell in der Schwärze der Nacht hoch über der Westmauer leuchten. Bis weit hinaus in den Chor war es zu sehen. Schaudernd wandten sie sich ab und versuchten, an etwas anderes, Glücklicheres zu denken.

Endlich allein konnte Roman seinen Gefühlen freien Lauf lassen und all sein Unglück herausschreien. Nur wenige, die sich noch draußen aufhielten, bekamen seine durchdringende Klage an die Welt mit. Peinlich berührt zogen sie ihre Köpfe zwischen die Schultern und begaben sich schnell außer Hörweite.
Roman tobte seinen Schmerz aus. Heftig schlug er mit dem blanken Stahl seines Schwertes in die Glut, und nach allen Seiten stoben die Funken auf. Immer wieder, schrie und heulte er, bis er keine Kraft mehr hatte. Anschließend saß er stumm und regungslos da. Er erinnerte sich daran, vor neun Jahren bei der Verbrennung seiner Mutter an der gleichen Stelle gesessen zu haben. Damals hatte er darüber nachgesonnen, ob es jemanden unter den Menschenwesen gab, der die Macht des Schicksals beeinflussen konnte. Bitter lachte er auf und verfluchte die Prophezeiung, die all das Unglück verursacht hatte. Nur ihretwegen hatte er mit Zaizura gehadert. Nur ihretwegen, hatte er schwere Sünde auf sich geladen. Er musste damit aufhören. Sonst geschah womöglich noch weiteres Unglück!
Als schließlich nur noch die reine Glut übrig war, verließ Roman die Mauer. Er ging geradewegs in sein Zimmer und legte sich schlafen.

Am nächsten Morgen, es war kalt und windig, empfing Roman die Asche seiner Frau in dem kleinen traditionellen Tontopf. Und wieder musste er den Bestattungsberg des Clans erklimmen, um einem Mitglied seiner Familie die letzte Ehre zu erweisen. Als nächstes würde wohl hoffentlich er selbst von seinen Kindern hier hinaufgetragen werden, dachte er.
„Du wirst immer einen festen Platz in meinem Herzen haben!“, sprach er, als er die Asche in den Wind streute. „Jetzt kannst du mit dem Wind reisen, Alea. Wohin du nur willst“, fügte er noch hinzu, küsste den Tontopf und warf ihn in die Tiefe. Er sah dem fallenden Topf zu und verspürte das drängende Verlangen, ihm einfach hinterher zu springen. Der Abgrund sog ihn verheißungsvoll an. Roman wankte, doch Aleas Mutter, die neben ihm stand, packte ihn hastig am Arm und zog ihn zurück. Besorgt blickte sie ihn an, sein sehnsüchtiges Starren hatte sie wohl bemerkt. Erschrocken sah Roman auf. Was war da eben nur in ihn gefahren? Welch selbstsüchtigen und verantwortungslosen Gedanken hatte er da gerade gehabt? Er hatte seine Kinder, die ihn brauchten. An sie musste er jetzt denken und nicht an sein Selbstmitleid. Beschwichtigend blickte er Aleas Mutter an und trat vom Rand der Klippe zurück, vor seinen Augen drehte sich alles. Richol nahm Roman ebenfalls unter den Arm, und sie führten ihn hinunter zu den Pferden, wo er sich langsam von seinem Höhenschwindel erholte. Beschämt entschuldigte er sich schließlich für sein Missverhalten und stieg auf sein Pferd. Schweigend legten sie den ganzen Weg zum Chorten zurück.

Es war mitten in der Nacht, als Raen heimlich wieder aufstand. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alle anderen fest schliefen, schlich er aus dem Kinderzimmer. Er konnte nicht schlafen und wollte es auch nicht. Nie wieder wollte er schlafen! Im Fieber hatten ihn schreckliche Träume zwischen Realität und Schattenwelt gequält. Sie hatten ihm immer wieder offenbart, dass es seine Schuld war. Er hatte das Unheil über seine Mutter gebracht! Er allein. Das Blutpferd war gefährlich und böse. Aber er hatte es zugelassen, dass es ihn besucht hatte und in seine Welt eingedrungen war. Er war Schuld. Was er träumte, wurde Wirklichkeit. Die Angst, wieder so etwas Entsetzliches auszulösen, war unerträglich. Deshalb wollte er nicht mehr schlafen. Nie wieder! Dann würde er auch nicht mehr träumen. Das Blutpferd würde nicht mehr kommen, und keinem etwas passieren.
Raen stieg die Treppe im Wohnturm hinunter, durchquerte die Eingangshalle und lief über den dunklen und nassen Hof. Sein Ziel war der Tempel. Er wollte einen Schwur leisten, und Hyaun sollte sein Zeuge sein.
Als er vor der Statue angelangt war, stieg er die zwei Stufen hinauf und setzte sich mitten auf den blanken Boden, genau an die Stelle, wo kurz zuvor noch seine Mutter aufgebahrt gewesen war. Er senkte den Blick und hob die Hände an die Stirn.
„Erhabener Hyaun, ich bitte dich, sei mein Zeuge! Vom heutigen Tage an werde ich nie wieder schlafen, damit ich niemandem mehr durch meine Träume Schaden zufügen kann. Denn ich bin Schuld an dem großen Elend, das über meine Familie gekommen ist. Ich habe meiner Mutter den Tod gebracht!“ Er hielt inne und sah in das große Gesicht.
„Bitte, hilf mir mein Versprechen einzuhalten!“, sagte er laut. Schreckte aber zusammen, als er das Geräusch einer Zimbel hörte, die im verbotenen Oberen Heiligtum angeschlagen wurde. Da war doch noch jemand, dachte er. Zu so später Stunde? Hoffentlich hatten sie ihn nicht gehört. Er wartete mehrere Atemzüge und konzentrierte sich wieder auf die zwei großen Augen aus Stein, die auf ihn hinabsahen. Sie sahen alles, das Böse wie auch das Gute in dieser Welt. Nichts konnte ihnen verborgen bleiben. Raen legte seine Hände in den Schoß und begann dem erhabenen Gott seinen Traum zu erzählen, den er in jener Nacht gehabt hatte, in der sein Leben stehen geblieben war. Dabei weinte er. Er fühlte sich unendlich allein.

Die Nacht überschritt ihren Scheitelpunkt, und noch immer saß Raen steif vor der Statue, deren Schatten riesenhaft bis unter das Dach reichte. Das flackernde Licht der wenigen, noch brennenden Lampen verlieh Hyaun Lebendigkeit, und vor Raens müdem Blick schien es sogar, als würde Er atmen. Immer wieder glitt er fast unmerklich in den Schlaf, um gleich darauf wieder aufzuschrecken, voller Furcht er könnte etwas geträumt haben. Verzweifelt warf er beide Hände an die Schläfen und flehte Hyaun um Hilfe an. „Ich schaffe es nicht! Ich schaffe es nicht. Ich werde wieder Unheil bringen. Bitte, hilf mir!“ Raen wünschte sich, das Unheil möge als nächstes ihn holen kommen. Aber nichts geschah, weder das eine, noch das andere. Bis in die frühen Morgenstunden hielt sich der Junge tapfer, bis er den Kampf gegen den Schlaf schließlich verlor, und ihm die Augen endgültig zufielen. Und natürlich träumte er.
Aber nicht das Blutpferd kam zu ihm, und auch die Tür zur Zukunft blieb fest verschlossen. Etwas anderes besuchte seine Träume.
Das Licht der Öllampe am Altar begann zu flackern und wurde matter. Der Docht war heruntergebrannt und würde die nur noch winzige Flamme bald im heißen Öl ertränken. Der riesenhafte Schatten Hyauns wuchs noch weiter, kletterte die Unterseite des Daches entlang und streckte seine Arme nach den Seitenwänden aus. Dann erlosch alles Licht und der Schatten umarmte den schlafenden Jungen.
Ruckartig öffnete Raen seine Augen. Um ihn herum war es stockdunkel. Er setzte sich auf, denn er war im Schlaf zur Seite gesunken. Vorsichtig tastete er um sich. Nichts war in seiner Nähe, nur der blanke Fußboden. Leichte Panik stieg in ihm auf. Er hatte die Orientierung verloren. Wo war er? Er begab sich auf alle viere und eine Hand nach vorne ausgestreckt, krabbelte er langsam voran. Doch da war nichts. Seine Hände griffen immer wieder ins Leere. Er kroch weiter. Bald hatte er das Gefühl schon mehrere hundert Schritt so zurückgelegt zu haben, da streiften seine Finger etwas in der Schwärze vor ihm. Erschrocken hielt er inne. Er hatte ein Geräusch gehört - ein Atmen.
„Wer ist da?“, flüsterte Raen verängstigt.
Er erhielt keine Antwort. Langsam streckte er seine Hand wieder nach vorne, und wieder glitten seine Fingerspitzen über etwas, das er nicht einordnen konnte. Es fühlte sich irgendwie weich an.
„Hallo?“, sagte er erneut ins Dunkel.
Wieder nichts.
Raen fasste sich ein Herz und lehnte sich vor, bereit jeden Moment wieder zurückzuzucken. Vorsichtig tastete nach dem, was da vor ihm war. Er berührte etwas Warmes, das ein wenig nachgab. Zögerlich strich er mit seinen Fingern weiter über die Konturen. Es waren im Sitzen gekreuzte Beine! Wieder zog er sich erschrocken zurück.
„Hallo? Bitte, wer ist da?“, rief er.
„Habe keine Angst! Benutze deine Hände als Augen!“, tönte plötzlich eine freundliche, seltsam vertraute Stimme aus der schwarzen Stille vor ihm.
Raen zögerte.
„Du musst das Dunkel überwinden, um Klarheit zu erlangen!“, sprach die Stimme erneut. Sie klang ermutigend und nicht im Geringsten bedrohlich. Und sie war eindeutig männlich.
Raen nahm all seinen Mut zusammen, wischte sich den Angstschweiß von den Fingern und tastete wieder nach vorne. Seine Hände trafen diesmal etwas höher. Es waren nackte Arme, die entspannt in den Schoß gelegt waren. Er fuhr weiter an ihnen hinauf bis zu dem ebenfalls bloßen Oberkörper. Er spürte, wie der Brustkorb seines Gegenübers sich bei jedem ruhigen Atemzug hob und wieder senkte. Mutiger werdend fuhr er mit seinen Händen immer höher. Da waren die beiden Erhebungen der Schlüsselbeinknochen, und die darüber liegende kleine Mulde, die zum Hals führte. Die Schlagader pulsierte unter Raens Fingerspitzen, und dann berührte er das Gesicht. Er befühlte das glatte Kinn, die Wangen, die Nase und immer höher. Die Person vor ihm hatte die Augen geschlossen, und schließlich trafen seine Finger auf die Stirn. Was sie dort fanden, ließ ihn verblüfft innehalten. Es war noch ein Auge. Zwar war es auch geschlossen, aber es war da! Kein Zweifel. Ganz deutlich spürte er den gleitenden Augapfel unter dem weichen Lid. Er beendete seine Erkundung, indem er über den Kopf der Person strich. Er war kahlgeschoren, so wie bei einem Krieger oder Priester. Dann ließ er seine Hände sinken. Seine Angst hatte sich aufgelöst und war spurlos in dem ihn umgebenden Nichts verschwunden.
„Bist du der Setna?“, fragte Raen und wartete ehrfürchtig die Antwort ab.
„Sieht dein Geist nicht, wer ich bin?“
„Nein.“
„Dann ist es noch nicht die Zeit dafür.“
Raen verspürte eine gewisse Enttäuschung.
„Wann werde ich dich sehen können?“, fragte er.
„Bald“, sagte die Stimme sanft. „Bald.“
Raen schwieg. Doch aus einem Impuls heraus fragte er schließlich: „Werde ich wieder böse Träume haben?“ Er wusste nicht wieso, aber es schien ihm, als ob die rätselhafte Person vor ihm die Antwort kannte.
„Deine Träume sind nicht böse!“, entgegnete diese prompt, doch Raen wollte sich damit nicht zufrieden geben.
„Mein Vater sagt aber, dass sie böse sind!“
„Dein Vater wird noch verstehen, was sie zu bedeuten haben. Gib ihm Zeit.“
„Ich verstehe meine Träume aber doch auch nicht!“
„Auch du brauchst noch Zeit.“ Die Stimme wurde leiser, ganz so, als flöge sie davon.
Raen streckte die Hand aus, er wollte sie festhalten.
„Warte doch! Werde ich dich wieder treffen?“ Seine Stimme hallte von unsichtbaren Wänden wider.
„Ja!“, antwortete die Stimme von weit oben herab.
Raen fühlte noch einmal vor sich ins Dunkel, doch da war nichts mehr, nur noch harter Fußboden.
„Auf Wiedersehen!“, rief er in die Leere. Er fühlte etwas Tröstliches in dieser seltsamen Begegnung und er vertraute dem, was die Stimme ihm gesagt hatte. Auch fühlte er sich in der heilsamen Umarmung der Dunkelheit wohl. Es war ihm egal, ob er jemals wieder aus ihr herausfand. Die Welt, aus der er kam, war nur eine schemenhafte Erinnerung; bunte durcheinander gewürfelte Bilder, die in seinem Kopf hin- und hertanzten. Und er wollte auch nicht wirklich in sie zurückkehren.
Plötzlich berührte ihn etwas an der Schulter.
Er versuchte, es mit der Hand fortzuwischen. Er wollte nicht gestört werden. Doch das Stupsen wurde beharrlich fortgeführt. Jetzt schlug er danach.
„Raen, was soll das? Wach auf!“
„Lass mich in Ruhe!“, zischte er. Seine Augen hielt er fest geschlossen, auf keinen Fall wollte er die beruhigende Dunkelheit verlassen.
Das Rütteln hörte kurz auf, um dann noch stärker wieder einzusetzen.
„Raen! Komm zu dir!“
Er spürte, wie er emporgehoben wurde. Seine Schultern steckten in einem Griff wie in einer Zange. Dann flogen seine Augen auf. Jemand hatte ihm ins Gesicht geschlagen!
Er schrie und blickte sich wild um. Erst konnte er die das Karussell der umherwirbelnden Bilder nicht anhalten, doch dann sah er ein Gesicht und dahinter zwei weitere. Er kannte diese Gesichter, es waren sein Vater, Loenka und noch ein anderer Priester. Sein Vater trug ein Priestergewand.
„Was ist los?“, fragte Raen lallend. Seine Zunge konnte die Worte kaum formen. Die Welt aus der sie kamen, erschien ihm bleischwer.
„Mein Junge, du warst bewusstlos!“, entgegnete Loenka.
Raen versuchte, sich zu erinnern. Er war in den Tempel gegangen, weil er nicht mehr schlafen wollte.
„Ich ... ich bin eingeschlafen.“
„Aber warum bist du hier und nicht in deinem Bett?“, fragte sein Vater mit Nachdruck. Raen sah, wie Loenka ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm legte.
„Lass ihn. Er ist völlig übermüdet. Die vergangenen Geschehnisse hat er noch nicht verkraftet, er sollte sich ausruhen.“ Er warf Raen einen seltsam wissenden Blick zu.
Roman nickte, und Raen sah zu seinem Vater. Er würde es nicht verstehen, wenn er ihm von seiner Begegnung erzählen würde, zumindest vorerst nicht. Er brauchte Zeit. Raen hörte den Nachhall der sanften Stimme: „Zeit ...“

13. Kapitel



Er stand bis zum Knie im Wasser. Wellen umspülten sanft seine Beine. Mit der Stadt in seinem Rücken blickte Kanaima auf das Meer hinaus. Das helle Sonnenlicht glitzerte auf der unendlichen Fläche des nassen Elements und blendete ihn. Wind strich angenehm über sein Gesicht.
Wie oft hatte er hier schon gestanden, den nassen Sand zwischen den Zehen?
Viele unzählige Male, dachte er, so unzählig wie die vielen mannigfaltigen Gefühle, die ihn dabei stets begleitet hatten. Kanaima sah an sich herab. Durch das klare Wasser konnte er neben seinen Füßen den Grund erkennen. Inzwischen waren fünf Jahre vergangen, seit er seine Tante verlassen hatte. In Boltha-Stadt war er herangereift zu einem aufrechten jungen Mann mit wachem Blick. Unter der strengen Ausbildung seines Onkels hatte sein Charakter gemäßigtere Züge angenommen, und sein wütender jungendlicher Ungestüm war gezähmt und in die richtigen Bahnen gelenkt worden. Kanaima erinnerte sich daran, dass er Karlis-Renandi zuerst nicht gemocht hatte. Sein Onkel war ein harter Mann, der mit ihm umgegangen war wie mit all seinen anderen einfachen Soldaten und nicht etwa, wie es einem Mitglied der königlichen Familie gebührt hätte. Doch Kanaima hatte schnell bemerkt, dass sein Onkel bewusst alle gleich behandelte, den Niederen, wie den Höhergestellten, und er vergab weder Vorzug noch Nachteil. Nur Leistungswillen und Einsatzbereitschaft fanden seine Anerkennung. Außerdem erledigte er die Dinge stets gerne selbst und eigenhändig. Er ruhte sich nicht auf seinem Adelstitel aus wie die anderen feisten und prinzipienlosen Höflinge, von denen Kanaima im Königspalast umgeben gewesen war. Karlis-Renandi legte sehr viel Wert darauf, rechtschaffen zu sein, denn dieses Wort enthielt die beiden Werte, die sein oberstes Credo bildeten: Gerecht und schaffend. Und eben deshalb war er vor dem Volke der Provinz, die er im Namen des Königs verwaltete, ein im hohen Maße geachteter Mann. Kanaima fand sogar, dass Karlis-Renandi an Würde und Selbstsicherheit das ausstrahlte, was Katthike am ganzen Leibe fehlte, und beides schmückte des Onkels hagere hochgewachsene Gestalt auf eine natürlich vornehme Weise. Kanaima, der bisher noch nie unter dem Einfluss einer solch starken männlichen Leitfigur gestanden hatte, war sofort beeindruckt von dem Charisma seines Onkels. Karlis-Renandi stellte den absoluten Gegensatz zu der schwächlichen und unbeständigen Vaterfigur dar, mit der er aufgewachsen war. Deshalb hatte er sich auch schnell zu Kanaimas erstem richtigem Vorbild entwickelt. Aber nun hatte der Prinz die Schwärmereien seiner Jugendtage abgelegt und war erwachsen geworden. Die Erinnerungen an seine Kindertage waren in weite Ferne gerückt und zu schemenhaften Bildern verblasst, die er zwar nicht vergessen aber auch nicht ständig heraufbeschwören wollte. Für ihn hatte eine neue Zeit begonnen und er wollte nach vorne blicken, nicht nach hinten. Die Freiheit wartete immer noch geduldig darauf, dass er sie für sich nutzte.
Kanaima schöpfte eine Hand voll Wasser und führte sie zum Mund. Er nahm einen Schluck. Das Salz brannte bitter auf seiner Zunge, doch das störte ihn nicht, für ihn war gerade das der Geschmack der Freiheit! Denn in jenem Leben, bevor er erfahren hatte, dass das Meer salzig schmeckte, war er ein Gefangener gewesen. Er schluckte ohne eine Miene zu verziehen, nahm eine kleine gläserne Phiole aus einem Beutel an seinem Gürtel und füllte sie mit dem Meerwasser auf. Fest drückte er den Korken auf die Öffnung. Kein Tropfen durfte auf seiner Reise verloren gehen.
Vor ein paar Wochen hatte sein Onkel ihm in einem vertraulichen Gespräch nahe gelegt, dass es Zeit sei, nach Askhari-Kaise an die Königliche Waffenakademie zu gehen, um dort zu studieren. Er fand Kanaima sehr tüchtig und meinte, er besäße obendrein noch hervorragende Qualitäten als Offizier. In seinem Neffen stecke mehr als nur das Zeug zu einem einfachen Hauptmann, und es wäre eine Vergeudung, wenn man ein Talent wie das seine nicht in den Dienst des Königreiches stellen würde.
Dies, so hatte Karlis-Renandi gesagt, hätte er auch bereits in einem Brief an den König geschrieben. Kanaima war erstaunt gewesen und hatte sich sehr geschmeichelt gefühlt, denn Karlis-Renandi sprach getreu seiner eisernen Grundsätze selten ein solch großes Lob aus. Doch er teilte seinem Onkel auch offen seine Zweifel daran mit, dass das Gesuch beim König jemals Gehör finden würde, denn schließlich kannte er den Hass, den sein Vater gegen ihn empfand, besser als jeder andere. Daraufhin hatte sein Onkel ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter gelegt und etwas gesagt, das er niemals vergessen würde.
„Prinz Kanaima“, hatte er mit tiefer Stimme geraunt und ihn dabei das erste Mal mit seinem Prinzentitel angeredet. „Ja, richtig, ich sagte Prinz Kanaima, denn du bist ein Prinz, nicht mehr, jedoch auch nicht weniger. Dein Titel ist eine Verpflichtung deinem Volke gegenüber! Du sollst wissen, dass du weitaus mehr bis, als dein Großvater es je war und auch mehr, als dein Vater es ist! Viel mehr, als es deine ganze jämmerliche Familie jemals sein wird! Man hat dich betrogen und belogen! Unser Reich braucht einen starken König, einen wahren und aufrichtigen Führer mit unbefleckter Ehre. Und ich sage dir, dass ich meine Hoffnung dabei in denjenigen lege, welcher der einzige, echte Prinz von Askhar ist. Bei den Göttern, deinem falschen Stiefbruder werde ich meine Treue niemals schwören!“
„Aber Onkel“, hatte Kanaima erschrocken geflüstert und sich hastig umgesehen, „für diese Worte könnte dich mein Vater auf der Stelle hinrichten lassen! Er hat doch überall Spitzel. Wenn er erfährt ...“
„Wird er aber nicht, wenn du es ihm nicht erzählst. Außerdem, mein Junge, ist dies hier mein Haus! Du weißt, was das bedeutet!“ Karlis-Renandi hatte ihm tief in die Augen geblickt, und ein geheimnisvolles Lächeln hatte seine Lippen umspielt.
Von jenem Moment an hatte Kanaima geahnt, dass es zwischen Loyalität und dem offenen Widerstand, zwischen Liebe und Hass noch weit mehr Gesinnungen gab, als ihm bewusst gewesen war. Ein seltsamer Bann war mit einem Mal von ihm gefallen und hatte seinem Geist eine neue Tür geöffnet. Die Vielfalt des Denkens und die daraus resultierenden Möglichkeiten des Handelns sprudelten seit dem erfrischend durch seinen ganzen Körper. Dankbar hatte Kanaima seinen Onkel angeblickt. Nach Sama-Karla hatte sich ihm schließlich ein weiterer heimlicher Verbündeter offenbart.
„Noch einen letzten guten Rat will ich dir mit auf den Weg geben“, hatte Karlis-Renandi abschließend gesagt, „und es ist sehr wichtig für dich, dass du ihn befolgst, wenn du in dieser Welt bestehen willst.“ Er hatte seinen Zeigefinger gehoben. „Zeige niemals deine Gefühle so offen, wie du es mir gegenüber soeben getan hast, Kanaima! Niemals, verstehst du?“
Kanaima hatte Karlis-Renandi unsicher angesehen, dann aber genickt. Er hatte verstanden.
Nur eine Woche nach diesem Gespräch war ein Bote mit einem Brief aus Askhari-Kaise in die Festung von Boltha-Stadt gekommen. Der König hatte tatsächlich auf das Gesuch Karlis’ reagiert, genau wie dieser es vorausgesagt hatte. Scheinbar war Katthikes Neugier nun doch entfacht geworden, nachdem sein sturer Vetter ein derart großes Lob über ihn ausgesprochen hatte. In seinem Schreiben gestattete er, dass sein Sohn zu ihm an den Königshof kommen durfte.
Doch Kanaimas Weg würde ihn vorerst noch nach Kalav führen, zu seiner Tante. In der Zeit, die er in Boltha-Stadt verbracht hatte, hatte er ihr bloß Briefe schreiben können, die mit großer Sicherheit penibel überprüft worden waren. Kanaima blickte auf die gut verschlossene Phiole in seiner Hand. Sie sollte ein Geschenk für seine Tante sein. Auch sie sollte etwas von dem Geschmack der Freiheit haben. Wie es ihr wohl in den letzten Jahren ergangen war, in ihrer einsamen Burg? Kanaima freute sich sehr darauf, sie nach so langer Zeit wiederzusehen, doch gleichzeitig scheute er auch den neuerlichen Abschied, den es geben würde, wenn er dann endgültig nach Askhari-Kaise aufbrach. Er atmete tief durch und steckte das kleine Fläschchen zurück in seinen Beutel. Dann drehte er sich um und watete an den Strand zurück, wo sein Pferd mit hängendem Zügel stand. Er wischte sich den Sand von den Füßen und zog seine Stiefel an. Dann saß er auf, warf noch einmal einen Blick hinaus auf die endlose glitzernde Weite des Mittleren Meeres und wendete schließlich sein Pferd gen Nordwesten. Der Sand dämpfte das Geräusch der Hufe, als er im Galopp davonritt.

*



Es begann zu regnen. Die schweren Tropfen prasselten auf die hölzerne Veranda vor dem Schulgebäude. Raen fröstelte und zog seine Jacke fester um sich. Die Wärme des Frühlings hatte sich noch nicht durchgesetzt. Er wandte seinen Blick vom Fenster ab und sah wieder ins Klassenzimmer, in dem es trotz der brennenden Öllampen dämmerig geworden war. Die Klasse hatte gerade Unterricht in Landeskunde, und an der Wand hing eine ausladende Karte von Hy und seinen direkten Nachbarländern. Zu Beginn hatte Raen nicht gewusst, was er mit den ganzen, ohne einen offenkundigen Sinn angeordneten Linien, Kurven und den darin eingebetteten Namenszügen anfangen sollte. Doch inzwischen kannte er sie nahezu auswendig und wusste genau, wo sich die Gebirge und die großen Flüsse mit den Landesgrenzen befanden, wo das Meer war, wo die Hauptstadt Tena-lo-Ghan, wo der Doban-Pass über das Junghal Gebirge führte und natürlich auch wo die verlorenen Provinzen lagen. Von den Nachbarländern hingegen kannte er lediglich die Namen. Er fand das alles sehr interessant, doch eine Frage beschäftigte ihn: Wozu sollte er das alles wissen müssen, wenn er doch sowieso nie einen Fuß außerhalb seines Clangebietes setzen würde? Raen pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht, und als ob die Lehrmeister seine Gedanken gehört hätten, kam prompt eine Erläuterung.
„Ihr kennt die erste Weisheit des ersten Prinzen, Setna Budhan. Sagt sie einmal auf“, forderte der jüngere Lehrmeister die Klasse auf.
„Al Setna Budhan sagt: Gerichtet sei dein Blick stets zuerst nach innen, wisse aber trotzdem immer auch wohl über das Äußere! Denn das Innere wirkt nach außen und ist ein Teil dessen, während das Äußere das Innere allzeit zu durchdringen versucht“, antworteten die Schüler in einem einhelligen Singsang:
Die Lehrmeister nickten zufrieden.
„Richtig Kinder, den Blick bloß auf das Innere gerichtet zu halten, hieße, dass wir das Universum leugnen, aus dem wir entstammen“, ergänzte der Jüngere. „Man muss seinen Freund kennen, aber man muss auch um denjenigen wissen, der einem nicht wohl gesonnen ist!“
‚Ach so ist das!’, dachte Raen ironisch. ‚Na, dann mal los!’
Daraufhin fuhr der ältere Lehrmeister - ein bereits ergrauter Mann - fort anhand der Landkarte zu erklären, wo die Länder des Freien Ostens lagen, denn so wurde der östliche Bereich des Kontinentes genannt, auf dem sich auch Hy, Tan, Askhar, Graçe und Tschabastan befanden. Aber was war überhaupt ein Kontinent? Raen zuckte mit den Schultern und folgte dem Zeigestock, der der Reihe nach die Länder aufzeigte. Schließlich kam die Sprache auch auf das Land mit dem Namen Askhar.
Der ältere Lehrmeister beschrieb mit äußerst wohl bedachtem Wortschatz die angespannte Beziehung, die zwischen Hy und dem Königreich Askhar herrschte. Er schien die sich ausbreitende Langeweile nicht zu bemerken. Nur Raens Interesse erreichte seinen Höhepunkt. Gebannt hing er an den Lippen des Älteren. Er war erstaunt, dass der Konflikt Askhars mit Hy schon seit fast tausend Jahren Bestand hatte. Tausend Jahre, das war eine unvorstellbar lange Zeit! Und trotzdem hatten all die Generationen vor ihnen es geschafft, ihre Heimat erfolgreich zu schützen und zu erhalten. Das machte Raen stolz auf sein Volk, besonders auf die Krieger.
„Weiß man eigentlich, wie es vorher gewesen ist?“, fragte er den Lehrmeister.
„Nicht genau, da erst im Zuge mit der großen Reformation vor über elf Jahrhunderten mit der genauen Geschichtsschreibung begonnen worden war. Die Bücher aus der Zeit vor der Reformation sind nur sehr lückenhaft geführt, aber man sagt, es habe einmal Freundschaft und Handel zwischen Askhar und uns gegeben. Das war aber lange bevor Al Setna Budhan den Geist Hyauns aus dem Osten zu uns brachte“, antwortete der zweite Lehrmeister, und der Grauhaarige nickte.
„Aber warum kam es dann zum Krieg? Warum streiten sich zwei Freunde?“, fragte Raen wissbegierig weiter.
Die Lehrmeister tauschten einen Blick, und Raen dachte schon, er würde auf diese Frage wie so oft keine Antwort bekommen, da ließen sich beide Kennarparta auf ihre Kissen nieder, und der ältere begann zu sprechen.
„Hört mal alle gut zu, Kinder!“ Er blickte bedeutsam in die Runde der Schüler. Sie waren die vielen Fragen der Zwölf- bis Vierzehnjährigen gewohnt, zwar nicht in dieser sensiblen Thematik, aber es war doch ein Alter, in dem die Schüler besonders viel zu wissen begehrten. Und Raen war so ein Kandidat, der das besondere Talent besaß, stets die Fragen zu stellen, die manchmal knapp an der Grenze der Sittsamkeit waren. Doch auch darauf hatten die Lehrmeister sich mittlerweile eingestellt.
„Also, ich werde euch jetzt noch einmal erklären, was ein Streit, beziehungsweise ein Krieg ist. Ihr seid alt genug, es zu erfahren.“ Alle Augen waren wieder aufmerksam auf ihn gerichtet, das Interesse neu entfacht.
„Gut, meine Kinder. Krieg … nun, Krieg ist eine Art Streit. Und Streit nennt man es, wenn zwei Parteien, also zwei Menschen, zwei Familien, zwei Clans oder sogar zwei Völker eine bestimmte Sache für sich allein in Anspruch nehmen wollen, ohne die Absicht sie zu teilen. Nehmen wir ein Beispiel: Ein Bauer hat eine neue Kuh, die besonders viel Milch gibt, und deshalb teilt er die Milch mit seinem Nachbarn. Nach ein paar Tagen kommt der Nachbar und sagt, dass die Kuh eigentlich ihm gehört, weil sie auch auf seiner Weide gegrast hat. Er fordert sie für sich und seine Familie, dabei gibt die Kuh genug Milch für beide Familien. Der Bauer sieht natürlich nicht ein, warum er dem Nachbarn die ganze Kuh geben soll und beharrt darauf, dass sie ihm gehöre. Nun streiten die beiden darum. Der Bauer nimmt die Kuh von der Weide und sperrt sie, aus Angst sie zu verlieren, in den Stall. Das, meine Schüler, nennt man Streit. Wie aber kommt es vom Streit zum Krieg? Stellt euch einmal weiter vor: Jetzt kommt der Nachbar und klopft an die Tür des Bauern, der sich in seinem Haus versteckt, aber der Bauer öffnet nicht. Daraufhin ist der Nachbar entschlossen, die Tür mit der Axt einzuschlagen und sogar noch viel Schlimmeres zu tun, um sich zu holen, was seiner Meinung nach ihm gehört. Der Bauer jedoch greift zur Forke und verteidigt seine Kuh, sein Haus und seine Familie, weil er sich bedroht fühlt. Ihr könnt das schlechte Ende sehen?“
Die Schüler nickten zögerlich.
„Das ist dann der Krieg! Shazuralindu - der Tod vieler Unglücklicher.“
„Aber das ist doch dumm, warum teilen sie nicht?“, fragte eine Schülerin, es war Suneka, und Raen blickte zu ihr hinüber. Sie sah mehr und mehr erwachsen aus. Ihr Gesicht war schmal und mit einem spitzen Kinn. Ihre dunklen Augen unter den fein geschwungenen Augenbrauen fixierten den Lehrmeister.
„Ja, das ist in der Tat sehr dumm! Weil die beiden zuerst nur an sich denken, zerstören sie den Frieden und ihre Freundschaft“, sagte der Graue ruhig.
„Ich verstehe das nicht, wie kann man nicht teilen wollen?“, gab Suneka weiterhin ihr Unverständnis kund.
„Ja, vor allem, wenn man mehr als genug hat!“, sagte ein anderer.
„Wir verstehen das auch nicht!“, rief plötzlich der ganze Rest der Schüler fast gleichzeitig aus, und der Graue musste lächeln.
„Es freut mich, dass ihr das nicht versteht, denn das zeigt, dass ihr bereits fest und sicher auf dem Weg Hyauns geht“, sprach er zufrieden. „Und vergesst nie: Die oberste Tugend ist die Selbstbescheidenheit. Verlange nie mehr für dich selbst, als du wirklich benötigst und teile stets das, was du hast, mit anderen. Dann bist du ein ehrbares Mitglied der Gemeinschaft Hyauns.“ Er machte eine Pause, offensichtlich um seine Worte einwirken zu lassen.
„Eines verstehe ich da jetzt aber immer noch nicht!“, platzte Raen mitten in die bedeutsame Stille. „Wenn wir der Bauer mit der Kuh sind und Askhar der Nachbar ist, der an unsere Tür klopft, dann sind wir doch aber auch nicht besser, als die Askharer, denn wir streiten uns doch mit ihnen.“
Der Graue sog scharf die Luft ein. Ihm schien es schon wieder nicht zu gefallen, dass er weiter fragte. Das verstand Raen nicht, einerseits wurde er für seine besonderen Gedanken gelobt, im nächsten Moment dafür aber auch wieder getadelt.
„Raen, du hast eines übersehen“, maßregelte der Graue ihn übermäßig streng, „der Bauer - also wir - wollte teilen, aber der Nachbar war zu gierig. Er wollte alles haben, und das kann der Bauer ihm natürlich nicht geben, da er selbst überleben muss. Weißt du eigentlich, was Gier ist und was sie aus Freunden machen kann?“
„Aber sind denn alle anderen Völker außer uns gierig?“
„Raen, beantworte meine Frage: Weißt du, was Gier ist?“, beharrte der alte Lehrmeister.
„Aber ...“
„Hier im Unterricht gibt es kein Aber, das solltest du langsam gelernt haben!“, mahnte der Graue mit leicht erhobener Stimme.
„Nein, ich weiß nicht, was Gier ist!“, antwortete Raen verstockt und schob seine Unterlippe vor. Er wollte nicht wissen, was Gier war, sondern er wollte hören, was Krieg war. Warum sagte es niemand offen? Warum sagte niemand, dass sich im Krieg Menschen gegenseitig töteten!
„Gier ist das Gegenteil von Bescheidenheit und Mäßigung. Man will mehr als der andere haben. Nicht, weil man es braucht, sondern allein nur, um es anzuhäufen. Eine sehr schlechte Eigenschaft, die nicht glücklich macht!“ Der Graue unterbrach seine Rede, um zu sehen, ob Raen mitkam. Und als dieser nickte, fuhr er fort: „Wir haben den Askharern unsere Hand gereicht, sie aber wollten uns gleich mitsamt Haut und Haaren verschlingen! So auch andere Völker. Das aber haben wir glücklicherweise bis heute verhindern können, dank der Gabe des Geistes und Al Setna, unserem gesegneten Beschützer, und seinen treuen Kriegern!“
„Und was ist mit dem Großen Krieg und den verlorenen Provinzen? Haben sie da versagt, unsere Krieger?“, begehrte Raen weiter zu wissen.
Der Graue schluckte vernehmlich. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er die Grenze mal wieder erreicht hatte. Unbehaglich rutschte der Lehrmeister auf seinem Kissen hin und her.
„Mein Junge, das war ein Opfer an Zaizura und kein Versagen! Wie kannst du nur so etwas behaupten?“
„Aber ...“
„Wie oft muss ich es dir noch sagen, es gibt kein Aber!“ Er starrte Raen an. Dann stand er auf, auch das war ein Ausweichen, das wusste sein Schüler. „Schluss jetzt, ihr wisst nun genug darüber!“, beendete der Graue abrupt die Stunde. Der andere Lehrmeister stand ebenfalls auf, und beide verließen raschen Schrittes den Klassenraum. Sofort wurde es unruhig, als die Schüler sich auf ihren Plätzen streckten.
„Raen, warum stellst du nur immer solch komische Fragen!“, sagte Suneka vorwurfsvoll. Sie war zu ihm herübergekommen und hatte sich neben ihn gesetzt. Die anderen Schüler standen auf und machten sich daran, den Heimweg anzutreten. Sie sammelten sich bereits in Grüppchen.
„Wieso komisch?“, entgegnete Raen entrüstet. Er verstand nicht, was an seinen Fragen falsch gewesen sein sollte. Eher wunderte es ihn, warum die anderen sich überhaupt nicht für diese Dinge interessierten. „Sag mal, Suneka, willst du nicht manchmal auch wissen, was hinter den Bergen im Süden ist?“, fragte er unvermittelt.
Suneka blickte ihn irritiert an und erwiderte dann: „Siehst du, das ist es, was ich meine, wieder so eine komische Frage! Was geht eigentlich in deinem Kopf vor? Und, nein, natürlich will ich nicht wissen, was hinter den Bergen ist. Unser Haus ist hier, unsere Familien sind hier! Hier ist es schön, warum sollte es mich interessieren, wie es anderswo aussieht? Und dich sollte es im Übrigen auch nicht interessieren. Du verärgerst damit nur unsere Lehrmeister!“
Ja, das war richtig, dachte Raen, er hatte sie verärgert, aber ihm war nicht ganz klar, warum? Er schwieg beleidigt, weil Suneka ihn zurechtgewiesen hatte. Sie stand auf.
„Komm, wir gehen auch nach Hause.“
„Es regnet“, brummte er missmutig. Seine Stimme war in den vergangenen Monaten immer tiefer geworden. Wie auch sein Gesicht langsam erwachsene Züge annahm.
„Ja und? Es regnet schon den ganzen Morgen, falls du das nicht mitbekommen haben solltest. Wir haben doch unsere Strohsachen. Komm jetzt, sonst gehe ich alleine!“
„Dann geh alleine. Ich will noch hier bleiben.“
„Gut“, sagte sie mit scheinbar gleichgültiger Miene und sprang auf. Jetzt war sie eingeschnappt. „Wie du willst.“ Ohne ihn noch einmal anzusehen, ging sie davon.
‚Sie ist ja fast schon wie meine Schwester’, dachte Raen verdrossen.
Seine allzeit vernunftbedachte Schwester Andra hatte ihn stets sofort getadelt, wenn sein Benehmen in ihren Augen unangebracht gewesen war. Ständig hatte sie an ihm herumgenörgelt: „Raen benimm dich, Raen lass das, Raen hier, Raen da!“ Das war ihm gehörig auf die Nerven gegangen. Einmal hatte er seinen Vater darauf angesprochen, doch der hatte ihm nur gesagt, er sei sehr froh, dass noch jemand anderes auf ihn aufpasse. Und es täte ihm leid, dass dies nicht seine Mutter wäre, sondern nur seine Schwester. „Hör auf das, was Andra sagt, Raen“, hatte er bedeutet, „sie ist sehr vernünftig.“
Vernünftig! Pah! War er das denn etwa nicht?
Letztes Jahr im Sommer war Andra von der Schule gegangen und hatte eine Lehre im Nachbarclan begonnen. Sie wollte Medizi werden und hätte das Handwerk der Heilkundigen auch im eigenen Clan erlernen können, doch sie hatte sich in den Kopf gesetzt, unbedingt bei der angesehenen Medizi Seya, Tochter von Sada, zu studieren, die sich auch auf die seltene Kunst der Seelenbeschwörung verstand, und deren Ruf bis über die Grenzen ihres Clans hinaus bekannt war. Nun lebte Andra beim Rinzai Clan, einen langen Tagesritt von Shari entfernt, und würde vier bis fünf Jahre dort bleiben. Sie hatte große Angst vor der Fremde gehabt und nur sehr ungern ihr vertrautes Zuhause verlassen, aber ihr Wunsch war stärker gewesen als alle anderen Gefühle, und so war sie gegangen. Raen hatte ihren Mut bewundert.
Doch er war auch sehr traurig gewesen, als sie zusammen mit zwei Kriegern an ihrer Seite aus dem Chorten geritten war, und ein bisschen stolz auch, denn seine Schwester war zu einer aufgeweckten jungen Frau herangewachsen und würde eine gute Medizi werden, da war er sich sicher. Trotz ihrer unermüdlichen Tadel vermisste er sie sehr.
Auch Hereke, der immer noch Raens bester Freund war, hatte im vergangenen Jahr die Schule verlassen und war bei seinem Vater in die Lehre gegangen. Er würde der nachfolgende Reitmeister des Shari Clans werden, wie es auch nicht anders zu erwarten gewesen war. Raen besuchte ihn oft nach der Schule auf dem Hof und sah ihm bei seinen neuen Aufgaben zu. Dadurch wuchs seine Ungeduld, mit der er auf seine eigene Ausbildung wartete. Seit einem ganzen Jahr nun schon machte er sich ernsthafte Gedanken darüber, welch zukünftige Rolle er für sich wählen und welchen Platz er damit in der Gemeinschaft des Clans einnehmen wollte. Immer wieder hatte er mit seinem Vater und mit Hyaunset Loenka darüber gesprochen und ihren Rat gesucht. Dabei hatte er sich aber nie getraut, seinen wirklichen Wunsch auszusprechen, nämlich dass er am liebsten ein Krieger werden wollte. Er wollte im Namen Hyauns für sein Volk kämpfen und es vor Gefahren beschützen, wie sein Vater es tat. Aber leider verhielt es sich so, dass er das nicht selbst entscheiden konnte. Allein Hyaun erwählte seine Getreuen und bestimmte, wer in die Kriegerschaft eintreten durfte. Ohnedies wusste Raen auch, wie sehr sein Vater dagegen sein würde. Er ahnte, dass dieser ihn nur beschützen wollte, aber leider kannte er bereits mehr vom Krieg, als es seinem Vater lieb und bewusst war.
Doch Raens Hoffnungen, den Ruf Hyauns eines Tages doch noch zu erhalten, wurde von Monat zu Monat schwächer. Das Alter, in dem Jungen und manchmal auch Mädchen, in die Kriegerschaft berufen wurden, hatte er längst überschritten. Allmählich musste er sich mit dieser bitteren Tatsache abfinden und seine Enttäuschung darüber verbergen. Er würde wohl leider nicht zu den Erwählten gehören. Und letztendlich hatte er sich Gedanken über eine Alternative machen müssen, aber allzu lange hatte er sich darüber nicht den Kopf zerbrochen, denn für ihn kam nur noch eine andere Möglichkeit in Frage. Und die war, ein Priester zu werden. Der Tempel faszinierte ihn, die Riten der Priester, deren geistige Abgeklärtheit und die Nähe zu Hyaun. Ja, und auf diese Weise konnte er sogar auch der eingeschworenen Gemeinschaft der Krieger nahe sein, wenn er schon selbst keiner werden konnte. Und vielleicht würde er so auch in ihre Geheimnisse eingeweiht werden und durfte endlich einmal das verbotene Obere Heiligtum im Tempel betreten!
Sein Vater und Loenka hatten seine Wahl sehr begrüßt. Zeigte er doch eine deutliche Begabung in diese Richtung und war mit einigen Tempelgebräuchen bereits gut vertraut. Außerdem hoffte sein Vater wohl insgeheim auch, dass Raen mit seinen Träumen dort am besten aufgehoben sein würde.
Noch in diesem Sommer sollte Raens Befragung stattfinden. Dann würde er vor seinem Vater, seinen Lehrmeistern und dem Clanrat seine Rollenwahl kundtun und sich erklären. Sie würden ihn auf seine Entscheidung hin prüfen, und wenn er bestand, dann würde er gleich danach die Schule verlassen und wäre eine Sprosse weiter auf der Leiter des Lebens.
Raen sah zum Fenster. Draußen regnete es immer noch unablässig. Die ausgefransten grauen Wolken hingen tief über den Hügeln des Chor. Heute würde es wohl nicht mehr aufhören. Aber das machte nichts. Ein wenig würde er hier noch im Trockenen sitzen bleiben, seinen Gedanken nachhängen und die große Landkarte vor sich studieren. Dann würde er nach Hause gehen und in der warmen Küche bei der Zubereitung des Nachtmahles helfen. Er mochte diese Art von gemeinschaftlicher Arbeit, obwohl es für Jungen in seinem Alter bereits bessere Aufgaben gegeben hätte, wie zum Beispiel dem Feuer- und Wassermeister zur Hand zu gehen, oder die Tiere in den Ställen des Chorten zu füttern und zu pflegen. Raen aber genoss es, der Älteste der „Kleinen Helfer“ in der Küche zu sein und die Jüngeren anzuleiten. Er dachte an den Tempel und an die neue noch engere Gemeinschaft innerhalb der großen Gemeinschaft des Clans, in die er bald eintreten würde, und er freute sich über die vielen neuen und geheimnisvollen Dinge, die er dort erfahren würde. Und vielleicht hatten die hohen Lehrmeister des Tempels ja Antworten auf seine Fragen. Hier in der Schule wurde er ja doch nicht ernstgenommen.
„Du bist noch hier?“
Raen blickte auf. Der graue Lehrmeister hatte den Kopf zur Tür hereingesteckt und sah ihn fragend an.
„Ja, ich wollte noch etwas nachdenken“, erklärte er.
Der Graue kam in den Raum und schloss die Tür hinter sich. Er setzte sich neben Raen auf ein Kissen.
„Das ist sehr lobenswert, mein Junge. Aber falls du nichts dagegen hast, würde ich gerne die Gelegenheit nutzen, um einmal mit dir allein zu reden“, sagte er höflich.
„Ja, natürlich können wir reden. Was gibt es denn?“ Raens Neugier war geweckt. Aus der Förmlichkeit der Frage des Lehrmeisters war zu schließen, dass es sich um etwas Wichtiges handeln musste. Der Graue strich sich nachdenklich über das bartlose Kinn und kräuselte die gefurchte Stirn. Er suchte scheinbar nach einem Anfang.
„Raen“, begann er schließlich, „ich habe von deiner Absicht, Priester werden zu wollen, gehört und ich muss sagen, sie überrascht mich nicht. Es erfordert ein großes Maß an Überzeugung, Glaubensstärke und Selbstbewusstsein, diesen Weg einzuschlagen! Und ich bin überzeugt, dass du diese Eigenschaften auch hast. Außerdem besitzt du schon jetzt einen besonders scharfen Blick und ein sehr klares Verständnis für die Dinge. Wir brauchen solch geistig aufgeklärte und kluge Menschen in der religiösen Führung unseres Landes. Denn unser unerschütterlicher Glaube ist unsere Stärke, und die Priester pflegen und hegen die Wurzeln dieser Stärke. Sie sind die Gärtner Hyauns, wenn ich das einmal so ausdrücken darf. Sie sind die Vermittler zwischen uns und Ihm. Sie verwalten unser Wissen, unsere Religion und sind der stützende Arm für unsere Krieger. Kurzum, sie sind unentbehrlich für das Fortbestehen unseres Volkes.“ Raen freute sich darüber, gelobt zu werden, und er fühlte erneut Bestätigung in der Richtigkeit seiner Wahl. Zum Dank verneigte er sich.
„Meine Begabungen wurden allein nur durch die Bemühungen der Lehrmeister geweckt und geformt! Danke vielmals für dein Lob, Kennarparta!“ Der graue Lehrmeister nickte in Anerkennung an Raens mittlerweile vollendete Anwendung der Etikette. Der Junge war zweifellos bereit für seinen weiteren Weg.
„Da ist noch etwas. Deine außerordentliche Begabung ist etwas sehr Positives, aber du hast noch nicht gelernt, sie auch als solches zu nutzen.“ Der Graue machte erneut eine Pause, offensichtlich um zu sehen, ob sein Schüler verstand, was er meinte, doch Raen sah ihn nur verständnislos an.
„Im Moment ist deine Begabung ungezügelt“, versuchte der Kennarparta zu erklären, „und oft eher ein Ärgernis als eine gemeinnützige Wohltat. Du bringst deine Mitmenschen ständig in Verlegenheit, besonders im Unterricht. Du trägst zu viele Fragen vor, die zu bedenklich sind, um sie zu beantworten. Du musst dich mit deinen Gedanken mehr zurückhalten und dich in deinen Äußerungen disziplinieren. Sie führen weiter, als deine Klassenkameraden fähig sind, zu verstehen.“
„Was ist denn bloß immer mit meinen Fragen?“, wollte Raen entrüstet wissen. Er verspürte Hitze in sich aufwallen.
„Beruhige dich, mein Junge. Was denkst du nur, ich will dich doch nicht angreifen. Hyaun bewahre.“
Raen sah verlegen zu Boden. Er fühlte sich unwohl, wenn er bei schlechten Gefühlen ertappt wurde.
„Zu deinen Fragen -“
Raen hob seinen Blick wieder und bemühte sich, seine Unsicherheit zu verbergen.
„- sie sind oft unanständig!“, setzte der Kennarparta fort.
„Wieso unanständig?“
„Nun, du willst Dinge wissen, über die wir hier nicht reden wollen.“
Raen zuckte mit den Schultern.
„Du sprichst über Krieg, über Gewalt und über unseren Feind, als wäre es nichts! Raen, das ist sehr schlecht. Es bringt Unglück, diese bösen Dinge lebendig werden zu lassen, indem man von ihnen redet. Nimm dir ein Beispiel an unseren Kriegern. Sie verlieren nie ein Wort über das, was sie erlebt haben, niemals! Und es sind ohne jeden Zweifel sehr furchtbare Geschehnisse, mit denen sie in Berührung kommen. Aber dank ihrer Zurückhaltung werden wir davor bewahrt, sie ebenfalls zu erfahren. Die Krieger sind unser Schutzschild, das ist ihre Aufgabe. Verstehst du, Raen? Wir müssen uns nicht mit diesen Dingen beschäftigen. Hör also endlich auf, darüber sprechen zu wollen. Hör am besten auch auf, dir überhaupt darüber Gedanken zu machen. Das steht allein den Kriegern zu. Der Krieg geht nur sie etwas an! Und du, Raen, bist nun einmal kein Krieger und wirst es wohl auch nicht werden!“
Raen hörte wie versteinert zu, seinen Blick starr auf den Lehrmeister gerichtet. Das, was dieser ihm da erzählte, kränkte ihn.
Der Graue räusperte sich. „Mein Rat für dich, Raen: Kümmere dich nicht um Dinge, die dich und uns alle nichts angehen, dann wird es dir in Zukunft viel besser ergehen. Es gibt reichlich anderes Wissen, welches dir offen steht. Besinne dich auf den Weg Hyauns und widme deine Talente der Gemeinschaft!“ Das war das Ende seiner Rede. Raen nickte stumm, verbeugte sich demütig zum Abschied und ging schließlich wortlos hinaus.
Der Lehrmeister fragte sich, was an diesem Jungen bloß so anders war? Warum war er derart bockig, wenn man ihn zurechtwies? Nachdenklich stand er von seinem Kissen auf und trat ans Fenster, durch das er die Silhouette Raens erkennen konnte. Das schlierige Glas verstärkte noch den Eindruck, als umgäbe eine unbestimmbare Aura aus schattenhaften wallenden Untiefen den Jungen. Aber es war nicht seine Aufgabe, diese Abgründe zu ergründen, dachte der Kennarparta. Damit würde sich bald eine höhere Instanz beschäftigen, die Priester im Tempel.

Die Veranda war völlig durchnässt, und Regenwasser spritzte bei jedem neuen Tropfen auf. Raen stand unter dem Vordach und starrte in das lichtlose Grau des Tages, welches nun voll und ganz seiner katastrophalen Gemütsverfassung entsprach. Was war das gerade für ein Gespräch gewesen?, dachte er. Warum verlangte erneut jemand von ihm, er müsse seine Gedanken beherrschen? Erst war es sein Vater gewesen und nun dieser Lehrmeister. Zum Glück war Roman davon abgekommen und ließ ihn wieder frei reden. Tatsächlich interessierte er sich für das, was Raen dachte oder träumte. Sein Vater verstand ihn mittlerweile ein wenig besser. Aber der Lehrmeister wollte seine Gedanken einsperren, er wollte ihn einsperren!
„Ido! - Nein!“, sagte Raen trotzig in den Regen hinaus und lief los.
Er lief und lief und fühlte, wie mit jedem Sprung die Freiheit in sein Herz zurückkehrte. Er würde sich nicht einsperren lassen, nie wieder! Er rannte weiter als würde er gejagt, merkte nicht, dass er sein Regenzeug vergessen hatte. Er spürte weder die Kälte, die ihm über die nassen Haare und seinen Hals strich, noch das Wasser, das in seinen Schuhen stand, und auch nicht den Matsch, den seine Tritte aufspritzen ließen. Er lief bis zum felsigen Hügel des Chorten, dann konnte er nicht mehr. Heftig nach Luft pumpend blieb er an einem Baum stehen. Starkes Seitenstechen bohrte sich in seine Lungen, doch er fühlte sich schon viel besser. Er blickte auf, hinüber zur Festung. Die vom Wind getriebenen Wolken verfingen sich beinahe an den Spitzen der Türme. Raen lächelte in den Himmel, Regentropfen trafen ihm ins Gesicht, rannen in den Ausschnitt seiner Jacke und wuschen all seine schlechten Gedanken von ihm ab. Er breitete die Arme aus.
„Gedanken, frei wie der Wind!“, rief er und ging schließlich gemächlich weiter.
Die wachhabenden Krieger grüßten den durchnässten und schlammbespritzten Jungen mit verwunderter Miene, als dieser wenig später wie selbstverständlich durch das Tor geschlendert kam. Ein bloßes Schulterzucken und ein Grinsen waren Raens Antwort. Er ging über den menschenleeren Hof zum Nordturm. In der Eingangshalle des Wohnturmes wollte er gerade direkt in die Küche gehen, als er seinen Namen hörte.
„Raen! Du willst doch nicht etwa so in die Küche!“ Es war Shani, und der Klang ihrer gespielt strengen Stimme tat dazu bei, dass sich sein Gemüt noch weiter aufhellte. Er lächelte still.
„Du bist ja klatschnass! Hast du etwa dein Regenzeug vergessen?“
Raen drehte sich um und nickte schüchtern. Die Kinderfrau versuchte einen strengen Blick, ließ es aber dann als Antwort gelten. Raen wusste, dass Shani niemals wirklich böse sein konnte, was die vielen kleinen Lachfältchen um ihre Augen bewiesen.
„Geh dir erst einmal frische Kleidung anziehen. Ach was, komm mit, ich helfe dir und trockne dir die Haare!“ Die gutmütige Shani nahm ihn an der Schulter, und beide gingen sie hinauf in ihr Zimmer im ersten Stock. Sie setzte den tropfenden Raen auf einen Hocker und verließ den Raum wieder, um frische Kleidung zu holen. Raen behagte Shani Fürsorglichkeit sehr. Sie hatte ihn gern, das spürte er deutlich. Seit dem Tod seiner Mutter hatte sie sich sehr liebevoll um ihn und seine Schwester gekümmert. Und auch wenn sie seine Mutter nie hatte voll ersetzen können, erfüllte sie doch sein inniges Bedürfnis nach mütterlicher Zuwendung. Stets gab Shani ihm das Gefühl, auch zu ihrer Familie zu gehören. Sogar ihre beiden Töchter, Suneka und Soema, waren für ihn wie zwei weitere Schwestern.
Die Tür ging wieder auf, und Shani erschien mit neuer Kleidung und einem Handtuch auf dem Arm. Sie reichte ihm das Handtuch, und er begann die nassen Kleider auszuziehen. Dabei drehte er sich schamhaft etwas von ihr weg, wusste aber gleichzeitig, dass das eigentlich albern war. Nacktheit war doch etwas völlig Normales. Aber seit sein Körper begonnen hatte, sich zu verändern, war es ihm irgendwie unangenehm. Shani bemerkte, dass er sich ein wenig zierte und verließ, vorgebend sie hätte etwas vergessen, kurz den Raum. Sie lächelte über seine Verlegenheit. Waren doch alle Heranwachsenden in dieser Phase ihres Lebens ähnlich. Als Kind machte es ihnen nichts aus, nackt zu sein, und dann mit einem Mal, da schämten sie sich geradezu. Aber hatten sie ihre Reifezeit erst einmal hinter sich, so war Nacktheit wieder das Natürlichste von der Welt.
Als Shani den Raum wieder betrat und dabei vorher höflich angeklopft hatte, war Raen fertig angekleidet. Sie nahm das Handtuch und rubbelte seine Haare trocken. Dabei stellte er sich gleichfalls an und sagte immer wieder, er sei alt genug, um das selbst tun zu können, doch insgeheim genoss er es, wenn sie ihm seine schönen, langen Haare pflegte, die ihm bis auf seinen Rücken fielen. Als sie fertig war, hatte er wieder eine ordentlich gekämmte und gebundene Frisur.
„So, jetzt kannst du dich wieder blicken lassen!“, sagte sie und strich ihm mütterlich über die Wange.
„Vielen Dank, Shani.“
„Aber gern geschehen!“
Plötzlich hatte Raen das Gefühl, sie in den Arm nehmen zu müssen. Er brauchte ihre Wärme. Shani wirkte nur ein wenig überrascht, als er sich an sie drückte und ihr sagte, dass er sie lieb hatte. Er war schon größer als sie und bereits ganz schön kräftig.
„Ach, mein Junge, ich habe dich doch auch lieb!“, erklärte sie glücklich, aber etwas in der Heftigkeit seiner Umarmung ließ sie offenbar aufmerken.
„Ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte sie mit leichter Besorgnis.
Er löste sich von ihrem herrlich tröstenden, etwas fülligen Körper und lächelte sie breit an.
„Ja, es ist alles gut!“, sagte er fröhlich. „Ich gehe jetzt in die Küche. Die warten bestimmt alle schon auf mich.“
„Gut.“ Shani sah ihm hinterher.

Als Raen die Küche betrat, kam ihm ein Schwall angenehm warmer Luft entgegen. Die drei großen steinernen Öfen und der Kamin waren voll angefeuert. Darüber hingen gusseiserne und kupferne Töpfe in denen Wasser und Brühe brodelten. In der Mitte standen Tische, an denen die Frauen und Männer des Hauses zusammen mit den Kindern, den „Kleinen Helfern“, standen und die Nahrungsmittel vorbereiteten. Sie putzten und schnitten das erste Frühlingsgemüse, stampften Getreide, kneteten Teig und hackten Kräuter klein. Ein Krieger war auch da und schnitt auf einem Holzblock im Nebenraum Fleisch in mundgerechte Stücke. Am vorherigen Morgen waren Kaninchen geschlachtet worden, und das Fleisch war jetzt weitgehend ausgeblutet. Bei dem Gedanken an schmackhaft gewürztes Kaninchenfleisch lief Raen das Wasser in Mund zusammen. Dass es für alle Fleisch gab, kam vielleicht drei- bis viermal im Monat vor. Im Winter etwas häufiger als in den anderen Jahreszeiten und natürlich zu den großen Festen. Es war immer etwas Besonderes auf dem Speiseplan.
Noch bevor Raen den Arbeitstisch erreichte, kam einer der Kleinen Helfer auf ihn zugerannt und rief freudig seinen Namen. Es war sein Bruder Resa, ein kleiner Knabe von fünf Jahren, und Raen bückte sich, um ihn in den Arm zu nehmen.
„Hallo, Resa!“, sagte er. „Na, sind wir fleißig bei der Arbeit?“ Er tätschelte den Kopf des anhänglichen Kleinen, der kaum von seiner Seite weichen wollte.
„Ja, bei der Arbeit!“, wiederholte Resa vergnügt, froh, endlich seinen geliebten großen Bruder bei sich zu haben. Raen ging mit ihm zum Tisch. Er entschuldigte sich für seine Verspätung, nahm ein Gemüsemesser zur Hand und wendete sich dem Schneiden des fertig gesäuberten Grünzeugs zu. Neben ihm, auf den Zehenspitzen stehend, beobachtete Resa jede seiner Handbewegungen genau. Er war ein quirliges Kerlchen und stets fröhlich, noch ahnte er nichts von der verhängnisvollen Verknüpfung seiner Geburt und dem Tode seiner Mutter. Er fragte zwar oft nach seiner „Mama“, doch damit meinte er nicht seine richtige Mutter, sondern Hariu die Bäuerin, die ihn ein Jahr lang gestillt und anschließend noch drei Jahre großgezogen hatte, bis er alt genug gewesen war, um in den Chorten zurückzukehren, wo er nun auch der Obhut Shanis unterstand. Wer seine richtige Mutter war, würde ihn hoffentlich noch einige Zeit lang nicht interessieren. Er war ein Kind der Gemeinschaft, von allen gehegt und geliebt, und das sollte er auch spüren.
Beinahe ein Jahr war es jetzt her, dass Resa die Bauernfamilie verlassen hatte, und von Hariu unter nicht wenigen Abschiedstränen in den Chorten gebracht worden war. Nahezu vom ersten Tage an hatte Resa sich in Raen vernarrt, und inzwischen war der ältere Bruder für ihn zum magischen Mittelpunkt im regen, wohlmeinenden Treiben der Gemeinschaft geworden. Stets steuerte er zielsicher auf Raen zu, der ihn immer freundlich anlächelte und mit ihm spielte, wenn er Zeit dazu hatte.
Glücklich strahlend sah er auch jetzt zu seinem viel größeren Bruder auf, dessen Jackensaum er fest in seiner kleinen Hand hielt. Raen, der merkte, wie gern sein Brüderchen ihn mochte, zwinkerte zu ihm hinunter. Auch er hatte den manchmal etwas zu stürmischen kleinen Jungen vom ersten Augenblick an in sein Herz geschlossen, denn auf eine gewisse Weise fühlte er sich durch ihn an sich selbst erinnert. Doch mit Resa waren auch böse Erinnerungen wieder eingekehrt. Alles, was Raen in dieser einen schrecklichen Nacht gesehen hatte, das viele Blut, seine sterbende Mutter und die verzweifelte Hilflosigkeit seines Vaters, war wieder lebendig geworden im Angesicht seines Bruders, der so fröhlich lächeln konnte. Obwohl sein Verstand ihm sagte, dass Resa nicht die geringste Schuld am Tod seiner Mutter trug, konnte es passieren, dass Raen von seinen Gefühlen überwältigt und von einem Moment zum anderen schwermütig wurde. Um aber den kleinen Bruder nichts von seinen schlechten Gedanken spüren zu lassen, zog er sich jedes Mal zurück. Meistens ging er in den Tempel, wo er allein sein konnte. Still saß er dann vor Hyaun und fragte Ihn, den Erhabenen, immer wieder aufs Neue, ob er jemals von diesen bedrückenden Gefühlen befreit werden würde. Doch wie unzählige seiner Fragen, war auch diese bislang unbeantwortet geblieben.
Die schmerzvollen Erinnerungen an die düsterste aller Nächte plagten jedoch nicht nur Raen, auch Roman fühlte sich von ihnen verfolgt. Und es forderte ihm ein gewaltiges Maß an Kraft ab, den allein durch Resas Gegenwart heraufbeschworenen Schmerz zu bekämpfen. Tagsüber konnte er ihn zwar bändigen, aber in den Nächten, wenn Vernunft und Gefasstheit gemeinsam mit der Sonne hinter dem Horizont im Dunkeln versanken, quälte ihn die klaffende Leere an seiner Seite und das verzweifelte, auf immer unstillbare Verlangen nach seiner geliebten Frau. Tief wühlte sich das verwundete Tier, welches seine Einsamkeit war, in die Höhlung seines Brustkorbes und grub dort mit seinen Krallen brennende Furchen in sein Fleisch.
Während seine Mitmenschen im Chorten Nacht für Nacht ruhig und selig schliefen, kämpfte Roman und warf sich hin und her. Und wenn es zu schlimm wurde, stand er auf und tat das, was sein Sohn Raen schon längst zu seiner ureigensten Gewohnheit gemacht hatte: Er flüchtete sich in den Tempel. Und wenn er dort Raen zusammengerollt auf einer Bank unterhalb des Hauptaltars schlafend vorfand, so legte er sich einfach neben ihn. Da es seinem Sohn offensichtlich gut tat, unter den Augen Hyauns zu träumen, so würde es auch für ihn gut sein. Und tatsächlich schlief Roman seitdem wieder besser.
Jetzt freute er sich sehr, die Eintracht seiner beiden Söhne beobachten zu können, wie sie dort zusammen am Arbeitstisch in der Küche standen. Raen und Resa hätten äußerlich nicht verschiedener sein können. Raen hatte wie seine Schwester die ebenmäßigen Züge seiner Mutter geerbt. Die klare Stirn, die sehr gerade Nase, die etwas schräg stehenden, grünen Augen unter geschwungenen Augenbrauen und das hellbraune, glatte Haar unterschieden ihn doch deutlich von Resa, der eher dunkel wie er selbst war, mit braunen Augen und wuscheligem, schwarzem Haar.
Mit wachsendem Behagen sah Roman, wie liebevoll Raen mit seinem kleinen Bruder umging. Die Liebe für seine Familie durchströmte Roman beständig, und er dachte mit Stolz auch an seine Tochter, die, je älter sie geworden war, in ihrem Aussehen und ihrer Art immer mehr Alea glich. Viel Mut hatte sie aufbringen müssen, um für ihre Berufswahl den Schritt in die Fremde zu wagen. Und Roman hoffte, dass es ihr beim Rinzai Clan gut erging, denn ihr erster Brief von dort hatte viel Zuversicht aber auch viel Heimweh verkündet. Ganz anders wäre da Alea gewesen, dachte Roman in Erinnerungen schwelgend. Sie war merkwürdigerweise immer ganz neugierig auf das Unbekannte gewesen. In diesem Punkt unterschieden sich Mutter und Tochter doch deutlich. Aber Andra würde sich schon zurechtfinden, sie war klug und hatte ein ausgeglichenes Wesen. Ein wenig Sorgen machte er sich trotzdem, denn welcher Vater gab schon gern seine Tochter in die Obhut eines anderen Clans! Und er musste ebenfalls zugeben, dass er sie sehr vermisste. Sie war nach dem Tod ihrer Mutter schnell erwachsen geworden, hatte sich um die Angelegenheiten der Familie gekümmert und war Roman eine große Hilfe gewesen, besonders weil sie Raen unter ihre Fittiche genommen hatte. Das war nicht leicht gewesen für eine Elfjährige. Roman seufzte. Einige Jahre würde er Andra nicht bei sich haben, aber daran sollte er sich besser schnell gewöhnen, denn vielleicht würde sie wie ihre Mutter auf den Geschmack kommen und einfach dort bleiben, weil sie einen netten jungen Mann unter den Rinzai-Leuten gefunden hatte.
‚Ich sollte sie bald einmal besuchen’, dachte Roman, ‚falls der Clan mich für kurze Zeit entbehren kann. Das würde sie bestimmt freuen. Ich könnte dann auch Raen mitnehmen, damit er sehen kann, dass es hinter den Hügeln auch nicht großartig anders ist als hier zu Hause.’
„Hallo, Vater!“ Es war Raen, der ihn aus seinen Gedanken riss, und Roman stellte fest, dass er selbst immer noch in der Tür zum Nebenraum stand. Er ging zum Tisch hinüber, vorbei an den Feuerstellen. Das Gemüse in den Kochtöpfen verbreitete bereits einen verführerischen Duft, der Romans Magen knurren ließ.
„Hallo, ihr zwei!“, grüßte er fröhlich zurück. Er stellte die große hölzerne Schale auf einen Beistelltisch. Darin befand sich noch mehr Kaninchenfleisch, das er aus der Schlachtkammer geholt hatte. Der andere Krieger nahm die Schale in Empfang und setzte seine Arbeit des Zerkleinerns fort. Das Schlachten von Tieren unterlag allein den Kriegern, nur sie durften Leben nehmen und mit dem Blut des gewaltsamen Todes in Berührung kommen. Roman ging kurz zu dem kleinen Brunnen an der Fensterseite der Küche und wusch sich die Hände. Dann kam er zu Raen und Resa zurück.
„So, fertig!“, sagte er und strich Resa über den wilden, dunklen Haarschopf.
„Ich glaube, wir müssen dir schon wieder die Haare kämmen, Resa! Was machst du nur immer? Du siehst völlig zerzaust aus!“, neckte Roman seinen Jüngsten.
Raen musste laut lachen: „Ja, wer weiß, wo er seine neugierige Nase immer reinsteckt!“
„Nase reinsteckt!“, plapperte Resa nach.
„Du kleiner Rabauke! Komm mit, ich bringe dich zu Shani, sie macht dich für das Nachtmahl wieder zu recht. So muss ich mich ja für dich schämen!“ Roman zwinkerte Raen scherzend zu.
„Schämen?“, überlegte Resa laut vor sich hin, als Roman ihn auf dem Arm hob und mit ihm die Küche verließ. Raen winkte seinem Brüderchen hinterher, der kichernd mit einer Hand vorm Mund zurückwinkte.

Im folgenden Monat konnte Raen immer wieder leise Überraschung in den Augen seiner Lehrmeister beobachten, als diese feststellten, wie gemäßigt und angepasst das Verhalten ihres schwierigsten aller Schüler mit einem Mal war. Er hatte aufgehört, Fragen zu stellen und blieb auch sonst unauffällig.
Mit Genugtuung schob der alte Kennarparta das natürlich auf seine mahnenden Worte, die dem Anschein nach auf fruchtbaren Boden gefallen waren, und er strich sich über sein Kinn, wie immer, wenn er in Gedanken war. Raen erkannte diese Geste und war insgeheim sehr zufrieden mit sich. Er spielte ihnen etwas vor, und sie glaubten es! Hervorragend, sollten sie doch ruhig denken, dass er sich willig einordnete. Wem konnte das schon schaden? Hier in der Schule würde er sowieso nichts mehr lernen können. Hier waren alle viel zu einfältig. Also wartete er still und scheinbar friedlich auf den Beginn seiner Ausbildung.
Seine offensichtliche Sinneswandlung fiel aber auch anderen auf, denn eines Tages kam Suneka nach dem Unterricht auf ihn zu.
„Ist irgendetwas mit dir, Raen? Du bist so anders!“, fragte sie ernst.
Raen musste darüber schmunzeln, dass sie anders gesagt hatte.
„Was ist? Warum lachst du?“
„Ach, nichts. Ich bin anders als sonst? Wie denn?“ Er wollte sie ein bisschen herausfordern.
„Na ja, so still, so ... zurückhaltend und ... folgsam! Das passt gar nicht zu dir.“
„Ach, wirklich?“, sagte Raen und dachte etwas ärgerlich: ‚Wieso denn eigentlich nicht?’ Laut aber fuhr er fort: „Was passt denn besser zu mir?“
Suneka blickte Raen verwirrt an.
Er half ihr weiter auf die Sprünge: „Vielleicht Aufsässigkeit, Ungehorsam, dumme Fragen, na?“
Suneka schüttelte den Kopf und blinzelte dabei heftig. „Nein, äh, das ist es nicht ...“ Sie wurde rot.
„Dann weiß ich nicht, was du meinst. Ich bin ich, und das ist gut so!“ Raen untermalte diese Äußerung über sein Selbstverständnis, indem er sie einfach stehen ließ und ein paar Schritte zur Tür ging. Verdutzt blickte sie ihm hinterher.
‚Gedanken, frei wie der Wind, aber alles zu seiner Zeit!’, dachte er befriedigt, dann drehte er sich wieder zu ihr um. Sein Lächeln war offen und herzlich, wie es immer war.
„Kommst du jetzt endlich, oder muss ich allein nach Hause gehen?“

*

König Katthike hatte gerade eine kleine Zwischenmahlzeit verspeist und ließ sich seinen Kelch ein weiteres Mal mit kühlem Wasser auffüllen, als eine edel wirkende, askharische Erscheinung die von einem Sonnensegel geschützte Terrasse betrat und höflich darum bat, nähertreten zu dürfen. Mit straffem Schritt und einer zwar zurückhaltend aufrechten, aber dennoch kraftstrotzenden Körperhaltung kam die Person schließlich auf den König zu, das Haupt erhoben, ohne das Kinn dabei vorzurecken. Das schwarze Haar des Mannes wehte im warmen Wind des Spätnachmittags, seine Kleidung war sauber und vornehm, aber eindeutig auch die eines Kriegers. Katthike beobachtete das Herannahen seines Besuchers sehr aufmerksam. Er bemerkte die feinen, gebräunten Gesichtszüge seines Gegenübers und den sauber geschnittenen Bart an Kinn und Wangen. Dann blickte er Kanaima direkt an. Doch die leuchtend blauen Augen seines Sohnes waren sanft und ruhig. Etwas überrascht lehnte Katthike sich zurück, konnte er sich doch noch lebhaft an den hasssprühenden Blick des damaligen Zwölfjährigen erinnern, der eher einer kleinen Bestie geglichen hatte. Davon aber war nun nichts mehr zu entdecken. Und als Kanaima zu sprechen begann, nahm seine tiefe, weiche Stimme mit den wohlgewählten Worten Katthike mehr gefangen, als diesem lieb war. Denn auch hier konnte er nicht die geringste Spur von Hass oder Zorn erspüren. Katthike war, ohne es zu wollen, beeindruckt. Wahrlich, das musste er zugeben, sein Vetter Karlis-Renandi hatte gute Arbeit geleistet und eine anständige Persönlichkeit aus Kanaima gemacht! Nach allem, was er von seinem Sohn wusste, hatte er mit einem wilden und hitzköpfigen Halbstarken gerechnet, aber bestimmt nicht mit diesem erstaunlich kultivierten jungen Mann mit seinen vollendeten höfischen Manieren. Katthike lächelte, und es war wohl das erste wirklich wohlgemeinte Lächeln, das Kanaima in seinem Leben von seinem Vater erhielt.
Kanaima lächelte zaghaft zurück. Seine blauen Augen strahlten.
Sein Vater hatte sich kein Stück verändert, dachte er abfällig, weder innerlich noch äußerlich! Er war immer noch das gleiche verkommene und selbstgerechte Scheusal! Doch er selbst hatte dank seines Mentors eine wundersame Verwandlung getan. Das war ihm mit einem einzigen Blick in die unfreiwillig erstaunten Augen Katthikes klar geworden.
‚Ich bin anders!’, stellte Kanaima zufrieden fest, als er die Kreatur, die dort vor ihm saß, mit scheinbar neutralem Blick betrachtete. Doch trotz seines erstarkten Selbstbewusstseins fühlte Kanaima, wie sich das Gefühl der Beklemmung erneut bei ihm einzuschleichen versuchte. Bereits jetzt schon sehnte er sich danach, seine Reise endlich fortsetzen zu können. Die Gegenwart dieses Mannes machte ihn krank. Doch zuerst musste er erreichen, was er sich vorgenommen hatte. Er wusste, dass Katthike ihn noch immer nicht in die Nähe des noch lange nicht großjährigen Setna lassen wollte. Der mickrige dreizehnjährige Knirps war noch immer des Königs Augapfel. Aber das machte Kanaima nichts. Er fand das Angebot seines Vaters, für ein paar Jahre nach Borgossa an die dortige Akademie für Kriegskünste zu gehen, weitaus verlockender, als hier im Palast auf all die alten verhassten Gesichter zu treffen. Der König hatte ihn nur vorher noch einmal hierher bestellt, um ihn neu einschätzen zu können. Kanaima dachte, dass er das genauso getan hätte, wenn er an dessen Stelle gewesen wäre. In zehn Jahren konnte sich ein Mensch schließlich enorm verändern. Er ertappte sich dabei, sich vorzustellen, welch ein Wesen Setna jetzt wohl haben mochte. War er ein scheuer Junge oder ein kleiner Großkotz? Hatte er eine schöne Kindheit in dieser Schlangengrube gehabt, oder hatte er es auch gehasst?
Während dem erwachsen gewordenen Prinz dies alles und noch viel mehr durch den Kopf ging, verriet seine Miene nicht den leisesten Gedanken. Nur sein Lächeln öffnete sich noch weiter und wurde breit und herzlich. Und Stück für Stück nahm er damit seinen Vater immer weiter für sich ein.

14. Kapitel



Selbst die ältesten der Alten konnten sich nicht daran erinnern, dass es jemals einen solch heißen Sommer in Hy gegeben hätte. Die Getreidefelder wurden schnell gelb und im Nu waren die zarten Farben des Monats Mai vergangen. Das Land dorrte unter der sengenden Sonne. Menschen und Tiere lechzten nach Abkühlung, die einfach nicht kommen wollte. In den Wohntürmen des Chorten staute sich die Hitze und selbst nachts war es dort kaum auszuhalten. Viele schliefen deshalb draußen auf dem Hof oder auf der Mauer, in der Hoffnung auch nur den leisesten Lufthauch aufzufangen. Einige schlugen ihr Nachtlager sogar dauerhaft in den Kellergewölben auf, obwohl es dort feucht von den Wänden tropfte.
Am Tage geschah nicht viel, früh morgens wurde nur das Nötigste gearbeitet, dann zogen sich alle in den Schatten zurück, um die Mittagshitze auszusitzen, und am Abend wurde der Rest erledigt - all dies natürlich in einem sehr gemächlichen Tempo. Auch die Schule hatte ihre Tore geschlossen. Das brütende Klima hatte die Schüler zu träge im Kopf werden lassen für das Lernen von religiösen Texten oder des Sinns von Wechselfrucht auf den Feldern. Die Kinder des Shari Clans begrüßten diese zusätzliche freie Zeit natürlich sehr und genossen es, in kleinen Grüppchen durch die Wiesen und Haine zu streifen, auf Obstbäume zu klettern, „Hasenlauf“ zu spielen - ein sehr beliebtes Ballspiel -, oder sich zusammen mit den Erwachsenen im Badehaus in der Feldmark eine Abkühlung zu verschaffen. Raen, der etwas viel Besseres zu tun hatte, als langweilig im Wasser herumzusitzen, verschob das Baden auf eine spätere Tageszeit. Er besuchte so oft wie möglich Hereke, dem die Freiheiten der Schüler nun nicht mehr zugute kamen. Das machte dem Pferdelehrling aber nicht viel aus, denn für ihn standen die Tiere an erster Stelle und außerdem konnte er ja auch noch zum Baden gehen, wenn er seine Arbeit erledigt hatte. Hereke war, seit er seine Ausbildung begonnen hatte, sehr viel kräftiger geworden und hatte noch einen weiteren Schub in die Höhe getan. Jetzt war er fast einen Kopf größer als Raen, der neben seinem Freund schlaksig wie eines der Fohlen wirkte.
Bestimmt würde Hereke einmal genau solch ein Hüne werden wie sein Vater, dachte Raen und sah seinen Freund bewundernd an. Dessen Schultern waren von der Arbeit mit den Pferden breit geworden und seine Arme und Hände sehnig, mit festem Griff. Ansonsten war er noch derselbe, stets gern zu einem Späßchen aufgelegte und dennoch sehr verantwortungsbewusste Bursche mit den sanften, braunen Augen, die in seinem runden, gutmütigen Gesicht, das nur durch die leicht gebogene Nase etwas Schärfe bekam, immer aufleuchteten, wenn Raen zu ihm auf den Hof kam. Raen half ihm beim Füttern der Tiere und der Pflege des Sattelzeugs. Die Zeit, die sie dadurch gewannen, verbrachten sie dann nachmittags in den kühlen Schatten des Waldes.
Erst vor kurzem hatten sie dort bei ihren Ausritten eine Stelle entdeckt, die wunderschön, aber auch sehr geheimnisvoll war. Sie befand sich etwas ab vom Weg, nur wenige Schritte weit in den Wald hinein und dann eine steile Böschung hinauf auf einem Absatz. Unter hohen Kiefern und Fichten lagen große, moosbewachsene Felsbrocken wie zufällig auf dem mit kniehohen Heidelbeersträuchern bedecken Waldboden verstreut. Das Besondere an ihnen war aber nicht nur ihre enorme Größe, sondern auch, dass sie alle rund im Querschnitt waren. Sie sahen aus wie dicke Baumstämme aus Stein, und Raen und Hereke fragten sich, ob es tatsächlich versteinerte Bäume waren. Die ersten Male hatten sie rings herum alles abgesucht, aber nichts finden können, was ihre Vermutung bestätigt hätte. Und so war es für sie einfach ihr geheimer „Steinwald“, von dem nur sie etwas wussten und wo sie sich ungestört zurückziehen konnten. Nachdem sie die Pferde angebunden hatten, erklommen Raen und Hereke die Steinwalzen - was gar nicht so einfach war - und setzten sich. Von diesem Platz aus hatten sie einen guten Blick zwischen den Stämmen der Bäume hindurch auf die sonnenbeschienenen Felder des Chor und hinüber bis zum nächsten bewaldeten Hügel, auf dem ein Choron emporragte. Die Flagge des Clans hing matt von dessen Spitze herab. Nicht einmal die Ahnen der Winde konnten sich dazu aufraffen, über das aufgeheizte Land zu ziehen.
Raen und Hereke genossen ihr Alleinsein und die schattige Kühle. Und wenn sie nicht miteinander redeten, lauschen sie den Geräuschen des Waldes. Raen liebte die stille Geborgenheit unter den hohen Wipfeln. Wenn er von den wippenden Zweigen, den knorrigen Ästen, den aufstrebenden Baumstämmen und dem harzigen Duft von Mutter Hrauna umgeben war, konnte er ganz deutlich die beruhigende Kraft des Universums fühlen. Sie vibrierte durch seine Fußsohlen in seinen Körper hinein und strömte mit seinem Atem wieder aus seinen Lungen heraus - ein ewiger Kreislauf. Der Wald war seine Heimat wie auch der Chorten und die Felder. Aber er war anders als die von Menschenhand erbaute Festung oder die kultivierten grünen Flächen ringsherum. Der Wald war lebendig und wild und unglaublich schön. Doch wenn man ihn betrat, musste man auch seine Regeln befolgen, nur dann konnte einem nichts geschehen und man war sicher in den Armen der großen, grünen Mutter. Raen hatte viel Respekt vor dem üppigen Dickicht, das sich hinter ihnen bis ins Unermessliche ausdehnte und die Heimstatt von vielen wilden Tieren war, von denen er selbst bisher aber nur wenige zu Gesicht bekommen hatte, da sie sich nur selten auf die freien Flächen des Chor vorwagten. Sein Vater hatte ihm viele Geschichten von seinen Reisen durch die Wälder und den Jagden erzählt, und er hatte die Tiere beschrieben, die ihm dabei begegnet waren: Das flinke Rehwild, den zielstrebigen Wolf, den mächtigen Hirsch, den hinterhältigen Bären, den leise schleichenden Luchs in den Bergwäldern und das forsche, schwarzborstige Wildschwein. Raen war fasziniert davon. Zu gerne hätte er seinen Vater einmal auf die Jagd begleitet, aber dies war wie scheinbar so viele aufregende Dinge im Leben wieder einmal nur Angelegenheit der Krieger. Zwar hoffte Raen, wenigstens bei seinen Ausflügen mit Hereke ein paar der Waldbewohner anzutreffen, doch bisher hatten sich nur Eichhörnchen, Mäuse, Vögel und Eidechsen in ihre Nähe gewagt. Was bei den laut schwatzenden und lachenden Jungen auch kein Wunder war, da blieben die großen, scheuen Tiere lieber in ihren Verstecken.
„Bist du dir eigentlich immer noch sicher, dass du Priester werden willst?“, fragte Hereke plötzlich, eben hatten sie noch über alte Schulgeschichten gelacht.
„Ja, natürlich, mehr denn je!“, antwortete Raen bestimmt und lachte über Herekes Ernsthaftigkeit. „Warum sollte ich nicht sicher sein?“
„Na ja, ... ich weiß auch nicht. Ich glaube, ich kann mir einfach nur nicht vorstellen, im Tempel zu leben. Es ist zwar ganz nett dort, schön ruhig vor allem, aber es ist auch sehr streng! Ich finde die Priester manchmal sogar unheimlich!“
„Das empfindest du nur deshalb so, weil du nicht genau weißt, was sie eigentlich tun.“
„Ja, das mag wohl so sein. Du hast da sicher mehr Zugang als ich.“ Hereke verstand anhand der Wünsche seines besten Freundes, dass Menschen zwar die gleichen Interessen haben konnten, durch ihre unterschiedlichen Fähigkeiten aber verschiedene Wege gehen mussten. Und dass das aus irgendeinem Grund auch seine Richtigkeit hatte.
„Der Tempel ist wunderbar. Ich fühle mich dort sehr wohl, fast so wie hier im Wald, aber das kann man kaum miteinander vergleichen. Das hier ...“, Raen machte eine ausgreifende Geste, „das ist eine ganz andere Kraft, als die im Tempel. Dort atmet jeder heilige Gegenstand, jeder geheime Winkel, jede Textzeile der Gebetsschriften, jeder gesungene Ton, jede rituelle Bewegung die Kraft des Geistes und des Glaubens aus. Der Geist Hyauns scheint zum Greifen nahe. Ehrlich gesagt, ich kann es kaum erwarten, dort einzuziehen.“
Hereke sah Raen skeptisch an. „Also ich spüre im Tempel nicht viel, außer vielleicht Ehrfurcht und ein Jucken in der Nase vom vielen Räucherwerk!“, sagte er scherzend. Er zog Raen gern ein wenig auf, aber dieser wusste, dass es nur herzlich gemeint war.
„Das Melam ist ...“
„Ja, ich weiß, der Atem Hyauns!“, unterbrach Hereke seinen Freund und sah ihn jetzt wirklich ernst an. „Was ist mit deinem Wunsch, in die Kriegerkaste aufgenommen zu werden?“ Hereke war der einzige, der von Raens geheimen Wunsch wusste.
„Ich habe mich damit abgefunden, dass Hyaun mich nicht zu sich rufen wird, zumindest nicht auf diese Art.“
„Ehrlich?“
„Ja, ganz ehrlich.“
Hereke spürte, dass sein Freund aufrichtig war. Er bewunderte Raen für dessen starken Willen.
„Weißt du, dass Kaera vor drei Tagen seinen Kall hatte?“, fragte Raen seinen Freund. Kaera war ein Jahr jünger als Raen und der Sohn des obersten Baumeisters des Clans.
„Ja, mein Vater hat es mir erzählt. Kaera darf sich bald ein Pferd aussuchen, wenn er seine ersten Ausbildungsmonde hinter sich hat. Tja, wenn ich mich richtig erinnere, hatte er ja eigentlich Vorratsmeister werden wollen. Wegen der ganzen Zahlen. Er liebt es, zu rechnen.“ Hereke schüttelte den Kopf, als könne er diese Leidenschaft nicht verstehen. „Ich hoffe, er wird damit glücklich, ein Erwählter zu sein. Es ist eine große Ehre für ihn. Aber, Raen, ich muss gestehen, ich bin heilfroh, dass ich nicht zum Krieger berufen wurde. Das wäre absolut nichts für mich. Vor dem, was die Krieger tun müssen, hätte ich große Angst!“, entgegnete Hereke. Eine nachdenkliche Pause trat ein. „Ach, ich hoffe nur, dass wir noch für einander Zeit haben werden, wenn du zu den Priestern gehst!“ Hereke seufzte.
„Ich bin dann doch nur im Tempel, Hereke, nicht eingesperrt!“, entgegnete Raen, aber er wusste, er würde es auch vermissen, wenn sie nicht mehr in den Wald hinausreiten oder des Nachts im Stroh der Scheune liegen und sich bis in die Morgenstunden Geschichten erzählen könnten.
„Einige Dinge werden wir wohl nicht mehr tun können“, sagte er etwas traurig, „aber ich verspreche dir, ich komme dich so oft besuchen, wie ich kann!“
„Ich könnte dich auch besuchen, so schlimm ist der Tempel nun auch wieder nicht. Obwohl ich nicht weiß, ob ich den Anblick ertragen kann: Du mit kahlem Kopf und gelber Priesterkutte!“
„Keine Angst, ich werde dann immer noch derselbe sein.“
Sie sahen einander an. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie die besten Freunde waren!
Als die Sonne über dem Hügel mit dem Turm stand, wussten sie, dass es Zeit war, sich auf den Rückweg zu machen. Sie verließen ihren „Steinwald“ und gingen zu den Pferden, die die ganze Zeit über damit beschäftigt gewesen waren, sorgfältig alle saftigen Grashalme zwischen den Heidelbeeren herauszuzupfen. Die beiden Jungen lösten die Knoten der kurzen Stricke zwischen den Vorderläufen, nahmen die Zügel und führten die Tiere vorsichtig die steile Böschung hinunter aus dem Wald.
Die Hitze empfing sie wie eine heiße Wand, und noch ehe sie aufgesessen waren, lief ihnen schon wieder der Schweiß.
Um die Pferde zu schonen, trotteten sie im gemächlichen Schritt dahin. Auf ihrem Weg zum Henendras Hof kamen sie am Badehaus vorbei, wo gerade rege Aufbruchsstimmung herrschte. Die Kinder und Erwachsenen wurden im Chorten für das zu beendende Tagewerk erwartet. Raen erkannte seinen kleinen Bruder und winkte ihm. Resa winkte zurück und wollte zu Raen hinüberlaufen, doch das Kindermädchen hielt ihn gerade noch rechtzeitig am Hemdzipfel zurück. Raen lachte, bedeutete Hereke, ihm zu folgen, und ritt zu Resa. Der kleine Junge hatte eine nasse, zerzauste Mähne und hielt das Kindermädchen sichtbar auf Trab.
„Hallo, Raen, hallo, hallo!“, rief er begeistert.
„Hallo, Resa, sei nicht so stürmisch, siehst du nicht, dass du deine Mitmenschen mit deinem ständigen Herumgezappel überforderst!“, beruhigte Raen ihn amüsiert. Das Kindermädchen, es war vielleicht gerade einmal zwei Jahre älter als Raen, warf ihm einen gereizten Blick zu. Schnell, da Resa für einen kurzen Moment still hielt, band sie ihm seine Haare zu einem mehr oder weniger ordentlichen Zopf zusammen.
„Ich möchte auch reiten!“, rief Resa und reckte beide Hände in die Luft.
Raen blickte Hereke an, der mit den Schultern zuckte.
„Warum nicht“, sagte dieser.
Raen gab dem Kindermädchen zu verstehen, sie solle seinen Bruder etwas hochheben, damit er ihn vor sich auf das Pferd setzen konnte.
„Ja, nimm ihn bloß mit, den kleinen Quälgeist! Dann kann ich mich endlich um all die anderen kümmern - was ja kaum möglich ist, wenn er dabei ist!“ Das Kindermädchen drehte sich rasch um, doch Raen sah ihre offensichtliche Erleichterung trotzdem.
„Resa ist wirklich ein anstrengendes Kind!“, schimpfte sie über ihre Schulter hinweg. „Das nächste Mal fordere ich Verstärkung an, wenn er wieder in meiner Gruppe sein sollte.“
Raen grinste, und Resa quietschte vergnügt, als sie im sanft schaukelnden Schritt den ihren Weg fortsetzten. Bis zum Hof war es nicht mehr weit, nur noch die Straße entlang durch die Feldmark und bei dem Obsthain um die Kurve. Raen ließ Resa die Zügel halten, das Pferd reagierte sowieso hauptsächlich auf seine Schenkelhilfen. Doch er ließ Resa die Illusion, das Tier ganz alleine zu lenken, was ihn ganz besonders freute.
Wenig später erreichten sie den Hof, und Herekes Vater kam ihnen lächelnd entgegen.
„Na, ihr zwei, war es schön unterwegs?“
„Ja“, antworteten Raen und Hereke gleichzeitig.
„Wen haben wir denn da? Resa Ra isu Roman, den zweiten Sohn Romans, und schon hoch zu Ross!“ Henendra zwinkerte Resa zu, nahm die Pferde am Zügel, und die Jungen stiegen ab.
Als sie mit in den Stall gehen wollten, winkte Henendra ab: „Lasst nur, ich kümmere mich um die Pferde. Raen, nimm du deinen Bruder und lauft schnell nach Hause, ihr werdet sicher schon erwartet! Und du, Hereke, geh rein und hilf bitte deiner Mutter in der Küche.“
Sie verabschiedeten sich, und Raen und Resa eilten die Straße hinauf zur Festung. Im Waschhaus säuberten sie ihre Gesichter und die Hände.
„Ich war doch gerade baden!“, protestierte Resa, als sein Bruder ihm die Seife in die Hand drückte.
„Das weiß ich, aber du hast doch das Pferd angefasst oder etwa nicht! Und wenn wir jetzt in die Küche gehen, müssen wir saubere Finger haben!“
Resa tat, wie ihm geheißen und schrubbte sich die Finger.

Die Küche war bei der Hitze, die draußen herrschte, nicht gerade eine Oase der Frische. Die Kessel dampften und die Öfen glühten, trieben den Küchenarbeitern den letzten Tropfen Schweiß aus den Poren. Raen schickte Resa zum „Herrn des Hauses“, dem Chef der Küche, der den kleinen Jungen zum Verlesen der Linsen und Bohnen einteilte. Raen selbst ging zu den Arbeitstischen hinüber und machte sich daran, wie üblich das Gemüse zu schneiden. Suneka und ihre Schwester Soema standen ihm gegenüber und lächelten ihm zu. Er grinste zurück und nahm das Messer, was eigens dafür gedacht war, nur blutlose Dinge zu schneiden. Denn für Fleisch gab es spezielle Blutklingen, die nur von Kriegern benutzt werden durften.
Raen seufzte, vor ihm lag ein Berg Zwiebeln, die alle in kleine Stücke zerteilt werden wollten. Sie waren zusammen mit Mohrrüben, Knoblauch und Linsen Bestandteil des Eintopfes, den es heute Abend geben sollte. Raen wappnete sich innerlich gegen die ihm bevorstehende tränenreiche Arbeit. Und lange musste er auch nicht darauf warten, bis ihm neben dem Schweiß auch noch die Tränen liefen.
Suneka und Soema kicherten über das gerötete Triefnasengesicht ihres armen Ziehbruders. Doch Raen schlug sich tapfer, er würde es schon schaffen! Mit dem Ärmel wischte er sich Gesicht und Augen trocken, was aber nicht viel half, er sah nur noch Schlieren. Um sich jedoch keine Blöße vor den Mädchen zu geben, schnitt er trotzdem weiter und dabei direkt in seinen Finger.
Suneka und Soema schrien an Stelle Raens spitz auf. Ihre Scherze gingen ihm langsam ein wenig auf die Nerven. Warum waren Mädchen nur so albern?
Plötzlich merkte er, dass sein Finger leicht brannte. Er wischte sich erneut über die Augen und sah ihn sich an. Er staunte ein wenig, denn so viel Blut hatte er noch nie gesehen. Natürlich hatte er sich früher schon einmal das Knie aufgeschlagen oder den Finger geklemmt, aber dabei war nie so viel Blut geflossen. Jetzt lief es unaufhörlich von dem tiefen Schnitt in seinem Daumen über das Handgelenk in seinen Ärmel. Neugierig betrachtete er das frische, feuchte Rot. Er wollte gerade einen Finger hineintauchen, da packte ihn eine andere Hand am Handgelenk und hielt ihn davon ab. Er sah auf. In der Küche herrschte mit einem Mal große Aufregung. Die Frauen redeten hektisch durcheinander und einige mussten sich sogar setzen, weil ihnen ganz schwindelig wurde angesichts der roten Flut, die aus der Wunde trat. Eine der Küchenhelferinnen nahm mit einem Tuch schließlich beherzt das besudelte Messer auf, und noch ehe Raen wusste, wie ihm geschah, befand er sich inmitten einer Gruppe aufgeregter Frauen und Männer auf dem Weg zum Tempel. Die Hand eingewickelt in ein Stück schwarzen Stoffes, der dazu diente, die Leute vor dem Anblick des unglückbringenden roten Saftes zu schützen, wurde er energisch vorwärts geschoben, bis sie das Tempeltor erreichten. Die Priester schreckten ob des Trubels aus ihren stillen Gebeten und standen verwundert von ihren Bänken auf.
„Oh, welch ein Unglück! Schnell, wascht ihn rein von dem bösen Geist, der auf ihn niedergefahren ist!“
„Er hat sich in die Hand geschnitten, in seine Seele! Oh, Hyaun steh ihm bei!“, zeterte die Gruppe.
Raen stand an ihrer Spitze, die Frau mit dem Messer neben ihm. Alle anderen fielen auf die Knie und begannen durcheinander zu flehen und zu beten. Auch die Priester erfasste Unruhe. Geschäftig liefen sie umher und bereiteten alles für die notwendige Reinigungszeremonie vor. Raen war fasziniert angesichts dieser Panik, die er ausgelöst hatte. Aber er verstand sie nicht. Er hatte sich geschnitten, weiter nichts. Er wusste zwar, dass es angeblich Unglück brachte, wenn man durch Eisen oder Stahl verletzt wurde, aber musste man deswegen gleich solch eine Aufregung veranstalten?
„Weine nicht, wir entfernen den bösen Geist des Zura, des Unheils, wieder von dir!“, sprach einer der Priester betroffen und legte ihm beistehend eine Hand auf die Schulter.
„Ich weine gar nicht, das kommt von den Zwiebeln!“, antwortete Raen brüsk, und der Priester wich ein wenig zurück. Mit spitzen Fingern und zusammengepressten Lippen nahm er der Frau das Messer ab, das Raens Blut getrunken hatte, und hielt es weit von sich, als sei es der böse Geist persönlich. Er trug es vor den Altar, wo er es umständlich aus dem Tuch wickelte und auf einen Messingteller legte. Dann kam der ehrwürdige Oberpriester. Er führte Raen zu dem Teller, postierte ihn daneben und wickelte ihm eigenhändig den schwarzen Stoffstreifen von der Hand. Die Menge, zu der sich weitere Neugierige gesellt hatten, stöhnte beim Anblick des rotverschmierten Armes auf.
Raen fand, dass es gar nicht so „böse“ aussah, aber die Leute im Hintergrund waren da offenbar anderer Meinung. Was nun folgte, war eine umständliche Zeremonie, die Raen mehr belustig als besorgt über sich ergehen ließ.
Anschließend verließen die Leute beruhigt den Tempel und gingen wieder an ihre Arbeit. Das Unglück war besiegt und vertrieben!
Raen stand noch immer vor dem Altar und sah auf den Schnitt, der jetzt, fast sauber, noch viel harmloser wirkte. Er schüttelte den Kopf. Warum sollten Verletzungen mit Eisen Unglück bringen? Das Ganze war doch ein recht alberner Aberglauben!
„Mein, Junge!“ Er drehte sich um, sah zum Eingang und stöhnte innerlich auf. Von dort eilte ihm eine überbesorgte Shani zusammen mit einer Medizi entgegen.
‚Nicht auch das noch!’, dachte er.
Atemlos kamen die beiden Frauen bei ihm an.
„Entschuldige, dass wir so spät sind. Aber ich habe es eben erst erfahren. Oh, wie schrecklich!“, schnaufte Shani vor Betroffenheit, als sie den Schnitt sah. Ihre füllige Brust hob und senkte sich.
„Geht es dir gut?“, fragte die Medizi besorgt.
„Bitte, beruhigt euch doch endlich! Ihr macht mich ganz verrückt mit eurer Panik. Ja, mir geht es gut!“, antwortete Raen leicht gereizt. Eigentlich wollte er jetzt gerne allein sein. Manchmal machte ihn das viele Mitgefühl der Gemeinschaft wirklich zu schaffen. Ohne unhöflich zu sein, bat er darum, gehen zu dürfen, doch die Medizi und Shani bestanden darauf, dass er sich erst im Waschhaus von den Resten des Unglücks säuberte und dann von der Medizi noch einen Verband bekam. Mit dem letzten Rest Geduld ließ er auch diese Prozedur über sich ergehen und wurde dann entlassen.
„Sollen wir deinem Vater gleich Bescheid sagen, sobald er wieder zurück im Chorten ist?“, fragte Shani immer noch sehr aufgebracht.
„Ich mache das schon selbst, danke. Außerdem wird es ihm wahrscheinlich schon vor den Toren zugetragen werden. Vögel fliegen weit und zwitschern laut!“ Raens Stimme troff vor Sarkasmus, doch die beiden Frauen reagierten nicht darauf. Er blickte sie an. Aber Shani und die Medizi verneigten sich nur stumm nickend und ließen ihn endlich allein.
Um sich vor weiteren fürsorglichen Zugriffen und mitleidvollen Blicken zu schützen, verzog er sich auf die Westmauer der Festung. Er hatte vorerst genug von alledem, sogar so sehr, dass er freiwillig auf das Essen verzichtete, was ihm natürlich großzügig und mitfühlend nachgesehen wurde. Stattdessen saß er auf der Mauer und sah zu, wie die Sonne rot wurde und die Landschaft in feuriges Licht tauchte, bevor sie hinter den Hügeln verschwand. Die Nacht stieg vom Himmel herab, aber die Wärme, gespeichert in den Steinen der Festung, blieb. Später, als seine Laune sich wieder gebessert hatte, ging Raen in das Gemeinschaftszimmer der heranwachsenden Knaben im vierten Stock des Nordturmes und legte sich schweigend Schlafen.

Drei Tage lang ließ er den Verband dran, dann entledigte er sich seiner, natürlich unter großem Protest Shanis. Aber mit seinem Daumen war alles in Ordnung, und Raen sah nicht ein, warum er noch länger im Mittelpunkt des gemeinschaftlichen Mitgefühls stehen sollte. Also verschwand das leidige Stück Stoff um seine Hand. Und um die Schnippelarbeit in der Küche machte er vorerst freiwillig einen großen Bogen, da er so schnell nicht wieder für Aufregung sorgen wollte.
Roman hatte kaum Aufheben um die ganze Angelegenheit gemacht. Er hatte nur einen kurzen Blick auf die schon fast geschlossene Wunde geworfen, mit dem Kopf genickt und Raen dann entlassen. Man konnte annehmen, dass der kleine Schnitt für die Augen eines Kriegers geradezu lächerlich anmuten musste, angesichts der Verletzungen, die wahrscheinlich ein scharfes Schwert verursachen konnte.
Sein Freund Hereke aber wollte von ihm selbstverständlich alles haargenau wissen. Sie waren wieder einmal ausgeritten und saßen gemeinsam in ihrem Steinwald.
„Und, was lernen wir daraus?“, fragte Hereke.
Raen zuckte mit den Schultern.
„Na, nie wieder Zwiebeln schneiden und dabei den Mädchen hinterher schauen!“
Raen spürte, wie er rot wurde. „Ja, dumm, nicht wahr?“
„Ach nein, das würde ich nicht sagen. Nur beides gleichzeitig zu tun, ist nicht ratsam. Mädchen erfordern eben die volle Aufmerksamkeit!“
Raen wollte gerade darauf antworten, dass es überhaupt nicht so gewesen war, da kam ihm sein Freund zuvor.
„Soll ich dir mal etwas verraten?“, tat Hereke mit einem Mal ganz geheimnisvoll.
„Was denn?“
„Ich habe gehört, dass wir nächstes Frühlingsfest beim Rinzai Clan eingeladen sind. Mein Vater war gestern auf der Ratsversammlung, wo sie über die Einladung gesprochen haben, und später hat er meiner Mutter davon erzählt.“
„Du hast gelauscht, willst du wohl damit sagen!“, unterbrach Raen ihn neckend.
„Nein! Es ich habe es ganz zufällig mitbekommen. Ehrlich!“
„Wenn du das sagst, glaube ich es dir.“ Raen musste grinsen. So wie Hereke ihn manchmal gerne aufzog, brachte er diesen gerne mit seiner ungewöhnlichen Ironie ins Schleudern.
Hereke schwieg, als versuche er noch immer einzuschätzen, wie Raen das soeben Gesagte gemeint haben könnte.
„Du sollst nicht über mich spotten, Raen Ra Roman Shari!“, sagte Hereke schließlich ernst und nannte ihn beim vollen Namen.
„Das würde ich doch niemals tun!“
„Ach ja, und du tust es gerade doch! Ich habe dich durchschaut. Deine Worte sind immer das Gegenteil von dem, was du gerade meinst!“
Raen platzte vor Lachen. Er viel fast hinten über und hielt sich den Bauch. Hereke mimte den Beleidigten und gab seinem Freund einen Schubs.
„He, was soll das?“ Raen konnte kaum noch sprechen vor Lachen. Er verlor die Balance und fiel hinterrücks vom Stein.
„Das ist nicht nett, so über jemanden zu lachen!“, rief Hereke ihm hinterher.
Raen landete weich in den Heidelbeerbüschen.
„Dann lach doch einfach mit! Komm schon, so schlimm war das doch nicht!“, rief er zu dem Älteren hinauf und beruhigte sich wieder etwas. Er versuchte, Hereke ernst anzusehen, und dann lachten sie beide. Hereke sprang neben seinen Freund ins niedrige Gesträuch und ließ sich ebenfalls nach hinten fallen. Es roch nach Heidelbeeren und Kiefernnadeln, und ihnen war klar, dass sie mächtig Ärger bekommen würden, wenn ihre Eltern die Flecken der blauen Beeren auf ihren Jacken und Hosen sehen würden. Der nächste Morgen würde für sie wohl noch vor Sonnenaufgang in der Waschkammer beginnen. Aber das war ihnen in diesem Moment egal. Sie sahen zu den Wipfeln der Bäume auf. Der Himmel leuchtete grell durch die Lücken im grünen Laub, und die Luft summte von den Insekten, die über sie hinweg schwirrten. Ansonsten war es still.
„Also, wir sind auf dem Fest eingeladen ...“, versuchte Raen das Gespräch wieder in Gang zu bringen, und sofort setzte Herekes Begeisterung wieder ein.
„Ja, ist das nicht großartig? Dort werden wir neue Leute kennenlernen, vor allem viele neue Mädchen!“, sagte der Pferdebursche und ließ seine Augenbrauen tanzen. „Obwohl ich sagen muss, dass ich eigentlich schon eine heimliche Flamme habe! Wie steht es denn mit dir, wen von den Mädchen magst du denn so?“ Er stutzte plötzlich. „Oh, entschuldige, ich habe gar nicht daran gedacht, dass ...“
„Schon gut, mich interessiert das sowieso nicht, das wollte ich dir vorhin schon sagen. Aber zum Frühlingsfest werde ich hoffentlich mitkommen können. Dann kann ich vielleicht endlich meine Schwester wiedersehen. Ich möchte wissen, wie es ihr geht“, sagte Raen, zupfte einen Grashalm aus und begann darauf herumzukauen.
Hereke wirkte immer noch etwas betreten.
„Das muss dir jetzt nicht unangenehm sein, du kannst mir trotzdem auch weiterhin alles erzählen, auch wenn ich in den Tempel gehe.“ Raen schmunzelte. „Und? Wer ist nun deine heimliche Liebe?“
Hereke grinste breit. Er genierte sich ein wenig.
„Aber du musst mir versprechen, dass du es für dich behältst! Außer dir, weiß es keiner“, schwor er Raen ein.
„Versprochen!“
Aber Hereke sagte immer noch nichts.
„Jetzt mach es nicht so spannend, oder vertraust du mir nicht?“
„Doch, natürlich vertraue ich dir. Ich habe nur gedacht, ... weil es deine Ziehschwester ist ...“
„Was? Suneka?“, rief Raen überrascht aus und setzte sich auf.
„Pssst, nicht so laut!“ Hereke war verlegen, sein Gesicht wurde knallrot.
„Ist es wirklich Suneka?“
„Ja! Sie ist einfach umwerfend, ihr Lächeln, ihre Augen!“ Hereke blickte verträumt in die Ferne.
„Aber das geht doch nicht!“, sagte Raen plötzlich empört und stemmte seine Fäuste in die Hüften.
„Was? Warum denn nicht?“, stutzte der Ältere und dessen Gesichtsröte wich erschrockener Blässe.
Derweil lachte Raen amüsiert darüber, dass sein Freund ihm wieder einmal auf den Leim gegangen war. Er stieß ihn freundschaftlich mit dem Ellenbogen an, und da verstand Hereke.
„Wenn du so weiter machst, Raen, Sohn von Roman, dann glaube ich dir demnächst kein einziges Wort mehr!“ Der junge Pferdebursche schnaubte erbost.
„Du könntest dich auch einfach daran gewöhnen, Hereke, Sohn von Henendra!“
Bis die Sonne wieder ihre Position über der Turmspitze einnahm, unterhielten sich die beiden Freunde über Herekes neue Gefühle für das andere Geschlecht. Raens Inneres wurde dabei etwas nachdenklicher. Er fragte sich, ob diese Art von Empfindung bei ihm auch vorhanden war und ob sie, wenn sie denn eines Tages erwachen sollte, sich mit dem Priesterleben vereinbaren lassen würde.

15. Kapitel



„Nun stehst du vor uns, Befragter, Schüler Raen, Sohn von Roman vom Clan der Shari!“ Die Stimme des grauen Lehrmeisters klang feierlich. „Und es freut uns, heute deine Entscheidung zu vernehmen!“
Raen stand aufrecht vor einer ausgewählten Gruppe von Leuten. Er sah den vollständigen Clanrat, den Clanchef Lako, der vor ein paar Jahren Richol abgelöst hatte, den Oberpriester als Vertreter der gewählten Berufskaste, seine ehemaligen Lehrmeister der Schule, Loenka als seinen zukünftigen Lehrmeister und seinen Vater zusammen mit Shani, die als seine Ziehmutter auch eingeladen war, an der Befragung teilzunehmen. Raen bemerkte, dass sie bereits jetzt schon zu Tränen gerührt war, denn ihre Unterlippe bebte, und sie knetete ein Taschentuch in ihrer Hand.
Raen war nervös, lächelte den Menschen vor sich aber offen entgegen. Er verneigte sich und grüßte in korrekt vollendeter Etikette. Das Klassenzimmer wirkte regelrecht klein mit all den Erwachsenen darin, dabei war es schon das größte unter dem Dache der Schule. Der graue Lehrmeister, der die Befragung leitete, gab Raen ein Zeichen, sich setzen zu dürfen.
Raen hatte diesem Tag entgegen gefiebert. In langen Gesprächen mit Loenka und seinem Vater hatte er sich gut auf die Befragung vorbereitet, und wenn alles so verlief, wie er es sich vorstellte, dann würde er in drei Tagen in den Tempel einziehen und dort seine Ausbildung zum Priester beginnen. Endlich würde er seinen festen Platz in der Clangemeinschaft einnehmen und ihr aus vollem Herzen dienen können. Er würde den Weg Hyauns auf seiner reinsten Ebene betreten.
Der graue Lehrmeister stellte sich hinter Raen auf. Er begann mit dem Vortrag, der schon seit vielen Generationen bei jeder Befragung die Einleitung bildete und die Bedeutung der Rollenwahl betonte:
„Höret wohl und besonders du, Befragter!“ Der Graue legte ihm kurz eine Hand auf die Schulter, und Raen lief ein Schauer über den Rücken, so feierlich war dieser Moment. „Seit jeher bestimmt uns der Weg Hyauns die Suche nach einem Platz im Schoße der heiligen Gemeinschaft, welcher zu dienen unser größtes Ansinnen ist. Am Ende dieser Suche steht es jedem Seiner Diener frei, die eine Wahl zu treffen. Ist sie gefallen, so ist es seine Pflicht, nach bestem Gewissen seine gewählte Rolle zu erfüllen und stets Dankbarkeit zu zeigen, so lange sein Leben währt. Für uns alle gilt die Verantwortung, nach Vollkommenheit zu streben und unsere Fähigkeiten nutzbringend in die Gemeinschaft einzufügen, auf dass sie für alle gleichsam Früchte tragen möge.“ Der Lehrmeister wies mit seiner Rechten auf Raen. „Genug der Zeit hat dieser Schüler hier bekommen, um zu suchen und zu sinnen, seine Entscheidung wohl zu überdenken und sich zu prüfen bis auf den Grund seines Herzens. Damit hat er nun seinen Teil erfüllt. Aber zu guter Letzt liegt die Pflicht auch bei uns, der Gemeinschaft, den Menschen zu befragen, der da vor uns sitzt und den Wunsch hegt, in unsere Mitte treten zu wollen. Wir sollen die Zeugen sein ob seiner Wahl.“ Der Graue machte eine bedeutungsvolle Pause, und Raen atmete tief durch. Gleich würde ihm das Wort erteilt werden
„Nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem dieser Mensch hier“, der Graue deutete erneut auf Raen hinab, „der heiligen Gemeinschaft mitteilt, zu welcher Wahl ihn seine Suche geführt hat!“
Raen verneigte sich, legte seine Hände in den Schoß und begann mit ruhiger fester Stimme zu sprechen. Innerlich jedoch fühlte er sich heiß glühend und aufgewühlt, sein Herz pochte heftig. „Geschätzte Mitglieder des Rates“, stimmte er an, „hochgeschätzter Chor suer Palan Lako, ehrwürdiger Hyaunset suer Gahin, ehrenwerter Hyaunset Loenka, meine geschätzten Herren Kennarparta, werte Ziehmutter, werter Vater.“ Damit waren die Titel der versammelten Leute wenigstens schon einmal fehlerfrei abgehandelt, dachte er und fuhr fort: „Es ist mir eine Freude und eine Ehre, euch heute meine Entscheidung mitzuteilen! Nach reiflichen Überlegungen und der Erkenntnis meiner Fähigkeiten“, Raen sah, wie Loenka kaum merklich zustimmend nickte, „habe ich folgende Wahl getroffen.“ Er holte noch einmal tief Luft. „Ich bitte darum, in die priesterliche Gemeinschaft des Tempels aufgenommen zu werden.“
Stille kehrte ein, und Raens letzter Satz schwebte bedeutungsvoll durch den Raum. Zu seiner wachsenden Erleichterung konnte er nirgendwo Missbilligung oder Anzweifelung auf einem der ihm zugewandten Gesichter feststellen. Aufrecht sitzend wartete er auf die Fortführung der Zeremonie.
„So habet ihr vernommen und seid nun Zeuge: Der Schüler Raen hat seine Entscheidung verkündet!“, sprach der Lehrmeister hinter ihm die traditionellen Worte, die gleichzeitig das Zeichen dafür waren, dass nun die Befragung durch die Stellvertreter der gewählten Kaste anschloss. Der Oberpriester und Loenka erhoben sich und ließen sich direkt vor Raen wieder nieder. Raen wagte es kaum, zu blinzeln, so sehr war er von dem Moment gefangen.
Der Hyaunset suer ragte Respekt gebietend vor Raen auf und verdeckte mit seinem Körper den Rest der anwesenden Leute. Er strahlte unendlich viel Würde und Wissen aus. Seine Aura war wie ein Schatten aus Energie und sie schien immer weiter zu wachsen wie Hunderte von kleinen Ärmchen, die sich nach allen Seiten hin schlängelten, bis sie schließlich auch die letzte Ritze des Klassenraums erfüllt hatten. Selbst Loenka schien dadurch zu einer unbedeutenden Randfigur zu schrumpfen. Raen war – wie immer, wenn er dem Oberhaupt des Tempels gegenüberstand –
eingeschüchtert angesichts dieser starken Persönlichkeit, aber er wusste auch, dass er der strengen Prüfung durch ihn standhalten würde, denn er war sich seiner Sache vollkommen sicher. Hyaun war auf seiner Seite. Und war es doch dieser und kein anderer, der Raen seit seiner Kindheit zu sich in den Tempel rief.
Raen verneigte sich zuerst, wie es die Etikette von ihm als einen Untergraduierten gegenüber allen Trägern höheren Grades verlangte.
Wie umständlich doch diese Begrüßungsformeln waren, dachte er. Aber im rechten Moment, wie es jetzt einer war, verliehen sie der Zeremonie erst die wahre Erhabenheit. Die beiden Männer vor Raen verneigten sich ebenfalls leicht zum Gruß.
„Raen, Sohn von Roman, dein Wunsch ist es also, in die Kaste der Priester aufgenommen zu werden!“, wiederholte Loenka, und Raen nickte mit einer erneuten Verbeugung.
„So vernehme jetzt die Worte des ehrwürdigen Hyaunset suer Gahin!“, kündigte Loenka feierlich die Rede des Oberpriesters an.
Der Hyaunset suer verzog nicht die kleinste Miene, als er zu sprechen begann: „Als oberster Stellvertreter der priesterlichen Kaste, in die du, Raen Shari, Einlass begehrst, obliegt es mir, deinen Entschluss gründlich zu prüfen und zu entscheiden, ob du bereit bist, die Rolle einzunehmen, die du für dich gewählt hast.“ Gahin machte eine Pause. Seine dunklen Augen glühten geheimnisvoll in seinem für sein Alter erstaunlich glatten Gesicht. Das Aun prangte golden auf seiner Stirn und betonte den kahlen Schädel, auf dem schon seit langer Zeit kein Haar mehr wuchs. Und erst jetzt wurde Raen sich des Mannes hinter dem Amt des Oberpriesters richtig gewahr. Nur schwer konnte er das Alter Gahins schätzen, aber er wusste von Loenka, dass Gahin der jüngere Bruder von Gensu war, der mit über achtzig Jahren der älteste Mann im ganzen Clan gewesen, im letzten Jahr aber verstorben war.
„Ist dir bewusst, was es heißt, das Leben eines Priesters zu führen, Raen?“, fragte Gahin mit seidenweicher Stimme.
„Ja, es ist mir sehr wohl bewusst!“ Raen bebte für einen winzigen, kaum wahrnehmbaren Moment. Der Oberpriester aber merkte auf und sah den Jungen vor sich forsch an. In Raen stieg Angst hoch. Die Angst, nun doch zu versagen. Hatte er eben selbst einen Zweifel in sich gespürt, oder war das nur Einbildung gewesen? Er versuchte, sich nichts weiter anmerken zu lassen, dabei wurde sein Gesicht zu einer starren Maske.
„Dann sage mir doch bitte einmal, was es bedeutet!“ Der Oberpriester klang nun hart und unnachgiebig. Es war offenkundig, dass er bei den kleinsten Anzeichen von Bedenken nicht zögern würde, den jungen Anwärter abzulehnen. Raen begriff plötzlich, wie schwer es war, vor diesem Mann bestehen zu können. Für den Oberpriester gab es nur schlichte Gradlinigkeit und den kompromisslosen Glauben. Zaghaftigkeit oder gar Fehler würde er nicht akzeptieren. Das Schlimmste aber war, dass der Hyaunset suer augenscheinlich direkt in ihn hineinsehen konnte, obwohl er sein Gesicht verschlossen hielt. Raen begann zu schwitzen. Die schwarzen Augen seines Gegenübers versuchten tief in sein Innerstes vorzudringen, und unbewusst verstärkte er seine äußere Schutzhülle. Er wollte nicht, dass der suchende Blick Gahins etwas fand. Nämlich, dass er viel lieber ein Krieger geworden wäre zum Beispiel. Eine merkliche Spannung baute sich zwischen dem Oberpriester und seinem Prüfling auf.
In einer der hinteren Reihen, außerhalb von Raens Gesichtsfeld, begann Roman unruhig zu werden. Auch er hatte bemerkt, dass mit seinem Sohn etwas vorging und bangte nun um den positiven Ausgang der Befragung. Er schloss seine Augen und presste die Hände auf seine Oberschenkel. Shani neben ihm knetete noch immer ihr Taschentuch.
„Nun, also? Ich höre!“, unterbrach Gahin mit scharfem Unterton das geistige Duell, das soeben stattgefunden hatte.
Raen sammelte sich und versuchte, möglichst viel Entschlossenheit in seine Stimme zu legen, um seine Unsicherheit damit zu überdecken.
„Priester zu sein, bedeutet die vollkommene Hingabe an unseren erhabenen Gott Hyaun und an die heilige Gemeinschaft, die uns ernährt; die sorgfältige Pflege der althergebrachten Gebräuche, Riten und Zeremonien in der Sprache der Ahnen; das Studium und die Verwaltung des Wissens. Auch hält ein Priester die Linderung für die seelischen Schmerzen bereit, die unsere Krieger für uns ertragen, und er versorgt sie mit der Rezeptur des Zhanghas. Stets aber und hauptsächlich soll er ein offenes Ohr für ein jedes Mitglied unseres Volkes haben, ganz unerheblich, welchen Grades oder welcher Kaste es ist, und soll vermitteln zwischen ihm und Hyaun.“ Raen war sehr froh darüber, diese Sätze klar und ohne Zittern vorzubringen, aber es war ihm, als spräche nicht er selbst, sondern ein anderer, der die Kontrolle über seine Zunge übernommen hatte - jemand, der genau wusste, wie er alle Anwesenden davon überzeugen konnte, dass es nicht den geringsten Zweifel an seiner Tauglichkeit zum Priester gab. Er straffte sich, und fuhr etwas selbstbewusster als vorher fort. „Ein Priester wird immer ein Dienender bleiben, Hyaunset bedeutet schließlich ‚Diener Hyauns’. Es bleibt ihm verwehrt, jemals einen höheren Grad innezuhaben als den dienenden Dritten. Erst nach seinem Tod erlangt auch er den letzten Grad der Vollkommenheit. Ein Priester verzichtet auf die eheliche Verbindung und die Zeugung jeglicher Nachkommen.“ Raen erinnerte sich kurz an das aufklärende Gespräch, welches sein Vater zu Beginn seiner Reifejahre mit ihm geführt hatte, und dass er trotz aller Offenheit, die bei solchen Dingen untereinander herrschte, peinlich berührt gewesen war. Er konnte sich nicht vorstellen, so wie etwa sein Freund Hereke, jemals Interesse an der körperlichen Liebe mit einer Frau zu haben. Das erschien ihm angesichts der tiefen, geistigen Liebe, die er zu Hyaun pflegte vollkommen undenkbar.
„Enthaltsamkeit, Bescheidenheit und der Verzicht allen Eigentums“, sprach Raen weiter, „sind die Wege zur göttlichen Erkenntnis. In der Schlichtheit des Lebens liegt der reine Gedanke des Glaubens.“ Danach schwieg er. Es war alles gesagt.
Gahin schob sein Kinn vor. „Ja, das ist alles richtig und wahr. Es freut mich, zu sehen, wie ausführlich du dich mit den Dingen auseinandergesetzt hast. Aber eines möchte ich jetzt noch von dir wissen, Raen. Was bedeutet es für dich selbst?“ Der Oberpriester klang immer noch streng, aber seine Augen bohrten nicht mehr so eindringlich.
„Für mich, ehrwürdiger Hyaunset suer Gahin, bedeutet es nichts, denn ich bin nicht mehr ich, wenn ich in die Gemeinschaft des Tempels eintrete! Das Ich vereint sich mit dem Wir und verliert seine Geltung.“
Der Oberpriester zog anerkennend die dichten Augenbrauen hoch. Doch gerade nur so viel, um nichts von seiner Würde zu verlieren.
Alle Anwesenden und besonders Raen blickten ihn erwartungsvoll an. Doch der Hyaunset suer schien zu zögern, tief in Gedanken versunken, seinen Blick nach innen gerichtet. Niemand wagte es, einen Laut von sich zu geben. Raen wollte gerade seinen Blick senken, denn er konnte der pulsierenden Aura des Oberpriesters nicht mehr länger standhalten, als sich plötzlich wie aus dem Nichts ein wohlwollendes Lächeln auf dessen Gesicht ausbreitete. All die Strenge war verflogen, und warme Freundlichkeit erhellte die ganz und gar gutmütigen Züge Gahins.
„Raen, Sohn von Roman, es freut mich, der Gemeinschaft kundtun zu können, dass du die Prüfung bestanden hast! Gemäß deines Wunsches sollst du in die Priesterkaste aufgenommen werden!“, verkündete der Oberpriester und stellte die letzte traditionelle Frage. „Bist du bereit, in drei Tagen deinen neuen Namen zu empfangen?“
Raen antwortete lächelnd: „Hana do - ja!“
Gahin nickte deutlich zufrieden und legte als abschließende Geste seine Hände in den Schoß. Raen strahlte überglücklich. Er sah, dass Loenka am Rande erleichtert aufatmete. Hatte er etwa leise Zweifel an seinem Bestehen gehabt, oder war er ebenfalls so sehr von der Aura des Oberpriesters gefangen gewesen?
Erleichtert fiel auch Shani seinem Vater beinahe in die Arme und weinte dabei vor Freude. Raens Vater lachte und für alle sichtbar fiel die Anspannung wie ein schweres Gewand von ihm ab. Er war sichtlich stolz auf seinen Sohn.
Für Raen galt in diesem Moment aber nichts anderes als das lächelnde Gesicht des Oberpriesters, und das einzige, was er jetzt noch dachte, war, dass er jetzt endlich Priester werden konnte! Dieser Gedanke erfüllte ihn ganz und gar mit Glückseligkeit. Er würde in den Tempel zu Hyaun ziehen und Tag und Nacht in Seiner Nähe sein können. Er würde jede Nacht zu Seinen Füßen schlafen und nie wieder Alpträume haben. Und er würde endlich Antworten auf seine vielen Fragen bekommen.

Der erste von den drei Tagen, die Raen Zeit hatte, sein Lager in dem Gemeinschaftszimmer der Jungen zu räumen und sein weniges Hab und Gut, welches er bisher angesammelt hatte, zu verschenken, war bereits schon fast vorbei. Er hatte die meiste Zeit bei Hereke verbracht und ihm von der Befragung erzählt. Sein Freund hatte sich für ihn gefreut und ihm gratuliert. Jetzt saß Raen allein im Zimmer und zog die große Truhe zu sich heran, die am Kopfende seines Bettes stand. Er hatte sie bekommen, als er von dem Kinderzimmer in das Zimmer der älteren Jungen umgezogen war. Jeder Hy besaß solch eine Truhe, die zumeist mit schlichten Schnitzereien versehen war und in der man seine ganzen Habseligkeiten aufbewahrte. Und niemals sollte ein Mensch mehr an Dingen sein Eigen nennen, als in diese Truhe hineinpasste - so wollten es die Regeln der Gemeinschaft.
Raen öffnete den Deckel. Er war sehr stabil, so dass man die Truhe auch als Bank benutzen konnte. Andächtig nahm er die Sachen heraus. Zuerst die Kleidung, die er noch besaß: Ein zweiter, schon etwas zu klein gewordener Winter-Dari, eine Hose, ein Gürtel, eine Mütze, zwei Untergewänder, ein Nachtgewand, einige Lendentücher und ein Paar Gamaschen. Das alles würde er, bis auf die Lendentücher und die Schuhe, die er gerade trug, nicht mehr brauchen. Im Tempel würde er nur noch die dreiteilige gelbe Priesterrobe tragen. Raen legte die Kleidung beiseite. Shani wollte sich um deren gerechte Verteilung kümmern. Sie hatte den besten Überblick darüber, welches Kind gerade was benötigte.
Als nächstes nahm Raen die kleine Ölflasche aus grün glasiertem Ton und den beinernen Kamm aus der Truhe. Etwas wehmütig sah er die beiden Gegenstände an. Sie würde er auf keinen Fall mehr brauchen, auch die Haarbänder aus Leder nicht. Der geschorene Kopf eines Priesters brauchte keinen Kamm und kein Haaröl! Raen dachte, dass sich Resa freuen würde, sie zu bekommen. Unbewusst fuhr Raen sich durch seine langen Haarsträhnen, die auf seiner Schulter lagen und nahm dann das kleine Arbeitsmesser von seinem Gürtel. Das würde er ebenfalls Resa schenken. Er legte es zu der Ölflasche und dem Kamm.
Er wandte sich wieder der Truhe zu, entnahm ihr eine größere, robuste Stofftasche und tat seine Lendentücher hinein, später würde noch sein Essgeschirr aus der Küche dazu kommen. Bis auf einen kleinen Beutel aus blauem Stoff, den seine Mutter einmal für ihn genäht hatte, war die Truhe nun fast leer. Raen nahm ihn an sich und drückte ihn mit beiden Händen an seine Brust. Der Inhalt klimperte geheimnisvoll. Der Beutel war Raens größter Schatz. Jeder einzelne, kleine Gegenstand darin verkörperte eine Erinnerung. Er hatte sie über all die Jahre gesammelt und sehr oft immer wieder in die Hand genommen. Sein Herz hing an jedem einzelnen Stück, und es fiel ihm schwer, sich nun von ihnen trennen zu müssen. Waren es doch Erinnerungen. Von Gegenständen konnte man sich leicht trennen, dachte er, aber wie war das mit Gedanken? Es hieß, wer Priester werden wollte, der musste sich von allem loslösen, folglich musste er auch versuchen, sich von seinen Erinnerungen freizumachen. Raen erfasste zum ersten Mal Unmut. Er hatte über so vieles gründlich nachgedacht und sich Rat geholt, nicht aber dafür, wie man seine Erinnerungen vergaß. Und eigentlich wollte er es auch nicht. Aber ein Zurück gab es jetzt nicht mehr, er war bereits auf seinem neuen Weg.
„So soll es dann wohl sein“, flüsterte er wehmütig und seufzte. ‚Das Ich hört auf zu sein! Der Mensch, der man gewesen ist, wird ein neuer.’
Vorsichtig schüttete er den Inhalt des Beutels auf seine Schlafunterlage. Dinge in verschiedenen Farben und Formen kullerten durcheinander. Raen legte sie in eine bestimmte Reihenfolge und begann eines nach dem anderen aufzuheben. Er nahm Abschied. Das erste war eine alte, vom vielen Anfassen geglättete Kastanie. Sie erinnerte Raen an die ersten Ausflüge in den Wald, die sein Vater mit ihm unternommen hatte, als er noch klein gewesen war. Er hatte ein gutes Gefühl, wenn er die Kastanie zwischen seinen Handflächen rollte, so wie er sich immer gut fühlte, wenn er an den Wald dachte. Aber der Wald war in seinem Herzen und er brauchte ja nur zum Horizont zu schauen, um ihn sehen zu können. Von diesem Gefühl brauchte er sich hoffentlich nie zu verabschieden. Er legte die Kastanie wieder zurück. Als nächstes nahm er ein Stück Holz und strich über die eingeritzten Buchstaben. Es war sein Name. Er hatte es selbst gemacht, kurz nachdem er Schreiben gelernt hatte, und es erinnerte ihn an die Schulzeit. Er war gerne zur Schule gegangen, immer neugierig auf die Dinge, die man dort lernen konnte. Raen dachte kurz an das Gespräch mit dem grauen Lehrmeister vor nicht all zu langer Zeit und legte dann das Holzstück weg. Dieser Abschnitt seines Lebens war vorbei. Jetzt würde etwas völlig Neues beginnen. Seine Finger umgingen den nächsten Gegenstand - mit ihm wollte er sich später befassen. Stattdessen nahm er ein gelb und schwarz gestreiftes Schneckenhaus auf. Es erinnerte ihn an den Chorten, sein Haus, seine Heimat. Eine Schnecke ist stets auf Wanderschaft, dachte Raen, und trägt ihr Haus mit sich, sie hat es immer in ihrer Nähe und muss kein Heimweh haben. Ein Mensch kann sein Haus nicht mitnehmen, deshalb sollte er stets nur so weit gehen, wie er es noch sehen kann. Raen fragte sich zwar immer noch, was hinter den Bergen war, aber er war sich inzwischen sicher, an Heimweh zu sterben, wenn er je dorthin reisen müsste. Sein Haus würde von nun an der Tempel sein, und den wollte er nicht mehr verlassen. Er dachte an seine Schwester, die den großen Schritt in die Fremde gewagt hatte. Sie würde das Schneckenhaus bekommen, er hätte es ihr eigentlich schon längst bei ihrer Abreise schenken sollen.
Der nächste Gegenstand war eine verbogene und durchgescheuerte Messingschnalle vom ledernen Waffenrock seines Vaters. Raen hatte sie heimlich an sich genommen, als Roman sie ausgetauscht hatte. Als ein Teil von Romans Schutzkleidung symbolisierte sie eine Art Schutzgeist, und außerdem war es schlichtweg ein Stück von seinem Vater. Nur widerwillig legte er die Schnalle wieder weg.
Nun war, wie Raen fand, der schönste Gegenstand an der Reihe. Schimmernd lag er in seiner Hand und er strich mit dem Finger über seine glatten Flächen. Es war ein wasserklarer Kristall, der an beiden Seiten spitz zulief, und wenn Sonnenlicht hindurchfiel, dann kamen wunderschöne Farben aus ihm heraus, genau wie die von der bunten Himmelsbrücke, die man bei ganz besonderen Regentagen in den Wolken sehen konnte. Es war wie ein kleines Wunder, und Raen erinnerte sich, dass der Kristall damals für große Aufregung unter den Kindern gesorgt hatte, als er ihn auf einem frisch gepflügtem Feld aufgelesen und saubergewaschen hatte. Er musste lächeln. Besonders seine Ziehschwester Suneka war von dem Stein fasziniert gewesen. Er beschloss, ihn ihr zu schenken und legte ihn neben das Schneckenhaus. Jetzt waren da nur noch zwei Gegenstände: Denjenigen, den er übersprungen hatte, und ein Zahn. Er nahm den Zahn. Es war der Fangzahn eines Fuchses, und er hatte ihn im Wald gefunden. Wie eine Mondsichel war er gebogen und strahlend weiß. Und er stand für die Freundschaft mit Hereke; die vielen Nächte, die sie im Heu der Scheune verbracht und durch die Dachluke den Mond beobachtet hatten. Hoffentlich würde er als Priester noch genug Zeit für Hereke haben. Raen schloss einmal fest die Faust um den Zahn und legte ihn dann zu den anderen Gegenständen zurück. Hereke würde ihn als eine Art Freundschaftspfand bekommen. Unschlüssig wanderten seine Gedanken zusammen mit seinem Blick durch das leere Zimmer. Noch wagte er es nicht, den letzten Gegenstand aufzuheben. Wie stark würde der Schmerz diesmal wieder sein? Sein Blick blieb an einem der Holzgitter in der Wand hängen. Dadurch konnte er das Fenster am Treppenaufgang sehen. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Nur noch zwei Tage, dachte er. Er erschrak, als er Schritte auf den Stufen hörte. Schnell bedeckte er den letzten Gegenstand mit dem Beutel. Niemand durfte ihn sehen, sonst bekäme er den gewaltigsten Ärger seines Lebens! Gebannt hielt er den Atem an.
Aber es war nur der Feuermeister, der überall die Öllampen an den Wänden anzündete und in das nächste Stockwerk stieg. Als Raen ihn über sich leise durch die Flure tappen hörte, lüftete er den Beutel und richtete seinen Blick entschlossen auf den Gegenstand, doch im Zimmer war es bereits so dunkel, dass er ihn nicht richtig erkennen konnte. Er stand auf, nahm die kalte Lampe aus dem Zimmer mit, ging auf den Flur und kam mit einem Licht wieder. Er hängte die Lampe in die Halterung an der Mittelsäule des Raumes und setzte sich zurück auf sein Lager. Erneut schweifte sein Blick ab, doch dann zwang er sich, ihn auf das zu richten, was da vor ihm lag. Seine Finger streckten sich langsam danach aus und berührten es zögernd. Blitzartig durchströmte ihn der Schmerz. Er zuckte zurück und hielt sich die Hand, als hätte er sich verbrannt. Mit geschlossenen Augen tastete er erneut nach dem Gegenstand. Seine Finger fanden ihn und nahmen ihn schließlich auf. Er fühlte sich weich an. Raen führte ihn an seine Nase und roch daran. Wieder durchfuhr in der Schmerz, doch diesmal ließ er ihn zu. Wenn er sich davon verabschieden wollte, dann musste er es jetzt tun. Tränen quollen aus seinen Augenwinkeln. Das Bild seiner Mutter erschien deutlich vor seinem inneren Auge. Sanft begannen die schönen Erinnerungen in sein Gemüt zu fließen. Raen wurde ruhiger und verfolgte die warmen Gedanken an seine Mutter:
Er sah sich selbst, wieder sechs Jahre alt, mit Alea im Erker sitzen und aus dem Fenster in die Ferne sehen. Das hatte ihr immer sehr gefallen. Ihre Augen leuchteten grün wie das Glas. Sie erzählte ihm Geschichten und Märchen; manchmal war seine Schwester dabei, doch am liebsten war er mit seiner Mutter allein. Er fühlte ihre Umarmung, wenn sie ihn zu Bett brachte und roch den Duft ihrer Haare, die ihm durch das Gesicht strichen, wenn sie ihm einen Kuss auf die Stirn gab.
Raens Finger schlossen sich fester um den Gegenstand, den er eigentlich gar nicht besitzen durfte.
Er sah das Strahlen in ihrem Gesicht, jedes Mal wenn sein Vater sie in die Arme nahm, oder ihr ein Kompliment machte. Er hörte ihr Lachen ...
Der Schmerz kam wieder und mit ihm das Gefühl der Schuld. Raen wand sich. Er musste sich jetzt davon lösen. Jetzt, oder es würde ihn auf ewig verfolgen. Seine Gedanken mussten rein sein, wenn er in den Priesterstand eintreten wollte. Er roch ein letztes Mal an dem Gegenstand. War da nicht ein Hauch von Jasmin? Er riss seine Augen auf. Es würde eine große Empörung auslösen, wenn herauskäme, was er hier in den Händen hielt, dachte er. Er beging damit ein großes Unrecht, denn er hatte etwas behalten, das ihm nicht gehörte. Wenn überhaupt jemand diesen Gegenstand besitzen durfte, dann war es sein Vater, aber selbst diesem war es nicht gestattet. Raen überlegte und drehte dabei die Haarsträhne seiner Mutter in den Fingern. Sie war mit einem grünen Band umwickelt. Er hatte sie ihr in der letzten Nacht vor der Verbrennung heimlich abgeschnitten - hatte die Schandtat direkt im Tempel begangen, unter den Augen Hyauns! Das schlechte Gewissen in ihm wuchs. Oft hatte er den Gott um Vergebung gebeten und das Gefühl gehabt, dass dieser ihm die besondere Angelegenheit auch nachsah. Er hatte sich in einer schweren Notlage befunden und mehr Zeit gebraucht, um sich von seiner Mutter verabschieden zu können. Dafür hatte es eines Teiles von ihr bedurft. Und dieses Teil musste nun zu ihr zurück. Raen grübelte und plötzlich fiel ihm die naheliegendste aller Lösungen ein.
„Natürlich! Ich muss sie im heiligen Feuer des Tempels verbrennen, wie auch der Rest von ihr verbrannt worden ist!“, sagte er laut vor sich hin und erschrak ob seiner eigenen Stimme. Er blickte sich verstohlen um, aber niemand war zu sehen, oder zu hören. Schnell steckte er die Haarsträhne in seinen Gürtel, dann nahm er den Beutel und tat andachtsvoll alle anderen Gegenstände wieder hinein. Er würde sie morgen verteilen. Heute Nacht aber würde er sich jedoch ein letztes Mal in den Tempel schleichen müssen.

Als alle um ihn herum im Jungenzimmer schliefen, stand Raen auf und ging leise hinaus. Ungesehen überquerte er den Hof und glitt durch das Tor des Tempels in den Altarraum. Wie er erwartet hatte, war dort niemand. Nur zwei Öllampen brannten wie immer am großen Altar vor der Statue. Sein schlaksiger Schatten bahnte sich zielsicher den Weg durch das dämmrige Zwielicht und als er direkt am Sockel der Statue angekommen war, verbeugte er sich vor dem Gott, der ihn zustimmend ansah, ganz so als wüsste Er, was der Junge da vorhatte. Raen starrte die eine Öllampe an und überlegte wie er in ihrem Feuer die Haarsträhne verbrennen konnte. Die Flamme war viel zu klein. Er musste sie nehmen und in eine der großen Kohlenbecken halten, in denen das Melam verbrannt wurde. Er machte ein paar Schritte, bis er vor der Öllampe stand, und hielt inne. Wenn er dabei erwischt werden würde, würde er womöglich aus dem Tempel geworfen werden, für immer, vielleicht aber sogar noch Schlimmeres! Er zögerte. Nicht nur ihm selbst würden die Strafen etwas ausmachen, dachte er, auch seinem Vater würde er damit große Schande bereiten.
„Was bin ich nur für ein schrecklicher Mensch, dass ich meinem Vater Schwierigkeiten mache! Bitte, Hyaun, nimm endlich diese Schuld von mir, bitte! Ich will doch nur ganz normal sein“, flehte er den Gott an. Und schließlich nahm er all seinen Mut zusammen, sah sich noch einmal und reckte sich dann auf die Zehenspitzen, um die Öllampe aus ihrer Halterung zu nehmen und zum nächsten Melam-Becken zu tragen. In ihm lag schon ein neues Häufchen Räucherwerk für den nächsten Tag.
‚Um so besser‘, dachte Raen. ‚Wenn ich gleich ein bisschen Melam mit verbrenne, dann riecht es nicht so stark nach verbranntem Haar.‘ Er küsste noch einmal die Haarsträhne seiner Mutter und legte sie behutsam in das Becken. Kurz sprach er ein Gebet und setzte dann das Flämmchen an die Haare. Schnell fingen sie Feuer und zusammen mit dem Melam verbrannten sie schon im nächsten Augenblick. Der beißende Geruch der Haare war aber dennoch deutlich wahrzunehmen. Raen starrte in die kleine Glutstelle.
„Jetzt, hast du es endlich wieder, Mutter, bitte verzeih mir, dass ich es genommen habe!“, sagte er ganz leise. Ein Geräusch ließ ihn aus seiner Andacht hochschrecken. Er drehte den Kopf in die Richtung. Jemand war da im Oberen Heiligtum. Die Tür öffnete sich, und Raen nahm Reißaus. Schnell lief er durch die Schatten der Säulen zum Tor und hinaus. Er rannte über den Hof, ohne sich umzublicken, stieg hastig die Stufen in den Turm hinauf und legte sich auf sein Lager zwischen die anderen schlafenden Jungen. Aufgeregt lauschte er unter der Decke seinem eigenen Atem. Hoffentlich hatte derjenige im Tempel ihn nicht erkannt. Nach einer Weile beruhigte sich sein Puls wieder, und weil auch sonst alles ruhig blieb, schlief er schließlich ein, mit seinen Schuhen noch an den Füßen.
Im Tempel wunderte sich ein Priester, der bei seiner Nachtwache ein Geräusch gehört hatte, über die wundersame Entfachung des Melam-Beckens direkt vor dem Altar.

Am nächsten Tag erwachte Raen mit dem Gefühl, alles nur geträumt zu haben. Er schlug die Decke zurück und blickte etwas verwirrt auf seine Füße, die noch in den Schuhen steckten. Zwei andere Jungen begannen zu kichern, als sie das sahen.
„Du willst wohl nichts vom Tag verpassen, was? Hast deshalb schon die Schuhe im Schlaf an!“, sagte der eine scherzhaft. Raen wurde rot, weil er sich an seine Untat in der Nacht erinnerte und hoffte, dass keiner etwas bemerkt hatte.
‚Ach, ihr habt doch keine Ahnung!‘, dachte er bei sich und sprang auf.
Das Morgenmahl schlang er schnell hinunter und lief danach gleich zum Chorten hinaus zu Hereke. Ihm wollte er zuerst sein Geschenk überreichen.
Ohne Ausnahme freuten sich alle beschenkten Personen sehr, von Raen bedacht worden zu sein, und sie versprachen ihm natürlich, den jeweiligen Gegenstand in Ehren zu halten. Das wiederum machte ihn glücklich. Es war schön, Freunde zu haben.
Am Abend saß er dann lange mit seinem Vater zusammen, und sie unterhielten sich über alle möglichen Dinge. Raen war dabei so aufgeregt, dass er flatterhaft von einem Thema zum nächsten wechselte, und seine Lebensfreude sprudelte förmlich nur so aus ihm heraus. Roman bemerkte das und freute sich still darüber.

Dann kam der dritte und letzte Tag. Endlich regnete es wieder einmal, was nach dem trockenen Sommer auch dringend nötig war. Raen lachte trotz des trüben Wetters, denn bereits beim Aufwachen trug er ein glänzendes Hochgefühl in sich. Er hatte sich vorgenommen, heute noch einmal ganz bewusst einen normalen Tagesablauf im Chorten mitzuerleben, und er wollte jeden Augenblick genießen, bevor er morgen in einen anderen Rhythmus eintreten würde. Seine Freude war kaum zu bändigen. Nachdem er den Vormittag zusammen mit Shani verbracht hatte, die sich eigens etwas Zeit für ihn genommen hatte, und den Nachmittag bei Hereke und den Pferden gewesen war, wurde er am frühen Abend erneut zu seinem Vater gerufen.
Wie gewöhnlich saß Roman im Erker seines Zimmers und sah aus dem Fenster in die im abendlichen Licht liegende Ferne, genau wie Alea es immer getan hatte. Raen wusste, dass sein Vater heute bereits ganz früh am Morgen einen Patrouillenritt in den Osten des Chor zum Fluss unternommen hatte. Er sah müde aus, lächelte aber, als er zur Tür hereinkam.
„Komm zu mir und setz dich, Raen“, sagte er. „Heute gibt es dir zu Ehren ein besonderes Nachtmahl und dein Lieblingsessen, dafür habe ich gesorgt.“ Er zwinkerte Raen zu.
„Danke, Vater!“ Bei dem Gedanken an geschmortes Kaninchenfleisch aus dem Kessel mit erntefrischem Gemüse lief Raen das Wasser im Mund zusammen.
„Bedank dich nicht nur bei mir, sondern in der Küche. Ich habe ihnen nur einen kleinen Hinweis gegeben, und sie haben sich sofort darangemacht.“
„Ja, das werde ich“, sagte Raen.
Sie schwiegen eine Weile und sahen aus dem geöffneten Fenster. Es hatte aufgehört zu regnen, und die tiefstehende Sonne schickte ihre Strahlen durch die aufgerissene Wolkendecke. Die Luft war mild. Vater und Sohn atmeten sie tief ein.
„Morgen ist es so weit“, fuhr Roman schließlich fort. „Wie fühlst du dich?“
„Sehr gut!“, entgegnete Raen und strahlte.
„Dann wird uns der Abschied nicht allzu schwer fallen.“
Raen nickte. Er wusste, dass damit nicht etwa ein Lebewohl gemeint war, sondern der symbolische Abschied des Kindes von seinen Eltern, der endgültige Abschied von der Kindheit.
„Aber bevor du gehst, Raen, wollte ich dir noch sagen, dass ich sehr stolz auf dich bin. Du hast die schwere Aufnahmeprüfung gut gemeistert. Mir schien es sogar, dass Hyaunset suer Gahin regelrecht begeistert von dir gewesen ist!“ Roman machte eine winzige Pause. „Deine Mutter wäre auch sehr stolz auf dich.“
Raen durchzuckte ein kurzes Gefühl von Schuld, er blinzelte unwillkürlich.
„Ja, ich ...“ Er versuchte etwas zu sagen, doch es gelang im nicht.
Sein Vater legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter.
„Du brauchst nicht traurig zu sein. Fühlst du nicht, dass Alea bei uns ist? Immer, wenn ich den Wind auf meiner Haut spüre, dann weiß ich, dass sie an meiner Seite ist. Sie sieht genau, was wir tun und deshalb kann sie auch stolz auf dich sein.“
Raen war geknickt. Dann hatte sie auch gesehen, was er letzte Nacht getan hatte. Er schluckte.
„Ich vermisse sie!“, sagte er schließlich.
„Ich vermisse sie auch, sogar sehr! Aber inzwischen habe ich mich damit abgefunden, allein zu sein, vor allem nachts. Alles, was ich für sie tun kann, ist, sie in der Erinnerung leben zu lassen. Das ist Zaizura, damit müssen wir zurechtkommen!“
Zaizura, dachte Raen, war es wirklich und tatsächlich das Schicksal gewesen, das seinem Vater die Frau und ihm und seinen Geschwistern die Mutter genommen hatte?
„Ich wollte jetzt nicht deine gute Stimmung verderben“, sprach sein Vater weiter. „Ich wollte dir nur mitteilen, dass alles gut ist, so wie es ist.“
„Ist das wirklich so?“, fragte Raen skeptisch.
„Ja, selbstverständlich, würde ich es sonst sagen? Man muss auch mit den schlechten Dingen zu leben lernen. Das ist eine Aufgabe, die man meistern kann. Im Tempel wirst du erfahren, wie du damit umgehen kannst. Dort wird es dir sehr gut ergehen. Du hast eine vortreffliche Entscheidung gefällt.“ Das Lob seines Vaters ließ Raens Stimmung wieder besser werden.
„Ja, ich freue mich wirklich sehr, dorthin zu gehen“, entgegnete er und überlegte, was ihm der morgige Tag wohl an Aufregung bescheren mochte.
„Hast du noch irgendwelche Fragen, die ich dir beantworten kann?“
Raen dachte nach.
„Ich frage mich, ob ich schon morgen das verbotene Obere Heiligtum betreten darf?“
„Das wirst du leider nicht. Als Novize muss man sich vorher erst der Reinigung des Körpers und des Geistes unterziehen und die Priesterweihe empfangen haben. Das dauert mindestens drei Tage.“
„Dann muss ich wohl noch etwas Geduld haben. Auf jeden Fall gefällt mir der Gedanke sehr, bei Loenka lernen zu dürfen. Aber ich habe auch etwas Angst, wenn ich daran denke, bei dem Oberpriester Unterricht zu haben. Er hat etwas Merkwürdiges an sich.“ Sein Vater musste lachen. „Das haben alle Oberpriester so an sich, Raen. Sie sind geheimnisvoll und unendlich weise. Sie stehen fast so eng im Kontakt mit Hyaun wie unser Prinz.“
„Ist der Prinz auch solch eine beeindruckende Person?“, fragte Raen neugierig. Er konnte es wirklich kaum erwarten, endlich in all diese Geheimnisse der Priester- und Kriegerkaste eingeweiht zu werden.
Nach dem vorzüglichen Nachtmahl lag er wohlig satt im Bett. Um ihn herum begann einer nach dem anderen leise zu schnarchen, doch er selbst war noch nicht im Geringsten müde. Die Herzlichkeit, mit der er beim gemeinschaftlichen Essen gefeiert worden war, machte ihn glücklich und wehmütig zugleich. Ab morgen würde alles anders sein. Unruhig warf er sich auf die andere Seite. Ob er überhaupt würde schlafen können? Die Gedanken trudelten ihm endlos durch den Kopf, wollten keine Ruhe finden.

„Komm Raen! Auf, es ist Zeit ...!“ Er schreckte hoch. Hatte er etwa verschlafen? Das musste am guten Essen von gestern gelegen haben, so tief und fest hatte er geschlummert. Doch als er seine Augen öffnete, war da nur undurchdringliche Dunkelheit. Alles war ruhig, sogar die letzten Schnarcher machten gerade eine Pause. Hatte er geträumt? Raen tastete nach seiner Decke, die er von sich gestrampelt hatte, fand sie aber nicht. Er stellte schließlich fest, dass er gar nicht in seinem Bett lag, sondern auf hartem, glattem Boden. Vielleicht war er vom Bett gerollt. Er krabbelte auf allen vieren voran, doch da kam nichts, kein Bett, keine Trennwand, nichts!
Doch noch bevor sich bei ihm Panik ausbreiten konnte, kam die Erinnerung: Dieses unendliche Dunkel kam ihm bekannt vor. Ja, hier war er schon einmal gewesen. Aber das lag Jahre zurück. Raen versuchte, sich das Geschehen ins Gedächtnis zu rufen. Das Gefühl, welches ihn damals erfüllt hatte - diese vollkommene Geborgenheit -, bekam er vage zu fassen, und während es in ihm wuchs und immer stärker wurde, gesellte sich noch etwas anderes hinzu. Damals war da noch mehr gewesen, erinnerte er sich: Eine Person!
„Raen?“
Ja, das war sie, unverkennbar: Dieselbe Stimme!
„Ja, hallo!“, antwortete er aufgeregt.
„Ah, da bist du ja. Komm, wir müssen gehen, es ist höchste Zeit!“, drängte die Stimme sanft.
„Wohin müssen wir denn gehen und warum?“
„Fragen, immer nur Fragen aus deinem Munde! Wirst du denn niemals müde, sie zu stellen?“ Raen nahm gutmütige Belustigung in der Stimme wahr. Er grinste im Dunkeln, sie erinnerte ihn an sich selbst, wenn er Hereke verulkte.
„Dosene, dosene - gut, gut! Ich sehe, es amüsiert dich, wenn ich dich zurechtweise!“ Wieder diese Ironie. „Na, du wirst schon sehen, wohin dich das führt. Komm jetzt.“
Raen spürte eine Hand an der seinen und ergriff sie sofort. Sie zog ihn hoch und geleitete ihn durch die schwarze Endlosigkeit, die sich wohlig um sein Gemüt legte. Das Wohin und Warum wurden egal. Er war hier, und neben ihm war jemand, dem alles Böse dieses Universums nichts anhaben konnte. Was wollte er mehr, als dieses beruhigende Gefühl? Raen ließ sich führen, immer weiter. Beide schwiegen, bis das Wesen an seiner Seite jäh innehielt.
„Wir sind da“, sagte es.
Raen schwieg, denn er wollte nicht schon wieder eine dumme Frage stellen.
„Du darfst jetzt ruhig fragen, wo wir sind.“ Die Stimme wirkte erneut belustigt.
„Ja, aber ...“
„Nicht aber! Die Frage ist: Wo?“ Die Hand ließ seine los, und es fühlte sich wie ein großer Verlust an. Raen griff immer wieder in die Leere, um die Hand wiederzufinden.
„Nein, bitte bleib hier. Geh nicht weg!“, rief er ängstlich.
„Ich bin doch hier. Setz dich“, sagte die Stimme, und Raen ließ sich auf dem harten Boden nieder.
„Wo bin ich?“, fragte er schließlich und erwartete, wieder verspottet zu werden, aber nichts dergleichen geschah.
„Du bist angekommen. Jetzt bist du auf deinem Weg“, antwortete die Stimme ruhig und ernst. „Auf dem richtigen Weg. Hast du es nicht bemerkt? Du hast dich verirrt!“
Schweigen.
„Zugegeben, du hast dich nicht weit verirrt, aber dennoch sah ich es als nötig an, dich zurückzuführen. Nun bist du wieder zum richtigen Ziel unterwegs. Aber versprich mir bitte, dass du ab sofort nie wieder deinen wahren Weg aus den Augen lässt!“
Immer noch Schweigen.
„Raen, kennst du deinen Weg?“
„Ja.“
„Dann erzähle mir, wo er dich hinführt.“ Die Stimme klang jetzt streng.
„Morgen gehe ich in den Tempel und werde Priester. Meine Fähigkeiten ...“
„Falsch!“, unterbrach die Stimme ihn unsanft, und Raen stutzte. „Du bist bereits im Tempel.“ Raen war irritiert. „Aber du wirst kein Priester werden, sondern etwas viel Wichtigeres! Du musst auf dein Gefühl vertrauen, Raen, auf dich selbst, auf das, was du bist und nicht auf das, was du sein könntest. Immer! Dann gehst du auf deinem Weg.“
Raen ließ die Worte wirken. Doch sein Verstand konnte mit ihnen nichts anfangen. Ganz im Gegensatz zu seinem Herzen, das vor Aufregung begonnen hatte schneller zu schlagen. Und während sein Verstand noch nach einem Sinn suchte, übernahmen die heraufdrängenden Gefühle die Führung. Der wahre Weg tat sich langsam vor ihm auf, seine an- und absteigenden Windungen schimmerten sanft in der Dunkelheit.
In diesem Moment schwebte die Stimme davon mit einem zufriedenen: „Ich sehe, du hast es endlich verstanden!“
Raen blieb allein zurück mit seiner wachsenden Glückseligkeit, die alles zu übertreffen schien, was er jemals als Glück gefühlt zu haben schien.
„Danke! Wer immer du auch bist. Danke vielmals!“, rief er in das wohlige Dunkel und verneigte sich. „Ich sehe jetzt meinen Weg! Ich wollte ihn immer gehen, aber die anderen haben es mir nicht erlaubt.“
Da erklang plötzlich etwas Merkwürdiges. Es hörte sich an wie Gesang, nur von ganz weit weg. Wundervolle reine Stimmen sangen ein Lied, das er noch nie gehört hatte aber so schön war, dass es ihn magisch anzog. Mit einem Seufzen verabschiedete er sich von der Dunkelheit und ließ sich an die Oberfläche treiben, hin zu den bezaubernden Klängen.

Raen erwachte langsam aus tiefem, erholsamem Schlaf, und während er noch vor sich hindämmerte, erfüllte ihn Wohlbehagen von Kopf bis Fuß. Er lächelte mit geschlossenen Augen, wollte das schöne Gefühl so lange wie möglich festhalten. Doch schließlich streckte er sich und wagte einen Blick in den neuen Tag, der sein großer Tag werden sollte! Was er sah, entsprach ganz und gar nicht dem, was er erwartet hatte. Statt der Holzbalken der Decke in dem Schlafzimmer der Jungen blickte er in mehrere erwartungsvolle Gesichter, die über ihm schwebten. Von den Gesichtern erkannte er allerdings nur eines auf Anhieb. Es war Loenka und er schien sehr ernst!
Erschrocken setzte Raen sich auf.
„Wo bin ich?“, stieß er hervor und dabei wurde die Erinnerung an seinen Traum wieder lebendig.
Die Priester um ihn herum begannen wissend zu lächeln, bis auf Loenka. Dessen anhaltende Ernsthaftigkeit verunsicherte Raen, und sein Blick wurde von Loenkas Gesicht auf etwas Leuchtendes darüber abgelenkt. Seine Augen weiteten sich. Bisher hatte er gedacht, an der üblichen Stelle im Tempel vor dem Altar geschlafen zu haben. Doch das stimmte nicht, er war ganz woanders. Die beiden großen, steinernen Pupillen, die auf ihn herabblickten, waren ihm zwar bekannt, aber der Rest Hyauns wirkte fremd und bedrohlich. Ein Schauer packte Raen und panisch überlegte er, ob er noch in seinem Traum gefangen war oder ob ihn jetzt nun doch endlich die Strafe ereilen würde für all seine Vergehen, die sein junges Leben bereits befleckten. Vor ihm erhob sich Hyaun strahlend von seinem Sockel als furchterregender Rachegott, das Schwert hoch erhoben, um ihn, das armselige Menschenwesen, das es verwirkt hatte, weiter in Seiner Gunst zu leben, auf der Stelle niederzustrecken!
„Nein!“, schrie Raen entsetzt, duckte sich und warf abwehrend die Arme über den Kopf.

„Beruhige dich doch!“, sagte Loenka, der immer noch keine Miene verzog. „Es passiert dir nichts.“ Er seufzte innerlich. Seine Befürchtungen hatten sich nun doch bewahrheitet. Der Junge war äußerst anormal, gänzlich unberechenbar. Aber stellte er deshalb auch eine Bedrohung für sie alle dar? Das musste er erst noch herausfinden. Vielleicht war er jetzt endlich auf seinem Weg angekommen und würde ruhiger werden, vielleicht aber auch nicht. Er würde ihn weiter beobachten und versuchen, die endgültige Entscheidung so lange wie möglich hinauszuzögern. Loenka seufzte ein weiteres Mal. Er hatte eine schwere Position inne. Die Verantwortung lag nun bei ihm. Sie war ihm übertragen worden und in diesem Falle lastete sie schwer auf ihm, denn er mochte den Jungen, er war ihm ans Herz gewachsen. Aber seine persönlichen Gedanken und Gefühle waren hierbei nicht ausschlaggebend, er war der Stellvertreter des Oberpriesters und musste ausnahmslos im Sinne der Gemeinschaft handeln.
„Raen, sieh mich an“, forderte er in strengem Tonfall. Der Junge gehorchte, nahm seine Arme herunter und sah ihn an. Loenka konnte deutlich die Furcht vor dem Ungewissen in dessen Augen lesen, und Mitgefühl regte sich in ihm. Doch bevor er den Mund öffnen und weitersprechen konnte, kam ein sehr aufgebrachter Roman durch den Mittelgang des großen Raumes auf sie zu gelaufen.
„Was ist das? Ich kann das nicht glauben!“, rief er atemlos. Er stieg die paar Stufen zu ihnen empor und blieb stehen, als er seinen Sohn tatsächlich im Kreise der Priester sitzen sah.
„Es ist alles in Ordnung, Roman. Zumindest soweit ich das sagen kann. Denn überrascht sind wir alle“, antwortete Loenka sachlich.
Raen blickte derweil von seinem Vater zu den Priestern und dann wieder in den Raum. Plötzlich schien er zu begreifen.
„Vater! Ich bin erwählt worden!“, rief der Junge vor Freude aus und lächelte breit.
„Ja, ich sehe es“, antwortete Roman tonlos und starrte ungläubig auf seinen Sohn. „Wie konnte es dir einfallen, in das verbotene Obere Heiligtum einzudringen! Ist das wieder einer von deinen Streichen?“
Verständnislos sah Raen zu ihm auf. „Nein! Vater, das ist kein Streich! Ich würde es niemals wagen ...“
Loenka hob eine Hand, um Vater und Sohn zur Ruhe zu bringen, doch bevor er etwas sagen konnte, betrat der Oberpriester den Raum durch eine der Seitentüren, wie immer vollendet würdevoll. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. Rasch verneigten sich alle Anwesenden bis tief auf den Boden und verharrten dort.
‚Gahin wird nicht erfreut sein. So etwas ist noch nie passiert’, dachte Loenka, und unwillkürlich brach ihm der Schweiß aus. Er horchte auf die näherkommenden Schritte des Hyaunset suer. ‚Ein frisch Geprüfter und in seine neue Rolle entlassener Mensch ändert einfach seine Bestimmung. Und dann ist es auch noch jemand, der vom Oberpriester persönlich geprüft wurde! Oh, Hyaun, steh uns bei!’
„Erhebt euch!“ Die Stimme Gahins hallte scharf durch den Raum und verriet nichts von dem sonst so seidenen Klang.
Langsam hoben die Anwesenden ihren Blick.
„Ich erwarte auf der Stelle eine Erklärung für diese Sache! Es ist wirklich unerhört!“ Er untermalte seine Forderung mit einer knappen aber umfassenden Handbewegung, die den Männern vor ihm noch mehr Ehrfurcht einflößte.
Sie zögerten. Doch dann ergriff Loenka furchtlos das Wort und befreite damit alle anderen von der Last dieser Verantwortung: „Ehrwürdiger Gahin, es hat den Anschein, dass der junge Mensch namens Raen in der vergangenen Nacht von Seiner Erhabenheit Hyaun zu sich gerufen worden ist, um seinen Platz nun doch in der Gemeinschaft der Krieger einzunehmen.“ Förmlicher konnte man das Geschehene kaum vorbringen. Ernstes und nachdenkliches Schweigen folgte.
„Aber er hat seine Wahl bereits getroffen und er wurde geprüft!“, entgegnete der Oberpriester, und den anderen wurde mit einem Mal bewusst, wie heikel die Situation eigentlich war, denn sie brachte den Oberpriester in eine äußerst unangenehme Lage. Seine unantastbare Weisheit und sein unfehlbares Urteilsvermögen wurden durch diese Angelegenheit gefährlich in Frage gestellt, und es bestand Gefahr, dass Gahin sein Gesicht verlor. Alle Anwesenden beobachteten still, wie der Hyaunset suer regungslos eine ganze Weile einfach nur dastand. Doch was den Betrachtern natürlich verborgen blieb, war, dass es hinter seiner Stirn mit unglaublicher Schnelligkeit arbeitete. Loenka ahnte, dass jetzt die ganze Größe seines Wissens gefragt war. Gahin musste eine gute Lösung für das vorliegende Problem finden und die Situation entschärfen, da keinerlei Zweifel an der Kraft der allgemein gültigen Gesetze entstehen durften. Eine verzwickte Angelegenheit, um die die Loenka den Oberpriester nicht beneidete. Die Regeln der Gemeinschaft beschrieben es eigentlich als unmöglich, dass jemand seine einmal erhaltene Bestimmung änderte. Nachher würde ein jeder noch auf den Gedanken kommen, man könne sein Schicksal rückgängig machen oder gar umlenken! Das war ein völlig absurder Gedanke!
Aber dennoch war es, wie sie alle sehen konnten, passiert. Das konnte nur bedeuten, dass irgendwo ein Fehler vorlag - natürlich ein rein menschlicher Fehler, denn göttliche Wesen irrten sich nie! Und diesen Irrtum galt es nun zu finden und zu erklären. Loenka dachte wie Gahin und kehrte sich zum Ursprung aller Bestimmungen. Warum hatten Zaizura und Hyaun sie derart vorgeführt? Es musste ein Zeichen an sie alle sein, ein Appell an ihre Gewissenhaftigkeit, die es offensichtlich besser zu prüfen galt. Denn sie als schwache Menschenwesen hatten zu schnell geurteilt. Sie hatten den Jungen nicht gründlich genug geprüft. Das mussten Gahin als auch Loenka sich eingestehen und sie schworen sich beide, in Zukunft noch sorgfältiger als sonst vorzugehen. Stumm drehte der Oberpriester sich in Richtung der großen goldenen Statue, legte die Hände an seine Stirn und neigte kurz sein Haupt. Wie Loenka dankte auch er seinem Gott für diese Lektion. Und dann, zum großen Erstaunen aller, bewegte sich Gahin plötzlich auf Raen zu, ließ sich vor ihm nieder und verbeugte sich sehr tief.
„Erwählter Hyauns, ich bitte dich und deinen Vater im Namen der Priesterschaft und des Rates, die wir dich geprüft haben, um Verzeihung! Wir waren blind gewesen, haben den wahren Willen des Erhabenen verkannt. Ein großer Irrtum hat sich ereignet, und ich schäme mich dafür, diesem stattgegeben zu haben! Doch nun lasset uns all unsere Freude kundtun, dass du, Raen, von Ihm erwählt worden bist. Und lasset uns Hyaun um Dank anrufen, dass Er uns dieses schreckliche Fehlurteil so gütig aufgezeigt hat!“ Feierlich machte er das Zeichen der drei Säulen vor Raen.
Erleichterung trat auf die Gesichter aller Anwesenden. Nur Romans Miene blieb verschlossen. Vorsichtig legte Loenka ihm eine Hand auf die Schulter. Im Stillen dankte er dem Oberpriester dafür, sich in dieser delikaten Angelegenheit so weise verhalten zu haben. Das Schamgefühl Romans und dessen tief rührende Ängste, um die Loenka sehr wohl wusste, konnte er dem Vater des Jungen allerdings nicht nehmen, denn das Stigma des Besonderen verfolgte Raen offensichtlich noch immer.

Die Nachricht von Raens Kall und die damit verbundene, vom Oberpriester selbstverständlich richtig gedeutete Botschaft Hyauns machte im Clan schnell die Runde, und viel Aufregung bestimmte auch weiterhin den Morgen, an dem Raen zum Krieger erwählt wurde. Zunächst durfte er aber in aller Ruhe zusammen mit den Priestern das Morgenmahl einnehmen, das aus einer einfachen Hafergrütze mit zerlassener Butter und Tee bestand und das übliche Essen der Priester darstellte. Raen schmeckte es trotz seiner Kargheit vorzüglich, denn es war das erste Essen in seinem neuen Dasein als Krieger! Seine Freude über diese Wendung war schier grenzenlos. Das war es, was er immer gewollt hatte. Das war sein Weg, und keiner konnte ihm diesen jetzt noch verwehren.
Nach dem Morgenmahl wurde von der obersten Stufe des Tempels verkündet, was sowieso schon alle längst wussten: Ein weiterer junger Mensch war vom erhabenen Hyaun berufen worden, vom heutigen Tage an in der Gemeinschaft der Krieger zu dienen.
Daraufhin brach ganz nach alter Tradition überall im Chorten Jubel aus, und die Leute klatschten in die Hände. Anschließend gab der Oberpriester höchst persönlich an alle Clanmitglieder eine Erklärung über seinen Irrtum ab.
Raen selbst bekam von alledem kaum etwas mit, denn gleich nach dem Essen wurde er in den Waschraum des Tempels gebracht, den man durch verschiedene Türen und Gänge erreichen konnte. Er befand sich im hintersten Teil des langgestreckten Tempelgebäudes und von ihm aus konnte man durch die offene Rückwand direkt über eine überdachte Veranda in den Tempelgarten gehen. Raen betrat zum ersten Mal diese geheimen Räume und sah sich neugierig um.
‚Dies ist es also’, dachte er, ‚das Innerste Reich der Krieger.’ Er konnte kaum glauben, dass er sich hier befand.
Man bedeutete ihm, sich auf einen Schemel zu setzen, der mitten im Raum stand. Er tat wie ihm geheißen und wartete gespannt ab. Um ihn herum herrschte reges Treiben. Allem Anschein nach bereiteten die Priester alles für seine Reinigungszeremonie vor. Raen war überrascht, dass jetzt alles so schnell ging. Um ihn herum wuselten viele Gesichter, die er nicht näher kannte, und er wurde etwas unruhig. Sollte denn sein Vater nicht dabei sein, wenn er in die Gemeinschaft der Krieger aufgenommen wurde? Und wo waren Loenka und Gahin überhaupt? Um sich zu beruhigen, besah er sich den Raum genauer. Aus einem kupfernen Zufluss zu seiner Rechten plätscherte munter Wasser in ein Becken. Hölzerne Schöpfkellen hingen an Haken daneben. Darüber war ein Holzgitter in die Wand eingelassen, und Raen vermutete, dass sich dahinter noch ein weiterer Waschraum befand, denn er vernahm weibliche Stimmen und Geplätscher.
‚Sind hier Frauen und Männer etwa getrennt?’, fragte er sich und ihm fiel auf, dass ihn tatsächlich nur Männer umgaben. Verstohlen beobachtete er, wie einer der Priesternovizen ein zweites Becken mit heißem Wasser füllte und dann etwas aus einer glasierten Tonflasche hineingoss. Sofort stieg mit dem Wasserdampf ein angenehmer Duft nach Kiefernnadeln auf und verteilte sich im Raum. Unsicher sah Raen sich weiter um. Neben ihm wurde ein kleines Tischchen aufgestellt und mehrere Gegenstände mit viel Anmut darauf abgelegt. Ein gefaltetes gelbes Tuch, ein sehr scharf aussehendes Messer ohne Spitze, ein Bund dieser komischen Kräuter, die bei seinem Malheur beim Zwiebelschneiden schon einmal angewendet worden waren, und ein Band aus Leder, das strichweise Markierungen aufwies.
Plötzlich erstarrte die Betriebsamkeit, und aus der Menge der versammelten Männer trat Gahin zusammen mit dem Clanchef Lako, der ja zugleich auch das Oberhaupt der Kriegerkaste war, hervor. Raen sah auch seinen Vater, der still bei den anderen wartete, während Lako zu sprechen begann: „Raen, Sohn von Roman, vom heutigen Tage an bist du ein Mitglied der Kriegerkaste. Das bedeutet, du bist von nun an unseren Regeln und Gesetzen unterworfen. Du trägst eine große Verantwortung und dienst jetzt ohne Einschränkung der Gemeinschaft. Bist du bereit, dein Privileg zu empfangen und der Ehre dein Opfer darzubringen?“
Raen verstand zwar nicht ganz genau, was Lako damit meinte, aber ihm war jedes Opfer recht, um in den Kreis der Krieger aufgenommen zu werden, und deshalb antwortete er laut und deutlich mit: „Hana do!“
Er gewahrte, dass auch sein Vater nickte, und mit einem Mal erfüllte ihn Stolz.
Lako wandte seinen Blick an den Oberpriester, und dieser hob die Hand.
„Dann empfangen wir mit Dank jetzt dein Opfer“, sagte der Hyaunset suer und trat mit den anderen zur Seite, um drei Priestern Platz zu machen. Diese gaben Raen ein Zeichen aufzustehen und begannen ihn zu entkleiden. Raen fühlte sich unbehaglich, denn alle Augen waren auf seinen nackten Körper gerichtet, und obwohl es sehr warm war, bekam er eine Gänsehaut. Zu seiner Erleichterung wurde das gelbe Tuch entfaltet und um seine Hüften gewunden. Er musste sich wieder setzen, und einer der Priester nahm das Messer vom Tischchen neben ihm.
„Du bist ein Gerufener und wirst jetzt als Krieger Hyauns neu geboren“, sagte ein anderer, und der dritte begann in Alt-Hy leise zu singen. Raens Hände wurden mit den Handflächen nach oben auf seine Oberschenkel gelegt. Er schloss die Augen, denn er ahnte, was jetzt kommen würde. Kurz darauf spürte er, wie das Messer sein Haarband durchschnitt, und seine offenen Haare lose auf seine nackten Schultern fielen. Dann fühlte er das Messer an seiner Stirn und schließlich oben am Haaransatz. Mit einem leichten Kratzen fuhr es über seinen Kopf, und er nahm wahr, wie die ersten Haarsträhnen in seinen Schoß fielen. Großes Bedauern erfasste ihn. Er würde nie wieder so lange Haare haben, würde sie nie wieder kämmen und sie nie wieder zu einem Zopf binden können. Er würde ganz anders aussehen. Wer würde er sein ohne Haare? Er versuchte, den Kloß, der sich in seinem Hals bildete, herunterzuschlucken, doch er hielt sich hartnäckig. Dann war der Priester mit dem Rasieren fertig, und Raen öffnete ganz langsam seine Augen, als fürchtete er, sogleich sein kahles Spiegelbild zu erblicken. Aber alles, was er sah, war die rings um ihn herum verstreute Flut von braunen Haaren. Sie bedeckten seinen Schoß, den Boden und seine Füße, aber nicht mehr seinen Kopf. Raen spürte den ungewohnt kühlen Luftzug auf seiner ungeschützten Kopfhaut. Er schaute in die Runde, und jeder konnte das Unbehagen deutlich in seinen klaren, grünen Augen ablesen, die mit einem Mal sehr groß wirkten.
Derweil sammelten die Priester die Haare in eine Schale trugen sie hinaus.
„Merke, Erwählter, du bist neu geboren!“, durchbrach einer der dagebliebenen Priester die massive Stille, die in dem Raum geherrscht hatte. „Von nun an wirst du dir zu jedem neuen Mond die Haare scheren lassen!“
Raen nickte stumm. Der Priester nahm das Lederband und legte es Raen an die Stirn, einmal von Schläfe zu Schläfe. Er sagte eine Zahl, welche der andere Priester auf einer kleinen Tafel notierte und tat das Band wieder zur Seite.
„Steh bitte auf“, bat ihn der Priester. „Der Tag deines Al Auns, sprich der Tag, an dem du dein Aun erhalten wirst, wird zur nächsten Kopfrasur in achtundzwanzig Tagen sein.“ Raen nickte erneut. „Jetzt werden wir dich in die rituelle Reinigung einweisen, die du immer an diesem heiligen Ort durchführen wirst. Raen wurde das Tuch um die Hüften entfernt. In diesem Moment fühlte er sich einmal mehr sehr nackt. Unbewusst strich er sich mit einer Hand über seinen kahlen Kopf, zog sie erschrocken aber sogleich wieder zurück. Sanft wurde er in Richtung des dampfenden Beckens geschoben. Zuerst musste er sich seine Hände reinigen und schließlich seinen Kopf unter den warmen Wasserstrahl, der aus der Wand kam. Erstaunt stellte er fest, dass es sich sehr angenehm anfühlte, das Wasser direkt auf seiner Kopfhaut zu spüren, und er entspannte sich ein wenig. Nach seinem Kopf wurden seine Arme und der Rumpf gewaschen und zum Schluss die Beine und die Füße. Anschließend klopfte man ihn von oben bis unten mit dem Bündel Kräuter ab. Als er dann in eine Priesterrobe gewickelt wurde, fühlte er sich fein gestimmt und frisch gestärkt.
Nun tat sich ein Korridor in der Menge auf und machte ihm den Weg in das Tempelinnere frei. Gahin und Lako gingen Raen voran und führten ihn durch die dunklen Gänge. Schließlich traten sie durch eine unscheinbare Tür, verneigten sich und schlugen das Zeichen der drei Säulen. Raen folgte ihnen. Das Obere Heiligtum tat sich vor ihm auf wie eine seltene und wertvolle Blüte, und zum ersten Mal trat er bewusst vor das Antlitz Hyauns im Habitus als Gott des Krieges. Furchtsam blinzelte Raen ob des Leuchtens, das ihm entgegenschien wie ein zweiter Sonnenaufgang. Vor ihm ragte die Statue auf bis unter die Decke. Sie war von Kopf bis Fuß in Gold gehüllt. Das erhobene Schwert in der rechten Hand des Gottes erinnerte ihn für einen kurzen Moment an seine morgendliche Vision vom Rachegott. Doch jetzt sah Hyaun nicht im Geringsten mehr bedrohlich aus, eher gebietend und beschützend. Seine andere Hand war nach vorn gerichtet und formte die Geste des wachen Geistes. Auf dem Kopf saß, genau wie bei der Statue im unteren Altarraum die Krone der Allwissenheit. Raen verneigte sich ehrfürchtig vor dem funkelnden Gott, der in dieser doch sehr eindrucksvollen Form zukünftig sein neuer Glaubensmittelpunkt sein würde. Von Gahin und Lako wurde er zu Füßen der Statue geführt, wo bereits die Schale mit seinen Haaren stand. Er wurde aufgefordert, sein Opfer nun persönlich direkt an Hyaun zu entrichten und Ihn um eine gütige Aufnahme in den engeren Kreis der Eingeweihten zu bitten.
Nachdem Raen sich wieder vom Boden erhoben hatte, schaute er erwartungsvoll in die Menge.
Sein Vater trat auf ihn zu, und er wusste, dass jetzt der traditionelle Abschied der Eltern von ihrem Kind vollzogen werden würde. Er kannte dieses Ritual bereits von der Verabschiedung seiner Schwester. Roman legte ihm eine Hand auf den Kopf und sah ihm in die Augen.
„Mein Sohn, von heute an beschreitest du deinen eigenen Weg. Mit dem Eintritt in den Zweiten Lebensgrad eines jungen Lernenden beendest du deine Kindheit. Du wirst lernen und dich entwickeln und anschließend in die Manneswürde eintreten. Deine neuen Verpflichtungen lösen die der Kindheit ab und fordern auch von mir eine andere, neue Verantwortung als Vater. Du verlässt den Kreis meiner Entscheidungen und wirst lernen, in Zukunft deine eigenen zu treffen. Mein väterlicher Rat jedoch soll dir jeder Zeit offenstehen wie auch der Schluss in meine Arme.“ Roman umarmte Raen. „Ich bin sehr stolz auf dich, Raen, das sollst du wissen. Gehe deinen neuen Weg aufrecht und mit erhobenem Haupt. Möge Hyaun dich beschützen!“, flüsterte er so leise, dass nur sein Sohn ihn hören konnte.
Raen kamen vor Rührung die Tränen. Endlich befanden sein Vater und er sich im Einklang. „Danke Vater! Ich danke dir für alles!“ Dass Roman ihm seine Anerkennung signalisiert hatte, war für ihn die wichtigste Botschaft dieses Tages gewesen und machte ihn überaus glücklich. Er verneigte sich das erste Mal mit der neuen Geste eines Lernenden vor seinem Vater, und dieser grüßte ihn mit seinem neuen Namen zurück: „Tor Ban Raen - Lernender der Kriegerkaste.“

16. Kapitel



Die nächsten vier Wochen verbrachte Raen ausnahmslos im Tempel, und der einzige Besuch, den er empfangen durfte, war der seines Vaters. Trotz der vielen neuen Dinge, die er lernte, fühlte er sich einsam. Selbst Loenka ließ sich kaum blicken, obwohl er im Tempel lebte. Zuerst wusste Raen nicht, warum er ihn so selten sah, doch dann erfuhr er, dass sein priesterlicher Freund nun nicht mehr für ihn zuständig war. Alles im Tempel war streng aufgeteilt, und die Ausbildung der jungen Krieger oblag anderen Priestern. Raen kannte keinen von ihnen näher. Sein zukünftiger geistiger Lehrer hieß Hyaunset Chodan und ging bereits auf sein sechzigstes Lebensjahr zu. Der Junge war über diesen Wechsel sehr traurig, denn zu gerne hätte er bei Loenka weitergelernt. Es fiel ihm schwer, den Kreislauf der Dinge zu akzeptieren. Alles veränderte sich stetig. Er war nun ein Erwählter und unterlang neuen Gesetzen, er lebte jetzt ein ganz anderes Leben.
Neben den täglichen Gebeten und den ersten Lektionen in Alt-Hy erlernte Raen die geistige Selbstreinigung mit Hilfe der Meditation, die für sein Wohlergehen als Krieger einmal sehr wichtig sein würde. Aber da er in den vergangenen Jahren in Loenka einen ausgezeichneten Lehrer auf diesem Gebiet gehabt hatte, fiel es ihm sehr leicht, das von ihm Verlangte zu absolvieren, und so blieb am Ende eines jeden Tages immer etwas Zeit übrig, in der er sich frei mit seinem neuen Lehrer unterhalten konnte. Zu seiner großen Freude trafen seine vielen Fragen nun endlich auf einen gewillten Geist, der sie alle gerne und ohne jeglichen Vorbehalt beantwortete. Chodan gab sich sichtlich Mühe, den Wissensdurst seines jungen Schülers zu stillen und zögerte nicht, auch die sensiblen Fragen zu beantworten. Das Unaussprechliche war für Raen nun nicht mehr länger unaussprechlich, und er machte von diesem neuen Privileg regen Gebrauch. Der alte und erfahrene Hyaunset, der schon unzählige junge Krieger unterrichtet hatte – darunter damals auch Raens Vater –, war ein sehr ruhiger Mensch und hatte stets ein feines, besonnenes Lächeln auf den Lippen. Seine kleinen Augen blitzten schlau unter den dichten, noch schwarzen Augenbrauen hervor. Er wirkte sehr ausgeglichen und bewegte seinen kleinen Körper nur mit äußerstem Bedacht, gleich so, als hätte er Angst auf eine Ameise zu treten und damit die Schuld am Tod eines unschuldigen Wesens auf sich zu laden. Wenn es der Ernst erforderte, war er streng und beharrlich, aber er verstand auch Spaß. Und allein sein leises und schelmisches Lachen versprühte so viel Witz und Freundlichkeit, dass Raen ihn sehr schnell zu mögen begann. Chodan war ganz anders als der hochgewachsene Loenka, dessen schwungvolles, junggebliebenes Wesen mit dem des fast zwanzig Jahre älteren Priesters kaum zu vergleichen war. Wie unterschiedlich die Menschen doch sein konnten. Und obwohl sie alle gemeinsam für das gleiche Ziel arbeiteten, hatte jeder doch seine ganz speziellen Seiten und brachte sie wie ein kleines wertvolles Steinchen in das bunte Mosaik ein, welches das Leben darstellte.
Raen sollte auch Unterricht am Ban Arnor erhalten, dem Buch der Krieger, in dem alle Regeln und Gebote der Kriegerkaste verzeichnet waren. Und er war aufgeregt, als sie dafür das erste Mal das Studierzimmer der Priester aufsuchten, welches über dem Oberen Heiligtum lag. Dort befand sich ein großer Schrank, auf dessen sonst schlichten Türen nur eine große Sonnenscheibe aus Gold prangte. Sie teilte sich in zwei Hälften, als Chodan den Schrank öffnete. Der alte Priester verneigte sich vor einer Holzkiste, in der das Buch verstaut war, und nahm es dann behutsam heraus. Es war das größte Buch das Raen je gesehen hatte, und Chodan legte es vor seinem Schüler auf ein Lesepodest. Fasziniert betrachtete Raen den ledernen Buchdeckel, den wieder eine schlichte Sonnenscheibe zierte. Dann blickte er fragend zu Chodan auf. Er traute sich nicht, das Ban Arnor anzufassen, aber der Priester nickte ihm auffordernd zu. Raen verneigte sich, wie es sein Lehrmeister getan hatte, und klappte dann den Deckel vorsichtig auf. Ehrfürchtig las er die ersten Zeilen laut vor.
„Dies ist das Ban Arnor, das Buch der Gesetze des Lebens, aufgeschrieben von Hyaun Banskeid Arkahan, erster Krieger des Al Setna Budhan im Jahre Eins seiner Trägerschaft.“ Raen sah erstaunt zu Chodan.
Der lächelte und sagte: „Ja, ich weiß, was du denkst, aber dieses Buch ist natürlich keine tausend Jahre alt. Es ist nur eine Abschrift und zugleich auch eine Übersetzung. Das echte liegt im Tempel von Tena-lo-Ghan und ist in Alt-Hy verfasst. Dieses hier ist aber immerhin schon seine dreihundert Jahre alt. Nachdem ein Brand das erste des Shari Clans vernichtet hatte, war ein neues angefertigt worden.“
Raen wagte kaum zu atmen, als er die nächste Seite umblätterte. Es waren feste Pergamentseiten mit einer klaren, sauberen Handschrift. Raen sah, dass das Buch mit einer Art Inhaltsverzeichnis begann. Seine Augen weiteten sich begeistert, während er die Punke überflog.
„Werde ich all diese Dinge lernen?“, fragte er.
„Ja, alle“, sagte Chodan, „ich werde dich darin unterrichten, und du wirst aus ihm lernen, bis dir seine Worte ins Blut übergegangen sind!“
„Oh, das ist großartig, ich danke dir, Hyaunset Chodan!“, sprudelte es aus Raen heraus und er fiel dem Priester beinahe um den Hals, der gerührt vom Enthusiasmus’ des Jungen abwinkte.
„Du musst mir nicht danken, es ist selbstverständlich. Du bist ein Erwählter und es sind deine Gesetze!“
„Sieh mal, da steht: ‚Die Regeln im Kampf. Begegnung mit dem Feind.’ Wann kommt das dran?“, wollte Raen wissen, nachdem er sich wieder dem Buch zugewendet hatte.
„Das hat noch Zeit. Zuerst wirst du die vorderen Teile lesen. Alles geht schön der Reihe nach.“
„Och, schade. Das ist ja noch so lange hin. Die Regeln für den Kampf stehen erst im fünften Teil! Bitte, darf ich schon einmal reingucken?“ Raen konnte es kaum erwarten, mehr aus diesem Buch zu erfahren.
Chodan schwieg.
„Bitte, Chodan, nur einen kurzen Blick.“
Der alte Priester zögerte, doch dann willigte er ein. „Gut, schlag die erste Seite von Teil Fünf auf.“ Er wusste schon, wie man mit übereifrigen Schülern umzugehen hatte. „Lies die ersten Sätze.“
„Regeln im Kampf“, begann Raen feierlich. „Die erste aller Regeln in einem Kampfe ist, dass es keine Regeln gibt!“ Er stockte, las dann aber weiter. „Die zweite Regel im Kampfe besagt: Folge immer deinem Herzen.“ Raen sah auf. „Das verstehe ich nicht.“
Chodan musste ein Lächeln unterdrücken. „Siehst du, sagte ich das nicht, du bist noch nicht so weit. Später wirst du es verstehen. Später“, sagte er belehrend zu seinem enttäuscht dreinschauenden Schüler. „Je fleißiger und sorgfältiger du lernen wirst, desto schneller werden wir das Ziel erreichen!“ Chodan schloss mit einer entschiedenen Bewegung das Buch.
Raen nickte, er wollte schnell lernen.

Am Morgen seines Al Aun wurde der junge Lernende noch vor Sonnenaufgang in seinem kleinen Zimmer im oberen Stockwerk des Tempels zum Morgengebet geweckt. Zu dieser sehr frühen Stunde hatte Raen große Mühe nicht einzuschlafen, während er die monotonen Verse vor sich hinmurmelte. Nach dem Gebet ging er zusammen mit allen anderen in den Waschraum, und durch die offene Wand konnte er den ersten Schimmer des neuen Tages über der Mauerkrone begrüßen. Um ihn herum herrschte gute Laune an den dampfenden Becken. Die Priester und Novizen wuschen sich und unterhielten sich dabei mit gedämpften Stimmen. Sogar einige Krieger waren schon wach. Aber von dieser regen morgendlichen Atmosphäre bekam Raen nicht viel mit. Er lehnte versunken an einem Pfosten der Veranda und sah hinauf zur Verbrennungsstätte, hinter der es immer heller wurde. Gebannt wartete er darauf, dass die goldene Spitze auf dem kleinen Dach dort oben zu leuchten beginnen würde. Nicht einmal die hellen Stimmen der Priesterinnen, die nebenan aus ihrem Teil des Waschhauses auf die Veranda getreten waren, konnten ihn aus seiner Starre wecken. Erst, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte und sich umdrehte, sah er, dass er mittlerweile fast ganz allein war.
„Tor Ban Raen.“ Es war Chodan, der sich seiner annahm. „Komm jetzt.“
Raen folgte dem Priester federnden Schrittes. Chodan deutete auf einen Hocker, und Raen setzte sich. Es erfolgte die zweite Kopfrasur und nach dem Waschritual eine erneute Behandlung mit den heiligen Kräutern. Raen war jetzt hellwach, und Aufregung packte ihn. Beim gemeinsamen Morgenmahl in einem der großen Seitenräume des Oberen Heiligtums saß er neben Kaera, dessen Al Aun gerade mal zwei Monate zurück lag. Raen betrachtete unauffällig den goldenen Reif auf dessen Stirn und die schwarze Kleidung, die der junge Kamerad bereits tragen durfte. Heute werde ich auch ein Aun bekommen, dachte er erregt. Wie das wohl sein wird, es zu tragen?
Kaera begann zu lächeln, als er Raens Blick auf sich gerichtet sah.
„Es tut ein bisschen weh und danach ist man sehr verwirrt. Die Stimme Setnas ist sehr stark. Ich war fast fünf Tage wie weggetreten“, sagte er und beantwortete damit unbeabsichtigt Raens gedankliche Frage. „Aber sie helfen dir dabei, es gut zu überstehen.“
Raen nickte und sah auf die Schale mit seinem unangetasteten Essen.
„Ging mir auch so“, gab Kaera zu, der seinem Blick gefolgt war.
Raen sah ihn fragend an.
„Ich meine, ich hab damals vor Aufregung auch keinen Bissen herunter bekommen. Hier ist wirklich alles anders, als es vorher war. Ein ganz anderes Leben.“
Raen nickte erneut, heute war Kaera wirklich besonders gesprächig, aber bisher hatte er aus dessen Äußerungen noch nicht heraushören können, ob dieser mit seiner Kriegerwürde auch wirklich glücklich war.
Mit Kaera hatte er schon damals nicht allzu viel zu tun gehabt, als sie noch in die gleiche Klasse gegangen waren. Dadurch, dass Raens bester Freund außerhalb des Chorten wohnte und sich auch immer viel dort aufgehalten hatte, waren sie sich lediglich beim Essen begegnet. Aber er erinnerte sich daran, dass Kaera gut mit Zahlen umgehen konnte. Erst hier im Tempel hatte er mehr über ihn erfahren, und festgestellt, dass er mit Kaera nicht viel gemein hatte. Er gab sich zwar Mühe, sich auf den eher stillen und zurückhaltenden Kameraden einzustellen, aber es fiel ihm schwer, dessen Verhalten zu akzeptieren, denn wo der Jüngere den Dingen oft mit Schüchternheit begegnete, verhielt Raen sich ungehemmt offensiv und forderte sein Recht selbstbewusst ein.
„Ich bin gespannt“, sagte er jetzt und probierte nun doch etwas von seinem Essen. Es schmeckte, und er aß die Schüssel leer. Danach fühlte er sich gut und gewappnet für den Tag seines Al Auns.
Nach dem Essen begaben sich die Priester in den Altarraum des Oberen Heiligtums und bereiteten die Zeremonie vor. Raen aber musste Chodan in einem der kleinen Gebetsräume folgen, wo er eine Einweisung in den Vollzug des Ritus bekam. Aber auch jetzt blieb er zuversichtlich. Er würde das Ganze schon anstandsvoll überstehen. Nach dem Gespräch mit Kaera war sein Ehrgeiz geweckt, und er bildete sich einiges auf seine besonderen Fähigkeiten in der Meditation ein, die ihm ja schon oft bescheinigt worden waren. Das erste Mal in seinem Leben fühlte er bewusst den Drang, besser sein zu wollen als andere, und das war eigentlich eine Eigenschaft, die in dieser Art nicht sehr geschätzt wurde. Man sollte zwar immer nach Perfektion streben, aber nur, um damit der Gemeinschaft zu dienen und nicht, um andere Menschen überflügeln oder sich womöglich noch über sie stellen zu wollen. Aber auch diesen Unterschied würde Raen erst noch lernen müssen. Zunächst aber wollte er es besser machen als Kaera.
Die Tür zu dem Zimmer öffnete sich, und ein Priester brachte ein schwarzes Stoffbündel herein. Er übergab es mit einer Verbeugung Chodan und verließ den Lehrer und den Expektanten daraufhin wieder. Chodan blickte Raen an.
„So, du kannst die Priesterrobe jetzt ablegen. Hier ist deine neue Kleidung“, sagte er und legte das gefaltete Bündel vor dem Jungen ab. Raen knüpfte es mit zitternden Fingern auf. Er nahm das oberste Stück und entfaltete es. Es war der Dari. Fasziniert starrte Raen auf den tiefschwarzen Stoff. Chodan beobachtete ihn dabei leicht amüsiert, wurde aber schnell wieder ernst.
„Du wirst den Ornat des Kriegers mit Würde tragen, genauso wie die Verantwortung und die Ehre, die damit verbunden sind!“
Raen erhob sich, und im nächsten Moment hatte er sich auch schon der gelben Robe entledigt. Chodan reichte ihm das weiße Untergewand.
„Tor Ban Raen, dies ist die Farbe der Wahrheit“, sprach er feierlich, „man kann nichts vor ihr verbergen!“ Raen legte sich das Hemd um die Schultern und verschloss es mit den Brustbändern.
„Genauso wird vor dir nichts verborgen werden, und auch du selbst sollst nichts verbergen!“
Raen verneigte sich folgsam.
Der Priester gab ihm Hose und Gamaschen, beides natürlich gleichfalls in schwarz.
„Und nun die Farbe, die alle in sich vereint, die Farbe der Treue, der Pflichterfüllung und des Vertrauens!“ Raen zog sich den Dari über. Chodan trat zu ihm und rückte ihm den weißen Kragen darunter zurecht.
„Und jetzt hebe deine Arme, Tor Ban.“
Raen tat wie ihm geheißen, und Chodan begann den mehrere Ellen langen Stoffgürtel um Raens Hüfte zu wickeln. „Als Zeichen deiner Jugend trage den Knoten stets hinten“, wiederholte der Priester diese Kleiderregel, die für einen Menschen so lange Gültigkeit hatte, bis er verheiratet war. Erst dann war man voll und ganz Entscheidungsfähig, und als Symbol dessen trug man den Konten vorne, wo man ihn auch selbstständig binden konnte.
Raen lächelte, als er schließlich an sich herunterblicke.
„So, noch die Schuhe, und dann bist du bereit, um vor die Versammlung zu treten.“
„Oh, ja, die hätte ich fast vergessen“, antwortete Raen verlegen und schlüpfte schnell in die flachen Lederschuhe. „So, jetzt kann’s losgehen!“
„Gut.“ Chodan öffnete die Tür zum Oberen Heiligtum, und Raen trat an ihm vorbei in den stark nach Melam riechenden Raum. Verblüfft stellte er fest, dass kein Platz mehr frei war, nahezu alle Krieger und Priester des Clans hatten sich hier versammelt. Sie saßen und standen dichtgedrängt in den Reihen, und alle Blicke wurden auf ihn gerichtet, als er zum Altar hinüberging. Seine Knie wurden weich, und fort waren alle Zuversicht und jegliche hochtrabenden Ambitionen. An purer Selbstüberschätzung hatte er gelitten und hatte von nichts eine Ahnung, von rein gar nichts. Er war ein unerfahrener naseweiser Novize. Raen versuchte, seinen Fehltritt in die Gefilde der Arroganz zu verdrängen und wenigstens aufrecht zu gehen. Auf keinen Fall wollte er sich blamieren. Kaum wagte er es, nach rechts oder links zu schauen, deshalb konnte er auch nicht sehen, dass sein Vater in der vordersten Reihe saß und neben ihm Reni und Richol - also alle Krieger aus seiner Verwandtschaft.
Vor dem Altar angekommen, stieg er die drei Stufen empor und ließ sich auf die Knie nieder. Besonders tief verbeugte er sich vor seinem Gott.
„Tor Ban Raen, heute ist der Tag deines Al Auns, mit dem du in die Kriegerkaste aufgenommen wirst. Danach wirst du dein Leben für dein Volk leben und es streng nach den Regeln des Ban Arnor führen. Ich frage dich nun: Bist du bereit, diese Verantwortung anzunehmen?“
Raen richtete seinen Oberkörper aus der Verbeugung auf. Er sah Clanchef Lako, der soeben gesprochen hatte, direkt an.
„Hana do“, antwortete er und schämte sich für das Zittern in seiner Stimme. Er senkte sein Haupt.
„Dann sprich jetzt mit uns den Schwur des Kriegers vor dem Erhabenen, der uns stets die Kraft gibt, unsere Hand zu führen, im Krieg wie auch im Frieden!“
Sie sprachen zusammen den langen Vers in Alt-Hy. Raen hatte ihn zuvor sorgfältig auswendig gelernt, aber aufgrund seiner Nervosität unterliefen ihm trotzdem einige Fehler und er wünschte sich, der Erdboden würde sich auf der Stelle auftun und ihn verschlucken. Doch diesen Gefallen tat ihm der Erdboden leider nicht, und so musste er zur Strafe noch etwas weiter leiden. Nach dem Schwur wandte er sich der Versammlung zu, dabei hielt er seinen Blick möglichst gesenkt. Doch plötzlich lenkte ihn etwas von seiner Verlegenheit ab. Vor ihm auf einem kleinen Tischchen lag das Aun, das er bekommen sollte. Es schimmerte matt im Licht der vielen Öllampen, und Raen wagte es nun doch, in die Menge zu sehen. Dort saßen sie, die Aun-Träger, und in wenigen Augenblicken würde er einer von ihnen sein!
Hinter ihm war derweil ein schwarzes Tuch ausgebreitet worden, und er musste sich darauf legen. Über ihm schwebte das goldene Gesicht Hyauns, und selbst aus dieser Position schien Er ihm direkt in die Augen zu sehen. Gespannt wartete er. Einer der Priester reichte ihm etwas, das wie ein kleines Kügelchen aus getrockneten Blättern aussah, und forderte ihn auf, es zu kauen.
‚Das ist das Zhangha!’, dachte Raen aufgeregt. Es war das erste Mal, dass er es nahm. Bereitwillig öffnete er seinen Mund und zerbiss es. Das Zeug schmeckte bitter, aber er kaute lange darauf herum und schluckte den dabei entstehenden Saft. Spüren tat er aber zunächst nichts von der angeblich wundersamen Wirkung, die eines der größten Geheimnisse der Krieger war. Aus seinen Augenwinkeln bemerkte er, wie sich der Schatten des Priesters neben ihn kniete, und dass dieser Schatten ein Messer in der Hand hielt. Raen wollte seine Augen aufreißen und sich aufsetzen, fühlte sich aber seltsam träge. Die Konturen verschwammen, um danach noch deutlicher wieder hervorzutreten. Das Licht wurde grell, und Raen schien jedes noch so schwache Geräusch hören zu können: Das Atmen der Leute im Raum, das Rascheln ihrer Kleidung und sogar ihren Pulsschlag. War das etwa das Zhangha? Er war so fasziniert davon, seine Umgebung unter dem Einfluss der Kriegerdroge allein mit Hilfe seines Gehörs neu zu erkunden, dass er gar nicht mitbekam, was die Priester mit ihm taten. Und erst, als der Geruch nach verbrannter Haut überwältigend intensiv in sein glasklares Bewusstsein trat, erinnerte er sich, wo er war und was gerade mit ihm geschah. Doch offensichtlich war es schon vorbei, denn er wurde aufgesetzt. Der Oberpriester trat in sein Blickfeld und fragte mit lauter, für Raen ungeheuer dröhnender Stimme: „Erwählter, hörst du mich?“ Raen nickte benommen. „Bist du bereit für die Stimme des Setna?“
Raens Zunge fühlte sich bleischwer an, und er befürchtete, sie wolle ihm nicht mehr gehorchen, doch seine Antwort kam klar und deutlich. „Ja.“
„Gut, so sei es denn!“ Neben Gahin trat ein weiterer Priester, der das Aun in den Händen hielt. Er setzte es Raen auf die Stirn. Es haftete sofort und auf wundersame Weise an, und konnte von nun an nur mit einem Spezialwerkzeug wieder entfernt werden.
Das erste, was Raen spürte, war die Kühle des Metalls. Doch dann explodierte ein gleißender Lichtblitz vor seinem inneren Auge und eine fürchterlich verzerrte Stimme donnerte durch seinen Kopf. Es war, als hätte er sein Ohr direkt an die Öffnung eines Horns gelegt, durch das nicht Töne, sondern lautstark unsinnig verdrehte Worte gesprochen wurden. Raen drückte sich die Hände auf seine Ohren, was aber natürlich nichts half, da der Lärm von innen kam. In verzweifelter Benommenheit versuchte er, sich das Aun wieder von der Stirn zu reißen, doch starke Hände hinderten ihn daran. Zuckend rollte Raen mit den Augen und gab stöhnende Laute von sich. Mit ihm schrie die fremde Stimme aus den Tiefen seiner Gedanken. Als die Ohnmacht sich auf ihn herabsenkte, ergab er sich ihr dankbar für die Erlösung.

Nach vier Tagen kam Raen wieder zu sich. Er konnte kaum aufstehen, so schwach fühlte er sich. In seinem Kopf pulsierte es dumpf, und als er auf dem Bett saß und sich die Hände an die summenden Schläfen hielt, trat sofort wieder die Stimme in sein Bewusstsein. Diesmal aber hatte er nicht die Wahrnehmung, als höre er sie in seinen Ohren, sondern mit jedem einzelnen Körperteil. Er spürte sie in seinem Innern vibrieren. Ihm wurde übel und er schluckte trocken. Ein Novize, der die ganze Zeit über an seinem Bett gewacht hatte, reichte ihm einen Becher mit Wasser, den Raen dankbar annahm. Er trank ein paar Schlucke und begann sich langsam besser zu fühlen. Das Schwindelgefühl verebbte.
„Brauchst du noch etwas?“, fragte der Novize, aber Raen schüttelte mit dem Kopf. Er gab den Becher zurück.
„Gut, dann hole ich jetzt Hyaunset Chodan.“ Der Novize stand auf und verließ den Raum. Raen sank wieder auf sein Lager zurück. Vorsichtig betastete er den Fremdkörper auf seiner Stirn. Seine Fingerspitzen glitten entlang des goldenen Reifes und verstärkten dabei das Signal der Stimme. Er bildete sich ein, ein leichtes Kribbeln bei jeder der Berührungen spüren zu können. Das war es also jetzt, dacht er. Ich habe ein Aun. Ich bin ein Aun-Träger. Aber es fühlt sich komisch an. Skeptisch lauschte er auf die unüberhörbare Präsenz des Prinzen von Hy, der bisher aber noch kein verständliches Wort zu ihm gesprochen hatte. Bislang beschränkte sich die Kommunikation des Setna auf ein an- und abschwellendes Summen. Wie mochte es wohl sein, wenn er erst richtig sprach? Davor hatte Raen eine gewisse Angst, waren die dabei auftretende Übelkeit und das schwirrende Chaos in seinem Kopf doch nicht gerade angenehm. Wie haben all die anderen das nur überstanden? Raen erinnerte sich an Kaera und er schämte sich, so abfällig über ihn gedacht zu haben.
Da öffnete sich die Tür, und Chodan tat herein. Er grüßte Raen und setzte sich neben ihm nieder.
„Wie geht es dir?“, fragte er mit seiner ruhigen Stimme, und Raen wünschte sich, die Stimme in seinem Kopf möge doch bloß auch so einen sanften Klang haben.
Er versuchte, sich auf seinen Ellenbogen zu stützen. Sofort kam das Schwindelgefühl kam wieder.
„Ich weiß nicht“, lallte er benommen, „mir ist schlecht.“
„Das ist normal. Die Stimme des Prinzen ist stark. Aber du wirst lernen, damit zu leben, und später wird es dich kaum noch beeinträchtigen. Ruh dich aus, bis du dich besser fühlst. Wenn du etwas brauchst, sag es Haeri.“ Chodan meinte damit den Novizen.
„Wo ist mein Vater? Ich würde ihn gerne sehen.“
„Ich werde ihn benachrichtigen lassen, dass du aufgewacht bist, und wenn es seine Pflichten erlauben, wird er zu dir kommen.“
„Gut. Kann ich vielleicht auch Loenka sehen?“, bat Raen.
„Ich weiß nicht. Es ist nicht seine Aufgabe.“
„Bitte, ich würde ihn gerne sehen, als Freund.“ Raen musste sich wieder hinlegen, denn eine Welle der Übelkeit schüttelte ihn. Chodan sah, wie bleich der Junge vor ihm wurde und ahnte, was kommen würde. Er rückte eine große Holzschale näher an sein Bett heran.
„Gut, ich werde sehen, was sich tun kann. Ich gehe jetzt. Lass mich einfach rufen, wenn ich kommen soll.“ Chodan wartete nicht erst auf eine Reaktion von Raen, die er momentan ohnehin nicht erhalten hätte, und verließ das Zimmer. Laute Würgegeräusche drangen an sein Ohr, als er die Tür hinter sich schloss. Er fühlte mit dem jungen Kriegerlehrling, aber dessen wahres Leiden konnte er natürlich nicht nachvollziehen, hatte er selbst doch kein Aun. Er schickte einen Novizen los, um Roman die Nachricht zu überbringen, und er hoffte, dieser würde bald kommen. Denn er hatte das Gefühl, dass Raen ihn jetzt sehr brauchte. Er versuchte auch, Loenka zu finden, doch der befand sich zusammen mit dem Oberpriester in einem Meditationszyklus und durfte nicht gestört werden. Raen würde auf ihn warten müssen, aber er war derweil wahrscheinlich ohnehin schon wieder eingeschlafen.

Roman erschien vor der Tür zu dem Raum, in dem Raen lag, als Loenka ihn gerade verließ.
„Wie geht es ihm?“, fragte er den Priester.
„Ganz gut soweit. Ihm ist immer wieder übel, aber ansonsten hat er es gut überstanden.“
Roman nickte wissend. Natürlich war es ihm bei seinem Al Aun auch so ergangen.
„Tja, wer von uns hätte gedacht, dass es doch noch so kommt!“, sagte Loenka plötzlich und zwinkerte Roman zu. Roman verstand die Anspielung des Priesters und sah ihn an. Sie dachten beide dasselbe. Waren sie doch die einzigen, die still immer etwas anderes geahnt hatten, als der ganze Rest.
Roman antwortete mit gequälter Miene. „Eigentlich habe ich nie gewollt, dass er ein Krieger wird. Ich habe dafür manchmal sogar zu Hyaun gebetet! Und nun ist es doch passiert! Ich weiß nicht, was ich mache, wenn ihm etwas zustößt, Loenka! Ich habe Angst um ihn. Das Kriegerdasein ist gefährlich.“
„Ich verstehe deine väterlichen Bedenken. Aber ich bin überzeugt, dass man sich um Raen nicht allzu große Sorgen zu machen braucht. Er ist stark, und wir beide wissen: Er kann nichts anderes als ein Krieger sein! Wenn einer das Zeug dazu hat, dann ist er es. In ihm brennt ein Feuer, das keiner von uns löschen kann.“ Loenka lächelte, wahrscheinlich um Roman aufzumuntern. „Es ist jetzt sehr wichtig für ihn, deine Anerkennung zu bekommen, Roman. Danach hat er sich schon lange gesehnt. Danach sehnt sich jeder Sohn und auch jede Tochter.“
Roman sah auf. „Ja, du hast recht.“
„Na, also.“ Loenka blickte sich um und senkte seine Stimme. „Das bleibt jetzt unter uns: Ich weiß, dass dein Sohn etwas Besonderes ist. Und das meine ich im positiven Sinne. Mir ist nach reiflicher Überlegung klar geworden, dass wir gerade das an ihm schützen müssen.“ Er legte ihm Roman Hand auf die Schulter und sah ihm tief in die Augen.
Roman blickte erstaunt zurück, und Loenka hob verschwörerisch einen Finger an die Lippen. „Das ist meine ganz eigene Meinung, und ich habe sie bisher noch mit niemandem geteilt. Und du solltest deine Gedanken besser auch für dich behalten.“
Roman bekam ein mulmiges Gefühl. Das klang fast wie eine heimliche Verschwörung. Für einen Moment hielten die beiden Männer den Blick des anderen gebannt fest. Schließlich nickte Roman, und Loenka verabschiedete sich von ihm mit einem Lächeln. Der Krieger sah dem wehenden, gelben Gewand des Priesters nach, bis dieser um eine Ecke verschwunden war.
Was genau wusste Loenka?, fragte Roman sich kurz darauf unwohl. Kannte er etwa die Prophezeiung? Nachdenklich kratzte er sich an der Stirn. Oder hatte der Priester einfach in ihn hinein geschaut und seine Gedanken gelesen? Konnte er das? Roman war sich nicht sicher, was ein Priester konnte und was nicht, aber immerhin gab es ein Orakel, das die Zukunft voraussagen konnte, warum sollte dann ein Priester nicht auch gewisse Dinge sehen können? Obwohl diese Vorstellung Roman um seine Geheimnisse fürchten ließ, fühlte er sich aber in gleicher Weise auch erleichtert. Loenka hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er nicht der einzige war, der sich darum kümmerte, was mit seinem Sohn war. Er war nicht allein.
Mit dieser wohltuenden Gewissheit im Herzen löste Roman sich aus seiner Grübelei und betrat schließlich das Zimmer. Raen lag mit dem Rücken zu ihm gewandt auf seinem Bett. Leise trat Roman an ihn heran, er wollte ihn nicht wecken, falls er schliefe. Doch Raen schlief nicht, Roman sah genau, wie er sich mit der einen Hand immer wieder an die Stirn klopfte.
„Raen, ist alles in Ordnung?“, fragte er sachte.
Sein Sohn drehte sich zu ihm, und er konnte seine erschöpften Augen erkennen.
„Hallo Vater, da bist du ja. Ich kann nicht schlafen, die Stimme ist so laut, und ich bekomme sie nicht weg“, sagte er mit deutlicher Müdigkeit in seiner Stimme.
„Ja, das ist am Anfang nicht einfach“, erwiderte Roman und ließ sich neben dem Bett nieder. „Also ich habe immer versucht mir vorzustellen, die Stimme in der Mitte meines Körper einzufangen, und dass das Schlagen meines Herzens sie dann dämpft. Und tatsächlich ist sie dann irgendwann leiser geworden. Aber dazu musst du dich ganz tief in dich hinein versenken, genau wie in den Übungen. Du darfst dich nicht gegen den Setna wehren, er wird ein Teil von dir werden, genau wie das Aun auch.“ Roman strich Raen über den Arm. Er wirkte wirklich sehr mitgenommen.
„Das haben Loenka und Chodan mir auch schon gesagt, aber ich schaffe es nicht, ich kann gar nichts mehr“, entgegnete Raen matt.
„Doch du schaffst es. Komm, wir versuchen es gemeinsam. Leg dich auf den Rücken und schließe deine Augen.“
Raen tat, was sein Vater ihm sagte.
„Und nun versuch tief und gleichmäßig zu atmen, wie bei der Meditation, ganz gleichmäßig. Ja, gut so. Und jetzt entspanne deinen Körper, damit dein Geist sich von ihm lösen kann. Wenn du verkrampfst, dann hältst du deinen Geist gefangen. Ist dein Geist aber erst einmal frei, so ist er auch offen für die Stimme und wehrt sich nicht mehr gegen sie.“ Roman schwieg für eine Weile und beobachtete Raens Pupillenbewegungen unter seinen Lidern. Als sich die Fahrigkeit etwas gelegt hatte, sprach er weiter: „Lenke nun deinen Geist zu der Stimme und dann beides in deine Körpermitte.“
Roman begann leise Gebetsverse vor sich hin zu singen, und mit den beruhigend monotonen Klängen schwebte sein Sohn schließlich hinüber in den Schlaf. Er lauschte auf die Stimme in seinem eigenen Kopf. Sie summte im Gleichklang mit seinem Herzschlag. Eine leise Erinnerung an eine Macht, die kaum greifbar war, die jedoch eine verheerende göttliche Kraft besitzen konnte, wenn man sie richtig einsetzte. Roman sah auf seinen Sohn. Wenn die Prophezeiung recht behalten sollte, so würde Raen dieser Macht einmal sehr viel näher kommen, als je ein anderer Mensch vor ihm.
Eine ganze Weile wachte er noch über den Schlaf seines Sohnes, dann stand er auf und verließ lautlos das Zimmer. Nur sein Schatten blieb zurück und wachte weiter - der schwarze Schemen eines Kriegers.

17. Kapitel



Raen quälte sich hoch, er war von Kopf bis Fuß schlammverschmiert. Doch der nächste Hieb warf ihn wieder um, und er landete erneut im Dreck. Er überlegte, ob er einfach liegen bleiben sollte, doch der fordernde Ton seines Gegenübers ließ ihm keine Wahl. Mühsam kam er wieder auf die Beine, um sogleich dem nächsten Schlag entgegenzusehen, doch dieses Mal reagierte er rechtzeitig und fing ihn mit seinem Holzschwert ab. Sein Arm erzitterte unter der Wucht. Und während er sich noch freute, so gut pariert zu haben, traf ihn der folgende Schlag in die Kniekehle und er knickte mit einem überraschten Aufschrei weg. Auf allen vieren verharrte er schwer atmend im Schlamm des Übungsplatzes. Die Regentropfen zerplatzten auf seinem Rücken und rund um ihn herum in den Pfützen. Er konnte nicht mehr! Er spürte die Spitze des Holzschwertes an seiner Wange und er hob den Blick zu demjenigen, der die letzten zwei Usui-Stunden ohne Rücksicht auf ihn eingeprügelt hatte. Es war Reni, und er sah ihn ernst an.
„Tot“, war das einzige, was er sagte, und Raen nickte matt. Entmutigt dachte er, dass er es niemals schaffen würde, so kämpfen zu können wie der Cousin seines Vaters. Raen hatte Mühe, die herauf drängenden Tränen zurückzuhalten, aber in seinem verschmierten Gesicht gingen sie ohnehin unter.
„Du kannst aufhören. Geh und wasch dich. Bis zum Nachtmahl hast du Pause.“
Raen dankte Reni und stand unter Schmerzen auf. Er hinkte vom Platz, auf dem sich noch mehrere seiner Kameraden schlugen, sogar Kaera stand noch. Der kämpfte gegen Roman und hielt sich überraschend gut. Schnell verschwand Raen hinter der großen Halle, die das Zentrum des Übungsgeländes der Krieger bildete, er wollte nicht, dass sein Vater ihn so sah. Beinahe angewidert warf er das Holzschwert auf die Veranda, die rings um die Halle verlief. Der verhasste Gegenstand landete mit einem Poltern an der geschlossenen Schiebewand und blieb dort liegen. Raen würdigte ihn keines Blickes mehr, am liebsten hätte er ihn nie wieder angefasst. Beim Brunnen zog er sich einen Eimer Wasser hinauf und schüttete ihn sich einfach über den Kopf, um den gröbsten Dreck zu entfernen. Zum Glück war es nicht sehr kalt; ein warmer Regentag im Sommer.
„Ein guter Tag zum Üben“, hatte Chodan nach dem Morgenunterricht gesagt, und Raen hatte gedacht, dass sie heute in der Halle trainieren würden, so wie sie es bei solch schlechtem Wetter sonst immer getan hatten.
„Ein Kampf findet nicht immer bei Sonnenschein statt“, hatte Kensa als Meister über die Gruppe der Lernenden verkündet, und Raen hatte sich an den ersten Satz des fünften Teiles im Buch der Krieger erinnert: „Der Kampf kennt keine Regeln. So sei auf alles gefasst, selbst auf das Unvorstellbare!“ Für Raen bekam dieser Satz langsam seinen Sinn.
Zuerst hatten sie einen Waldlauf absolvieren müssen, und nachdem sie schon völlig durchnässt an der Halle angekommen waren, hatte ein endlos langer Drill mit den Holzschwertern und anschließend ein freier Kampf stattgefunden, natürlich auch unter freiem Himmel.
Mit hängenden Schultern schlurfte Raen zum Chorten hinauf. Sein erstes Ausbildungsjahr hatte er bereits hinter sich und es war sehr hart gewesen. Trotzdem hatte er stets mit großer Begeisterung seine Aufgaben erfüllt. Immer gab er sein Bestes, doch für den Schwertkampf war das scheinbar nicht genug. Er fragte sich, ob ihm dafür tatsächlich das Talent fehlte, denn obwohl er seit einem Jahr trainierte, war das Schwert in seiner Hand noch immer ein Fremdkörper. Seine Lehrmeister tadelten ihn ohne Unterlass, er solle mehr Geduld haben, wenn er wieder einmal über sich verzweifelte, und er versuchte es ja auch ernsthaft, aber der gewünschte Erfolg wollte sich nicht einstellen. In allen anderen Disziplinen war Raen ein ausgezeichneter Schüler. Im Bogenschießen war er schnell zum Besten der Untergraduierten aufgestiegen, in der waffenlosen Kunst war er begabt und auch im Umgang mit dem Pferd hatte er das beste Händchen entwickelt. Das Schwert jedoch verweigerte sich ihm weiterhin hartnäckig. Es war, als wollte es ihm nicht gehorchen. Raen seufzte. Er dachte an die Geschmeidigkeit, mit der sein Vater die lange Klinge führte; und Reni und alle anderen. Und wenn Kaera einmal seine Angst vergaß, war selbst dieser besser als er.
Raen erreichte den Tempel und betrat ihn durch die Seitentür, die nur die Krieger und Priester benutzen durften und die direkt nach hinten in den Garten führte. Im Waschraum zog er sich aus, warf die schmutzigen Kleidungsstücke auf einen Haufen und begann sich dann an dem Becken mit dem warmen Wasser einzuseifen. Als er sich die Seife von den einzelnen Gliedmaßen spülte, inspizierte er gleichzeitig die zahlreichen Blessuren, die in verschiedenen Farbstadien seinen Körper zierten. Einer der blauen Flecken war besonders groß und schmerzhaft. Er war schon etwas älter, aber dafür sehr dauerhaft. Vorsichtig strich er sich über das lädierte Bein. Im Schlamm des Reitplatzes war sein Pferd ausgerutscht und auf ihn gefallen, zwei ganze Tage hatte er sich danach nicht bewegen können. Glücklicherweise hatte er sich dabei nur das Knie und den Oberschenkel geprellt, und seine erste Sorge hatte seinem Pferd gegolten, dem aber bis auf den Schreck nichts geschehen war. Doch all die Pein der Prellungen und Quetschungen war nichts gegen die im Vergleich dazu läppisch erscheinenden, kleinen Hautablösungen, die zumeist an den Händen auftraten. Langsam öffnete Raen seine geschundenen Fäuste und besah sich das Elend. Scheinbar als Zeichen für ihr beiderseitiges Einvernehmen, sich gemeinsam gegen das Schwert zu sträuben, waren seine Hände ständig übersät mit nässenden Blasen. Morgen würde er mit diesen offenen, rohen Wunden wieder den Griff der Übungswaffe umfassen müssen. Schon der bloße Gedanke daran verursachte Raen Schmerzen und Zähneknirschen. Er verzog das Gesicht. Nach dem warmen Wasser begannen die Wunden zu pulsieren. Er ging zum kalten Becken und steckte seine Hände hinein. Das brachte kurzfristige Linderung.
„Ah, da bist du ja!“
Raen sah über die Schulter. Es war Kaera.
„Ich hatte mich schon gefragt, wo du steckst. Die anderen kommen auch gleich.“ Er zog sich aus und wusch sich.
Raen sagte kein Wort.
Kaera, der gegenüber Raen inzwischen seine Scheu verloren hatte und ihn als Freund betrachtete, redete munter weiter daher. Er schien nicht zu bemerken, dass der Ältere nicht das Bedürfnis nach einem Gespräch hatte.
„Dein Vater hat mich ganz schön herum gescheucht. Macht er das mit dir auch so?“
Raen antwortete noch immer nicht. Er blickte weiter auf seine brennenden Hände. Kaera blieb beharrlich.
„Dein Vater ist sehr gut! Ich wünschte, ich könnte auch einmal so kämpfen wie er. Ach, das war schon ganz gut heute. Es hat sogar Spaß gemacht, obwohl es so hart war. Im Regen ist alles gleich ganz anders. Man hört anders, man sieht anders, man bewegt sich anders.“ Kaera war regelrecht euphorisch.
Raen rollte mit den Augen. So war sein Kamerad, entweder war er zutiefst betrübt und hatte Angst vor seinem eigenen Schatten, oder er war übertrieben gut aufgelegt. Kaera war sehr anstrengend, und er hing an Raen wie eine Klette. Und da sie sich auch noch ein gemeinsames Abteil im Zimmer der jungen Krieger im Südturm teilten, hatte er fast keine Ruhe vor ihm. Manchmal wünschte sich Raen wieder in sein altes Jugendzimmer im Nordturm zurück, da hatte keiner den anderen gestört. Er musste sich oft sehr beherrschen, nicht gemein zu Kaera zu sein, denn der konnte ja eigentlich nichts dafür, dass er keine Lust auf ihn hatte. Sie passten eben nicht zueinander. Deshalb bediente Raen sich meist der Taktik, einfach gar nichts zu sagen, und das hatte bisher auch immer den größten Erfolg gezeigt.
„Was hast du denn?“, fragte Kaera. „Ach, ich sehe, du hast mal wieder deine komische Laune. Na, dann lass ich dich mal besser in Ruhe!“ Er nahm seine Kleider und ging nackt in den Garten, um sie zu waschen. Es regnete immer noch.
‚Bravo, Kaera, gut erkannt’, dachte Raen und war erleichtert, wieder allein zu sein. Er zog sich eines der Untergewänder über, die bereit lagen und ging in den Altarraum. Dort setzte er sich vor der Statue nieder und schloss die Augen. In der Behaglichkeit des Raumes spürte er erst so richtig, wie zerschlagen er war.
„Endlich ein wenig Ruhe und Frieden“, flüsterte er und atmete tief den Duft des Melams ein. Seine Gedanken umkreisten jedoch weiter seinen Kameraden.
Es war ja nicht so, dass er Kaera nicht mochte, aber der Junge strapazierte zeitweilig arg seine Nerven. Er wollte unbedingt sein Freund sein. Raen seufzte. Der Sohn des Baumeisters war ja irgendwie ganz nett, aber sie konnten niemals Freunde sein! Seine eigenen Interessen waren ganz andere als die von Kaera, der es liebte, irgendwelche Zahlen und Größen zu errechnen und darüber sogar ein kleines Büchlein führte, und der gern auf seiner kleinen Holzflöte spielte. Das hatte dessen Mutter ihm beigebracht und es war das Einzige, was Raen an seinem Kameraden mochte. Das Flötenspiel war auch weitaus angenehmer als Kaeras unerquickliche Monologe, die immer und ewig die gleichen waren. Raen langweilte sich manchmal zu Tode. Der Sohn des Baumeisters schien in seiner Kindheit nicht besonders viel erlebt zu haben. Die Schule war für ihn der einzige Höhepunkt eines jeden Tages gewesen und die wenigen neuen Dinge, die er ab und zu erzählte, waren zumeist auf seine Familie bezogen, zu der Kaera im gleichen Maße wie Raen eine sehr innige Bindung hatte. Das waren aber die einzigen Momente, in denen Raen dem schüchternen Kameraden interessiert zuhörte. Kaera hatte noch eine jüngere Schwester, die er ähnlich vermisste wie Raen Andra. Bisweilen erzählte der ein Jahr jüngere auch mal von seiner Mutter, die Weberin war und wiederum von ihrer Mutter das Flötenspiel gelernt hatte. Sie spielte oft mit den anderen Musikern auf den Clan-Festen. Das wollte Kaera auch einmal tun, wenn er gut genug wäre. Raen beneidete ihn wehmütig darum, noch eine Mutter zu haben. Aber leider endeten jegliche dieser Gespräche stets mit dem üblichen Gejammer Kaeras, was ihm bei Raen den Ruf als Angsthasen und Waschlappen eingebracht hatte. Für den Älteren lamentierte Kaera entschieden zu viel herum: Dies sei zu anstrengend, das sei zu schwer, und ständig hatte er kleine Blessuren, die ja ach so schrecklich weh taten, dass er deshalb im Bett bleiben müsse. Ständig hatte er Angst vor irgendetwas; ob es bloß ein Gewitter war, eine Nacht im Wald, oder gewagte Manöver mit dem Pferde. Meister Kensa brachte ihn zwar dann jedes Mal dazu, doch aufzustehen und den Tag zu bestreiten, aber es wurde dadurch nicht besser, und Raen fand dieses Verhalten einfach nur dumm und peinlich. Er selbst hatte schließlich auch oft Schmerzen, höllische sogar, aber er war hart im Nehmen und rappelte sich jedes Mal wieder auf. Er verstand nicht, warum Kaera nicht glücklich darüber war, zu den Erwählten zu gehören. Es war eine große Ehre, und was konnte es denn besseres geben, als ein Krieger zu sein! Raen dachte an Hereke. Mit ihm verstand er sich immer noch prima, und sie sahen sich recht häufig. Jedes Mal, wenn Raen sein Pferd sattelte und mit ihm auf dem Reitplatz trainierte, war Hereke da und sah zu. Er war auch dabei gewesen, als Raen sich sein Pferd ausgesucht hatte.
Es war im letzten Herbst gewesen. Gemeinsam waren sie zu den Weiden mit den Jungpferden gegangen und hatten sich dort die Herde angesehen. Hereke hatte Raen ein paar gute Tiere gezeigt, und schließlich war der junge Krieger auf die Weide gegangen und hatte sich einfach nur hingestellt und gewartet. Neugierig aber scheu hatten die Jungtiere ihn aus einem angemessenen Abstand beäugt. Unschlüssige Bewegungen waren immer wieder durch die Herde gegangen, und dann war eine Rappstute aus der Gruppe herausgetreten und auf ihn zugetrottet. Raen hatte gelächelt, als das Pferd vor ihm gestanden und mit seinen weichen Nüstern an seiner Hand geschnuppert hatte. Es hatte den Kopf auf und ab geworfen und geschnaubt. Raen hatte es freundschaftlich über die Stirn gestrichen und in den klugen braunen Augen die Einwilligung in einen stummen Pakt lesen können. Er hatte glücklich seine Wange an den Pferdehals gelegt und hatte es kaum glauben können, dass dieses wunderschöne Tier jetzt ihm gehören sollte.
Hereke hatte der Stute ein Seil um den Hals gelegt, und zusammen waren sie zu den Stallungen hinübergegangen, wo Henendra und Roman auf sie gewartet hatten. Alle hatten Raen zu seiner guten Wahl beglückwünscht. Hereke war es dann auch gewesen, der ihm geholfen hatte, das Pferd einzureiten, und beide hatten sehr viel Spaß an der gemeinsamen Arbeit gehabt. Und obwohl Kaera immer mit dabei gewesen war, weil auch er sein Pferd hatte zureiten müssen, hatte er dennoch keine Chance gehabt, zwischen die beiden Freunde dringen zu können.
Raen war es erstaunlich leicht gefallen, die Stute zu zähmen und sie erwies sich als äußerst gelehrig, so dass Pferd und Reiter schon bald die wichtigsten Manöver beherrschten. Das pechschwarze Tier war sehr zutraulich und trottete Raen gutmütig überall hinterher.
„Sie ist ja wie dein Schatten“, hatte Hereke einmal lachend gesagt, und so war sie dann auch zu ihrem Namen gekommen. Raen nannte sie Jakori - „Mein Schatten.“

Am Abend lag Raen mit zwei bandagierten Händen und wohltuender Salbe auf den Wunden, die ihm einer der Medizi gegeben hatte, im Bett. Aber trotz seiner tiefen Erschöpfung konnte er nicht einschlafen. Er lauschte auf Kaeras ruhige Atemzüge. Der Medizi, einer der jüngeren, hatte ihn nach seiner Schwester gefragt. Sie war nun schon seit zwei Jahren fort, und Raen hatte ihm erzählt, was er wusste, denn wie er und Hereke es geplant hatten, waren sie vor drei Monaten auf dem Frühlingsfest des Rinzai Clans gewesen, wo er Andra wiedergesehen hatte. Das war alles sehr aufregend gewesen. Allein schon die Reise, denn zum ersten Mal hatte er das Gebiet seines Clans verlassen. In Begleitung mehrerer Krieger waren sie zwei Tage durch den endlosen Wald geritten und hatten die Nacht in einem der Türme auf halber Strecke verbracht. Raen begann, alles in seinem Kopf noch einmal lebendig werden zu lassen. Er hatte es genossen, unterwegs zu sein, den hohen, blauen Frühlingshimmel über seinem Kopf, seinen besten Freund an seiner Seite. Gegen Abend hatten sie dann den Chor von Rinzai erreicht. Der Chorten des Clans hatte nicht wie der von Shari auf einem Felsen gestanden, sondern mitten auf der planen Fläche, und er hatte drei statt zwei große Wohntürme gehabt. Ansonsten hatte alles ganz ähnlich ausgesehen wie in Shari, bis auf dass dort andere Fahnen und Wimpel auf den Spitzen der Dächer geweht hatten. Die Farben von Rinzai waren Grün und Blau, und natürlich waren auch die Leute überwiegend so gekleidet gewesen.
Raen merkte nicht, wie er einschlief und in seinen Träumen das Wiedersehen mit seiner Schwester noch einmal erlebte:
Die Trommelschläge vom Wachturm im Wald hatten die Besucher bereits angekündigt, und als sie das Tor des Chorten erreichten, begrüßte man sie sehr freundlich. Viele Leute hatten sich versammelt, um die Jugend des Shari Clans zu empfangen. Raen lächelte höflich in die Runde der unbekannten Gesichter. Plötzlich kam Andra auf ihn zugelaufen. Raen glitt aus dem Sattel, und stürmisch umarmten sich die beiden Geschwister.
„Du bist aber groß geworden“, rief Andra halb im Scherz aus, nachdem sie sich von ihm gelöst und ihn betrachtet hatte. Und es stimmte ja auch, denn Raen war in den letzten Jahren um einiges gewachsen. Er war zwar immer noch etwas schlaksig, aber längst größer als sie.
„Und ein Krieger bis du jetzt, Tor Ban! Herzlichen Glückwunsch! Gut siehst du aus, so ganz in Schwarz. Ein bisschen wie Vater.“
Raen lächelte verlegen, denn auch wenn er ihr nie viel davon erzählt hatte, hatte sie doch ganz genau gewusst, wie sehr das sein größter Wunsch gewesen war. Andra lachte ihn an, und ihre grünen Augen leuchteten dabei im Sonnenlicht. Hinreißend sah sie aus, sie war eine richtige Frau geworden; gegen ihre erwachsene Gestalt fühlte Raen sich regelrecht unbeholfen. Aber ihm fiel auch auf, wie ähnlich sie ihrer Mutter sah, und ein Anflug von Melancholie legte sich auf seine Züge.
„Was ist, freust du dich etwa nicht?“ Andra stützte sich mit beiden Händen auf seine Schultern und machte einen kleinen Hüpfer, dann wirbelte sie herum und umschlang seinen Hals von hinten, wie sie es schon immer getan hatte. Jetzt kam das kleine Mädchen in ihr doch noch einmal zum Vorschein.
Das verscheuchte Raens Traurigkeit. „Natürlich freue ich mich Schwesterherz!“, entgegnete er lachend und trug sie ein paar Schritte Huckepack.
„Hopp, Pferdchen, hopp“, rief sie dabei übermütig wie in Kindertagen.
„Das ist übrigens mein Pferd“, sagte Raen und ließ seine Schwester vor der Stute, die friedlich dastand, herunter. „Jakori!“ Stolz führte er sie vor.
„Jakori - mein Schatten? Ein guter Name. Sie ist ja auch wie ein großer Schatten. Hoffentlich passt sie auch immer gut auf dich auf!“ Obwohl Andra fröhlich klang, hörte Raen unterschwellige Besorgnis heraus. Er legte ihr eine Hand auf den Arm.
„Das wird sie, genau wie ich immer gut auf mich aufpassen werde. Versprochen!“ Sie sahen sich an. „Und nun zeig mir mal, wie du hier so lebst“, sagte Raen schließlich und gab Jakori in die Obhut des dortigen Reitmeisters. Andra nahm ihm am Ärmel und führte ihn durch das mächtige Tor des Chorten von Rinzai.
„Schade, dass Vater nicht auch mitkommen konnte!“, sagte sie, während sie über den Hof schlenderten.
„Ja, stimmt, aber er ist ja schon verhei-“ Raen blieb stehen. „Ja, warum ist er eigentlich nicht auch mitgekommen? Er könnte doch neu heiraten. Vielleicht gibt es ja hier in Rinzai eine Frau, der es genauso geht wie ihm?“ Raen schaute Andra an.
„Willst du denn, dass er wieder heiratet?“, fragte sie ihn ernst.
„Warum denn nicht? Ich fühle manchmal, wie einsam er ist. Er gibt es natürlich nicht zu, wenn ich ihn danach frage. Dann sagt er immer, dass Mutter im Geiste ja bei ihm sei und dass er nicht mehr brauche, um glücklich zu sein. Aber irgendwie glaube ich ihm das nicht ganz.“
Andra blickte zu Boden, der Gedanke, ihr Vater könnte einsam sein, tat ihr offenbar weh. „Ich weiß nicht, ob es hier in Rinzai jemanden für ihn gäbe. Ist denn in Shari keine Frau, die er mag? Vielleicht eine von den jüngeren?“
Raen zuckte mit den Schultern.
„Er hat es wohl noch nicht überwunden“, fuhr Andra fort. „Es ist ja auch erst sechs Jahre her.“ Eine Pause entstand. „Ich vermisse Mutter sehr!“, sagte sie schließlich.
Raen ließ den Kopf hängen. „Ja, ich auch!“
Nach einer Weile sprach er weiter: „Vater wird dich bestimmt bald besuchen kommen. Das hat er letztes Jahr versprochen.“
„Vielleicht kann ich ja auch einmal zu euch kommen, dann kann ich auch Resa wiedersehen. Wie geht es ihm denn? Immer noch der kleine Wirbelwind?“
„Ja, er ist kaum zu bremsen. Er geht jetzt zur Schule und kann es gar nicht abwarten, am nächsten Tag gleich wieder hinzugehen!“
„Genau wie du!“
„Genau wie ich“, wiederholte Raen ganz in Gedanken
„Ja, er erinnert mich sehr an dich, du warst auch nie zu bändigen, ständig musste man dir hinterherlaufen und aufpassen. Das war ganz schön anstrengend.“ Andra sah Raen an. „Und wer rennt jetzt hinter dir her und bringt dir Vernunft bei?“
Raen musste bei Andras Worten grinsen.
„Dafür halte ich jetzt Reni und Meister Kensa auf Trab, Vater manchmal auch. Einer muss es ja tun!“, gab er ein wenig an.
„Pass bitte gut auf dich auf, ja?“
„Ja!“, betonte er noch einmal, sich sein übliches Augenrollen nicht verkneifend.
„He, wartet doch mal auf mich, ihr treulosen Schafe. War ja klar, dass du mich gleich links liegen lässt, wenn du deine Schwester wiedersiehst!“, rief jemand hinter ihnen her. Sie drehten sich um und sahen Hereke, der angelaufen kam. Er war vorher noch mit dem Reitmeister von Rinzai mitgegangen und hatte sich davon überzeugt, dass die Pferde gut untergebracht waren. Jetzt schloss er zu den beiden Geschwistern auf.
„Wie geht es dir, Hereke?“, fragte Andra ihn lachend, weil man immer lachen musste, wenn man Herekes fröhliches Gesicht sah.
„Ach, weißt du, ich kümmere mich ein wenig um die Pferde und dann noch um diesen Jungen hier!“ Er deutete vergnügt auf Raen. „Aber ansonsten geht es mir ganz gut, danke!“ Er griente breit, wie es seine unverwechselbare Art war.
„Ihr seid also immer noch beste Freunde, wie ich sehe. Ein Herz und eine Seele!“
„Ja, klar!“ Hereke und Raen stießen einander an.
Sie gingen weiter. Der Hof des Chorten war fast doppelt so groß, wie bei ihnen zu Hause, aber die Anlage war ähnlich. Drei große Wohntürme in strahlendem Weiß, mehrere Nebengebäude, Wehrtürme und natürlich der Tempel in der Mitte.
„Da möchte ich nachher einmal hineingehen“, sagte Raen, „möchte nur mal sehen, ob es darin genauso aussieht wie bei uns.“
„Machen wir, Raen. Ich zeig euch alles. Im Grunde ist hier aber nicht viel anders. Wie war denn die Reise?“, fragte Andra Hereke.
„Herrlich, die Pferdchen sind gut gelaufen, das Wetter war schön, die Vöglein haben uns mit ihren Liedchen zum Besten gehalten und ...“
„Und ... du hattest eigentlich nur Augen für deine Flamme, wenn man mal ehrlich sein darf!“, beendete Raen unaufgefordert Herekes überschwängliche Erläuterung. „Er ist nämlich schwer verliebt, musst du wissen! Sonst würde er nicht so geschwollen daherreden!“
„Verliebt? So so, und wer ist die Glückliche?“, wollte Andra wissen, der Klatsch aus der Heimat interessierte sie natürlich sehr, aber Hereke druckste nur murmelnd herum.
„Suneka!“, verriet Raen schließlich, als sein Freund immer noch nicht damit herausrücken wollte, und er bekam dafür gleich einen strafenden Rippenstoß.
„He, du bist ein elendes Tratschmaul, Raen!“
„Ach ja, wie schön! Und was sagt Suneka dazu?“, fragte Andra weiter und unterbrach damit die freundschaftliche Kabbelei der beiden Jungen. „Ist sie auch verliebt in dich, Hereke?“
„Weiß ich nicht so recht. Ich habe sie das, ehrlich gesagt, noch nicht gefragt.“
„Er traut sich nicht. Er hatte mich schon losgeschickt, um für ihn zu fragen, aber er hat mich dann im letzten Moment doch zurückgepfiffen, der Feigling!“, sprudelte es weiterhin und für Herekes Geschmack viel zu offenherzig aus Raen heraus. Die Augenbrauen des Pferdeburschen zogen sich drohend zusammen, und er gab ein knurrendes Geräusch von sich.
„Was macht Suneka jetzt eigentlich? Sie müsste doch auch schon längst ihre Befragung gehabt haben.“ Andra blickte von Hereke zu Raen.
„Sie ist zu den Parta Al Tena gegangen und wird Küchenmeister“, sagten beide Jungen gleichzeitig.
Hereke warf Raen einen misstrauischen Blick zu.
„Was denn?“ Raen grinste frech. „Sie ist immerhin meine Ziehschwester, deshalb weiß ich so gut Bescheid. Aber sei unbesorgt, sie gehört ganz dir!“
„Soll ich sie vielleicht für dich fragen, Hereke?“, drang Andra erneut in das Duell der beiden Burschen ein. Ihre Augen leuchteten spitzbübisch auf. „Suneka ist ja auch hier und ich könnte mich einmal mit ihr unterhalten. Wo ist sie eigentlich?“
„Sie ist bei ihrer Schwester geblieben. Die hat etwas Angst. Es ist ihr hier alles so fremd“, erklärte Hereke und ignorierte verschämt Andras Angebot.
„Also, ich werde es mal versuchen, in Ordnung?“ Andra blieb hartnäckig.
Hereke wurde rot. „Wenn du meinst.“ Ihm wurde sichtlich bange, und er biss sich auf die Unterlippe. Raen wusste, wie lange sein Freund sich nun schon danach sehnte, endlich zu wissen, was Suneka von ihm hielt, und wie sehr er es verfluchte, dass er in diesem Falle so schüchtern war.
„Ist gut, versuch es. Danke, Andra.“ Verschämt blickte Hereke über ihre Schulter hinweg.
„Ist schon gut, mache ich gerne. So von Frau zu Frau ist das vielleicht auch besser“, sie zwinkerte Hereke aufmunternd zu. „Raen ist für solch delikate Angelegenheiten zu holzfüßig.“
Raen steckte ihr die Zunge heraus.
„Kindskopf“, gab sie schlicht zurück.
Mittlerweile waren sie im Waschhaus angekommen und stiegen hinauf in die Räume, die das Reich der Medizi waren.
„Hier arbeite ich. Und das ist die große Seya, meine Lehrmeisterin. Von ihr lerne ich alles, was man über die Behandlung von Wunden, Krankheiten, Heilkräutern und der Herstellung von Medizin wissen muss. Medizi Seya, das ist mein Bruder und das sein bester Freund.“
Die Jugendlichen begrüßten anstandsgemäß die ehrwürdige Medizi, die ihren tastenden Blick lange über die Burschen gleiten ließ, bevor sie zurückgrüßte. Raen und Hereke versteckten ihr Unbehagen gegenüber der weisen, alten Frau, die mit ihren hüftlangen, weißen Haaren und dem bewegungslosen Gesicht wahrhaft geisterhaft wirkte, und sie und waren froh, als sie die Räumlichkeiten der Medizi endlich wieder verlassen konnten.
„Meisterin Seya ist streng aber sehr nett, auch wenn sie nicht so aussieht“, flüsterte Andra leise, als sie auf dem Weg nach unten waren. „Ich mag sie sehr. Sie bringt mir viel bei.“
„Sag mal, Andra, hast du denn eigentlich auch schon eine Flamme? Jemanden hier vom Rinzai Clan? Na?“, neckte Hereke sie.
„Hm, einer ist ganz nett, und ich glaube, er mag mich sehr, aber ich weiß noch nicht so recht, ob ich mich mit im einlassen soll. Er heißt Osa und er ist Schmied im Dritten Grad.“
„Oh ho, er ist also schon älter!“, sagte Hereke und sah dabei aus wie sein Vater, wenn dieser eine Ansprache hielt.
Raen musste grinsen, er klinkte sich in das Spiel mit ein: „Na, hör mal, mein Lieber, was stellst du meiner ehrenwerten Schwester eigentlich für unverschämte Fragen! Das gehört sich nicht!“ Er stieß seinen Freund an und bemühte sich dabei wie Roman zu klingen, wenn dieser mal wieder ein stets untadeliges Verhalten einforderte.
Andra schielte schmunzelnd von einem zum anderen, und dann mussten alle lachen. Sie gingen gemeinsam in den nördlichen Wohnturm und stiegen die Treppen hinauf.
„Wenn wir schon dabei sind, dann sag doch mal, was mit dir ist, Raen?“, forderte Andra nun ihren Bruder auf. „Wenn wir schon etwas von unseren Geheimnissen preisgeben mussten, dann kannst du das auch!“
„Falls du Mädchen meinst, damit habe ich nichts am Hut“, entgegnete er leichthin. „Mädchen, pfff, die können doch nichts anderes, als albern herum kichern. Nein, damit kann ich nichts anfangen!“
Er erntete einen bösen Blick von Andra. „Das glaube ich dir nicht“, drängte sie, „los, sag schon!“
„Was soll ich denn sagen?“, versuchte Raen, sich zu verteidigen. „Ich mache mir nicht aus Mädchen, sie ... hm.“ Er machte eine hilflose Geste.
„Das kommt noch, warte es ab“, meinte Hereke mit dem Ton eines Erfahrenen.
Raen streckte ihm die Zunge heraus.
„Oh, Hyaun, was bist du doch für ein Grünschnabel!“, stöhnte Andra.
Verlegen winkte Raen ab.
Sie betraten ein Zimmer in einem der oberen Stockwerke, keiner der beiden Burschen hatte die Aufgänge gezählt.
Andra hob einen Arm in den Raum. „Das ist mein Zimmer. Ich teile es mir mit drei anderen Mädchen. Sieh mal, Raen, wir haben auch einen Erker und eine tolle Aussicht.“
Froh darüber, dass das Thema gewechselt worden war, ging Raen zum Fenster und öffnete es. Der Blick ging gen Norden. Die Landschaft war hier nicht sehr hügelig, das begann erst bei Shari, und man konnte weit schauen. Er Pfiff durch die Zähne. Vor ihnen erstreckte sich eine einzige, schier unendliche Waldfläche. Das Laub der Baumwipfel war frühlingshaft grün und sie erschienen in ihrer Gesamtheit wie ein weicher, wogender Flor.
„Es ist wirklich schön“, sagte Raen und dachte kurz selbstmitleidig an sein eigenes enges Lager neben dem von Kaera. Sein Zimmer hatte keine besondere Aussicht.
„Ja, ich sitze hier oft und schaue heraus.“ Andra seufzte.
„Geht es dir hier auch wirklich gut?“, fragte Raen plötzlich ernst.
Andra wich seinem Blick aus, doch dann sagte sie: „Ja, mir geht es gut, mach dir keine Sorgen. Manchmal möchte ich einfach gerne nur nach Hause, obwohl hier alle wirklich sehr nett sind, und ich hier auch schon einige Freunde gefunden habe, aber unser Zuhause fehlt mir wirklich sehr!“
Raen nickte. „Wenn deine Zeit hier um ist, dann kommst du wieder zu uns, ja?“ „Natürlich, Raen, darauf freue ich mich schon.“ Sie lächelte und strich ihrem Bruder aufmunternd über den Arm, dann sahen sie noch eine Weile aus dem Fenster. Raen blickte nach unten auf den Hof, dort erhob sich das Dach des Tempels.
„Ich würde jetzt gern in den Tempel gehen“, sagte er.
Die anderen nickten, und vorerst trennten sich ihre Wege.

Das Frühlingsfest, das er Rinzai Clan veranstaltete, war wild und ausgelassen, und es wurde genau wie bei ihnen Zuhause viel getanzt, gesungen und gelacht. Raen saß mit Hereke am Rand und feixte mit ihm über das bunte Treiben. Andra tanzte mit Osa, ihrem Verehrer. Womöglich wurde ja doch etwas daraus, dachte Raen und freute sich für seine Schwester. Er hatte den Schmied recht sympathisch gefunden, als Andra ihn ihm vorgestellte hatte. Alle Gäste des Shari Clans vergnügten sich prächtig und knüpften schnell Freundschaften mit den Jugendlichen von Rinzai. Allein Hereke schien etwas geknickt, und Raen wusste auch, warum.
Andra hatte ihm erzählt, dass sie wie versprochen am Tag zuvor Suneka gefragt hatte, doch diese hatte sich um eine eindeutige Antwort geziert. ‚Ganz nett’ fände sie Hereke, mehr aber hatte sie nicht dazu gesagt und sei sichtlich sehr verlegen gewesen. Im Verschwiegenen hatte Andra Raen zugeflüstert, dass sie das Gefühl hätte, Suneka würde jemanden anderen bevorzugen. Sie hätte sie sogar danach gefragt, doch die verschlossene, künftige Küchenmeisterin hatte beharrlich geschwiegen. Nach dieser nicht so ergiebigen Mission hielten Andra und Raen es nun für geschickter, Hereke nichts von ihrer Vermutung erzählen. Und schließlich hatte Suneka den Pferdeburschen ja auch nicht rundweg abgelehnt.
„Hereke wird wohl selbst herausfinden müssen, ob er ihr Herz erobern kann, oder nicht“, berichtete Andra ihrem Bruder mit einem Schulterzucken. „Bestimmt braucht sie nur noch etwas Zeit. Sie ist mit ihren fast fünfzehn Jahren ja auch noch recht jung. Wahrscheinlich ist sie noch nicht so weit, die Liebeswerbung eines Jünglings auch wirklich anzunehmen.“
Raen spürte, dass sein Freund zwar geknickt war, aber ganz bestimmt nicht aufgeben würde. Hereke würde seine Anstrengungen verdoppeln, und dann würde Suneka schon merken, wie sehr er sie mochte. Aber nicht heute auf diesem Fest, dafür war Herekes Selbstvertrauen zu angeschlagen.
„Lass sie ein wenig zappeln“, gab er seinem Freund den Rat. „Das meint Andra auch. Und sie muss schließlich wissen, wie man mit Frauen umging, denn sie ist ja selbst eine!“
So vertrauten beide Burschen auf Andras weibliche Weisheit und verbrachten den Abend auf die Art und Weise, wie sie typisch war für zwei unreife Halbstarke.
Sie beobachteten die Leute und zerrissen sich das Maul. Aus der Ferne sahen sie, wie Andra sich unauffällig mit Osa aus der Menge der Tanzenden zurückzog. An diesem Abend waren sie sich offenbar doch etwas näher gekommen, und es erweckte den Anschein, dass Andra sich mehr zu Osa hingezogen fühlte, als sie zuvor hatte zugeben wollen. Vielleicht war es aber auch nur die zwanglose Stimmung des Festes, die sie beide solche Gefühle für einander empfinden ließ. Es würde sich zeigen, dachte Raen vergnügt und ahnte nichts davon, wie sehr das Herz seiner Schwester klopfte, als sie Osa bei einem seiner kräftigen Arm nahm und mit ihm im Dunkel der lauen Nacht verschwand.

Am nächsten Morgen schien zwischen Andra und Osa eine neue geheimnisvolle Bindung zu bestehen, das konnte Raen deutlich in den Blicken lesen, die sie sich zuwarfen, denn auch wenn er selbst sich noch nicht dafür interessierte, vermochte er die Kraft der Liebe doch deutlich zu spüren.
Ein paar Tage blieben ihnen noch in Rinzai, und sie verbrachten die meiste Zeit gemeinsam mit Andra und Osa. In der ungezwungenen Gesellschaft seiner Schwester spürte Raen, wie sehr er sie im vergangenen Jahr entbehrt hatte. Sie war fürsorglich und stets interessiert daran, wie es ihm in seiner neuen Rolle als Lernender der Kriegerkaste erging. Aber neben ihren vielen Fragen hatte sie auch einige alte Geschichten auf Lager, und erzählte allen von Raens Streichen aus seinen Kindertagen. Das rief natürlich große Erheiterung hervor und alle lachten. Im Stillen aber schämte sich Raen dafür, früher eine solche Last für seine Schwester gewesen zu sein.
Dann kam der Tag der Abreise, und mit großem Bedauern mussten sie Abschied nehmen. Keiner von ihnen wusste, wann sie sich das nächste Mal wiedersehen würden, aber sie versprachen einander, sich zu schreiben. Noch ein Mal betrachtete Raen seine Schwester und prägte sich ihr Bild ein: Ihr ernstes Gesicht, ihre grünen, stets funkelnden Augen und ihre bedachten Bewegungen ... ganz wie ihre Mutter. Traurigkeit rührte ihn, aber er war froh, dass Andra jetzt einen jungen Mann an ihrer Seite hatte, der sie ein wenig von ihrem Heimweh ablenken würde. Freundlich lächelte er Osa entgegen. Dann ertönte der Ruf zum Aufbruch, und der ganze Trupp machte sich auf den Weg. Auf dem Rücken Jakoris drehte Raen sich noch ein letztes Mal um und er sah, wie Andra ihnen nachwinkte. In ihrer andersfarbigen Kleidung zwischen dem ganzen Grün und Blau des Rinzai Clans wirkte sie klein und einsam. Danach hatte Raen nur noch nach vorn geblickt, bis sie in den Wald gelangt waren.
„Nein, ich will nicht in den Wald!“
Nur wiederwillig driftete Raen aus seinen Träumen ins Wachsein.
„Nein, bitte nicht. Ich habe Angst dort!“
Er erkannte Kaeras Stimme. Sein Kamerad sprach mal wieder im Schlaf und wand sich dabei hin und her. Das war nichts Neues, und Raen konnte ihm diese Angewohnheit nicht einmal verübeln, denn er selbst war ja auch regelmäßig in merkwürdige und aufregende Träume verwickelt. Vielleicht redete er dabei desgleichen, und Kaera hatte es ihm nur noch nicht gesagt. Er würde ihn am nächsten Morgen gleich danach fragen.
„Bitte nicht!“ Kaera begann zu wimmern. „Der Wald, er greift nach mir. Er will mich ... fressen!“
Raen schüttelte den Kopf über so viel Unsinn. Was hatte Kaera nur gegen den Wald? Er selbst fühlte sich dort immer sehr wohl. Der Wald behütete und beschützte sie. Mutter Hrauna war immer gut zu denen, die sie heiligten. Mit diesem Gedanken schlief er ein und träumte von Kaera, wie er mit seinem Holzschwert gegen den Wald kämpfte.

Bis spät in diese Nacht hinein saßen Roman, Reni und Kensa noch in einem der kleinen Tempelräume beisammen. Die drei Männer hatten es sich zur Aufgabe gewählt, den Ausbildungsplan für die jungen Krieger zu erstellen. Es war Tradition, dass eine Generation von Kriegern die nächste ausbildete und hernach auch für sie verantwortlich war. Gerade hatten sie über ihre Schützlinge und deren Fortschritte gesprochen, als es an der Tür klopfte.
„Herein“, sagte Kensa, und die Tür öffnete sich einen Spalt.
Haeri, der Novize, fragte die drei Banskeid, ob sie noch etwas zu Trinken wünschten.
„Nein danke, Tor Hyaun Haeri“, antwortete Kensa.
„Gut, dann ziehe ich mich jetzt zurück. Gute Nacht.“ Haeri schloss die Tür wieder.
Roman ereilte flüchtig der Gedanke, dass der junge Priester auch gut Raen hätte sein können. Ein dienstbarer Geist Hyauns. Aber im gewissen Sinne war er das ja jetzt auch, nur auf einer ganz anderen Ebene. Roman wandte sich wieder dem Gespräch zu. Die Gruppe der Lernenden umfasste in diesen Sommer neun Jungen: Raen, Kaera, einen Jüngeren, der ein halbes Jahr später noch dazu gekommen war, und dann noch sechs Ältere, von denen einer bald schon mit der Schwertleite in den nächst höheren Grad erhoben werden sollte. Der Ausbildungsplan für die kommenden Monate musste festgelegt werden, und dieser wurde an die Leistungen der einzelnen Schüler angepasst. Einer nach dem anderen kam an die Reihe, bis sie schließlich über Raen sprachen. Roman ließ zuerst die anderen beiden Krieger reden. Er hatte zwar auch eine ganz persönliche Meinung von seinem Sohn, doch er wollte die anderen zuerst sprechen lassen.
„Raen muss unbedingt mehr Schwertunterricht bekommen“, beschied Kensa. „Er hinkt den anderen zu sehr hinterher. In allen anderen Disziplinen ist er sehr gut. Ich muss sagen, er ist ein hervorragender Reiter, und sein Pfeil trifft immer das Ziel, aber mit seinen Kunststückchen im Schwertkampf bin ich absolut nicht zufrieden. Auch das Training heute war desolat.“ Reni nickte als Kommentar, und Kensa sprach weiter: „Er bewegt sich hektisch und unkonzentriert. Er hat zwar Mut zum Risiko, aber manchmal ist er etwas zu tollkühn, das macht ihn blind im Kampf. Er hat große Probleme im Lesen des Gegners. Seine Entscheidungen trifft er erwartungsgemäß schnell, aber es sind oft schlechte Entscheidungen. Im Großen und Ganzen ist er zu ungeduldig, und man spürt deutlich seine Unzufriedenheit mit sich selbst. Ich denke, er sollte neben der reinen Schwerttechnik noch viel mehr an der Festigung seines Geistes arbeiten. Ich habe darüber auch schon mit Chodan gesprochen. Der bestätigt, dass Raen bei ihm fleißig lernt und sich anständig verhält, aber er will in nächster Zeit mehr darauf achten, besonders seinen Charakter zu prüfen.“
Roman fand, dass Kensa mit seiner Kritik an Raen den Nagel auf den Kopf traf. Sein Sohn hatte starke Defizite bei seinen mentalen Kräften, die ohne Zweifel auf einen deutlich übersteigerten Ehrgeiz hinwiesen, der in dieser Form eher ungesund und keineswegs förderlich war.
„Wir sollten ihn zusätzlich aber auch noch stärker ins Schwerttraining nehmen und ein paar weitere persönlichkeitsbildende Proben an ihm durchführen“, schlug er vor.
„Ja, das ist gut“, entgegnete Kensa, „damit locken wir ihn noch mehr aus der Reserve und wir werden sehen, wie er sich verhält.“
„Und was ist mit Kaera?“, fragte Reni.
„Raen und er verstehen sich nicht besonders gut. Aber ich habe mit Absicht Wert darauf gelegt, sie zusammen zu stecken. Sie müssen lernen, miteinander auszukommen. Gemeinschaft ist schließlich unsere Stärke! Im Kampf muss sich ein jeder auf den anderen verlassen können“, beschied Kensa, und die anderen nickten.
„Kaera hat überall ein paar Schwächen, doch das ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiter schlimm“, führte Roman die Diskussion über Kaera fort. „Er wird besser werden. Was mir mehr Sorgen bereitet, ist, genau wie bei Raen auch, seine geistige Verfassung. Nur dass er das vollkommene Gegenteil ist. Das, was Raen zu viel hat, hat Kaera zu wenig. Er ist zu zögerlich und zu schüchtern.“
„Ja, wir müssen ihm dabei behilflich sein, seinen Mut zu finden. Wir wissen ja nicht erst seit gestern, dass die meisten Schüler zu Beginn Angst davor haben, hart in den Gegner hineinzugehen. Das ist völlig normal“, erklärte der erfahrene Kensa, „und ich denke, jeder von uns kann sich noch genau daran erinnern, wie es bei uns selbst gewesen ist.“
Roman und Reni schmunzelten.
„Aber auch Kaera hat den Mut in sich, das spüre ich, sonst hätte Hyaun ihn nicht zu sich gerufen. Er muss ihn nur erst selbst bei sich entdecken, dann wird auch Kaera ein beherzter Kämpfer werden.“ Kensa legte eine Pause ein, und die anderen warteten ab, dass er fortfuhr.
„Beide Burschen sind gehemmt im Umgang mit dem Schwert, doch der Grund dafür ist jeweils ein anderer. Wir müssen also unterschiedliche Arzneien für die beiden finden. Kaera soll lernen, ohne Rücksicht und Vorsicht sein Schwert gegen einen Menschen zu erheben, und Raen muss lernen, dass Mut auch Besonnenheit bedeutet, und dass unüberlegtes Draufgängertum auf dem Schlachtfeld nur ein einziges Ende findet, nämlich den Tod. Das Schlachtfeld kennt weder Mitgefühl für die Furchtsamen, noch hat es Nachsicht für einen viel zu stürmischen Hitzkopf. Es ist ein guter Lehrmeister, aber einer ohne jegliche Vergebung, es bestraft die Fehler, das ist alles.“ Kensa sah in die Runde. Da sie als Krieger unter sich waren, war es nicht ungewöhnlich, das Unaussprechliche so offen zur Sprache zu bringen.
„Heute hat sich Kaera im Zweikampf gut geschlagen“, sagte Roman. „Er konnte die Situation einschätzen und gute Entscheidungen treffen. Nur im entscheidenden Moment beginnt er immer wieder, sich weg zu ducken, und dann verliert er seine Haltung, was ihn natürlich aus der Balance bringt. Aber im Ansatz ist er schon sehr gut. Meiner Meinung nach, hat er bloß Angst, getroffen zu werden, er hat Angst, sich weh zu tun. Ich schlage deshalb vor, wir stecken ihn einmal ins Rüstzeug und lassen ihn damit kämpfen. Dann ist er geschützt und kann sich frei von Bedenken bewegen.“
„Eine gute Idee. Mit dem Rüstzeug kann er dann gleich auch noch ein wenig an Kraft zulegen“, stimmte Kensa zu.
„Das könnte Raen auch nicht schaden, lassen wir sie doch beide mit Rüstzeug trainieren, dann müssen wir sie auch nicht voneinander trennen“, warf Roman ein, und der Rest nickte beifällig. Ausdauer und Kraft waren zwei der wichtigsten Grundlagen in einem Kampf, das wusste jeder von ihnen.
„Also gut. Dann bekommen die beiden bei mir zusätzliche Übungsstunden und können dann miteinander und voneinander lernen. Der Rest macht so weiter, wie wir es besprochen haben“, ordnete Kensa an. „So, und damit wir jetzt endlich unsere verdiente Nachtruhe bekommen, schließe ich die Runde für heute!“
Die drei Banskeid standen auf und verabschiedeten sich. Morgen würden sie die Ergebnisse ihrer Besprechung an jeden einzelnen ihrer Schüler weitergeben.

Raen war schlecht gelaunt, als er die Nachricht erhielt, zusammen mit Kaera zusätzliches Training absolvieren zu müssen. Er wusste gar nicht, was ihm daran mehr missfiel: Der Gedanke daran, noch mehr Zeit mit seinem unliebsamen Kameraden zu verbringen, oder mit dem Schwert so lange gequält zu werden, bis sich auch der letzte Fetzen Haut an seinen Händen in entzündetes rohes Fleisch verwandelt hätte.
Es war deshalb nur eine logische Konsequenz aus seinen negativen Gefühlen und seinem inneren Unwillen, dass er auch weiterhin keine Fortschritte machte. Aber wenigstens ließ ihn das Training mit dem Rüstzeug immer kräftiger werden, und von Monat zu Monat verwandelte sich Raen von dem schlaksigen Burschen in einem athletisch gebauten, jungen Mann. Und wenn er sich einstweilen neben seinen Freund Hereke stellte, unterschied sie nur noch ihre Größe voneinander, nicht aber ihre kräftige Statur. Doch zum Leidwesen des jungen Kriegerlehrlings wollte auch sein neu geformter Körper einfach nicht die passende Einheit mit dem länglichen Stück Holz finden, welches später einmal gegen eine scharfe Klinge ausgetauscht werden und von seiner Hand geführt den Tod der Feinde seines Volkes bringen sollte.

Der Herbst ging, und der Winter hielt Einzug. Kensa gab sich alle Mühe, seine beiden Schützlinge zu fördern. Es tat ihm wenig leid, sie so quälen zu müssen, denn es war absolut notwendig. Sie waren Krieger und sie mussten lernen, wie man kämpft, sonst würde ihr Leben auf dem Schlachtfeld nicht viel wert sein. Der erfahrene Banskeid versah seinen Unterricht mit einer wohl überlegten Mischung aus Lob und Tadel, und keiner hätte besser auf die beiden Burschen eingehen können als er. Doch, wo der eine ständig unter der erdrückenden Last einer unerklärlichen Angst litt, kapitulierte der andere immer noch regelmäßig an seinen eigenen, viel zu hochgesteckten Zielen. Was für ein ungleiches Paar sie doch waren, dachte Kensa kopfschüttelnd, keiner schien auch nur ansatzweise von dem anderen lernen zu können. Offenbar hatten sie überhaupt keinen positiven Einfluss aufeinander. Eine schwierige Situation. Doch noch wollte Kensa nicht aufgeben, er war sich sicher, dass der erwünschte Erfolg noch eintreten würde, und es war an ihm, Geduld zu beweisen. Aber Geduld, so wusste er, hatte er genug.
Und nach dem Winter erlöste auch der Frühling die beiden jungen Krieger nicht von ihrer Quälerei und den Schmerzen, die sie sich gegenseitig zufügten, tagein, tagaus. Es wurde viel über sie geredet, doch geändert hatte sich noch nichts.

„Jetzt greif endlich an!“, belferte Raen in die Halle, in der außer ihm und Kaera niemand war. Draußen war ein herrlicher Frühlingstag nach einem langen und kalten Winter, und alle anderen aus ihrer Gruppe waren gerade mit den Pferden auf dem Reitplatz. In Raen gärte es, gerne wäre er jetzt auch dort gewesen, hätte Jakori geritten und dabei die Wärme der ersten Sonnenstrahlen genossen. Aber für ihn galt immer noch das zusätzliche Üben mit dem Schwert und dafür stand er jetzt hier in der Halle.
„Los, doch!“ Er hörte seine eigene Gereiztheit in seiner Stimme. Die ewige Ängstlichkeit von Kaera zerrte an seinen Nerven, und Raen kam sich vor, als übe er mit einem Kleinkind. Er sah sich dem Jüngeren allein schon körperlich himmelweit überlegen und konnte ihn als Gegner überhaupt nicht mehr ernst nehmen. Wie er da bloß vor ihm stand! Raen schnaubte verächtlich durch die Nase. Kaeras Schwertspitze war auf ihn gerichtet und zitterte, den Kopf hatte der schüchterne Junge so weit zwischen seine Schultern gezogen wie es nur ging, und sein Gesicht wirkte lächerlich unbewegt, weil er versuchte, eine entschlossene Miene zu zeigen, aber sein unsteter Blick verriet ihn. Raen hätte am liebsten ohne Rücksicht auf ihn eingedroschen und die Angst ein für alle Mal aus ihm heraus geprügelt. Seine Hände umfassten den Griff seines Holzschwertes fester.
„Greif mich an!“, forderte er Kaera noch einmal auf. Der aber rührte sich nicht. Er war wie gelähmt.
‚Das kann doch nicht wahr sein! Jetzt stehe ich hier und muss Tag für Tag mit diesem Waschlappen kämpfen. Er ist mir überhaupt nicht gewachsen. Wie soll ich denn jemals besser werden mit einem solch schwachen Gegner?’ Raen stöhnte übertrieben laut auf und ließ seine Schwertspitze sinken. Er sah Kaera in sein blasses, starres Gesicht und schüttelte ablehnend den Kopf. Er spürte, wie die Angst Kaeras leise auf ihn zugekrochen kam und ihn ebenfalls zu lähmen versuchte. Auf seltsame und unerklärliche Weise bedrohte sie seit einigen Tagen nun auch ihn, und Raen fühlte, wie es ihm kalt wurde unter seiner Haut. Die Angst war ein Schatten und sie reckte und streckte ihre unzähligen Fühler nach ihm aus. Doch der konnte sie nicht einfach mit einem Schwertstreich abwehren und zurückschlagen, wie er es mit einer realen Bedrohung getan hätte. Hilflos sah er sich der Macht der Angst gegenüber, die ihn bald genauso schwach werden lassen würde wie Kaera.
Das wäre das Schlimmste, was ihm je passieren könnte, dachte er verzweifelt. Sein ganzes Leben hätte dann keinen Sinn mehr. Und schuld daran wäre allein Kaera! Warum hatte man ihn bloß dazu verdonnert, mit ihm zu üben? Jeden Tag - immer nur mit ihm. Warum? Das machte ihn schwach, behinderte ihn. Er wollte kämpfen, aber mit jemandem, der es auch richtig konnte, der ihm ebenbürtig war. Als adäquaten Gegner sah Raen niemand minderen als Reni vor seinem geistigen Auge auftauchen. In diesem Moment griff Kaera an, aber Raen hob sein Schwert und wehrte den Schlag mühelos ab. Seine darauffolgende Parade hätte Kaera am Hals getroffen, wenn er das Schwert nicht rechtzeitig abgebremst hätte. Regungslos verharrten beide in dieser Stellung und sahen einander an.
„Tot!“, sagte Raen schließlich kalt, und Verachtung schwang dabei unüberhörbar in seiner Stimme mit. Eigentlich hätte er seinen Kameraden unterstützen müssen, anstatt noch weiter auf dessen Schwäche herumzuhacken, aber seine Geduld war längst erloschen. Er fühlte sich von Kaera ausgenutzt, seine Gegenwart laugte ihn aus, raubte ihm seine ganze Kraft, die er doch brauchte, um ein guter Krieger zu werden. Täglich musste er gegen diesen unsichtbaren Schatten ankämpfen, den Kaera aussandte. Raen spürte plötzlich, wie etwas auf seine Schultern drückte und versuchte, ihn in den Boden zu drücken, wie ein Bauer seinen Spaten. Nur mit dem Unterschied, dass er für immer im Boden versenkt werden sollte. Eine alles erstarrende Schwere packte seine Füße und kroch in seine Beine. Es war Kaeras Angst, schlussendlich hatte sie sich seiner nun doch bemächtigt! Er schluckte hart und sah an sich herunter. Tatsächlich reichte Kaeras Schatten bis auf seine Füße. Erschrocken blickte Raen wieder auf.
‚Ich muss mich bewegen!’, dachte er gehetzt. ‚Und zwar augenblicklich!’
Doch es geschah nichts, seine Füße blieben wie angewurzelt. Raen starrte seinen Kameraden an, der vermeintlich an allem Schuld war, und seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Erneut versuchte er, seinem Körper zu befehlen, sich endlich in Bewegung zu setzten. Doch es fiel im unendlich schwer, auch nur zu atmen. Die dünnen fadenähnlichen Stacheln des Schattens umschlangen und durchdrangen seine Brust.
‚Es ist alles nur deine Schuld!’, war das Einzige, was er noch denken konnte. Er spürte Hitze in sich aufsteigen, und sie brachte sie das seltsame Gefühl mit sich, für das er noch keinen Namen gefunden hatte. Es wurde stärker und stärker, loderte glühend aus seiner Körpermitte. Es war kein gutes Gefühl, das wusste er. Es war sengend heiß und gallig und breitete sich in Wellen schnell bis in seine Gliedmaßen aus. Es schnürte ihm die Kehle zu und ließ ihn die Hände zu steinernen Fäusten ballen, es verdüsterte seinen Blick und verhärtete die Kiefermuskeln. Und es war so mächtig und unkontrollierbar, dass Raen es kaum im Bann halten konnte. Sein brennender Blick bohrte sich in sein Gegenüber.

Kaera bemerkte, welche Verwandlung in Raen vorgegangen war, und trat ein paar ängstliche Schritte zurück. Dabei wich sein Schatten von dessen Füßen. Er wusste, dass er sich jetzt in Acht nehmen musste, denn in letzter Zeit hatte er besonders jene grellen, alles durchstechenden Augen seines Kameraden zu fürchten gelernt. Sie zeigten an, dass Raen wieder einmal von diesem unheimlichen Zustand erfasst worden war, der alles Menschliche an ihm in den Hintergrund drängte und einen dämonischen Wahn an die Oberfläche brechen ließ. Diese unheilvolle Beseelung eines Menschenwesens in seiner unmittelbaren Nähe flößte Kaera noch mehr Angst ein, als er sowieso schon verspürte. Mit Schrecken beobachtete er, wie Raen, oder vielmehr der böse Geist in dessen Körper, das Schwert hob und geradewegs auf seinen Kopf zielte. Die Augen in seinem grotesk verzerrten Gesicht sprühten stechende Blitze, seine Schultermuskeln spannten sich und sein Atem ging laut und stoßweise. In diesen Momenten war Raen unberechenbar und schwer wieder zur Vernunft zu bringen, das hatte Kaera schon mehrere Male erlebt. Er wollte sich gerade wegducken, als in Raen plötzlich eine weitere Veränderung vor sich ging. Sein Blick verlor an Härte und klärte sich wie der Himmel nach einem Wintersturm, und Raen blinzelte mehrmals heftig. Langsam ließ er das Schwert sinken. Er sah aus, als ob er aus einem bösen Traum erwacht wäre. Einige Augenblicke lang stand er mit hängenden Armen unschlüssig da und schien durch ihn hindurch zu starren. Dann warf er ruckartigen das Schwert fort und setzte sich Bewegung. Kaera zuckte vor Schreck zurück.
Aber Raen ging an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten, und Kaera konnte die heiße Energie spüren, die von ihm ausstrahlte. Steifbeinig schritt der Ältere hinüber zu dem Wassereimer, der an der Wand stand, und dabei wirkte er, als müsse er jeden einzelnen Muskel in seinem Körper mit aller Gewalt beherrschen. Raen bückte sich und schöpfte eine Kelle Wasser aus dem Eimer. Mit einem Zug trank er sie leer, schöpfte noch einmal und trank erneut. Mit seinem Ärmel wischte er sich anschließend den Schweiß aus dem Gesicht. Aber die Anspannung schien nicht von ihm weichen zu wollen.

Während er so dastand, konnte Raen die Maserung der Holzwand in all ihrer Deutlichkeit erkennen, jede einzelne feine Linie, jede Faser. Seine Sinne waren zum Bersten überreizt.
‚Dieses namenlose Gefühl verleiht einem wirklich merkwürdige Kräfte’, dachte er. ‚Ganz ähnlich fühlt es sich an, wenn man Zhangha gegessen hat, nur viel heftiger und direkter. Und es kommt aus dem Bauch heraus und nicht wie das Zhangha aus dem Kopf. Es scheint mich eher mit der Erde zu verbinden als mit der Luft.’ Raen schloss die Augen und atmete tief durch. Aber es schien ihm, als könne er auch durch seine geschlossenen Lieder hindurch noch die Holzwand vor sich sehen. Er lauschte auf das Rauschen des Blutes in seinen Adern. Es wallte noch immer dünnflüssig und heiß durch seinen Körper. Warum versuchte er eigentlich gegen dieses Gefühl anzukämpfen? Warum ließ er ihm nicht einfach freien Lauf? Auch wenn das Gefühl schlecht war, konnte es ihm doch trotzdem die Kraft geben, die er benötigte, um diese Blockade in Menschenform zu überwinden, die da Kaera hieß. Woher er seine Kraft schöpfte, konnte doch schließlich egal sein. Allein das Ergebnis zählte. Und diesem Ergebnis konnte er mit Hilfe dieses machtvollen Gefühls vielleicht endlich näher kommen!
„Ich will ein guter Krieger werden!“, sagte er ausdruckslos und wiederholte es wie eine Beschwörungsformel immer wieder. Abrupt drehte er sich zu Kaera um. Der stand immer noch genau so jämmerlich da und glotzte ihn an wie ein Schaf.
„Und ich will dich nicht mehr!“, zischte Raen drohend. „Das alles wird jetzt ein Ende haben!“ All die vergangenen Monate mit nichts als Kaera tagein, tagaus. Üben, immer nur üben mit nichts als Banskeid Kensas ewiger Kritik. Nein, er wollte das nicht mehr, konnte es nicht mehr. Er musste weg von Kaeras alles aufzehrender Aura.
Bei dem Anblick seines hilflos dreinschauenden Kameraden verengten sich Raens Augen erneut, und sein Puls schlug wieder schneller. Jetzt oder nie! Er würde sich befreien. Mit schnellen Schritten ging er auf Kaera zu und blieb dicht vor ihm stehen. Durchdringend sah er ihn an.
„Los, schlag zu!“, zischte er ihm direkt ins Gesicht.
Kaera aber blickte nur entgeistert zurück.
„Na los, schlag endlich zu!“, schrie Raen ihn an. „Schlag zu! SCHLAG ZU!“ Drohend hob er eine Faust und drückte sie Kaera hart an die Wange.
„Ich ... aber ... du hast doch gar kein Schwert“, antwortete dieser mit bebender Stimme und blickte sich hilfesuchend um. Sie waren immer noch allein.
„Ist mir doch egal, ich brauche keins! Nicht gegen dich, du Schwächling! Los, schlag endlich zu!“ Er drängte weiter auf Kaera ein und wollte ihn zu Boden stoßen, als dieser endlich zurückwich und gleichzeitig einen halbherzigen Schlag nach Raens Schulter ausführte. Raen wich geschickt aus, packte die Schwerthand Kaeras, und noch im selben Augenblick hatte er ihm das Holzschwert entwunden. Er richtete es mit der Spitze auf Kaeras Brust.
„Tot! Schon wieder!“, sagte er und ließ dabei ein böses, raues Lachen hören. Schließlich warf er auch Kaeras Schwert auf den Boden.
Dem Jüngeren stiegen die Tränen in die Augen.
„Und nun weiter, los, schlag mich, mach weiter! Du kannst auch ohne Waffe kämpfen!“ Raen schlug nach Kaera, der irritiert mehrere Schritte nach hinten stolperte. Aber wie ein unheimlicher Schatten war Raen blitzschnell wieder bei ihm. Er packte den Jüngeren am Kragen seiner Jacke und schüttelte ihn.
„Nein! Lass das, Raen! Bitte!“, heulte dieser mit hoher, angsterfüllter Stimme auf, was Raens Raserei allerdings nur noch mehr anfachte.

Vor Kaeras Augen wuchs Raen bedrohlich in die Höhe und in die Breite, seine schwarze Kleidung sog alles Licht in sich hinein, und genau wie die bösartigen Schatten aus seinen Träumen senkte er sich schließlich auf ihn herab und schien ihn verschlingen zu wollen. Schützend schlug Kaera die Hände über dem Kopf zusammen und noch ehe er wusste, wie ihm geschah, flog er in einem hohen Bogen durch den Raum. Er krachte hart mit dem Rücken an einen der Stützpfeiler. Panisch und ohne den stechenden Schmerz in seinem linken Handgelenk zu beachten, mit dem er sich abzustützen versucht hatte, riss er sich selbst wieder auf die Beine und rannte so schnell er konnte aus der Halle hinaus. Ein undefinierbarer monströser Schrei drang hinter ihm her an sein Ohr und jagte ihm die Gänsehaut über den ganzen Körper.

Als Raen zu sich kam, stand er allein in der großen Halle. Wo war Kaera? Zischend stieß er die Luft zwischen seinen Zähnen aus. Was war geschehen? Sein Körper fühlte sich an wie eine zum zerreißen gespannte Bogensehne. Er atmete tief durch und blickte auf die beiden Holzschwerter zu seinen Füßen, danach auf seine schmerzhaft verkrampften Hände. Er bückte sich, nahm eines der Schwerter zur Hand und besah sich die Maserung, so als ob er nicht wüsste, wozu man ein Holzschwert gebrauchte. Nach einer Weile begab er sich wie von selbst in die Grundstellung. Er schloss die Augen, beruhigte seinen Atem und setzte sich dann in Bewegung. Zunächst hackte er wie besessen auf die Luft vor ihm ein und zerteilte einen imaginären Feind nach dem anderen in unzählige kleine Stücke. All seine Kraft legte er in die viel zu weit ausladenden Schläge und stieß immer wieder einen lauten Kampfschrei aus. Aber nach und nach wurden seine Bewegungen gleichmäßiger und runder. Er vergaß alles um sich herum. Es gab nur noch ihn und das Schwert in seiner Hand, und es folgte allein dem Rhythmus seines Atems. Einatmen, ausatmen; ausholen, schlagen. Von der Erde in die Luft, und von der Luft in die Erde.

Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte Kensa in der Tür zur Halle und beobachtete still, wie sein Schüler einen wilden, aber kontrollierten Tanz quer durch den ganzen Raum vollführte. Er war sehr erstaunt, denn Raen bewegte sich ungewohnt gewandt, kraftvoll und geschmeidig zugleich, und er bildete endlich eine Einheit mit dem Schwert. Er hatte das „Atemgetragen“ gefunden!
‚Na bitte, es geht doch’, dachte Kensa. Endlich schein der Junge den Eingang in den Zustand gefunden zu haben, in dem der Geist völlig leer war, und der Körper allein dem Fluss des Atems folgte. Jetzt musste er nur noch genauso kämpfen, wenn er einen Gegner hatte. Kensa befürchtete jedoch, dass genau darin das Problem lag. Etwas behinderte Raen, hemmte innerlich den Strom seiner Kräfte. Doch er war zuversichtlich, ihn davon auch noch befreien zu können, und dann würde Raen ein sehr guter Schwertkämpfer werden, genau wie sein Vater einer war. Plötzlich fiel ihm auf, dass Kaera gar nicht da war. Nirgendwo in der Halle konnte er ihn erblicken.
Aber er hatte doch den beiden Tor Ban gesagt, sie sollten so lange weitermachen, bis er wiederkäme. Na, Kaera würde sicherlich gleich wieder da sein. Zufrieden beobachtete Kensa weiter Raen. Der Bursche bewegte sich tatsächlich gut! Wenn er so weitermachte, dann würde er demnächst wieder mit den anderen üben können, ja, würde sie vielleicht sogar schon bald überholen. Welch einen unverhofften Sprung er gemacht hatte, wirklich erstaunlich.
Als Kaera nach einer ganzen Weile noch immer nicht auftauchte, begann Kensa sich zu wundern. Er trat zwei Schritte in die Halle, und Raen, der so versunken in seine Übung war, wäre beinahe gegen seinen Lehrmeister geprallt, wenn dieser ihn nicht mit einer Hand aufgehalten hätte. Das weckte den jungen Schüler aus seiner Trance.
„Oh! Banskeid Kensa. Verzeih bitte, ich habe dich gar nicht gesehen.“ Raen atmete schnell und war vom Schweiß völlig durchnässt. Seine Pupillen waren verengt und sein Gesicht gerötet von der Anstrengung. Der Junge schien sich richtig ausgetobt zu haben.
„Deine Atmung ist gut!“, lobte Kensa ihn.
„Vielen Dank!“ Raen strahlte über sein erschöpftes Gesicht.
„Und du warst eins mit dem Schwert. Das war sehr gut.“
„Ich bin ja auch der Schüler eines hervorragenden Schwerkämpfers!“ Raen schien überglücklich, dass dies jemand bemerkt hatte.
„Wo steckt eigentlich Kaera?“, fragte Kensa unvermittelt, die korrekte Dankesbezeugung seines Schülers hatte er mit Genugtuung registriert.
Raen reagierte überrascht auf diese Frage, und es war, als zöge sich ein Schleier vor seine Augen. Matt ließ der Junge seine Schultern hängen.
„Ich weiß nicht, wo er steckt. Ich habe allein weiter trainiert“, antwortete er, und seine Stimme klang dabei seltsam abwesend.
Kensa bemerkte das, und in ihm wurde mit einem Mal das Gefühl wach, dass hier etwas nicht stimmte. Etwas war passiert und zwar mehr als nur eine der üblichen Unverträglichkeiten zwischen den beiden Burschen.
„Ja, aber er muss doch etwas gesagt haben. Er geht doch nicht einfach so weg“, hakte der Lehrmeister nach.
Raen zuckte mit den Schultern, aber Kensa glaubte ihm nicht so recht.
„Was hast du mit Kaera gemacht?“, fragte er plötzlich einer Eingebung folgend.
Der Jüngere sah ihn erstaunt an. „Ich? Ich habe gar nichts mit ihm gemacht. Wieso denkst du das?“ Er wirkte aufrichtig empört und schüttelte den Kopf. „Ich weiß wirklich nicht, wo Kaera ist, und ich habe nichts mit ihm gemacht.“
Kensa schnalzte mit der Zunge. Es wurmte ihn, dass es offensichtlich keinen Weg gab, die beiden jungen Schüler dazu zu bewegen, sich gegenseitig zu unterstützen. Sie waren unvereinbar wie Wasser und Öl.
Er musterte Raen. Der Sohn von Roman verkörperte eindeutig das Element des Öls. Wenn es heiß wurde, dann wurde es geschmeidig, setzte man es aber der Kälte aus, so wies es auch eine unglaubliche Zähigkeit auf. Uns in Raen wohnte ein unglaublich zäher Wille. Kensa hatte registriert, dass er in den vergangenen Monaten kräftig zugelegt hatte und dem doch noch sehr schmächtig wirkenden Kaera körperlich weit überlegen war. Aber war er es auch sonst? Seine Ungeduld hatte er immer noch nicht in den Griff bekommen, obwohl es schon etwas besser geworden war, fand Kensa. Er schnalzte erneut. Eine erfahrene Hand war nötig, um den unreifen Charakter eines Heranwachsenden zu formen und bisher hatte er noch jeden Schüler, ob ängstlich oder ungestüm, zu einem guten Krieger ausgebildet. Er bemerkte, dass sein eigener Blick sich verändert haben musste, denn die wachen grünen Augen seines jungen Gegenübers schauten fragend zurück. Doch bevor er das Gespräch wieder aufnehmen konnte, ging plötzlich die Tür zur Halle auf. Gleichzeitig drehten Kensa und Raen sich um und erblickten überrascht Kaera, der auf sie zugewankt kam.

Wenn er auch vorher tatsächlich nicht gewusst hatte, was mit seinem Kameraden geschehen war, so erinnerte Raen sich in diesem Augenblick blitzartig an alles! Er wurde bleich. Glücklicherweise hatte sich Kensa soeben abgewandt.
„Da bist du ja, Kaera. Wir haben uns schon gefragt, wo du steckst“, rief der Lehrmeister dem Hereintretenden entgegen.
Kaera antwortete erst, als er vor ihnen stand. Er hielt sich die linke Hand, die stark zu schmerzen schien.
„Ich habe mich beim Training verletzt und war dich suchen, Banskeid Kensa. Ich glaube, es ist gebrochen.“ Er hielt Kensa sein Handgelenk entgegen.
Kensa schaute Raen an, der seinen Blick gespielt unschuldig erwiderte, und untersuchte dann das Handgelenk. Vorsichtig drückte er auf den Bluterguss, der sich gebildet hatte. Kaera verzog dabei keine Miene. Er wirkte sehr ruhig, was Raen erstaunte.
„Wie ist das denn passiert?“, fragte Kensa, wieder mit einem strengen Seitenblick auf Raen. Unvermittelt blitzte das angsterfüllte Gesicht Kaeras in dessen Geiste auf. ‚Nein! Raen, bitte nicht!’, schrie es.
„Äh, ach das ...“, wollte er sogleich erklären, aber Kaera fiel ihm prompt ins Wort: „Das war meine Schuld, Banskeid Kensa. Ich habe nicht richtig abgewehrt und das Schwert zu tief gehalten. Raens Schlag traf mich direkt am Handgelenk. Es war ungeschickt von mir, bitte entschuldige.“ Er verneigte sich leicht vor Raen.
Der wusste nicht, was dieses Spiel sollte. Was hatte Kaera vor? Warum nahm er ihn in Schutz und warum erzählte er nicht, wie es tatsächlich gewesen war? Sollte das ein Freundschaftsdienst sein? Pah, so etwas hatte er nicht nötig! Er konnte für die Dinge geradestehen, die er getan hatte. Er brauchte keine Hilfe, nicht von Kaera! Er wollte gerade ansetzen und beichten, was wirklich passiert war, da wurde ihm schon wieder das Wort abgeschnitten.
„Warum hast du nichts davon gesagt, Raen?“, fragte ihn Kensa vorwurfsvoll.
„Ich ... ich ...“
„Er hat es doch gar nicht gemerkt, so schnell bin ich raus gerannt, um dich zu suchen, Kensa“, erklärte Kaera, und es klang für Raen reichlich unglaubwürdig.
Forschend blickte der Lehrmeister seine beiden Schüler eine Weile an, schien sich dann aber vorerst damit zufrieden zu geben.
„Geh schnell zu den Medizi in den Chorten hoch, sie sollen es sich ansehen. Wahrscheinlich muss es geschient werden. Das bedeutet wohl erst einmal eine Pause für dich, Kaera, mindestens zwei Monate, schätze ich.“ Kensa schob den Verletzten vor sich her. „Komm, ich begleite dich am besten. Raen, du kannst auch aufhören. Lösch aber bitte noch die Lampen, bevor du gehst.“
Folgsam verneigte Raen sich und sah den beiden hinterher. Am Eingang der Halle drehte Kaera sich noch einmal schnell um und zwinkerte ihm flüchtig zu.
Was sollte das denn?, fragte Raen sich säuerlich. Eine kleine Verschwörung gegen Kensa? Nur, warum? Er zuckte mit den Schultern, auf jeden Fall, hatte Kaera das Beste aus der Situation gemacht. Er hatte das Beste für sich herausgeholt und gleichzeitig auch das Beste für ihn. Sie hatten eine Pause voneinander von mindestens zwei Monaten! Das war Musik in seinen Ohren. Schnell löschte Raen die Lampen und mit einen breiten Grinsen im Gesicht marschierte er in die Dämmerung hinaus und den beiden anderen hinterher zum Chorten hinauf.

Die Trainingspause zog sich für Kaera allerdings länger hin, als zuvor angenommen. Der Bruch war kompliziert, und die Hand musste auch nach der Schienung noch drei weitere Monate geschont werden. Doch Raen verspürte deswegen nicht die geringsten Schuldgefühle, und auch Kaera schien ihm in keiner Weise etwas nachtragen zu wollen. Ganz im Gegenteil, er wirkte sogar viel glücklicher in der Zeit, in der er nur am Rand sitzen und zusehen oder mit der gesunden Hand für sich allein üben konnte. Dafür trainierte Raen wieder zusammen mit den anderen, oft aber auch noch mit Kensa allein, der ganz erfreut war über die wundersame Verbesserung seines Problemschülers.
Mit den Wochen, die sie von einander getrennt verbrachten, wurde die Spannung, die zwischen den beiden Burschen geherrscht hatte, spürbar schwächer. Beide wirkten ausgeglichener und entspannter und machten jeder für sich immer weitere Fortschritte.
Das belehrte schließlich auch Kensa, der sich nun eingestand, dass es doch ein Fehler gewesen war, die beiden so lange zusammenzulassen und darauf zu beharren, sich zu vertragen. Man konnte bestimmte Dinge eben nicht erzwingen, dachte er und schlug sich selbst wie ein Blinder vor den Kopf. Schließlich war es genau das, was er Raen die ganze Zeit über versucht hatte beizubringen. Vielleicht hätte er sich an seine eigenen Grundsätze halten sollen, das wäre für alle gedeihlicher gewesen.

18. Kapitel



Das Frühlingsfest stand wieder einmal vor der Tür, und der ganze Clan erging sich daran, mit viel Hingabe die Vorbereitungen dafür zu treffen. Dieses Jahr hatten sich die Jugendlichen aus dem Rotenas Clan zum Besuch angekündigt. Darunter befand sich auch ein hübsches, schwarzhaariges Mädchen, das vom ersten Augenblick an Raens Interesse weckte. Denn so langsam begann auch er, das weibliche Geschlecht wahrzunehmen. Hereke hatte ihn schon die ganze Zeit über damit geneckt, solch ein ausgesprochener „Spätling“ zu sein und nur Augen für die Güte einer Klinge zu haben, nicht aber für die Schönheit eines Mädchens.
Eben dieses eine Mädchen war es jedenfalls, das Raens ganze Aufmerksamkeit plötzlich auf sich zog. Zusammen mit den anderen jungen Gästen traf sie am frühen Abend vor dem Festtag im Chor von Shari ein. Sie kamen von Norden her durch die Felder und ritten direkt am Übungsgelände vorbei, wo Raen gerade in seiner freien Zeit allein mit Jakori trainierte. Seine Kameraden hatten sich lieber dem süßen Nichtstun oder den Vorbereitungen für das Fest hingegeben. Er bemerkte die Gruppe und trabte zu ihnen hinüber, um sie zu begrüßen. Die Krieger, welche die Gruppe begleiteten, und die vom langen Ritt müde wirkenden Burschen und Mädchen grüßten ihn ebenfalls. Er konnte sich nicht erklären, warum es so war, aber das Mädchen mit den tief schwarzen Haaren erregte sofort sein Interesse. Vielleicht lag es daran, dass sie ihn gleich offen anlächelte. Auf jeden Fall war ihm plötzlich ganz warm und er fühlte sich verlegen, als er zurücklächelte.
Obwohl er es eigentlich nicht vorgehabt hatte, begleitete er die Gruppe bis zum Chorten. Dort wartete Hereke mit seinem Vater und den Gehilfen auf sie. Sie nahmen die Pferde in Empfang und brachten sie in die Ställe. Am liebsten wäre Raen in der Nähe des fremden Mädchens geblieben, aber er musste selbst für Jakori sorgen. Er lächelte ihr noch einmal zaghaft zu und folgte dann eilig Hereke.
„Hast du die mit den ganz schwarzen Haaren gesehen?“, flüsterte er aufgeregt. Er wollte nicht, dass Henendra oder einer der Gehilfen etwas davon mitbekamen.
Hereke grinste breit.
„Höre ich richtig? Dir gefällt eines der Mädchen? Das ich das noch erleben darf!“
„Hereke, bitte. Es ist ernst!“, jammerte Raen, der die ewigen Lästereien seines Freundes nicht mehr hören konnte.
„Ja, und gerade das freut mich! Es ist ernst, Hyaun sei Dank!“
„Pssst, nicht so laut!“ Raen sah zu Herekes Vater hinüber, doch der schien sich nicht für das zu interessieren, was sie redeten.
„Und wie heißt sie?“, fragte Hereke.
„Das weiß ich doch noch nicht.“
„Was? Du hast sie noch nicht gefragt! Schäm dich!“
„Wann sollte ich das denn getan haben?“
„Ich sehe schon, ich muss dir kräftig unter die Arme greifen.“
„Du hast da ja schon mehr Erfahrung mit Mädchen als ich. Kannst du mir vielleicht sagen, was ich tun muss?“
„Aber sicher!“ Sein Freund grinste nun von einem Ohr zum anderen, und Raen wurde das Gefühl nicht los, dass dieser sich noch immer über ihn lustig machte.
„Zuerst musst du sie natürlich nach ihrem Namen fragen“, fuhr Hereke fort, „und dann darfst du sie nicht mehr aus den Augen lassen. Weißt du, Frauen sind sehr anspruchsvoll, sie sind nicht einfach so zu haben. Man muss sich viel um sie kümmern, einen guten Eindruck machen, ihnen sagen, wie toll sie aussehen und dass man sie sehr gerne hat. Oh, Mann, wie oft habe ich das zu Suneka gesagt! Aber sie ist immer noch scheu wie ein Reh.“ Hereke seufzte laut, „Ach, wie sehr wünsche ich mir, sie würde endlich in meinen Armen liegen!“
Raen wusste genau, was sein Freund damit meinte, und wurde rot. Er hatte an so etwas noch gar nicht gedacht. Die körperliche Liebe mit einer Frau war bislang für ihn völlig unerheblich gewesen.
Sie kamen bei den Stallungen an und stiegen ab.
„Aber du hattest doch vorher auch schon etwas mit der Schwester von Akino. War das nicht auch schön gewesen? Warum bist du nicht mit ihr zusammen geblieben?“, wollte Raen wissen.
„Ja, es war ganz nett mit ihr, aber sie ist einfach nicht die Richtige. Dafür geht mir Suneka nicht aus dem Kopf. Sie ist die einzige Frau für mich!“
„Woher weißt du das denn? Ich meine, dass sie die Richtige ist. Woran erkennt man das?“
„Oh je, ich merke schon, du hast nicht die geringste Ahnung von der Liebe!“
Raen sah verschämt zu Jakori und legte ihr eine Hand an die Nüstern.
„Also, ich weiß es, weil ich es spüre, ganz tief hier drinnen!“ Hereke tippte mit den Fingern gegen seine Brust. Raen sagte noch immer nichts.
„Na los, lauf schnell wieder hoch. Ich kümmere mich um Jakori! Wir sehen uns morgen. Viel Spaß!“ Er zwinkerte Raen zu.
„Vielen Dank, Hereke, du bist ein echter Freund. Du hast was gut! Ich leg bei Suneka ein gutes Wort für dich ein, versprochen.“ Hereke nickte gutmütig, und dann war Raen auch schon schnell wie der Wind auf seinem Weg zum Chorten hinauf. Die Festung glühte rot im Licht der untergehenden Sonne.
‚Hoffentlich wartet sie auf mich. Hoffentlich mag sie mich‘, dachte er immer wieder, bis er ganz außer Atem durch das Tor in den Hof gelaufen kam. Die Gruppe der Ankömmlinge war natürlich schon verschwunden. Raen vermutete, dass man ihnen gerade ihre Unterkunft zeigte. Aber später beim Essen würde er sie mit Sicherheit sehen und dann wollte er sie nach ihrem Namen fragen. Sein Herz klopfte ungewohnt aufgeregt, und er fragte sich, ob das wegen seines kurzen Spurts oder allein wegen des Mädchens war. Schnell lief er in den Tempel, um sich zu waschen und ordentlich anzuziehen. Einen guten Eindruck sollte er machen, hatte Hereke gesagt, und das wollte er um jeden Preis auch tun. Frisch geschrubbt und in sauberen Kleidern, die eigentlich für den morgigen Festtag gedacht waren, nahm er sich vorher noch ein wenig Zeit, um einige Augenblicke vor der Statue von Hyaun im oberen Heiligtum zu sitzen und das neue Gefühl der Verliebtheit zu ergründen. Eine völlig neue Welt tat sich vor ihm auf. Er schloss die Augen und sog den Duft des Melams ein. Aus einem der Seitenräume hörte er gedämpfte Gebetsgesänge. Er fühlte sich rundum gut, das Leben pulsierte kraftvoll durch seine Andern und am liebsten hätte er laut gesungen.
Über ihm lächelte Hyaun sanftmütig auf den zum ersten Mal verliebten jungen Burschen hinab.
„Hallo, Raen, du solltest dich beeilen, wenn du noch pünktlich zum Essen kommen willst.“ Die Stimme von Loenka schreckte ihn aus seiner Seligkeit.
„Was?“
„Es gibt Essen“, wiederholte Loenka.
„Ach so, ja danke, ich geh schon.“
„Wie geht es dir denn?“, fragte der Priester, denn sie hatten sich schon lange nicht mehr unterhalten.
„Was?“, fragte Raen erneut abwesend.
„Wie es dir geht, wollte ich wissen. Ist alles in Ordnung?“
„Äh, ja, alles ist gut, ich meine, mir geht es gut. Sehr gut sogar, aber jetzt muss ich los! Guten Abend, Loenka.“ Er sprang auf und eilte hinaus.
Der Priester sah ihm erstaunt nach. Herausgeputzt war der Junge! Dabei war das Fest doch erst morgen. Er erahnte einen bestimmten Grund dahinter, und mit großer Wahrscheinlichkeit war dieser Grund weiblich. Loenka lächelte in sich hinein. Na ja, wir werden ja sehen, was der nächste Morgen bringt. Er verließ den Altarraum und begab sich in die Küche der Priester, wo auch sein Essen bereits auf ihn wartete.

Eilig stürmte Raen in den Essraum neben der Küche im Untergeschoß. Da saßen sie schon alle und hielten dampfende Schalen in den Händen.
‚Mist’, dachte er, ‚ich bin aber auch ein Trottel! Jetzt bin ich zu spät, und der Platz neben dem Mädchen ist schon besetzt.’ Er ließ die Schultern hängen. Natürlich sah sie ihn an. Alle sahen ihn an, weil er als Letzter in den Raum gestürzt war.
„Raen!“, rief Resa laut, und Raen wurde rot, als er seinen Namen hörte. ‚Auch das noch’, dachte er, ‚Resa, sei bitte still!’ Als sich die Blicke endlich wieder von ihm abwandten, wagte er es, sich zu bewegen. Aber er traute sich nicht, zu dem Mädchen hinüberzuschauen, deshalb ging er zu Resa, der neben Suneka, Soema und einem Freund saß.
„Hallo, mein kleiner Bruder, wie geht es dir?“, fragte er freundlich und wuschelte Resa durch seine ständig unordentlichen Haare.
„Gut! Setz dich doch neben mich. Bitte, bitte, bitte!“, flehte Resa. Raen wusste, dass er ihn sehr vermisste, seit der die Kriegerausbildung begonnen hatte und nur noch wenig Zeit fand, um etwas mit ihm zu unternehmen.
„Ja, setz dich doch“, sagte nun auch Suneka und lächelte ihn freundlich an.
Raen wollte sich gerade niederlassen, als er doch noch einen flüchtigen Blick zu dem Mädchen hinüberwarf. Neben ihr winkte jemand wild mit beiden Händen. Raen erkannte Hereke. Dieser Schlingel! Ein breites Grinsen schlich sich auf sein Gesicht.
„Resa, entschuldige, aber ich muss mich unbedingt zu Hereke setzen. Es ist sehr wichtig.“
„Warum?“, fragte Resa.
„Es ist wegen des Mädchens da. Das wirst du noch verstehen, wenn du einmal älter bist.“ Raen strich seinem Bruder noch einmal über das Haar, als er sah, wie enttäuscht dieser war. Dass Suneka gleichfalls enttäuscht zu sein schien, bemerkte er nur am Rande. Eilig wandte er sich um und schlängelte sich durch die sitzenden Leute auf Hereke und das Mädchen zu. Als er bei ihnen angekommen war, fühlte er sich plötzlich sehr unsicher. Da saß sie nun und sah ihm neugierig ins Gesicht. Der Schein des Kaminfeuers, in dessen Nähe sie Platz genommen hatten, betonte ihre zarten Konturen, die feine Linie ihrer Wangenknochen und ihres Kinns. Ihr Lächeln entblößte kleine, weiße Zähne, und ihre Augen hatten die gleiche tiefschwarze Farbe, wie ihr Haar, das ihr in langen, glatten Strähnen auf die Schultern fiel. Unbewusst strich sie sie mit einer zierlichen Hand zurück, und für Raen war es in diesem Moment die anmutigste Geste, die er je gesehen hatte. Er war ganz und gar hingerissen.
„Willst du dich nicht endlich mal vorstellen, du unhöflicher Kerl!“, sprach Hereke ihn an.
„Was? Äh, ja, ich heiße Tor-Ban-Raen-Ra-Roman-adh-Chor-Shari. Sei gegrüßt.“ Schnell nahm Raen den beiden gegenüber Platz. Sich so selbstverständlich wie Hereke neben sie zu setzen, traute er sich nicht.
„Und ich heiße Tor-Nanmia-Kosam-Mate-Kirisha-adh-Chor-Rotenas, sei gegrüßt Tor Ban Raen aus Shari.“ Sie verneigte sich höflich, dabei fielen ihr wieder die Haarsträhnen über die Schultern. Ihre Stimme war wohlklingend, aber noch sehr mädchenhaft. Wie alt sie wohl sein mochte, fragte sich Raen. Durch ihre zierliche Gestalt wirkte sie vielleicht jünger, als sie war.
„Meine Mutter war auch Schneiderin“, entgegnete er auf ihren Berufstitel hin.
„Wieso war?“, fragte Kosam.
„Sie ist vor acht Jahren gestorben, als mein kleiner Bruder geboren wurde, er sitzt dort drüben.“ Raen war es unangenehm mit einer fremden Person über den Tod seiner Mutter zu sprechen.
„Oh, das tut mir leid! Verzeih mir, ich bin manchmal viel zu neugierig. Das ist eine schlechte Angewohnheit.“ Es war ihr sichtlich peinlich.
„Ist schon gut. Du brauchst dich nicht dafür zu entschuldigen, ich bin auch manchmal zu neugierig und bekomme ständig Ärger deswegen“, versuchte Raen die Situation abzumildern, was ihm auch gelang, denn Kosam schenkte ihm erneut ein strahlendes Lächeln.
Um nicht rot zu werden, begann er schnell aus seiner Essschale zu löffeln, die ihm inzwischen gereicht worden war.
„He, du bist ja so fein herausgeputzt, Raen, gibt es schon heute was zu feiern, oder hast du dich wegen unserer Gäste so hübsch gemacht?“, meldete sich Hereke keck zwischen zwei Löffeln Eintopf zu Wort.
„Und wenn es so wäre? Was machst du eigentlich hier oben im Chorten?“ Die Neckerei seines Freundes ließ Raen etwas mutiger werden.
„Ich? Ach, ich dachte, ich begrüße unsere Gäste. Bin eben auch neugierig.“
Kosam hielt sich eine Hand vor den Mund, um ihr Grinsen zu verbergen. Raen sah trotzdem, dass es ein ganz bezaubernd freches Grinsen war.
„Wenn du schon außer der Regel hier oben bist, warum sitzt du dann nicht bei Suneka? Könnte sie nicht etwas Falschen denken, wenn du hier bei einem anderen Mädchen sitzt?“, fragte Raen, und zu Kosam gewandt sagte er: „Sie ist nämlich sein Augenstern, musst du wissen.“
„Pass bloß auf, dass ich nicht gleich auch dein Sternchen verrate!“, schimpfte der Pferdebursche.
„Mach doch!“, sagte Raen mutwillig mit vorgerecktem Kinn.
Bewusst langsam holte Hereke Luft, als wollte er seine Nervenstärke testen.
„Sieh mal, Suneka winkt dir zu!“, lenkte Raen geschickt vom Thema ab, und prompt schaute Hereke zu Suneka hinüber, die tatsächlich winkte.
„Sie versteht das bestimmt nicht falsch, schau mal, wie sie mich anlächelt!“ Raen meinte etwas aus Herekes Stimme herauszuhören, das irgendwie bitter klang. Aber er verstand nicht, worüber sein Freund sich Sorgen machte. Das mit Suneka würde schon noch klappen.
„Nun gut“, sagte Hereke und erhob sich, „dann geh ich mal rüber zu ihr und lass euch beiden Hübschen allein!“ Er zwinkerte ihm zu und begab sich zu Suneka. Raen sah, dass seine Ziehschwester Hereke kurz anlächelte, dann aber wieder zu ihnen herübersah. Sein unwohles Gefühl wollte nicht verschwinden.
„Ist er jetzt böse?“, fragte Kosam in seine Gedanken hinein.
„Ach, nein, der doch nicht. Hereke macht oft Späße. Man muss sich nur daran gewöhnen. Er ist mein bester Freund.“
„Das hat er mir schon erzählt und auch, dass du mich kennenlernen willst!“
‚Toller Freund‘, dachte Raen und blitzte zu Hereke hinüber, der sich inzwischen mit Suneka unterhielt.
Verlegenheit stieg in ihm auf. Jetzt, da Hereke die Unterhaltung nicht mehr führte, wusste er nicht, worüber er sich mit Kosam unterhalten sollte und starrte in seine leere Schale.
„Wie alt bist du denn?“, fragte Kosam und nahm das Gespräch in die Hand.
„Ich bin siebzehn, und du?“, fragte Raen zurück.
„Schon achtzehn, aber viele halten mich für jünger, weil ich so klein bin. Bald komme ich in den Dritten Grad.“
„Das dauert bei mir wohl noch etwas länger.“
„War das vorhin dein eigenes Pferd? Schönes Tier.“
„Ja, nicht wahr! Sie heißt Jakori und ist sehr zutraulich. Du kannst sie gern mal reiten, wenn du willst, dann machen wir einen Austritt in den Wald und ich zeige dir ...“ Raen verstummte abrupt. ‚Ich rede zu viel‘, dachte er. ‚Sie interessiert sich bestimmt gar nicht für Pferde.‘
Kosam blickte ihn fragend an. „Was willst du mir zeigen?“
„Ach, nur so ein paar Steine im Wald, nichts Besonderes.“
„Ich nehme dein Angebot gerne an.“
„Ja? Wirklich? Interessiert dich das denn?“
„Natürlich. Außerdem bin ich gerne mit dem Pferd unterwegs, das macht Spaß.“
Raen lächelte selig. „Ich denke, am Tag nach dem Wettrennen können wir bestimmt zusammen ausreiten.“
Als Antwort genügte Raen ein weiteres umwerfendes Lächeln von Kosam.
Als er später in seinem Bett lag, konnte er kaum einschlafen. Immer wieder musste er an das Mädchen mit den schwarzen Haaren denken und konnte es gar nicht abwarten, wieder mit ihr zusammen zu sein.

Am nächsten Morgen fühlte er sich schrecklich unausgeschlafen, aber das war ihm egal, denn der Tag brachte ihm Kosam!
Er stand auf und zog seine guten Kleider an. Beschwingt summte er eines der Lieder, die heute Abend beim Tanz gespielt werden würden. Sorgfältig richtete er seinen Gürtel und schlüpfte in die Stiefel. Da er noch kein eigenes Schwert tragen durfte, musste es das Messer tun, das in einer Lederscheide von seinem Gürtel baumelte. Zuletzt setzte er sich den Helm auf. Ihn hatte er vor ein paar Monaten bekommen und er war stolz darauf. Er blinkte im Licht des Morgens mit seinem Aun um die Wette. Fertig angekleidet stolzierte er hinunter in den Essraum, wo die Leute nach und nach eintrafen, um ihr Morgenmahl zu sich zu nehmen. Aber weder Kosam noch Suneka noch irgendjemand aus seiner Familie waren zu sehen.
‚Langschläfer!‘, dachte Raen.
Da kam sein Vater, ebenfalls festlich gekleidet, zur Tür herein. Er sah seinen Sohn und setzte sich neben ihn.
„Guten Morgen, du siehst gut aus! Der Riva steht dir!“, sagte Roman und wies auf Raens Helm.
„Danke, Vater. Ich wünschte, ich könnte morgen auch schon beim Wettreiten mitmachen.“
„Da musst du leider noch etwas Geduld haben.“
„Reitest du denn mit?“
„Ich glaube nicht, ich bin langsam zu alt dafür!“
„Aber du bist doch nicht zu alt!“
„Nett, dass du das sagst.“
„Willst du dir eigentlich nochmal eine Frau nehmen?“, fragte Raen seinen Vater frei heraus.
„Warum, willst du das jetzt ausgerechnet wissen?“
„Na, weil Frühlingsfest ist, und da denkt man doch an so etwas. Außerdem will ich nicht, dass du noch länger allein bist.“
„Deine Fürsorge in allen Ehren, Raen, aber ich bin glücklich, so wie ich jetzt gerade lebe. Und ganz allein bin ich auch nicht.“
„Ja, aber willst du denn Hanenka nicht langsam mal heiraten, damit ihr zusammen leben könnt? Du bist doch oft mit ihr zusammen.“ Raen ließ nicht locker.
„Ja, wir sind oft zusammen, und ich mag sie sehr, aber ich denke, ich werde sie nicht heiraten.“
„Aber wieso denn nicht?“
„Ach, Raen, das zu erklären, ist schwer.“
„Versuch es doch bitte.“
„Da ist noch die Liebe zu deiner Mutter. Sie ist immer bei mir und ... ich vermisse sie.“
„Und was hat das mit Hanenka zu tun? Mutter ist nicht mehr da, aber sie ist da und du kannst sie lieben.“
„Das kann ich eben nicht. Natürlich kann ich sie zwar körperlich lieben, aber das ist nicht genug für ein gemeinsames Leben. Verstehst du? Mein Geist und mein Herz werden immer deiner Mutter gehören“, versuchte sein Vater zu erklären, aber Raen konnte seine Gedanken noch immer nicht nachvollziehen.
„Meine Liebe zu deiner Mutter ist zu stark, um eine andere zuzulassen, sie ist allgegenwärtig, egal was ich tue, egal mit wem ich zusammen bin. Sie ist zu tief in meinem Herzen.“
Raen schwieg. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie Hereke sich vor die Brust tippte. War es das gleiche wie das, wovon sein Vater gerade sprach?
„Es wäre Hanenka gegenüber ungerecht, sie zu heiraten, wenn ich weiterhin ständig an deine Mutter denken muss. Wir haben darüber gesprochen, und ihr geht es ähnlich. Sie denkt oft an ihren Mann. Es ist erst zwei Jahre her, seit er zu den Ahnen gegangen ist. Aber wir beide haben unsere Familien und das ist es, was zählt. Und wir können uns gegenseitig ein wenig Trost geben. Den anderen aber zu ersetzen, ist unmöglich.“
„Geistige Liebe“, murmelte Raen vor sich hin. „Hast du deshalb noch immer die roten Säume an deiner Jacke?“
„Ja. Die geistige Liebe ist viel stärker als die körperliche Liebe, auch wenn man manchmal und gerade in einem solchen Moment etwas anderes denkt. Beide Formen der Liebe sind grundlegend verschieden, aber auch nur beide zusammen sind die Erfüllung des vollkommenen Liebesglückes. Das habe ich viele Jahre zusammen mit deiner Mutter genießen dürfen. Und darüber bin ich sehr glücklich.“
Da Raen darauf nicht erwiderte, sprach sein Vater weiter: „Nimm zum Beispiel deine Liebe zu Hyaun. Sie ist allein geistig, tief und rein. Und nun stell dir vor, du teilst solch eine Liebe mit einer Frau.“
„Geht das denn?“
„Ja, glaub mir, das geht!“
Sie schwiegen und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
„Wer war eigentlich das Mädchen, mit dem du gestern Abend zusammengesessen hast?“, unterbrach sein Vater wenig später die Stille.
„Sie heißt Tor Nanmia Kosam.“
„Ah, auch eine Schneiderin!“ Sein Vater klang bedeutungsvoll. „Magst du sie?“
„Ja, ich glaube schon. Sie ist sehr hübsch und nett!“
Sein Vater lächelte. „Du hast dich also verguckt! Na, dann viel Glück! Aber du denkst bitte daran, ja?“
„An was?“
„Na, du musst sie natürlich fragen, ob sie die Kräuter nimmt, falls ihr euch lieben wollt! Du weißt, dass du Kinder erst haben darfst, wenn du verheiratet ist!“
Raen wurde knallrot, weil sein Vater so offen über dieses Thema sprach. „Ja“, gab er einsilbig zurück und sah auf seine Hände.
„Ach, das war schon alles aufregend damals. Ich habe deine Mutter auch auf dem Frühlingsfest kennengelernt.“ Sein Vater schien mehr mit sich selbst zu reden.
„Äh, entschuldige, Vater, aber ich muss jetzt los.“ Raen stand auf.
„Ja, ja, geh nur. Viel Vergnügen! Wir sehen uns dann später im Tempel.“
Ach ja, das hatte er völlig vergessen. Die Krieger hielten an diesem Tag die Zeremonie getrennt von den anderen ab, und für ihn war es erst das dritte Mal an einem Frühlingsfest. ‚Schade‘, dachte er, ‚dann kann ich nicht bei Kosam sein. Aber ich muss sie vorher unbedingt noch sehen!‘
Eilig lief er nach draußen, wo sich bereits schon viele vor dem festlich geschmückten Podest versammelt und ihre Matten ausgebreitet hatten. Er hielt nach Kosam Ausschau, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Wo war sie nur? Er hatte nicht allzu viel Zeit, bevor er sich im Oberen Heiligtum einfinden musste. Er lief über den Hof durch die schwatzende Menschenmenge und fragte hie und da nach den Gästen aus Rotenas. Einige aus der Gruppe fand er, aber sie hatten Kosam nicht gesehen. Er erblickte Hereke bei Suneka stehend und lief zu ihnen hinüber.
„Hallo! Wisst ihr zufällig, wo Kosam ist? Ich suche sie schon überall.“
„Nein, keine Ahnung. Du, Suneka?“
Suneka schüttelte mit dem Kopf, sie war seltsam stumm.
„Ist irgendetwas?“, fragte Raen.
„Nein, wieso?“, gab Hereke fröhlich zurück. Suneka schwieg immer noch, sie sah Raen nicht an.
„Na dann suche ich mal weiter. Wir sehen uns nachher beim Essen.“ Raen verschwand in der Menge. Der Hof füllte sich zusehends, aber schließlich sah er sie. Sie kam die Treppe von der Südmauer herunter zusammen mit Laghat, einem Krieger, der schon älter war und letztes Jahr in den Dritten Grad erhoben worden war. Sie lachte gerade über etwas, das er gesagt hatte. Raen verspürte einen heißen Stich in den Eingeweiden. Was macht denn Laghat mit Kosam? Was will er denn von ihr? Raen hielt sich zwischen den Leuten versteckt und beobachtete die beiden. Sie schienen sich prächtig zu verstehen. Hat sie mich etwa schon vergessen? Bei Laghat war das kein Wunder, dachte er missmutig, der ältere Krieger sah gut aus und war erfahrener, und Kosam bevorzugte bestimmt jemanden, der schon im Dritten Grad war. Was habe ich mir da nur eingebildet? Raen wollte sich gerade wegdrehen, da hörte er seinen Namen, und zwar aus ihrem Munde. Er wandte sich wieder in ihre Richtung. Kosam kam direkt auf ihn zu mit Laghat im Schlepptau.
Sie lächelte, als sei das Lächeln nur für ihn, aber Raen meinte, die Lage längst verstanden zu haben.
„Hallo Tor Ban Raen, da bist du ja. Du warst gar nicht beim Morgenmahl.“
„Ich war wohl zu spät“, antwortete er einsilbig. ‚Du bist zu spät zu allem, Raen, du Schafskopf!’ tadelte er sich grimmig selbst.
„Schade. Aber Banskeid Laghat war so lieb und hat mir schon mal ein bisschen von eurem Chorten gezeigt. Ihr habt hier eine schöne Aussicht von der Mauer, man kann bis zu den großen Bergen sehen.“
Banskeid Laghat war ein vollwertiger Krieger und durfte sein eigenes Schwert tragen. Raen schielte auf den Schwergriff, der hinter Laghats Rücken hervorschaute. Wann würde er selbst sein Schwert bekommen? Es dauerte alles einfach viel zu lange!
„Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“, erkundigte sich Kosam, die seinen finsteren Blick sehr wohl bemerkt hatte.
‚Gib es auf’, dachte er bitter, ‚du bist zu jung. Vergiss sie!’ Laut sagte er: „Wir müssen jetzt in den Tempel, Banskeid Laghat!“ Aber sein Ton war scheinbar etwas zu befehlend, denn Laghat sah ihn schief an.
Raen war genervt. Er drehte sich einfach um und ging auf den Seiteneingang des Tempels zu, ohne sich noch einmal umzusehen. Er hörte wie Laghat sich etwas höflicher von Kosam verabschiedete und ihm schließlich folgte.

Die Krieger von Shari und die vier Besucher aus Rotenas versammelten sich im Oberen Heiligtum. Bei der Zhangha-Zeremonie lief alles stets nach strenger Ordnung ab. Die ältesten Krieger saßen vorne, und je jünger man war, desto weiter hinten musste man Platz nehmen. Raen hockte in der vorletzten Reihe, eine Bank vor ihm Laghat. Finster stierte er in dessen Rücken.
Hyaunset Chodan und die übrigen Priester, die für die Kriegerkaste zuständig waren, und deshalb auch Zhangha-Priester genannt wurden, eröffneten die Zeremonie mit einem Gebet an Hyaun. Raen saß da und bekam kaum etwas von dem mit, was Chodan sprach, die Gebete murmelte er aus reiner Routine mit, seine Gedanken kannten derweil nur eins: Kosam!
‚Will sie wirklich ihn?’ fragte er sich düster und sah dabei zu wie Laghat sein Zhangha erhielt.
Als er schließlich vor Chodan trat, legte dieser ihm ein kleines, gepresstes Kügelchen aus den Blättern und Blüten der Zhangha-Pflanze hinein. Unschlüssig ließ Raen es in seiner Hand hin und her rollen. Er hatte keine Lust, es zu essen, er wollte lieber nüchtern bleiben. Sehr oft hatte er Zhangha noch nicht gegessen, fünf- oder sechsmal vielleicht. Und jedes Mal hatte er sich dabei sehr komisch gefühlt. Kensa hatte ihm erklärt, was es mit dem Zhangha auf sich hatte, aber ganz hatte Raen es noch nicht begriffen, nur so viel, dass die Zeit dabei eine Rolle spielte. Sein Lehrmeister hatte den Zustand des Zhangha-Rausches so beschrieben, als befände man sich in einem Strom aus Zeit, in dem man lernen musste, zu schwimmen und Luft zu holen wie in einem richtigen Fluss, um nicht die Orientierung zu verlieren. Das mit der Orientierung war der schwierigste Teil, fand Raen. Aber das war noch nicht alles. Verband der Krieger den Zhangha-Rausch mit dem Schwertkampf, erreichte er die höchste Vollendung in der Kunst sein Schwert zu führen, dann befänden sich Körper, Geist und Zeit in einer Einheit. Raen hatte Kensa damals zweifelnd angesehen. Doch dieser hatte nur bedeutungsvoll genickt. Mittlerweile wusste Raen, dass das Zhangha ein „In-der-Zeit-Voraussein“ bewirkte. Wieso und weshalb blieb ihm aber ein Rätsel.
Am heutigen Tage war der Zweck des Zhangha-Essens lediglich ein Dank an Hrauna, dass sie das geheimnisvolle Kraut erschaffen hatte.
Raen nahm das Kügelchen zwischen zwei Finger.
‚Na dann, runter damit’, dachte er und begann darauf herum zu kauen.
Zuerst spürte er nichts, bis auf ein taubes Gefühl auf der Zunge. Doch dann wurde sein Geist mit jedem Atemzug leichter. Seine Gedanken wurden diffus und lösten sich einfach in Wohlgefallen auf. Der Übergang war fließend. Er setze sich etwas bequemer hin und schloss die Augen. Um ihn herum taten all die jungen und alten Krieger das Gleiche.
Die Strömung der Zeit erfasste ihn und spülte ihn mit fort. Alles Negative und Belastende verflüchtigte sich, und Raen gab sich entspannt der wundersamen Wirkung des Zhanghas hin. Sie tat ihm gut, rückte die Dinge wieder ins rechte Licht. Das Universum war in Balance.

Er erwachte ganze drei Usui-Stunden später und nahm den Altarraum nur verschwommen wahr, grell blendete ihn die polierte Statue Hyauns und die gelben Gewänder der Priester. Auch die Helme der Krieger spiegelten unerträglich hell die Flammen der Öllampen wieder. Stimmen sprachen verhalten miteinander. Raen rieb sich die Augen. Er streckte seine Arme und Beine aus, die ganz steif waren, und sah sich um. Neben ihm war Kaera noch ganz weggetreten. Er selbst konnte sich an nichts erinnern. Die Priester gingen jetzt herum und verteilten Wasser. Raen stellte fest, dass auch er einen fürchterlichen Durst hatte. Kaum konnte er es erwarten, einen Schluck zu bekommen.
Im Anschluss an das Zhangha-Ritual gingen alle langsam in das Untere Heiligtum, um dort den Segen Hraunas vom Oberpriester zu erhalten.
Draußen wurden die Krieger bereits von ihren Familienangehörigen erwartet. Das Wetter war leicht bedeckt, aber warm, und der Duft des Essens, das im Hintergrund bereits aufgetragen wurde, zog über den ganzen Hof. Raen lief sofort das Wasser im Mund zusammen. Er sah sich um und brauchte einige Zeit, um Hereke zu finden. Bei seinem Freund waren Suneka und Kosam. Raens Herz machte einen Satz, sie hatte er während der Zeremonie völlig vergessen gehabt. Unwillkürlich suchte sein Blick Laghat, der bei seinen Eltern Platz nahm. Ein Lächeln der Erleichterung erhellte Raens Gesicht, und siegesbewusst schlängelte er sich durch die Menge auf seine Freunde und das heißbegehrte Mädchen zu.

Den ganzen Tag über befand sich Raen wie im siebten Himmel. Neben ihm saß Kosam und wich nicht von seiner Seite. Sie unterhielten sich prächtig und stellten fest, dass sie viele Gemeinsamkeiten hatten. Dabei vergaßen sie alles um sich herum. Zwischendrin verabschiedete sich Suneka sonderbar schlecht gelaunt und ging zu ihrer Schwester hinüber. Hereke blieb zunächst bei Raen und Kosam und zuckte lediglich mit den Schultern. Er wusste auch nicht, was sie hatte. Vielleicht mochte sie Kosam nicht, was er nicht verstand, denn er fand sie sehr nett. Schließlich bekam er aber dann doch Sehnsucht nach Suneka und ging ihr nach. Ihre Laune schien sich mittlerweile wohl etwas gebessert zu haben, denn sie lachte lautschallend auf, als er einen Witz machte und sich zu ihr setzte.
Die Zeit verging wie im Fluge, und bald setzte die Dämmerung ein. Auf dem Podium vor dem Tempel wurden die großen Trommeln und die anderen Instrumente aufgestellt, und als Clanchef Lako unter Beifall den Tanz als eröffnet erklärte, waren mit einem Mal alle auf den Beinen. Die Matten wurden schnell zur Seite geräumt, und die ersten tiefen Trommelschläge vibrierten in den vollen Mägen der vergnügten Menge. Man suchte sich einen Tanzpartner oder auch mehrere, und dann ging es los. Die anderen Instrumente gesellten sich nach und nach zu den immer schneller werdenden Trommelschlägen, und bald tanzte jeder in wilder Ekstase. Die Haare flogen und auch so manches Kleidungsstück.
Hereke hatte sich Suneka geschnappt und Raen tanzte mit Kosam. Doch die Mädchen hielten nicht lange durch, und so machten alle am Rand eine kleine Pause. Kosam kicherte immer wieder heiter, da sie schon das ein oder andere Schälchen Bier getrunken hatte. Auch Hereke und Suneka waren beschwipst und Raen der einzig Nüchterne, denn als Krieger war ihm Alkohol untersagt. Aber das machte ihm nichts aus, er hatte Bier sowieso noch nie gemocht. Das, was er mochte und so sehr begehrte, dass es ihm fast den Verstand sprengte, saß hier und jetzt neben ihm. Und auch wenn er sich nicht wie Hereke Mut angetrunken hatte, hatte ihn die lockere Atmosphäre doch selbstbewusster werden lassen. Er war sich nun sicher, dass Kosam ihn wollte. Von der Seite sah er sie an. Sie wiegte sich träge im Takt und lachte immer wieder über die grotesken Verrenkungen der tanzenden Leute. Ihre Augen hatten dabei einen besonders bezaubernden Glanz; diese tiefschwarzen, unergründlichen Augen ...
Plötzlich sahen sie ihn an. Ernst. Raen wurde heiß.
„Komm mit!“, sagte er unvermittelt und nahm sie beim Arm. Sie folgte ihm wortlos. Zuerst ging er auf den Wohnturm zu, aber auf der Treppe fiel ihm siedend heiß ein, dass er vergessen hatte, Hereke danach zu fragen, wo sich im Chorten eigentlich die „Taubennester“ befanden. Das waren die Liebesverstecke, die an einem Abend wie heute besonders begehrt waren. Raen ärgerte sich. Jetzt wusste er nicht, wohin er mit Kosam gehen sollte. Mit seiner Souveränität war es mit einem Mal dahin.
„Wo willst du hin?“, fragte Kosam.
In Raens Kopf arbeitete es fieberhaft. Wo waren sie ungestört? Auf der Mauer oder den Türmen? Nein, dort war später mit Sicherheit zu viel los. In den Kellern? Auch nicht, dort war es zu kalt und zu ungemütlich. In der Halle auf dem Übungsgelände oder in einer der Scheunen war garantiert keine Seele, aber das war alles zu weit weg. Raen ging alle Möglichkeiten durch, während er unschlüssig auf der Treppe zum Wohnturm verharrte.
Kosam erkannte schließlich das Problem. „Gehen wir doch auf den Dachboden vom Wohnturm. Dort ist bei uns jedenfalls ein Taubennest“, schlug sie unbekümmert vor.
Raen war froh, dass es dunkel war, so konnte Kosam nicht sehen, wie peinlich ihm die ganze Sache war.
Gespielt zielstrebig ging er voran und die vom Mondlicht schwach erleuchteten Treppen hinauf. Bei einem der Fenster im obersten Stockwerk unterhalb des Dachbodens blieben sie stehen und sahen auf den Hof hinunter. Zwischen den vielen kleinen Lichtern wogte die tanzende Menge. Die Musik dröhnte bis zu ihnen hinauf. Sonst war nichts zu hören. Sie waren allein hier oben. Raen blickte gerade den Mond an, um seinen Puls etwas zu beruhigen, als er Kosams Hand auf seinem Rücken spürte. Sie strich ihm um die Hüfte und drückte sich an ihn. Sofort wurde er wieder nervös. Was sollte er nun tun? Er hatte doch gar keine Ahnung, wie man so etwas machte. Warum hatte er vorher bloß nicht mehr mit Hereke darüber gesprochen? Dann hätte er sich jetzt deutlich sicherer gefühlt. Kosam schien sich indessen nicht von seiner Schüchternheit beeinflussen zu lassen. Sie umfasste ihn sanft und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Er spürte den sanften Druck ihres zierlichen Körpers. Sein Atem ging schneller, und er dachte, dass Kosam bestimmt sein hämmerndes Herz fühlen konnte. Als er es nicht mehr aushielt, drehte er sich zu ihr und sah ihr ins Gesicht. Im Mondlicht wies es nicht die kleinste Unebenheit auf, und ihre Augen ... er verlor sich ganz in dem geheimnisvollen, schwarzen Glanz. Raen hob die Hand und strich ihr sachte über das Haar, wagte sich weiter vor und streichelte ihre Wange. Sie schloss die Augen und schmiegte sich in seine Handfläche. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen, beugte sich zu ihr herunter – denn ihr Scheitel reichte ihm gerade mal bis zum Kinn – und küsste sie leicht auf die Lippen. Er spürte, dass er willkommen war, denn sie erwiderte den Kuss. Eine Welle der Erregung durchströmte ihn. Sie umarmten sich heftig, und Kosam gab ein leises Stöhnen von sich. Eine ganze Zeit lang ließen sie sich nicht wieder los und küssten sich immer wieder. Es war wunderbar ihren Körper so eng an dem seinen zu spüren. Doch dann löste sich Kosam von ihm und sah ihm tief in die Augen. Raen wusste nicht so genau, was dieser Blick zu bedeuten hatte, aber der Druck in seiner Hose verstärkte sich.
Sie nahm ihn direkt bei der Hand – ein eindeutiges Zeichen dafür war, dass sie jetzt ein Liebespaar waren – und zog ihn zu der Treppe, die hinauf auf den Dachboden führte. Raen zögerte. Was würde dort oben geschehen? Er hatte Angst davor, sich zu blamieren, wenn sie bemerkte, dass er gar keine Ahnung hatte. Und außerdem war er sich gar nicht sicher, ob er es überhaupt schon wollte.
Trotzdem gab er nach und folgte Kosam.
Die Tür zum Dachboden war eine schwere Falltür, und Raen musste ihr helfen, sie zu öffnen. Oben empfing sie die Kühle der Nacht. Raen stellte fest, dass er noch nie auf dem Dachboden gewesen war.
Bis auf einen matten Lichtschein über ihren Köpfen war es stockfinster in dem Raum. Sie tasteten sich voran, und als Raen sich das Schienbein anschlug und beinahe gefallen wäre, beschloss er, eine der Öllampen zu holen, die im Treppenhaus hingen.
Nach einer kurzen Weile war er wieder zurück, zusammen mit einem kleinen, flackernden Flämmchen. Es erleuchtete sofort den Raum, der nach oben spitz zulief. Unter der Dachschräge befanden sich rundherum kleine Luken, die nur mit hölzernen Läden verschlossen waren. Raen sah sofort, woran er sich gestoßen hatte. Es waren mehrere Truhen und sie standen neben einer Leiterstiege, die nach oben zu einer kleinen Plattform führte.
‚Was wohl in diesen Truhen ist?‘, fragte er sich und gab seiner Neugier nach. Er öffnete eine und sah darin verschiedenfarbige Stoffbahnen liegen. In einer anderen befanden sich dünne Seile. Es dauerte etwas, bis es ihm dämmerte. Natürlich, das waren die Flaggen, die auf den Spitzen des Chorten wehten. Von irgendwo mussten sie ja gehisst werden. Mit einem Mal vergaß Raen, warum sie überhaupt hier hoch gekommen waren, und schwang sich kurzerhand die Leiter hinauf auf die Plattform. Sie hatte Aussichtsfenster in alle Richtungen und hier oben saßen auf Querbalken tatsächlich ein paar Tauben. Aus ihrem Schlaf aufgeschreckt, blickten sie zu ihm herunter und ruckten nervös mit den Hälsen. Raen steckte seinen Kopf aus einem der Fenster und blickte auf die vom hellen Vollmond beleuchtete Landschaft unter ihm. Eine Weile später zog er den Kopf wieder rein und sah sich weiter um. Zu seiner Linken führte noch eine etwas schmalere Leiter mehrere Mannslängen steil nach oben zu einer Luke in der Spitze des Daches. Dort ging es bestimmt zum Fahnenmast. Ohne darüber nachzudenken, dass es gefährlich sein könnte, im Dunkeln auf dem Dach herum zu klettern, stieg er auch diese Leiter hinauf. Die Tauben verloren die Nerven und flatterten davon. Das machte einigen Lärm, und Raen hörte, wie Kosam unten besorgt seinen Namen rief.
„Es ist alles in Ordnung, ich komme gleich wieder runter!“, rief er zurück und öffnete die Luke. Ein frischer Wind wehte ihm um die Nase und ließ ihn frösteln, aber die Aussicht war überwältigend. Es war der höchste Punkt des Chorten, und Raen fühlte sich, als ob er auf dem Dach der Welt stünde. Großartig! Warum war er nicht schon früher einmal hier oben gewesen? Er musste unbedingt noch mal bei Tageslicht hierher kommen. Er drehte sich zur Fahne, die dem Wind ihr Wappen zeigte. Sie war ganz schön groß. Man hätte sich bestimmt mehrere Male in ihr einwickeln können.
„Raen! Was ist? Kommst du?“, hörte er Kosam ungeduldig rufen, und er erinnerte sich schlagartig daran, warum sie eigentlich hier waren. ‚Du einfältiger Trottel! Jetzt hast du nicht einmal Herekes einzigen Rat befolgt, den er dir erteilt hat. Du hast sie viel zu lange allein gelassen! Hoffentlich ist sie nicht böse!’
Schnell schloss er die Luke und hastete die Leitern hinunter. Erneut flogen die Tauben auf und erschreckten ihn. Sein Fuß glitt von der Sprosse.
‚Mist, Mist, Mist!’, fluchte er innerlich, während seine Hand sich an die Leiter klammerte, und er seine Balance wieder gewann.
„Raen?“
„Ja, ich komme!“ Die Stufen der zweiten Stiege nahm er etwas vorsichtiger. Mit einem Satz landete er schließlich wieder neben Kosam.
„So!“, sagte er und rieb sich den Staub von den Händen. „Da bin ich wieder!“
Sie rührte sich nicht.
„Eine schöne Aussicht hat man von dort oben“, erklärte Raen, um die Situation aufzulockern. Aber das genügte anscheinend nicht, denn sie schwieg immer noch.
„Es tut mir leid ... ähm …“ Was sollte er sagen? Dass seine Neugier stärker gewesen war, als ihre Anziehungskraft? Damit hätte er sie arg verletzt, und außerdem stimmte das so auch nicht, nur hatte er sich wieder einmal zu leicht ablenken lassen. Vielleicht, weil er Angst davor hatte, weitere Schritte wagen zu müssen. Die bloße Aufregung des Küssens und Umarmens hatte ihm schon weit mehr an Glückseligkeit beschert, als er sich noch am Morgen dieses Tages hätte träumen lassen.
„Ich ... ich ...“, stammelte er unbeholfen.
Kosam drehte sich weg.
„Halt, warte bitte!“ Er griff nach ihrem Arm.
Sie blickte ihn an.
„Ich fand das eben sehr toll!“ Idiot!
„Was fandest du toll?“, fragte sie schroff. „Das gefährliche Herumgeturne auf der Leiter etwa?“
„Nein. Ich meine das ... na, das davor.“ Trottel, sag es doch einfach!
Ihr Blick blieb unverändert.
„Na, den Kuss!“, brachte er endlich heraus.
Sie antwortete nicht, und Raen nahm all seinen Mut zusammen und berührte sie an der Schulter. Seine Hand fuhr hinauf zu ihrem Hals und zu ihrem Kinn. Er spürte, wie sie etwas nachgab. Er gab ihr zaghaft einen Kuss auf die Wange, und ihre Spannung löste sich schließlich in einem Lächeln. Sie warf den Kopf nach hinten und ließ sich in seine Arme fallen. Raen hielt sie fest und bedeckte ihr Gesicht und ihren Hals mit Küssen. Er sog ihren aufregend verlockenden Duft ein, und seine Hände waren überall auf ihr. Allein die Berührung ihrer Brust durch die Kleidung hindurch war ein derart berauschendes Erlebnis, dass ihm sein Kopf fast zu klein für all die kleinen Gefühlsexplosionen schien. Sie ließ sich auf die Knie sinken und zog ihn mit sich.
„Darf ich?“, fragte Kosam und zeigte auf seinem Helm, den er immer noch trug. Er nickte, nahm ihn aber selbst ab. Verlegen fuhr er sich über die kurzen Haare.
„Stört dich das nicht?“, wollte er vorsichtig wissen.
„Was denn?“
„Die kurzen Haare.“ Er schämte sich ein wenig für seinen geschorenen Schädel. Erinnerte er sich doch noch gut an seine ehemalige Haarpracht. „Macht es dir nichts aus?“
„Nein, nichts. Es fühlt sich nur witzig an!“ Sie strich ihm über den Kopf. „Tut das eigentlich weh?“
„Was, die kurzen Haare?“ Raen runzelte verwundert die Stirn.
Kosam lachte. „Nein, das Aun? Entschuldige, aber ich kann mir meine Neugier mal wieder nicht verkneifen.“
„Ach, das Aun? Nein, das tut nicht weh. Am Anfang war es ungewohnt, aber jetzt spüre ich es gar nicht mehr. Nur wenn man es berührt, dann ist es wie ein leichtes Kribbeln.“
„Oh!“ Kosam zog erschrocken ihre Hand zurück, sie hatte offenbar gar nicht daran gedacht, dass es sich nicht gehörte, das Aun eines Kriegers einfach so zu berühren.
„Ist schon gut.“ Raen lächelte.
Aber Kosam hatte plötzlich Scheu und fuhr dafür mit ihren Fingerspitzen die Linie seiner Brauen nach. Raen schloss die Augen und genoss ihre Berührungen. Er spürte ihre Lippen wieder auf den seinen, und in ihm erwachte erneut heiß und drängend das Verlangen.
Kosams Hand fand einen Weg in den Ausschnitt seines Daris und glitt über seine Brust und seinen Rücken. Sie löste ihre Lippen von seinem Mund und küsste seine nackte Haut. Das ließ ihn leise Aufstöhnen. Er durchwühlte ihre Haare. Dann öffnete sie ihre Jacke, nahm eine seiner Hände und führte sie darunter. Seine Finger fühlten die warme, weiche Haut und die Knospen ihrer kleinen Brüste, und auch wie ihr Herz darunter aufgeregt schlug. Heftig erregt untersuchte weiter ihren verführerischen Körper. Sie ließ sich zurücksinken und ihn gewähren. Ihre Hände suchten derweil nach dem Knoten seines Gürtels auf seinem Rücken. Nachdem sie ihn gelöst hatte, streifte sie ihm den Dari und das Untergewand von den Schultern, und er half sich daraufhin selbst aus den Ärmeln. Anschließend betrachtete sie seinen gut gebauten Oberkörper mit den breiten Schultern. Raen war froh, dass er längst nicht mehr so schmächtig war wie noch vor zwei Jahren. Seine Statur schien ihr zu gefallen, denn sie strich mit den Händen bewundernd über seine Schultern, seine Brust und über seinen Bauch. Er saß rittlings über ihr und ließ sich ihre Liebkosungen gefallen. Dann spürte er ihre Hände plötzlich an seiner Hose. Sie zogen an der Schleife, glitten hinein und berührten ungeniert seine harte Erregung. Unwillkürlich verkrampfte er sich. Diese Art von intimer Berührung war ihm nicht geheuer. Das ging ihm alles viel zu schnell!
„Was ist?“, fragte Kosam leise, sie hatte seine Verspannung offenbar bemerkt.
„Ich glaube … ich kann das noch nicht“, antwortete er kleinlaut und sah verlegen zur Seite.
„Aber es ist doch schön, oder nicht?“
„Ja, aber ... ich brauche noch etwas Zeit.“
Kosam sah ihn fragend an.
Die Situation war ihm sehr peinlich und er rückte nur ungern damit heraus. „Es ... du musst wissen, es ist das erste Mal für mich. Du bist meine erste Freundin“, gab er schließlich schweren Herzens zu.
„Wirklich?“ Erstaunt weiteten sich ihre Augen. Und dann lächelte sie keck, was ihn nur noch mehr verunsicherte. Er glitt von ihr herunter, schloss seine Hose wieder und zog sich wortlos den Dari über.
Kosam richtete sich auf. „Willst du mir etwa ernsthaft erzählen, dass ein so gutaussehender Junge wie du, noch keine Frau gehabt hat?“ Amüsiert sah sie ihn an.
Raen senkte verlegen den Blick. Er wäre am liebsten im Erdboden versunken. Aber hatte sie da eben wirklich „gutaussehend“ gemeint? Das hatte ihm zuvor noch nie jemand gesagt. Er selbst fand sich lediglich mittelmäßig in Aussehen und Statur, nichts Besonderes. Sein Freund Hereke hingegen, der sah wirklich gut aus, aber er selbst ... nein.
„Du machst dich doch nur über mich lustig“, entgegnete er verletzt.
„Nein! Ganz bestimmt nicht. Ich meine immer, was ich sage.“
Raen sah in ihren Augen, dass sie es tatsächlich ernst meinte. Er schüttelte mit dem Kopf. Danach mussten beide grinsen. Sie umfasste seine Hand.
„Ich glaube, ich wollte das eigentlich auch nicht gleich sofort, aber du bist so anziehend, so ...“, sie suchte nach einem scheinbar besseren Wort, „so süß! Ich habe mich sofort in dich verguckt!“
„Süß!?“, wiederholte er mit zusammengezogenen Augenbrauen. Auch wenn er vom ersten Augenblick genau wie sie gefühlt hatte, war „süß“ nicht gerade die Bezeichnung, die ein Heranwachsender gerne hören wollte, wenn man sich nichts sehnlicher herbeiwünschte, als endlich ein Mann und vor allem auch ein Krieger zu sein. Aber so waren eben die Mädchen, dachte Raen. Sie hatten einfach andere Worte, um ihre Zuneigung auszudrücken.
„Weißt du, dass du wunderschön bist!“, gab er das Kompliment auf eine, wie er fand, angemessen männliche Weise zurück.
„Danke“, flüsterte sie, und ihre Augen leuchteten dabei auf.

Natürlich freute Kosam sich darüber, dass Raen sie schön fand. Obwohl es nicht das erste Mal war, dass sie das hörte, aber aus dem Munde dieses jungen Kriegers schien es etwas Besonderes zu sein. Kosam war zwar schon mit zwei Verehrern aus ihrem Clan zusammen gewesen, aber keiner von denen war so höflich und zurückhaltend gewesen wie Raen. Außerdem war seine Schüchternheit geradewegs entzückend. Sie fühlte, dass er anders war als die Menschen, die sie kannte und bisher kennen gelernt hatte. Etwas an seiner Ausstrahlung war anders, etwas in der Art, wie er redete und zu denken schien. Etwas, das ihn ihr ähnlich machte! Wohlige Wärme breitete sich in ihrem Bauch aus.
Sacht strich sie ihm über die Wange und zog die scharf geschnittene Kinnlinie, die seine hohen Wangenknochen und die sehr gerade Nase betonte, mit ihren Fingern nach. Sein Gesicht war wirklich hübsch. Nur sein Mund hatte einen etwas zu ernsten Zug, was ihn älter erschein ließ als er tatsächlich war, aber seine Augen, die auch in dem spärlichen Licht der Öllampe erstaunlich grün schimmerten, verrieten seine Jugend und blicken sanft. Auf eine besondere Weise zeigten sie, welch wacher Verstand sich hinter ihnen verbarg. Seine schön geschwungenen Augenbrauen, die sie besonders reizvoll fand, unterstützten diesen Eindruck noch. Es erstaunte sie, dass er selbst zuvor noch nichts von der Ebenmäßigkeit seiner Züge wahrgenommen hatte. Hatte er sich denn noch nie selbst betrachtet, und warum hatten die Mädchen seines Clans ihn nicht schon längst in Beschlag genommen? Insgeheim ahnte Kosam instinktiv, dass sie die richtige Antwort bereits kannte. Es war seine Andersartigkeit, weshalb alle Mädchen aus dem Shari Clan bisher einen Bogen um ihn gemacht hatten. Was Raen nicht wissen konnte, war, dass Kosam zu Hause auch als recht eigenwillig galt und deshalb auch des Öfteren schon bei Höhergraduierten angeeckt war. Sie freute sich schon sehr darauf, in den nächsten Tagen noch mehr von ihm kennenlernen zu können, und schmiegte sich an ihn, während sie das Zucken der Schatten im flackernden Lampenlicht beobachtete. Endlich hatte sie das Gefühl, jemandem begegnet zu sein, der ihr geistig nahe stand. Sie seufzte glücklich.
„Ich hole uns Matten und Decken hier hoch, dann können wir hier oben schlafen“, sagte Raen nach einer Weile und stand auf. Er wirkte sehr müde.
„Ich helfe dir!“ Sie wollte sich erheben.
„Nein, bleib ruhig hier, ich mache das schon. Ich bin gleich wieder da.“
„Ich soll allein hier oben bleiben?“, fragte sie halb im Scherz.
„Die Tauben werden dir schon nichts tun, und sonst sehe ich hier weit und breit keine weiteren Lebewesen. Ich hab ja vorhin genau nachgesehen“, sagte er und zeigte mit zwinkerndem Auge auf die Leiter.
„Gut, aber beeil dich!“
Tatsächlich kam er schon wenig später völlig aus der Puste mit den Matten und den Decken wieder. Er musste die Treppen hinaufgeflogen sein! Kosam nahm ihm die Matten ab und rollte sie neben den Truhen aus, danach breitete sie die Decken aus und kroch darunter. Raen zog sich die Stiefel aus, löschte das Licht und schlüpfte zu ihr unter die Decke. Fest aneinander gekuschelt schliefen sie schließlich ein.

Am nächsten Morgen erwachten sie vom Gurren der Tauben. Das erste Tageslicht fiel durch die Fenster über der Plattform. Glücklich strahlten Raen und Kosam sich an, es war ein schönes Gefühl, zusammen aufzuwachen. Eine Weile lagen sie noch eng umschlungen da und lauschten auf die Geräusche der Vögel. Plötzlich fühlte Raen etwas Feuchtes auf seine Wange klatschen. Er schreckte auf und wischte mit der Hand darüber. Angeekelt stellte er fest, dass es sich um Taubenkot handelte. Er sah hoch. Eine von den Störenfrieden saß direkt über ihm und sah unschuldig zu ihm herab.
„Du gefiederter Morgenschreck!“ Er hob drohend die Faust, aber die Taube äugte gelassen zurück. Kosam kicherte unter der Decke.
„Na, dann gehe ich mich wohl mal waschen!“, knurrte Raen und stand auf. Die Taube flog auf und gesellte sich wieder zu ihren Genossinnen auf den Balken über der Plattform. Raen streckte sich ausgiebig und gähnte lauthals. Obwohl sie nicht allzu lange geschlafen haben durften, fühlte er sich frisch und unternehmungslustig. Kosam schien es eher nicht so zu gehen, denn sie äugte müde über den Rand der Decke. Ihre Haare waren total zerzaust.
„Willst du wirklich schon aufstehen?“, murmelte sie und gähnte ebenfalls.
„Ja, schon, oder soll ich mich noch etwas mit dieser Wange an dich kuscheln?“
„Iih, nein bloß nicht!“ Kosam machte eine übertrieben abwehrende Geste, um dann schließlich aber doch einzuwenden: „Na gut, dann komme ich eben mit. Im Waschhaus ist es jetzt bestimmt auch noch nicht so voll.“
Gemeinsam stiegen sie den Wohnturm hinab. Alles war noch ruhig. Vor dem Zimmer seines Vaters blieb Raen kurz stehen und lauschte, aber es war nichts zu hören.
„Aber, aber, so etwas gehört sich doch nicht!“, tadelte ihn Kosam im Flüsterton. Raen zuckte lässig mit den Schultern, als sei nichts dabei.
„Wessen Zimmer ist das denn?“, erkundigte sie sich auf dem Weg nach unten.
„Das von meinem Vater, er hat eine neue Freundin!“ Er hatte gestern gesehen wie sein Vater Hanenka umarmt und geküsst hatte. Beide hatten glücklich gewirkt.
„Was? Dann schäm dich gleich zweimal! Das ist ja unerhört!“, entfuhr es Kosam laut, aber im nächsten Moment hielt sie sich fest die Hand vor den Mund, um ein weiteres Kichern zu unterdrücken. „Du bist ja noch neugieriger als ich, Tor Ban Raen! Weißt du was, du gefällst mir immer mehr!“, flüsterte sie in verschwörerischem Tonfall.
Sie gingen die Treppe hinunter auf den Hof, wo noch alle zusammengerollt auf ihren Matten schliefen.
„Wir treffen uns hier gleich wieder, ja?“, sagte Raen und deutete auf den Tempel.
„Natürlich! Bis gleich“, gab Kosam mit einem Lächeln zurück. Danach eilte jeder in sein Reich zur Morgentoilette.
Nachdem sie sich auf dem Hof wiedergetroffen hatten, und sich der gesamte Clan immer noch nicht rührte, beschlossen die beiden, schon einmal in der Küche nachzuschauen, ob dort bereits jemand war. Und tatsächlich trafen sie auf einige der Männer und Frauen des Hauses, die bereits das Morgenmahl vorbereiteten –
allerdings in sehr gemächlichem Tempo, denn auch sie hatten am Abend zuvor ausgiebig gefeiert.
Raen und Kosam setzten sich dicht an den Kamin, damit sie ihnen nicht im Wege waren, und wärmten sich auf. Einer der Parta Al Tena reichte ihnen je eine Schale mit gesüßtem Tee, die sie dankend annahmen, und während sie tranken, unterhielten sie sich gedämpft.
„He, da ist ja Suneka!“, rief Raen unvermittelt und winkte.
Suneka, die gerade aus der Vorratskammer kam, drehte sich zu ihm um, als sie ihren Namen hörte. Doch sie sah so aus, als hätte sie sich am liebsten gleich wieder weggedreht, als ihr Blick auf Kosam fiel. Raen runzelte die Stirn und fragte sich, was seine Ziehschwester nur hatte. Mit verschlossener Miene kam Suneka zu ihnen herüber, in einer Hand ein Küchentuch. Raen bemerkte, dass sie es vermied, Kosam anzusehen.
„Guten Morgen!“, brachte Suneka etwas angespannt heraus.
„Guten Morgen! Wo hast du denn Hereke gelassen?“, erkundigte sich Raen. Vielleicht war der Pferdebursche ja der Grund für ihre Verstimmung.
„Der pennt noch irgendwo“, antwortete sie neutral.
„Wie, irgendwo? Du weißt nicht, wo er steckt?“ Dann war also nichts zwischen den beiden passiert in der letzten Nacht, dachte er enttäuscht.
„Wieso fragst du mich eigentlich immer nach Hereke? Ist er nicht dein bester Freund!“, entgegnete Suneka bissig und wrang das Küchentuch in ihren Händen als sei es jemandes Hals.
Raen schwieg verdutzt.
„Setz dich doch zu uns, Suneka. Und erzähl uns, warum du so schlechte Laune hast“, wagte es Kosam, sie anzusprechen.
Suneka blitzte sie an. „Darf man denn keine schlechte Laune haben?“
„Doch ...“ Kosam sprach nicht weiter.
Raen schämte sich für die Unhöflichkeit seiner Ziehschwester und wollte sie zur Räson rufen. „Suneka, was …“
„Ich muss jetzt weiterarbeiten! Ihr entschuldigt mich …“ Raschen Schrittes entfernte sie sich und ließ zwei fragende Gesichter zurück.

‚Was denkt sich dieses Weib?‘ Suneka feuerte aufgebracht das Küchentuch in eine Ecke. ‚Sie kommt hierher und macht ausgerechnet Raen schöne Augen! Hat sie nicht genug Männer in ihrem eigenen Clan?‘ Um sich zu beruhigen, stürzte sie sich wieder in die Arbeit. Obwohl sie es nicht wollte, weil es sie tief verletzte, beobachtete sie Raen und Kosam weiterhin heimlich aus den Augenwinkeln. Betrübt stellte sie fest, dass sie auch offen hätte hinstarren können, so wenig hatten die beiden Turteltäubchen noch Augen für etwas anderes außer sich selbst. Sie hatten alle Welt um sich herum vergessen und schäkerten miteinander ohne jede Scham. Mit jedem fröhlichen Lachen, jedem verliebten Blick und mit jeder zärtlichen Berührung des Liebespaares verkrampfte sich Sunekas Inneres immer mehr.
Es war keine Frage, was Raen an Kosam fand. Sie war wirklich sehr hübsch und hatte eine sehr weibliche Ausstrahlung. Im Vergleich zu dem anmutig zierlichen Mädchen aus Rotenas fand Suneka sich dick und plump, und sie hatte auch längst nicht solch schönes Haar.
‚Gegen sie habe ich keine Chance’, dachte sie unglücklich, brauste gleich darauf aber wieder innerlich auf. ‚Das ist ungerecht! Ich kenne Raen schon so lange, und dann kommt dieses Mädchen daher, sieht ihn das erste Mal und ...’ , sie konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, so sehr schmerzte es sie, sich vorzustellen, was die beiden letzte Nacht getrieben hatten, nachdem sie verschwunden waren. Sunekas Unterlippe begann zu zittern, und ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle, während sie in dem großen Topf mit der Hafergrütze rührte. Warum hatte Raen ihr Werben um ihn nie wahrgenommen? Warum hatte er sie als Frau nicht wahrgenommen? Suneka konnte ihre Verzweiflung kaum zurückhalten. Was hatte sie bloß falsch gemacht? Warum war sie für ihn nie mehr gewesen, als bloß seine Ziehschwester?
Die ersten Tränen rannen ihr über die Wangen.
‚Warum quäle ich mich so?’ Sie vergaß das Rühren. ‚Warum sehe ich nicht einfach weg?’ Sie konnte es nicht. Da, jetzt küssten sie sich auch noch! Ein scharfer Geruch stieg ihr in die Nase.
„He, Suneka, die Grütze brennt an!“
Suneka schreckte aus ihren Gedanken. Neben ihr stand eine Frau des Hauses.
„Was hast du denn?“, fragte diese besorgt, als sie ihre Tränen bemerkte.
Aber Suneka schlug die Hände vor ihr Gesicht und floh so schnell sie nur konnte aus diesem zur Wirklichkeit gewordenen Alptraum. Schluchzend rannte sie den Gang entlang nach draußen, an den erwachenden Menschen auf dem Hof vorbei und die nächstliegende Treppe hinauf auf die Mauer. An irgendeiner Stelle sackte sie einfach in sich zusammen. Mit dem Rücken an der Wand saß sie da, sich selbst mit den Armen umklammernd und in Gedanken bei dem Menschen, den sie schon so lange so sehr liebte!

Sunekas Herzschmerz war in gleicher Weise so unkurierbar wie Herekes miserable Laune. Die ganze Zeit über saß der Pferdebursche im Abseits und grübelte tief in sich hinein, selbst bei dem großen Wettreiten wollte er niemanden in seiner Nähe haben. Aus der Ferne beobachtete er Raen und Kosam, und ein gewisser Neid auf seinen Freund blieb nicht aus. Hereke verstand die Welt nicht mehr. Im vergangenen halben Jahr hatte er das Gefühl gehabt, dass Suneka langsam geneigter wurde – auf dem letzten Erntefest hatten sie sich sogar geküsst –, doch seit gestern Abend war sie plötzlich kalt wie Eis.
Hatte ihr Kuss etwa nichts zu bedeuten gehabt?
Hereke hieb mit der Faust gegen einen Weidepfosten, er war es leid. Er hatte lange genug gewartet. Wahrscheinlich länger als irgendjemand es je für eine Frau getan hatte. Was war bloß mit diesem Mädchen? Selbst die übellaunigsten Gäule waren leichter zu händeln als sie. Vielleicht sollte er sie vergessen, das wäre das Einfachste. Seine Mutter hatte ihm schon des Öfteren gesagt, dass Mädchen, die sich zu sehr zierten, nicht gut für einen Mann seien. Sie hatte Suneka nichts unterstellen wollen, aber für sie erschien es ganz so - und das sagte sie ihrem Sohn auch ganz deutlich -, als würde sie ihn durch ihre Hinhaltetaktik bloß verspotten. Für sie war Suneka nichts als ein undankbares, unreifes Mädchen, das unfähig war, die aufrichtigen Gefühle Herekes für sie wertzuschätzen. Und allmählich begann er das ganz ähnlich zu sehen.
‚Du bist ja ganz blind vor Liebe!’, hörte er Raen im Geiste zu sich sagen, und vielleicht hatte sein Freund unbewusst den Kern getroffen. Die ganze Zeit über war er Suneka nachgelaufen wie ein liebeskranker Gockel einer unwilligen Henne, und hatte dabei nichts anderes wahrgenommen, als ein ihm ablehnend entgegengestrecktes, gefiedertes Hinterteil und nichtssagendes Gegacker! Er musste wieder klar denken. Und das ging nur, wenn er Suneka aus seinem Kopf verbannen würde, außerdem konnte es nicht schaden, wenn er ihr in nächster Zeit ein wenig aus dem Weg ginge. Zum Glück war er nicht an die Abläufe im Chorten gebunden, denn das hätte ihn unausweichlich immer wieder mit ihr zusammengeführt, so wie Raen sie jeden Morgen und jeden Abend sah. Missmutig wandte Hereke sich von dem Trubel um die Reiter ab und bekam das Startzeichen für das Wettrennen kaum mit.

Raen und Kosam kosteten die Tage, die ihnen noch für ihre Zweisamkeit blieben, voll aus, und es war ihnen nicht zu verübeln, dass ihnen dabei die Gemütszustände der beiden anderen Freunde schlichtweg entgingen. Sie waren unzertrennlich bei Tag, und auch bei Nacht schliefen sie in ihrem heimlichen Versteck auf dem Dachboden eng umschlungen ein. Sie bemerkten auch nicht, wie die Leute still über sie lächelten, wenn sie die beiden Hand in Hand einhergehen sahen und dabei fanden, dass sie ein ganz entzückendes Paar waren. Doch all die schöne Zeit hatte leider auch ein Ende. Eine Woche nachdem sie sich kennengelernt hatten und so stark aneinandergewachsen waren, als wären sie schon seit Jahren zusammen, musste Kosam mit ihrer Gruppe Shari wieder verlassen. Beide waren untröstlich über die Trennung, und Raen versprach ihr, sie so schnell wie irgend möglich in Rotenas besuchen zu kommen. Zwei perlgleiche Tränen zeigten sich ihn ihren wunderschönen dunklen Augen, als sie sich ein letztes Mal umarmten. Lange winkte Raen ihr zum Abschied hinterher.

19. Kapitel



„Unser Setna ist schwer krank, sehr schwer!“, berichtete Clanchef Lako aufgewühlt der Versammlung der Krieger- und Priesterschaft im Oberen Heiligtum. Es war gerade einmal zwei Wochen nach dem Frühlingsfest gewesen, als sie in Shari die Nachricht von der Erkrankung des Prinzen erhalten hatten. Zunächst hieß es, es sei nicht schlimm nur ein Fieber. Doch dann hatten sie es selbst gespürt: Die Stimme in ihren Köpfen war schwächer und schwächer geworden. Besorgt waren daraufhin Lako und ein paar andere, darunter auch Kensa und Roman, nach Tena-lo-Ghan geschickt worden, wo der Prinz von Hy seinen Sitz hatte. Es hatte viel Aufregung und lange Besprechungen gegeben im Haupttempel der hyaunischen Regierung, denn es war den Vertretern der Clans und dem Rest des Obersten Rates des Landes nicht leicht gefallen, zu einer Einigung zu kommen. Aber das Fortbestehen des Volkes war in Gefahr, und so hatten sie schließlich schweren Herzens eine Entscheidung getroffen. Mit der erschütternden Neuigkeit im Gepäck waren die Krieger daraufhin nach Shari zurückgekehrt.
„Aber was soll nun geschehen? Die Stimme des Setna ist kaum noch zu hören! Wenn sich unsere Feinde jetzt aufmachen, dann sind wir erledigt!“, rief Reni besorgt, und ein erregtes Raunen ging durch die Menge.
„Ruhe bitte!“, meldete sich Kensa streng zu Wort.
Lako nickte ihm dankbar zu und setzte seine Rede fort: „Um genau das zu vermeiden, was Reni gerade angedeutet hat, hat der Oberste Rat zusammen mit der Kriegerschaft, den Palansetna-Priestern und den beteiligten Medizi eine Entscheidung getroffen. Der Setna hat ein Fieber, für das es keinerlei Heilmittel gibt, und mittlerweile - so muss ich leider sagen - auch keine Hoffnung mehr! Er ist schon seit Tagen ohne Bewusstsein, wie ihr bereits selbst spürt, und keiner weiß, wie lange dieser Zustand noch anhalten wird. Es können nur noch Tage sein, aber auch Monate!“ Er machte eine Pause, um sich auf das vorzubereiten, was er gleich sagen musste. Als er sich räusperte, waren alle Augen gebannt auf ihn gerichtet. „Unsere Aufgabe als Krieger ist es“, erklärte er schließlich laut, „zu jeder Zeit und mit allen Mitteln, unser Volk zu beschützen! Dafür sind wir von Hyaun erwählt worden. Das ist unsere ehrenvolle und heilige Pflicht. Leicht ist diese Aufgabe aber niemals, das spüren wir besonders dann, wenn wir dazu gezwungen sind, eine solch schwerwiegende Entscheidung zu treffen, wie es in den vergangenen Tagen der Fall gewesen war. Aber gerade jetzt liegt es dringlich in unserer Verantwortung, in das Geschehen einzugreifen, da der Setna selbst nicht mehr entscheiden kann.“ Wieder machte er eine Pause, um dann schließlich zum Kern zu kommen.
„Tatsache ist, dass dieses Fieber in dem Körper unseres gesegneten Prinzen die Gabe des Geistes blockiert! Und das bedeutet, was Reni bereits gesagt hat: Wir sind momentan gefährlich blind! Der wichtigste und auch verletzlichste Punkt unserer Verteidigung ist außer Kraft gesetzt. Wir sind führerlos! All diejenigen, die den Großen Krieg miterlebt haben, wissen, von welcher Gefahr ich spreche!“ Einige der älteren Krieger nickten stumm und mit wachsender Besorgnis. Chaos und Orientierungslosigkeit waren ihre größten Feinde.
„Zaizura hält leider ihre Absichten verborgen, sie hüllt sich in Schweigen. Nicht den kleinsten Hinweis können wir erkennen. Eine schwierige Situation, die nur einen Ausweg für uns bereithält: Es ist an der Zeit, zu handeln! Wir müssen den Geist aus dem Körper des Setna befreien, damit die Gabe sich auf einen anderen übertragen kann und wir endlich wieder sehen können! Und mit befreien meine ich, dass das Leben des Setna von uns beendet werden wird!“ Jetzt war das Ungeheuerliche heraus
Bestürztes Schweigen folgte. Keiner konnte so recht akzeptieren, was da soeben gesagt worden war.
Lako legte die Fingerspitzen aneinander. „Wir haben alle Möglichkeiten abgewogen, aber es bleibt uns nur dieser einzige Weg. Und ich brauche wohl nicht weiter zu erklären, was passiert, wenn wir es nicht tun!“
In einer der hinteren Reihen stieß Raen überrascht Luft aus. Er war fassungslos. Das konnte doch nicht sein! Hatte er richtig gehört? Sie wollten ihren eigenen Setna umbringen? So etwas konnten sie doch unmöglich tun! Es war ein Verbrechen, es war gegen das Schicksal! Zaizura würde es niemals zulassen, wenn sie sich über sie hinwegsetzten und eine eigene Entscheidung trafen. Raen bekam es, wie alle anderen Krieger um ihn herum, mit der Angst zu tun. Ein hyaunischer Krieger würde lieber sterben, als das Schicksal herausfordern! Es war ein unberechenbares Risiko, schlimmer noch als der Tod! Wie gedachten die Obersten, das zu rechtfertigen? Sie brachten sich und alle anderen in große Gefahr!
„Ich weiß, was ihr jetzt denkt!“, ergriff nun Kensa das Wort, und Lako trat einen Schritt zurück, sichtlich froh darüber, die Last der Verantwortung nicht allein tragen zu müssen. „Aber diese ungewöhnliche Maßnahme wurde schon einmal lange vor der Zeit unserer Ururgroßeltern beschlossen. So steht es in den Büchern. Aber es ist ihnen damals gelungen, die Gabe auf diese Weise weiterzuleiten. Wir gehen davon aus, dass es auch jetzt wieder funktionieren wird!“ Kensas Ton schien Raen kalt und kompromisslos. Er konnte sich vorstellen, in welch einer Zwangslage sich der Oberste Rat befand.
‚Diese Aufgabe ist niemals leicht!’, hallten Lakos Worte in Raens Kopf wieder, und dabei bekam das Wort „Aufgabe“ erst seine wahre Bedeutung. War es nicht gleichbedeutend mit Aufgeben? Das Aufgeben des Ichs, des eigenen unbedeutenden Seins für etwas viel Größeres, nämlich das Fortbestehen des Volkes. Das war der reine Kern des Kriegerdaseins und die Opferbereitschaft die größte Tugend, die ein Krieger Hys seinem Volk zum Geschenk machen konnte! Was war das Leben einiger Weniger, über die Zaizura richten würde, wenn dafür das Volk in Sicherheit war? Raen stellte fest, dass dazu unweigerlich auch sein Vater gehörte sowie Lako, Kensa und die, die noch in Tena-lo-Ghan dabei gewesen waren. Ihm wurde bang, aber er wusste, er hätte genauso entschieden. Das hatte er über dem Ban Arnor geschworen!
„Banskeid“, hörte er Kensa weiterhin sagen, „ihr alle wisst, was unser Gesetz verlangt, wenn jemand es wagen sollte, eigenhändig eine geheiligte Person zu töten! Auch wenn es in diesem Falle keine andere Lösung gibt, ist und bleibt es ein Verbrechen.“ Kensa unterbrach sich selbst und wischte sich über die Stirn.
Raens Gedanken rasten. Wer würde es tun? Wen würden sie dazu bestimmen, den Setna zu töten und anschließend der unvermeidlichen Konsequenz des sofortigen eigenen Todes aussetzen? Ihm wurde übel.
„Es gibt einen Freiwilligen!“, erlöste Lako die Anwesenden endlich von ihren schrecklichen Mutmaßungen. Er trat wieder vor. „Ein mutiger Banskeid ist bereit, die Strafe unserer Gesetze auf sich zu nehmen. Denn keine Tat kann und darf vor den Augen Hyauns ungerichtet bleiben! Aber …“, Lako hob die gefalteten Hände vor die Brust und verneigte sich tief, „unser aller Dank und Hochachtung werden diesen tapferen Mann auf seinem Weg begleiten, der ihn direkt zu den Ahnen der Winde führen wird!“
Ja, niemals gab es Ausnahmen, dachte Raen finster, nicht einmal jetzt! So verlangten es schon seit jeher die Regeln der Gemeinschaft. Kein Vergehen durfte ungestraft bleiben, ohne Ausnahme. Der Freiwillige konnte froh darüber sein, dass ihn nur der simple Tod erwartete. Was konnte hingegen Zaizura sich alles einfallen lassen, um die Beteiligten an diesem Verrat an ihr zu bestrafen? Es gab unzählige furchterregende Möglichkeiten, über die er besser nicht nachdenken wollte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.
„Gedankt sei dem Freiwilligen! Und wir, die wir in Tena-lo-Ghan dabei waren, nehmen das Risiko, von Zaizura gerichtet zu werden, auf uns! Es ist an euch, uns zu ersetzen und unsere Plätze mit Stolz einzunehmen, wenn uns der Wille Zaizuras treffen sollte! Mit Hyaun im Herzen werden wir Ihre Strafe demütig empfangen!“ In Lakos bleichem Gesicht spiegelte sich die Sorge aller Anwesenden wider.
Es war zu ihrem Schicksal geworden, dem Schicksal diese Entscheidung abzutrotzen.
„Hyaun steh uns bei!“, sagte er matt und übergab dem Oberpriester das Wort.
Gahin trat vor und sprach mit sanfter, ruhiger Stimme: „In zwei Tagen wird die Befreiung vollzogen! Bereitet euch also darauf vor. Jeder von uns weiß, dass unser Setna sein Leben für sein Volk gibt. Er lebt für unser Heil, und wenn es so für ihn bestimmt ist - sei es nun durch Zaizuras Willen oder durch eine andere höhere Kraft -, dann stirbt er auch für uns! Unser Vertrauen in Hyaun muss stark sein. Er ist bei uns und wird uns einen neuen Träger der Gabe benennen! Seid gewiss, Er wird auch weiterhin Seine schützende Hand über das Volk Hy halten! Lasst uns nun alle um Seinen gütigen Beistand bitten. Möge Er Zaizura besänftigen und die Mutigen in unseren Reihen darin bestärken, die richtige Entscheidung getroffen zu haben!“ Er legte die Hände gefaltet an seine Stirn und sprach laut das Gebet vor, das ihnen allen Zuversicht und Mut schenken sollte.

Den kommenden Tag ließ man sich durch die übliche Routine leiten, aber das tiefe Schweigen der Krieger reichte bis weit unter die ruhige Oberfläche des äußerlichen Friedens. Innerlich waren all ihre Gedanken und Gebete bei ihrem Setna, der für sie sein Leben lassen würde. Und genauso dachten sie in tiefer Dankbarkeit an den Freiwilligen, dessen Stunden ebenfalls gezählt waren. Hinzu kam jedoch auch die Angst. Wie mochte es sich anfühlen, wenn der Prinz starb? Viele der älteren Krieger konnten sich noch sehr gut daran erinnern, wie es gewesen war, als der tapfere Setna Raeson in der Gefangenschaft Askhars sein Leben geopfert hatte. Für sie war es, als ob sie sich an ihren eigenen Tod erinnerten.
Raen hatte solch eine Erfahrung zwar noch nicht gemacht, und überhaupt war es sein erster Prinzenwechsel, dennoch war er zutiefst bekümmert, vor allem über die Möglichkeit, sein Vater könne einer derjenigen sein, die der Zorn Zaizuras treffen würde. Als er am Morgen sein Pferd unten auf dem Hof von Henendra aufzäumte, sprach Hereke, der die Niedergeschlagenheit seines Freundes sofort bemerkte, ihn darauf an. Aber Raen musste das, was ihn so sehr quälte, für sich behalten, denn ein Nichtkrieger durfte um keinen Preis mit den Dingen belastet werden, welche die Krieger zu tragen hatten. Und zum ersten Mal wurde er sich sehr deutlich bewusst, wie viele Qualen das Unaussprechliche hervorrufen konnte. Und wie einsam er sich fühlte. Schweigen und ein langer Blick waren seine Antwort an den Pferdeburschen, aber Hereke verstand. Er fragte nicht weiter.
Am Abend war allen im Clan klar, dass etwas Unaussprechliches ihre Krieger belastete, und man ging sehr rücksichtsvoll mit ihnen um. Keiner wagte es mehr, sie anzusprechen und das ernste Schweigen breitete sich im ganzen Chorten aus.
In dieser Nacht träumte Raen nicht etwa wieder von seiner Liebsten, die er schmerzlich vermisste, sondern er begegnete nach langer Zeit einmal mehr wieder der geheimnisvollen Stimme, die ihn seit der Nacht vor seinem Kall nicht wieder besucht hatte.
„Hallo, mein Freund!“, grüßte sie ihn.
Raen setzte sich auf und wusste sofort, dass er wieder in jener anderen Dunkelheit erwacht war.
„Hallo!“, rief er erfreut zurück. „Wo bist du?“
„Hier, bei dir. Ich bin immer bei dir!“
Raen fühlte etwas seine Schulter streifen, und er tastete ins Dunkel. Seine Hände fanden schließlich den Körper zu der Stimme. Er saß ruhig neben ihm.
„Du warst lange nicht da!“, sagte Raen. Mit dem Erscheinen der Stimme war all seine Besorgnis verschwunden, und dieses unvergleichliche Wohlgefühl, das stets mit der rätselhaften Dunkelheit einherging, breitete sich in ihm aus.
„Wie bereits gesagt: Ich bin immer da!“, gab die Stimme belehrend zurück.
„Aber warum höre ich dich dann nicht immer?“
„Weil du noch nicht richtig hören kannst, genau, wie du noch nicht richtig sehen kannst!“
Raen schwieg, weil er nicht wusste, was das zu bedeuten hatte. Er beschloss, etwas anderes zu fragen.
„Warum fühle ich mich hier bei dir immer so sicher?“
„Auch das wirst du herausfinden, wenn du richtig hören, sehen, und fühlen kannst!“
„Hm. Kannst du mir auch mal eine Frage beantworten, ohne in Rätseln zu sprechen?“
Die Stimme lachte vergnügt. „Bald wirst du dir all die Fragen selbst beantworten können.“
„Warum bist du gekommen?“, fragte Raen unbeirrt weiter.
„Nur, um dir zu sagen, dass es jetzt noch nicht deine Zeit ist! Die nächste Zeit wird es auch nicht sein und die darauf folgenden zwei auch noch nicht“
Raen stutzte. „Nicht meine Zeit für was?“
Wieder erklang das ruhige Lachen. „Hebe deine Hand.“ Raen tat wie ihm geheißen und spürte, wie eine andere Hand die seine ergriff und zu der Stirn der Stimme führte. Erst fühlte er glatte Haut und dann etwas, das er schon einmal gespürt hatte. Auf der Stirn war ein drittes Auge.
„Du bist der Setna!“, platzte es aus Raen heraus, der nun zu verstehen meinte, was es damit auf sich hatte. Nur der Setna konnte ein drittes Auge haben. Es war die Gabe!
„Nein, ich bin nicht der Setna!“
„Aber du hast das Dritte Auge!“
„Warte“, sagte die Stimme und führte seine Hand zu Raens eigener Stirn. Zu seiner großen Verblüffung fühlte er dort eine senkrechte Naht, unter der etwas Rundes gallertartig hin und her rutschte! Seine Hand zuckte zurück. War das auch ein Auge? Wenn ja, dann aber eines, das zugewachsen war!
„Was bedeutet das?“, erkundigte sich Raen alarmiert.
„Die Zukunft!“, sprach die Stimme bedeutungsvoll und schwebte mit einem Echo davon. „Die Zukunft.“

Verwirrt erwachte Raen in einer fremden, dämmrigen Umgebung und blickte sich um. Als er erkannte, wo er war, durchdrang ihn Erleichterung. Direkt über ihm ragten die Statue Hyauns und der Altar empor, er war im Unteren Heiligtum. Raen konnte sich nicht daran erinnern, wie er hierhergekommen war, aber es war gut, nach so langer Zeit wieder einmal eine Nacht im Tempel verbracht zu haben. Mit einem Gähnen fragte er sich, wie spät es wohl war, aber er konnte niemanden sehen. Er bemerkte dünne Schwaden aus den Melam-Becken neben dem Altar aufsteigen. Das konnte nur bedeuten, es war schon nach Sonnenaufgang, denn die Priester entzündeten das erste Melam wenn die Sonne über den Horizont stieg. Hoffentlich hatte er nicht das Morgenmahl verschlafen. Geistesabwesend fuhr er sich mit der Hand über die Stirn. Sie war glatt - natürlich. Da war keine Naht. Raen musste lächeln. Was hatte die Stimme ihm letzte Nacht bloß sagen wollen? Schulterzuckend begann er die Decke zusammenzurollen, die einer der Priester in der Nacht wohl über ihn gedeckt hatte. Sie waren wirklich sehr fürsorglich, dachte er und erhob sich schwerfällig. Kurz darauf saß er im Waschraum zusammen mit den anderen Kriegern bei der Morgenwäsche und bereitete sich auf das vor, was heute geschehen sollte.
Die Atmosphäre, die zwei Usui-Stunden später im Oberen Heiligtum herrschte, war gedrückt und bis unter die Deckenbalken mit banger Erwartung angefüllt. Viele unzählige Gebete wurden in Erwartung des Ereignisses gesprochen - eine endlos monotone Litanei, die erst im Augenblick der Todesbotschaft unterbrochen wurde.

*

Im selben Moment bereiteten sich die Palansetna-Priester, die persönlichen Diener des Setna, in Tena-lo-Ghan auf ihre schwere Aufgabe vor. Sie waren im Haus des Prinzen versammelt, wo sie auch die Nacht verbracht hatten in der winzigen Hoffnung, der der Zustand des Prinzen würde sich vielleicht doch noch ändern. Natürlich hatte er sich nicht geändert. Und nun warteten sie auf denjenigen, der das vollbringen würde, wovor sie sich alle fürchteten. Er war der Freiwillige. Der einzige von allen Beteiligten, der sich guten Gewissens glücklich schätzen konnte, für das Wohl des Volkes das Richtige zu tun.
„Ich mache es!“, hatte er bei der Versammlung des Obersten Rates gesagt. Er war ein sehr erfahrener Kämpfer aus den Reihen der Krieger, und seine Entschlossenheit war bei allen bekannt.
Doch wo, blieb er jetzt? Hatte er es sich etwa anders überlegt? Die Palansetna wurden unruhig, der Morgen war schon fortgeschritten und es war nicht ratsam, noch länger zu warten. Das Unausweichliche würde nur immer weiter nach hinten verschoben werden, das Problem dadurch nicht gelöst.
Schließlich erschien der Oberpriester von Tena-lo-Ghan zusammen mit dem Freiwilligen in der Tür. Wie der Richter mit dem Delinquenten betraten sie zusammen das Zimmer, in dem der Setna auf seinem Bett lag. Alle Anwesenden verneigten sich zum Gruß, und der Freiwillige trat schweigend vor. Er musste viel Zhangha gegessen haben, denn sein Blick war ganz glasig. Keiner wusste, warum er sich dazu bereit erklärt hatte, aber es hatte sich auch niemand getraut, ihn danach zu fragen. Seine Gründe blieben sein Geheimnis, das er mit in den Tod nehmen würde.
Der Freiwillige grüßte den Prinzen, wie es sich gehörte, und der Oberpriester sprach ein letztes Gebet. Dann reichte einer der Palansetna ihm schweigsam ein kleines, dick mit Wolle gefülltes Kissen. Der Freiwillige zögerte kurz und sah in das blasse, mit einem dünnen Schweißfilm bedeckte Gesicht des Prinzen. Es war ein unerhört wertvolles Privileg, das Gesicht eines Prinzen zu betrachten, denn normalerweise war es stets verhüllt, damit keiner wusste, wer er war. Aber da lag er vor ihm, Setna Bijae, das von Hyaun mit der Gabe gesegnete Oberhaupt Hys, ein Sinnbild für Stärke und Schutz. Doch sein Körper bot einen ganz gegenteiligen Anblick, er war blass und ausgezehrt vom Fieber, die Wangen eingefallen, die Nase scharf aus dem Gesicht stechend.
‚Es ist nur ein Körper’, dachte der Freiwillige, um sich Mut zu machen. ‚Ein Körper, in dem die Gabe des Geistes gefangen ist, und der Setna selbst hätte es so gewollt. Es ist die richtige Entscheidung, meine Entscheidung!’ Er hob das Kissen und drückte es auf Nase und Mund des Besinnungslosen. Ein schwaches Beben ging durch dessen Körper, seine Gliedmaßen zuckten, ein kaum vernehmbares Stöhnen war zu hören, und dann war es auch schon vorbei. Langsam zog der Freiwillige das Kissen wieder zurück. Das Gesicht des Prinzen zeigte keinerlei Anzeichen von Qualen, es wirkte friedlich und erleichtert. Die Schultern des Kriegers sackten herunter, einige Tränen liefen ihm aus den Augenwinkeln. Er brauchte nicht zu überprüfen, ob der Prinz auch wirklich tot war, denn wie alle anderen hatte er dessen Sterben über sein Aun deutlich gespürt. Ein innerer Schrei hatte seine Gedanken durchschnitten, als der gefangene Geist begonnen hatte, sich aus den betäubten Tiefen des Bewusstseins des Setna herauszuwinden und sich den Weg bis an die Oberfläche freizukämpfen, um sie schließlich wie eine zähe Membran zu durchstoßen. Er hatte wahrgenommen, wie der Geist eine Weile hoch über dem Körper des Toten geschwebt hatte, verharrend, wie um erleichtert Luft zu holen. Und dann war er davon geeilt, wie ein unsichtbarer Strahl aus Energie, zielstrebig hin zu dem neuen Bewusstsein, das er als seinen nächsten Sitz auserkoren hatte.
Die Palansetna und der Oberpriester verneigten sich vor dem Leichnam und dem mutigen Krieger.
Dann half der Hyaunset suer dem Freiwilligen auf und führte ihn direkt in den Tempel, wo er sich vor neugierigen Blicken geschützt, auf seinen Tod vorbereiten konnte.

Am Nachmittag versammelte sich der Oberste Rat von Tena-lo-Ghan im Tempel, und dieses Mal waren die Mitglieder deutlich ruhiger als beim vorherigen Treffen. Die Präsenz des neuen Prinzen, welche die Krieger über ihr Aun spürten, gab ihnen wieder mehr Sicherheit für den letzten Schritt, den sie jetzt noch zu gehen hatten. In diesem Fall war dafür zwar keine Gerichtssitzung erforderlich, doch wollte man dem Freiwilligen nicht das Recht absprechen, ein letztes Mal gehört zu werden. Vor der Vollstreckung der Todesstrafe musste ihm die eine noch verbleibende Frage gestellt werden.
Sie saßen vor dem Altar im Unteren Heiligtum. Der Freiwillige kniete neben dem Clanoberhaupt und ihm direkt gegenüber der Oberpriester als höchsten Vertreter der Gesetze. Er war vollkommen ruhig. Längst hatte er mit Hyaun Rücksprache gehalten und seinen Frieden mit ihm gemacht.
Der Clanchef eröffnete die Versammlung mit den Worten des Dankes an den Freiwilligen, der sie still annahm. In Anbetracht der besonderen Situation vernachlässigte er bewusst die Etikette und gab den Dank nicht weiter, wie es eigentlich üblich gewesen wäre. Er war stolz darauf, dass dies allein seine Ehre war, und dass er sie mit niemandem teilen musste! Aufrecht sitzend blickte er in das Gesicht des Hyaunset suer, der noch einmal für alle laut das Urteil wiederholte. Im Anschluss nickte er knapp als Zeichen, dass er die Verurteilung anerkannte.
„Gut, dann stelle ich dir jetzt die letzte Frage. Es gehört zum Recht eines jeden Verurteilten, egal was er getan haben mag, sie zu hören!“ Der Oberpriester machte eine bedeutsame Pause. „Willst du wählen zwischen der Todesstrafe und der Verbannung?“
Der Freiwillige gab ohne zu zögern die Antwort, die alle bereits erwartet hatten: „Nein, ich nehme den Tod!“
Der Hyaunset suer nickte ruhig. „So sei es denn. Die Strafe wird heute noch vor Sonnenuntergang vollstreckt.“ Er verneigte sich vor dem Freiwilligen als Zeichen, dass er kein gewöhnlicher Verurteilter war, und erklärte die Sitzung für geschlossen. Einige hatten Mühe, ihre Tränen zu unterdrücken, so sehr hatte sie die Aufrichtigkeit des Mutigsten unter ihnen ergriffen. Aber sie wollten die Erhabenheit dieses ehrenvollen Momentes nicht durch impulsive Trauer verderben und rissen sich deshalb zusammen. Das war besonders für die Nichtkrieger schwer, denn ihnen fehlte die Härte, mit der die Banskeid dem Tod ins Auge blickten.
Der Freiwillige wurde in das Obere Heiligtum eskortiert, natürlich nur von denen, die dort auch Zutritt hatten, der Rest wartete unten.
Aufgrund der besonderen Lage war es dem Freiwilligen gestattet worden, seinen letzten Augenblick im Angesichte Hyauns erleben zu dürfen. Auf dem Podest vor der Statue war eine Matte ausgebreitet worden, daneben stand ein Tablett, auf dem eine Schale Wasser und zwei kleine Beutelchen lagen. Der Freiwillige verneigte sich tief vor Hyaun und setzte sich in dem steifen traditionellen Sitz der Krieger auf die Matte, wobei ein Knie angezogen war und der Arm der gleichen Seite darauf ruhte. Sein Schwert hatte er neben sich gelegt. Nachdem sich alle anderen Anwesenden auch gesetzt hatten, reichte ihm einer der Priester, der zum engsten Kreis seiner Freunde zählte, das erste Beutelchen. Kein Wort wurde mehr gesprochen, denn es waren keine Worte mehr nötig. Es war alles gesagt worden. Der Freiwillige nahm das Beutelchen würdevoll entgegen und öffnete es. Er ließ den Inhalt auf seine Handfläche rollen. Es waren mehrere Zhangha-Kügelchen - eine ganz gehörige Menge davon! Der Freiwillige nahm sie in den Mund, zerkaute die Kräuterkugeln und wartete mit geschlossenen Augen auf die Wirkung, die schon bald einsetzte. Er wankte leicht in seinem Sitz, was für den Priester das Zeichen war, dass er fortfahren konnte. Er öffnete den zweiten Beutel und gab den Inhalt an den Freiwilligen. Es waren ebenfalls kleine Kügelchen, aber mit der zunehmenden Wirkung des Zhanghas fiel es dem reichlich benommenen Krieger schwer, sie sich ebenfalls in den Mund zu stecken. Es gelang ihm aber schließlich, und der Priester half ihm, die Schale mit Wasser zu trinken. Sie war nötig, damit sich das Gift schneller im Körper verteilen konnte.
Anschließend blieb nichts als das Warten. Warten auf den Tod.
Es dauerte nicht lange, bis der Freiwillige zu stöhnen begann. Zuerst leise, doch schließlich rang er laut vernehmlich nach Luft. Seine Augen, die nichts mehr zu sehen schienen, rollten in den Höhlen, sein Adamsapfel ruckte heftig von unten nach oben. Einige der Anwesenden senkten ihren Blick, es waren hauptsächlich die Priester, denn die Krieger erwiesen dem Freiwilligen auch weiterhin die letzte Ehre, ihn bis zu seinem letzten Atemzug anzusehen.
Sein Körper begann zu erschlaffen, und das war der Moment, in dem er aus seinem aufrechten Sitz auf die Seite sackte. Der Priester an seiner Seite wollte zu ihm, doch der Hyaunset suer hob rasch die Hand. Noch war es nicht so weit.
Tatsächlich drangen gurgelnde Laute an ihrer aller Ohren, und weißer Schaum trat aus Nase und Mund des Freiwilligen. Ein unkontrolliertes Zucken durchfuhr ihn, wobei sich seine Hände in die Matte krallten. Ein letztes Mal bäumte er sich auf und fiel dann leblos auf die Matte zurück. Dann war es still.
Erst jetzt gab der Oberpriester dem Priester das Zeichen. Dieser begab sich zu dem reglosen Körper und fühlte nach dem Puls. Als er schließlich beide Hände an die Stirn hob und leise zu weinen begann, stimmten einige der Anwesenden in die Trauerklage mit ein. Tiefe Traurigkeit erfüllte sie. Doch stärker noch war die Furcht, die mit kalten Fingern nach ihnen griff.
Was hatten sie da nur getan!
Zaizura würde auf sie alle hernieder fahren.
Sie hatten sich in ihr Handwerk eingemischt und das Schicksal geändert!

Der Tena-lo-Ghan Clan hatte nun die schwere Aufgabe, die Bestattung des Freiwilligen und des ehemaligen Prinzen, gleichzeitig aber auch die Krönung des neuen Prinzen vorzubereiten.
Der Träger war wieder ein Krieger aus dem Norden Hys. Und nachdem von den Palansetna-Priestern sichergestellt worden war, dass sich die Gabe des Geistes auch vollständig auf ihn übertragen hatte, konnte der Oberste Rat endlich erleichtert aufatmen. Es hatte also alles genauso funktioniert, wie sie es sich erhofft hatten. Dank der Aufzeichnungen in den Büchern hatten sie die richtige Entscheidung getroffen, und das Volk befand sich wieder in Sicherheit. Der Freiwillige hatte nicht vergebens sein Leben geopfert, hatte nicht umsonst eine Frau und zwei erwachsene Söhne in Trauer und Schmerz zurückgelassen.
Der ältere der beiden Söhne war ein Krieger wie sein Vater. Zum Abschied hatte der Freiwillige ihm gesagt, dass er von ihm genau das Gleiche verlangen würde, wenn es wieder einmal zu solch einer Situation kommen würde! Und als Einzigem hatte er ihm anvertraut, dass die Fähigkeit zum selbstbestimmten Handeln nur wenigen Menschen beschert und daher seine größte Verantwortung als Sohn Hys sei. Er müsse es nur erkennen und an seine Kinder weitergeben. Der Rest, ... so sagte er, das sei Zaizura! Der junge Krieger hieß Arhad. Und gemäß der Tatsache, dass außergewöhnliche Menschen es in Hy niemals leicht hatten, sollte auch er einmal in die Fußstapfen seines Vaters treten und dessen Vermächtnis erfüllen.

20. Kapitel



„Und du hattest ein Auge auf der Stirn?“, fragte Loenka noch einmal.
„Ja, es fühlte sich wie eines an, aber es war geschlossen, oder besser gesagt, zugewachsen“, antwortete Raen.
„Und was hast du dabei gefühlt?“
„Nichts, das ist es ja. Ich weiß nur, dass ich mich erschrocken habe.“ Raen überlegte und fuhr dann fort. „Doch, da war etwas. Ich hatte das Gefühl, als sei das Auge nicht neu, sondern als sei es ganz natürlich schon immer dort gewesen. Aber ich kann mich auch täuschen, denn kurz darauf bin ich aufgewacht. Das Letzte, was die Stimme zu mir gesagt hat, war, es sei die Zukunft. Aber was das bedeuten soll, weiß ich nicht.“
„Alle göttlichen Wesen haben ein Drittes Auge. Und im übertragenen Sinne hat sogar auch der Setna eines, da er von Hyauns Geist berührt ist“
„Aber ich bin nicht ...“ - Göttlich, hatte Raen sagen wollen, konnte es aber nicht aussprechen. Es war zu unerhört. „Ich bin nicht der Setna und auch nicht von Seinem Geist berührt“, meinte er stattdessen.
„Hm, in gewisser Weise schon, denn Er hat dich zum Krieger erwählt. Hör mal zu, Raen“, Loenka hob eine Hand, „solange wir nicht wissen, was deine Träume zu bedeuten haben, behältst du sie für dich, genauso wie ich sie auch für mich behalte. Aber du kannst weiterhin jederzeit mit mir darüber reden, wenn du das willst, das verspreche ich dir.“
Raen nickte ernst. Er ahnte, was für eine Aufregung er wieder einmal verursachen würde, wenn er das aussprechen würde, was in seinem Kopf herumgeisterte. Das hatte er ja schon einmal erlebt und das wollte er auf keinen Fall ein weiteres Mal. Alles, was er wollte, war, so normal zu sein, wie alle anderen. Er wollte sich bemühen, ein redliches Mitglied der Gemeinschaft zu sein. Doch bei der nachdenklichen Miene Loenkas ahnte er dunkel, dass das womöglich nicht leicht sein, und dass der Makel des Besonderen noch länger an ihm haften bleiben würde.
Es war mittlerweile schon spät am Abend und sie saßen zusammen in einem der kleinen Nebenräume des Unteren Heiligtums. Endlich hatte Raen Zeit gefunden, sich wieder einmal länger mit dem Priester und vertrauten Freund zu unterhalten. Der Tod des Setna war eineinhalb Monate her, und es herrschte nur wenig Betriebsamkeit im Tempel, was Raen als angenehm empfand.
Er blickte Loenka an, dessen Gesicht in den orangerötlichen Schein der einzigen Öllampe getaucht war, die sie für ihr Gespräch angezündet hatten. Dann sah er in die Flamme der Lampe, und seine Gedanken bekamen erneut eine ganz andere Wendung.
„Loenka?“, fragte er, und der Priester schaute ihn aufmerksam an. „Ich verstehe nicht, warum der Freiwillige verurteilt worden ist. Er hat uns doch gerettet. Es ist nicht gerecht, dass er deswegen sterben musste. Warum konnte man bei ihm keine Ausnahme machen?“ Diese Frage wühlte ihn noch immer sehr auf, und sein Innerstes weigerte sich vehement, die harte Logik, die hinter alldem steckte, anzuerkennen. Natürlich kannte er all die Theorien, die trockenen Gesetzestexte, die da so fein säuberlich in kleiner Handschrift in dem Buch der Regeln der Gemeinschaft geschrieben standen und reichlich harmlos wirkten. Die tatsächliche Handhabung aber hatte ihn doch sehr entsetzt. Nie hatte er zuvor darüber nachgedacht, wie es sein würde, ein Todesurteil fällen zu müssen und dann auch noch über jemanden, der eigentlich unschuldig war. Er hatte nie darüber nachgedacht, dass auch das einmal zu den Aufgaben eines Kriegers gehören könnte. Gänsehaut zog sich über seine Arme, und er verschränkte sie vor der Brust, weil ihm mit einem Mal kalt war.
„Raen, der Freiwillige hat es selbst gewählt und er wusste genau, was ihn erwartet. Er hat sich für uns höchst ehrenvoll geopfert und dafür gebührt ihm unser tiefempfundener Dank und nicht unser Zaudern und Zweifeln! Ich muss dir doch wohl nicht noch einmal unsere Gesetze erklären?“
Raen schüttelte den Kopf und rezitierte selbst: „Er musste sterben, um seinen Namen und seine Familie von der Tat zu reinigen! Wenn er stattdessen die Verbannung gewählt hätte, dann hätte dies dazu geführt, dass sein Name sofort getilgt worden wäre.“ Und ein Hy würde lieber sterben, als sich in die Verbannung zu begeben und damit für immer seinen Namen zu verlieren, dachte er weiter. Denn wenn der Namenlose dann irgendwann zu den Ahnen der Winde kam, würde ihn seine Familie nicht mehr wiederfinden können. Ohne Namen könnte er sich nicht zu erkennen geben, und ihre Seelen könnten sich nie wieder vereinen. Die resultierende Einsamkeit in dem ewigsten aller Zustände würde sich in eine nie endende Hölle verwandeln.
Auch Raen glaubte, dass nach dem Tode zerrissene Bande wieder zu Familien wurden, und nichts fürchtete er mehr, als dort, wo sich alle Generationen wieder glücklich vereinten, bloß eisige Einsamkeit vorzufinden.
„Du siehst also, es war absolut richtig, dass der Freiwillige den Tod gewählt hat. Außerdem hat er damit auch seine Familie vor dem Zugriff Zaizuras geschützt. Mit ihm ist seine Tat verschwunden, und für Zaizura gibt es nun keinen Grund mehr, sie bestrafen zu wollen“, schloss Loenka seine Erklärung.
„Ja, das verstehe ich ja alles. Aber warum gibt es keine Ausnahme?“
Loenka seufzte verhalten. „Es kann keine Ausnahmen geben. Ausnahmen bringen das Gleichgewicht aus dem Lot. Sieh also zu, dass du nie eine Ausnahme nötig hast. Die Regeln der Gemeinschaft ...“
Raen hörte nicht mehr hin, er erkannte, dass er von dem Priester keine Hilfe in diesem Gedankenkonflikt erwarten konnte. Er ließ die Schultern hängen. All diese verworrenen Regeln zu beherrschen, war manchmal schwerer, als ein Schwert richtig zu führen, dachte er, und dabei regte sich plötzlich ein anderer Gedanke in ihm, der seine brennende Neugier weckte.
„Gab es denn eigentlich jemals Hy, die tatsächlich die Verbannung gewählt haben?“
Der Priester legte die Hände in seinen Schoß und schien zu überlegen.
„Nun, du bist jetzt ein Krieger und kannst ruhig erfahren, dass es unter uns auch solch ehrlose Individuen gab, die es vorzogen, lieber als Verstoßene am Leben zu bleiben, anstatt ihren Namen von der Schande reinzuwaschen. Aus purer Selbstsucht stürzten sie sich und ihre Familien in unwiderrufliches Unglück!“, erklärte Loenka schließlich offen.
„Wer waren sie denn? Und was haben sie getan?“
„Die Namen existieren selbstverständlich nicht mehr, und deshalb weiß man auch nicht, woher sie einmal stammten. Aber ihre Geschichten kennt man. Ich erzähle dir nur von den beiden letzten Fällen, die ich kenne. Der eine war ein alter Mann, der inzwischen schon längst tot sein dürfte. Er hatte Wahnvorstellungen, war krank im Geiste. Er hatte die feste Überzeugung, dass sich in seiner Scheune kleine böse Geister versteckten. Des Öfteren hatte er nachts dort gelauscht und leises Kichern gehört. Keiner wollte ihm glauben, aber ihm zuliebe durchsuchte man die Scheune von oben bis unten. Natürlich fand man nichts. Eine Zeit lang waren die Stimmen der Geister verstummt, doch dann eines Nachts hörte er sie wieder. Und der Mann entschloss sich, seinen Clan vor den bösen Geistern zu retten. Die nächste Nacht holte er ein Ölfass aus dem Lager, schüttete den Inhalt einmal rund um die Scheune aus und zündete sie dann an. Das Gebäude brannte schnell bis zum Dach, denn es war Spätsommer und es war voll mit Heu. Als plötzlich schrille Schreie ertönten, fühlte der Mann sich in seiner Tat bestätigt. Die Geister starben im Feuer! Als die Feuermeister und die Bauernfamilie den Brand endlich gelöscht und den verrücken Alten eingesperrt hatten, fiel ihnen auf, dass zwei Kinder fehlten. Die Gewissheit kam ihnen jedoch schnell, als sie zwei kleine Leichen in der Scheune fanden! Die beiden Jungen hatten dort heimlich des Öfteren die Nächte im Heu verbracht. Der Alte wurde danach schnell verurteilt und man stellte ihm die letzte Frage. Es wird vermutet, dass er aufgrund seiner Geisteskrankheit die Verbannung statt der Todesstrafe wählte.“
Raen schluckte bei Loenkas Erzählung mehrmals, denn er selbst hatte als Kind ja auch oft mit Hereke in der Scheune übernachtet, ohne dass ihre Eltern etwas davon gewusst hatten.
„Und wie war das mit dem Zweiten gewesen?“, ließ er dann aber doch nicht locker, denn seine Neugier blieb größer als sein Unbehagen.
„Oh, der Zweite ist ganz und gar eine Schande für unser Volk! Ihn trieben solch niedere Empfindungen wie Eifersucht und Neid zu seiner Tat und er - ja, das wirst du vielleicht schon verstehen - konnte nicht akzeptieren, dass die Frau, die er heiraten wollte, einen anderen Mann liebte. Deshalb versuchte er schließlich, sie mit Gewalt zu nehmen. Er wollte sie zum Liebesakt zwingen.“
Raen nickte nachdenklich, und Loenka fuhr fort.
„Dabei hat er sie sehr verletzt. Raen, so etwas ist eine fürchterlich schlimme Tat! Glücklicherweise war ihr zukünftiger Mann nicht weit und hat den Verbrecher erwischt, bevor dieser flüchten konnte. Man sperrte ihn ein und verurteilte ihn noch am selben Tag! Aber auch er schein nicht bei Sinnen, denn er schlug weiterhin wild um sich und schrie immer wieder, er würde alle umbringen und Hy eines Tages ganz vernichten! Das war ein sonderbarer Fall. Keiner hat je verstanden, was den Kerl dazu gebracht hatte, so zu werden. Er war doch einer von uns, er war in unserer Mitte aufgewachsen und hatte gelernt, den Weg Hyauns zu gehen.“ Loenka schüttelte verständnislos den Kopf. „Auch er hat statt der Ehre die Verbannung gewählt, und daraufhin brachten sie ihn an die Grenze nach Graçe und verstießen ihn. Was aus ihm geworden ist, weiß man nicht. Er soll ein sehr junger Mann gewesen sein, und seine Verbannung ist jetzt fünfundzwanzig Jahre her. Wenn er also noch am Leben ist, dann dürfte er jetzt über vierzig sein.“
Raen war hingerissen zwischen Abscheu und Faszination.
„Es muss schrecklich sein, ganz allein fort zu müssen in ein fremdes Land. Man ist dort doch bestimmt unerträglich einsam. Wie kann man so etwas nur freiwillig wollen?“
Dieser Kommentar schien Loenka zu beruhigen, denn er lächelte sanft. „Ja, es ist furchtbar, allein in der Fremde zu sein!“ Er schob sich seinen Saum auf der Schulter zurecht. „Aber glücklicherweise müssen wir das nicht. Unser Platz ist hier.“
Raen verzog die Lippen. „Ja, zum Glück!“, sagte er erleichtert.
„Da wir gerade vom Glück sprechen“, sagte Loenka wie beiläufig. „Wie steht es denn mit der Liebe? Ich habe gehört, du hast ein nettes Mädchen kennengelernt.“
Raen wurde rot. Sollte er mit dem Priester wirklich über seinen Liebeskummer sprechen? Er war sich nicht sicher, aber Loenka sah ihn mit hochgezogenen Brauen geduldig wartend an. Er war sein Freund, und wem konnte er sonst davon erzählen?
„Ähm, ja, das stimmt“, antwortete er schließlich und räusperte sich verlegen. „Sie heißt Kosam und kommt aus Rotenas. Sie ist Lernende des Schneiderhandwerks.“
„Aha!“, gab Loenka bedeutungsvoll von sich. Es klang, als freue er sich für Raen. „Und? Magst du sie sehr?“
Raen spürte, wie die Röte ihm bis unter die Haarwurzeln stieg. „Ja, sehr. Ich vermisse sie schrecklich! Endlich habe ich jemanden gefunden, der mich versteht. Sie ist genauso wie ich, stellt auch andauernd Fragen. Und sie denkt das gleiche. Für mich ist sie etwas Besonderes!“
„Dann halt sie gut fest, Raen! Das Besondere ist nicht alltäglich und ein sehr wertvolles Geschenk!“, bedeutete Loenka.
Raen verstand, was der Priester ihm damit sagen wollte. Das Besondere sollte für ihn nichts sein, wofür er sich schämen müsste! Diese Botschaft erleichterte Raen plötzlich mehr, als er es für möglich gehalten hätte.
„Ich kann es gar nicht abwarten, sie wiederzusehen!“, schwärmte er. „Ich habe ihr versprochen, sie zu besuchen, aber leider ist das nicht so einfach.“ Raen ließ den Kopf hängen.
„Warum denn? Ich dachte, dass die clanübergreifenden Liebespärchen mehr Freiheiten zugesprochen bekämen, um sich gegenseitig besuchen zu können.“
„So ist es ja auch, und unter normalen Umständen wäre ich auch schon längst bei ihr gewesen, aber ihr Großvater ist sehr krank und liegt im Sterben.“
„Das tut mir leid“, sagte Loenka.
„Ich muss also warten. Ich kann erst zu ihr reisen, wenn ich sie und ihre Familie nicht störe.“ Raen nahm damit selbstverständlich Rücksicht auf die privaten Gefühle der Familie, die er noch nicht kannte und die sich in der Situation befand, bald ein Mitglied zu verlieren. Einen Fremden zu empfangen wäre da äußerst unangebracht, und dafür hatte er natürlich Verständnis.
„Schreibt ihr euch denn?“
„Ja, jede Woche schreibe ich ihr einen Brief und sie mir, doch im Moment sind die Postreiter noch nicht wieder hier gewesen, und so habe ich die letzten beiden Nachrichten noch nicht abschicken können.“ Er machte eine Pause. „Loenka, ich vermisse Kosam so sehr, dass es weh tut. Ist das normal?“
Loenka nickte mitfühlend. „Ja, das ist ganz normal. Liebe ist schön, manchmal aber auch schmerzhaft. Ich kann euch nur wünschen, dass ihr euch bald wiedersehen könnt.“
„Wer weiß, wann das sein wird“, entgegnete Raen niedergeschlagen.
„Und was ist mit deinem besten Freund, der ist doch jetzt auch endlich glücklich, oder nicht?“, erkundigte sich Loenka nach Hereke.
„Du meinst das mit Suneka?“
„Ja, das meine ich. Was lange währt, wird endlich gut, nicht wahr?“, schmunzelte Loenka.
„Woher weißt du das eigentlich immer alles?“, wollte Raen wissen.
Loenka lachte leise. „Nun, ich verwalte das Wissen. Ich bin das Gedächtnis dieses Clans, demnach sollte ich also auch wissen, was hier so vorgeht. Das ist eine meiner Aufgaben.“
„Dann weißt du vielleicht auch, warum Suneka so lange gezögert hat? Hereke ist doch die beste Partie, die sich eine Frau nur wünschen kann. Sie hat ewig gebraucht, um sich überzeugen zu lassen!“
Loenka zuckte mit den Schultern. „Vielleicht war sie vorher in jemand anderen verliebt?“
„Nein, das glaube ich nicht“, gab Raen überzeugt zurück.
„Auf jeden Fall scheinen die beiden jetzt endlich glücklich zu sein!“
Raen musste lachen. „Ja, in der Tat! Mit Hereke ist seitdem nicht viel anzufangen! Er gibt nur noch verliebten Blödsinn von sich. Meine rare Zeit mit ihm muss ich jetzt auch noch mit Suneka teilen. Es ist kaum noch möglich, dass wir allein etwas unternehmen können.“
„Du darfst nicht so streng mit Hereke ins Gericht gehen, denn wenn du deine Freundin hier im Clan hättest, dann würdest du doch auch viel Zeit mit ihr verbringen wollen, oder nicht?“
„Ja, du hast recht, es war auch nicht böse gemeint. Aber ich hätte ihn manchmal nur gerne auch mal wieder für mich. Er ist schließlich mein bester Freund und ich vermisse die Zeit, die wir allein verbracht haben und über alles reden konnten, was nicht mit Mädchen zu tun hatte.“
„Das wird sich auch wieder ändern, Raen. Warte es nur ab“, sagte Loenka, der, wenn auch nicht unbedingt aus eigener Erfahrung, dennoch sehr viel Kenntnis von der Vielfalt von menschlichen Gefühlen hatte.
„Ist gut, ich werde warten.“ Raen streckte sich und gähnte. „Ich glaube, ich gehe jetzt ins Bett, ich muss morgen früh aufstehen. Die Wachablösung am Reschturm ist zwar erst mittags, aber wir müssen vorher noch die ganzen Vorräte packen. Gute Nacht, Loenka.“ Er stand auf und verneigte sich. „Es war schön, wieder einmal mit dir zu sprechen. Vielen Dank!“
„Das fand ich auch. Gute Nacht.“
Raen ließ den Priester allein zurück in dem kleinen Raum.

21. Kapitel



Setna saß auf dem Balkon und wartete auf seinen Vater, den König. Unter ihm lagen der kleine Palastgarten und die innere Wehrmauer. Dahinter konnte man die äußere Mauer mit den Türmen sehen, und davor erstreckten sich die Dächer von Askhari-Kaise, soweit das Auge reichte. Es war wirklich eine sehr große und auch reiche Stadt, dafür hatte König Katthike gesorgt. Seit das Reich angewachsen war, war auch der Wohlstand der Königsstadt stetig gewachsen. Das hatte natürlich eine Menge von Leuten angelockt, die auf der Suche nach einem besseren Leben gewesen waren, und so war in gleicher Weise wie der Reichtum auch die Zahl der Köpfe in der Stadt gestiegen. Viele neue Häuser und Straßen waren gebaut und die Stadtgrenze bis weit in die Ebene ausgedehnt worden, genau wie Askhar seine Grenze gen Norden ausgedehnt hatte. Das Reich prosperierte, das konnte jeder deutlich sehen und genau darauf war Setna stolz. Askhar war eine aufstrebende Macht, die sich bei den ausländischen Nachbarn immer mehr Respekt verschaffte. Und das, obwohl sie in den letzten Jahren keinen einzigen Krieg geführt hatten.
„Seine Majestät, der König!“, hörte Setna die Ankündigung des Dieners und stand auf, um seinem Vater die Ehre zu erweisen. Demütig neigte er sein Haupt.
Katthike kam ihm mit großen Schritten entgegen.
„Schon gut, schon gut! Du bist mein Sohn und brauchst nicht diesen buckeligen Kratzfuß vor mir zu machen!“
Setna hob seinen Blick.
„Komm, setz dich wieder und trink mit mir Wein!“ Katthike schnippte mit den Fingern, und der Diener verschwand. „Ist heute nicht ein herrlicher Tag?“
Setna bertachtete vorsichtig seinen Stiefvater. Er schien wirklich blendender Laune zu sein, was in dieser Form eher selten vorkam. Setna wusste ganz genau, wie er ihn zu nehmen hatte. Doch das Gemüt des Königs blieb weiterhin ungetrübt vergnügt, und so entspannte sich Setna wieder. Er lehnte sich in dem Stuhl zurück und streckte seine Beine von sich. Der Diener kam mit zwei silbernen Bechern und einer Kanne Wein. Er schenkte zuerst dem König und dann dem Prinzen ein. Mit einer tiefen Verbeugung zog er sich anschließend wieder zurück. Als sie allein waren, sprach Katthike weiter:
„Setna, ich werde dir zu deinem Großjährigkeitsfest ein wahrlich großartiges Geschenk machen können!“ Er leckte sich hektisch über seine Unterlippe. „Verraten werde ich es dir aber natürlich noch nicht, denn es soll ja eine Überraschung sein!“ Wieder das Lecken über die Unterlippe.
Was für eine schlechte Angewohnheit, dachte Setna und überlegte dann, worüber sein Vater sich derart diebisch freuen konnte. Er selbst mochte es eigentlich nicht, überrascht zu werden. Er hasste Überraschungen! Er hasste alles, was genauso unberechenbar war wie er selbst. Er hatte gern die Kontrolle, und seine Aufmerksamkeit war daher stets geschärft wie die eines lauernden Fuchses. Nichts im Palast konnte ihm entgehen und es gab nichts, worauf er nicht vorbereitet war - bis auf die Überraschungen seines Vaters! Was das wohl wieder sein mochte? Er hatte schon die merkwürdigsten Dinge vom König geschenkt bekommen, weil dieser dachte, er würde sich etwas daraus machen. Leider dachte er da ganz falsch. Aber Setna hatte die Gaben trotzdem angenommen, um seinem Vater die Freude nicht zu verderben, und nun verstaubten die Gegenstände unbeachtet in den Weiten seiner Gemächer. Nun gut, dachte Setna, bis zu seinem Großjährigkeitsfest waren es noch einige Wochen, bis dahin würde er hoffentlich herausgefunden haben, welcher Art das Geschenk war. Er wandte sich seinem Vater zu, der genüsslich schmatzend seinen Wein trank. Noch so eine schlechte Angewohnheit!
„Eine Überraschung?“, fragte er vorgetäuscht erfreut. „Aber Vater, das ist doch nicht nötig, das weißt du! Ich brauche doch nichts weiter als ein gutes Pferd, ein gutes Schwert und ab und zu ein williges Weib!“
Katthike nickte und lachte süffisant. Er zeigte mit der Hand, mit der er den Becher hielt auf Setna. „Da hast du natürlich recht, mein Sohn, was bräuchte ein wahrer Mann mehr!“ Er leerte den Becher und knallte ihn auf den Tisch, was das Zeichen für den Diener war, zu kommen und ihn wieder zu füllen. Prompt eilte dieser auch herbei.
„Ich muss sagen, du machst mich immer wieder stolz, Setna! Du bist zwar noch nicht ganz siebzehn, aber du hast schon das Feuer eines ganzen Mannes in dir!“ Darauf hob Katthike seinen vollen Becher.
Setna gefiel es natürlich, dass sein Vater ihn lobte, und dankte ihm bescheiden. Tatsächlich fand sich schon recht reif für sein Alter, und nicht nur auf dem Waffenplatz hatte er bisher seine Lanzen weit geschleudert. Auch die Betten der verschiedensten Konkubinen hatte er auf der heißhungrigen Suche nach der Erfüllung des Mannseins durchwandert. Setna spürte einen unersättlichen Lebensdrang in sich und er wusste, dass seine Ausbildung viele starke Hände zerschlissen hatte. Doch das Ergebnis war, wie sein Vater zurecht behauptete, perfekt!
Er hatte zwar einen recht schmalen, hochgewachsenen Körperbau, doch in ihm schlummerten die Kräfte eines Athleten. Seine Haltung hatte etwas sehr Selbstverständliches an sich, und sein Gesichtsausdruck, der zu allererst sehr von seinen undurchdringlichen, pechschwarzen Augen beherrscht wurde, wirkte manchmal vielleicht etwas zu arrogant, aber mit jedem Atemzug berechnend. Die ebenso schwarzen Haare standen ihm störrisch vom Kopf ab, was ihm einen verwegenen Ausdruck gab. Doch Setna war alles andere als verwegen. Jede seiner Handlungen wog er zuvor gründlich ab, niemals überstürzte er etwas. Lieber einen Gedanken zu viel als zu wenig an eine Sache verschwenden, das war sein Leitsatz.
Aber neben der für Askharer untypischen Vernunftbegabung zeigte sich noch etwas anderes aus dem hyaunischen Erbe seines wirklichen Vaters und wurde langsam für jedermann sichtbar: Setnas Wangen und Kinn zeigten bislang nur den zarten Schatten eines Bartes, wo hingegen askharische Jünglinge bereits einen stolzen Wuchs vorweisen konnten. Und leider war zu befürchten, dass es zu mehr wohl auch nicht reichen würde. Das ärgerte Setna. Natürlich wusste er um das gemischte Blut in seinen Adern, aber was ihn am meisten daran störte, war, dass man es ihm ansah. Alles andere war ihm egal, Hauptsache er war der Sohn des Königs, und alle traten ihm mit dem gebotenen Respekt gegenüber.
Setna sah, dass König Katthike ihm schräg über den Tisch zu lächelte.
„Ach, Setna, du wirst meine Überraschung mögen, da bin ich mir sicher!“, wiederholte er noch einmal und fuhr erneut mit der Zuge über seine Unterlippe.
Setna seufzte innerlich.

*

Während König Katthike alles daran setzte, dem falschen Prinzen weiter den Weg zum Thron zu ebnen, schlenderte der echte Prinz von Askhar entspannt durch die Straßen Borgossas. Kanaima genoss es, sich in der Stadt frei bewegen zu können, umgaben ihn doch keine ständigen Wachen mehr wie früher. Er musste unwillkürlich an seine Jugend in der Burg von Kalav denken und an seine Tante, die dort immer noch einsam vor sich hin vegetierte. Kanaima vermisste sie, viele Briefe kamen von ihr nicht bei ihm an, und sicherlich war es umgekehrt auch nicht besser, obwohl er ihr fast jeden Monat einen schickte. Aber es war ein sehr langer Weg bis nach Kalav und da konnte viel verloren gehen, dachte Kanaima ironisch. ‚Verdammtes Spitzel-Pack!’, fluchte er in Gedanken. Aber er wollte sich jetzt nicht die Laune verderben lassen, dafür war der Tag viel zu schön, und außerdem hatte er noch etwas vor. Sicher waren ihm in diesem Moment auch wieder Spione auf der Spur. König Katthike würde ihn niemals wirklich aus den Augen lassen, doch das ließ ihn kalt. Er wusste, wie er sie loswurde.
Kanaima blieb bei einem Stand mit frischem Obst stehen, der sich in der Gasse befand, die zum Markt führte. Scheinbar zufällig blickte er den Weg zurück und registrierte, wie dort zwei Männer in einfacher Arbeiterkleidung stehen blieben und so taten, als ob sie sich unterhielten. Kanaima lachte in sich hinein. Diese Dilettanten! Er besah sich ausführlich die Auslage des Standes. Die Erntezeit rückte näher, und bereits jetzt waren schon einige der Köstlichkeiten des Umlandes auf dem großen Markt zu haben. Er wählte einen roten Pfirsich und gab der Frau hinter dem Stand mit einem so charmanten Lächeln eine Kupfermünze, dass sie rot wie der Pfirsich wurde und wie ein junges Mädchen kicherte. Er rieb den Pfirsich an seinem Wams und biss dann herzhaft hinein. Das weiße Fleisch war saftig und schmeckte herrlich süß. So wie alles in Freiheit einfach herrlich schmeckte!
Kanaima schlenderte weiter und aß dabei den Pfirsich auf. Den Kern warf er schließlich in die Gosse. Als er den Marktplatz erreichte, blieb er stehen und blickte sich auf dem riesigen Campo um, der sich vor ihm öffnete. Auf ihm befanden sich Dutzende, ja fast Hunderte von kleinen Ständen, Buden und Zelten. Dazwischen herrschte reges Treiben von Händlern und Landvolk aus der Umgebung, die lauthals ihre Waren anpriesen; Kunden, die feilschten und diskutierten; feine Damen und Herren, die genüsslich nur so dahin spazierten und sich in der Hitze mit ihren Fächern Luft zufächelten; und dazwischen, aber nur wenn man genau hinsah - und das war es, was Kanaima stets besonders tat -, konnte man hier und da eine verstohlene, kleine Hand zwischen die Auslagen greifen und unbemerkt wieder verschwinden sehen. Natürlich waren sie auch da, wie überall, wo es Menschenansammlungen gab. Sie mischten sich unter das Volk und gingen ihrem „Geschäft“ nach: Taschendiebe, Beutelschneider, Betrüger, Bettler, Falschmünzer, oder einfach nur arme hungrige Schlucker und deren Kinder, die stahlen, um zu überleben.
Kanaima suchte nach den Anhängern der erstgenannten Gilde, der Taschendiebe. Er bahnte sich den Weg durch die bunte Menge, und allerlei verführerische Gerüche drangen dabei in seine Nase. Hier und da wurden über kleinen Holzkohlenfeuern leckere Mahlzeiten zubereitet, und Kanaima knurrte der Magen, obwohl er soeben den Pfirsich gegessen hatte. Er entschloss sich, etwas von dem gebratenen Hühnerfleisch zu probieren, welches ein Mann in reinstem Hochgraçenisch feilbot. Während er aß, blickte er immer wieder in die Flut von Gesichtern, die an ihm vorbeizog.
Und da waren sie wieder, die beiden Männer, die ihm folgten. Sie standen bei einem Händler mit Lederwaren und schienen die Gürtel zu begutachten. Kanaima drehte sich weg. Er selbst hatte sich heute etwas unauffälliger gekleidet, denn das würde es ihm nachher wesentlich leichter machen, unterzutauchen. Er leckte sich das restliche Fett von den Fingern, nahm einen Schluck Wasser aus einer Kelle, die der Standherr ihm anbot, und bahnte sich dann schließlich weiter seinen Weg durch das Getümmel. An der nächsten Ecke zwischen den Ständen bog er unvermittelt rechts ab, so dass sich seine Beschatter sputen mussten, um ihn nicht zu verlieren. Aber seine Bewegung war auch für einen ihm entgegenkommenden Mann zu plötzlich gewesen. Er konnte nicht mehr ausweichen und stieß mit Kanaima zusammen. Etwas verärgert über den Zusammenprall blitzte der Askharer in das Gesicht des tölpelhaften Fremden und war überrascht, dass dieser aus ähnlich grellblauen Augen zurückfunkelte. Überhaupt sah der Kerl ihm erstaunlich ähnlich, der sich alsdann in einer unverständlichen Sprache zu entschuldigen begann, und sich an ihm vorbeidrückte. Kanaima sah ihm kurz nach. Vielleicht hatte er ja Glück, und seine Verfolger hielten den Kerl für ihn und hefteten sich an die falschen Fersen. Da er es aber nicht darauf ankommen lassen wollte, setzte er seinen Weg fort, außerdem wurde er erwartet. Er bog nach rechts und kürzte sogleich unauffällig mitten durch einen belebten Stand ab. Dabei öffnete er sein Haarband und ließ sich die Haare offen auf die Schultern und ins Gesicht fallen. Wieder bog er nach rechts ab und direkt in ein Zelt hinein. Dort bekam er von einer älteren Frau mit einem grüßenden Nicken einen braunen, durchlöcherten Umhang gereicht. Er verließ das Zelt und begann zu hinken. Die Kapuze des Umhangs trotz Hitze über den Kopf gezogen, schaute er sich durch die wirren Haarsträhnen vor seinem Gesicht um. Er befand sich an derselben Stelle, an der er sein Manöver begonnen hatte, aber die beiden Verfolger waren nicht mehr zu sehen. Kanaima lachte leise und hinkte schließlich weiter, ein Tagelöhner unter vielen anderen. Er suchte nun einen ganz bestimmten Mann, einen Taschendieb, der sein Kontaktmann war. Besser gesagt, würde der Mann nach ihm suchen. ‚Sorriédi’, hatte ihm die Frau in dem Zelt gesagt. Das war Graçenisch und bedeutete „Lächeln“. Kanaima folgte der Anweisung und fing an, wie ein debiler Dorftrottel breit vor sich hin zu lächeln. Das amüsierte ihn, denn was der Mann, zu dem er wollte, sich einfallen ließ, war stets äußerst originell. Bisher waren sie immer über die Darstellung einer bestimmten Gemütsverfassung in Kontakt getreten.
Jemand rempelte ihn erneut an, aber Kanaima grinste fröhlich weiter, als könne er kein Wässerchen trüben. Eine Schar Kinder machte sich über ihn lustig, aber auch das kommentierte er nur mit einem wilden Augenrollen, und sie verschwanden wieder in der Menge.
„Als trauernder Witwer habt Ihr mir besser gefallen!“, hörte Kanaima plötzlich eine Stimme an seiner Seite sagen, und er drehte sich in die Richtung.
Eine ebenfalls in einen Umhang gehüllte Gestalt marschierte scheinbar zufällig neben ihm her.
„Ihr macht euch wohl lustig!“, flüsterte Kanaima durch sein dämliches Grinsen.
„Folgt mir!“, war die Antwort, und die Gestalt bog ohne Vorwarnung nach links ab. Kanaima folgte ihm in einigem Abstand. Der Mann hatte einen schnellen Schritt, aber Kanaima ließ sich nicht beirren. Immer wieder ließ er seinen Blick schweifen, konnte seine Beschatter aber nirgendwo entdecken. Dafür gewahrte er, wie der Mann vom Markt weg auf die Gassen südlich des Platzes zusteuerte, in Richtung Hafen. Kanaima torkelte ein wenig wie ein Betrunkener, um seine Tarnung zu untermalen und tauchte dann ebenfalls in die Gassen ab.
Tatsächlich lief der Mann weiter zum Hafen. Kanaima war seit drei Jahren in der Stadt und kannte sich mittlerweile auch in den kleineren Gässchen gut aus. Aber den Weg, den sein vorauseilender Kontaktmann einschlug, schien ihm verwirrend neu.
‚Man lernt doch nie aus’, dachte er und beeilte sich.
„Hierher!“, hörte er es plötzlich rufen und drehte sich um. Er hatte den Kerl doch tatsächlich aus den Augen verloren. Der saß in einem kleinen Boot in einem der vielen Kanäle, die sich kreuz und quer durch den Südosten der großen Handelsstadt zogen, und winkte ihm zu. Kanaima sprang in das Gefährt, das auf dem grünlichtrüben Wasser des Kanals gefährlich wackelt, und geübt ruderte der Kerl sie mit einem einzigen Ruder am Heck links in einen abzweigenden Kanalarm hinein. Es war eine reine Wasserstraße, die nicht zu beiden Seiten von einem Fußweg flankiert wurde. Einmal mehr schüttelte Kanaima den Kopf. Schon immer war ihm die Konstruktion dieser Stadt völlig unsinnig erschienen, deren eine Hälfte weit in die Lagune hinein gebaut worden war und die andere auf dem Festland stand. Im Lagunenteil konnte man sich nur mit einem Boot sinnvoll fortbewegen, zu Fuß war es eher hinderlich, denn man musste immer genau wissen, wo die Brücken und Sackgassen waren. Noch mehrmals bog der Mann mit dem Boot ab und legte schließlich an einer Tür an, die einfach so ins Wasser führte.
Sie waren da.
„Bitte“, sagte der Mann und wies auf die Tür. Kanaima erhob sich etwas ungeschickt in dem schaukeligen Boot und klopfte. Er fühlte sich wirklich nicht wohl auf dem Wasser.
Endlich öffnete sich die Tür, und Kanaima schlüpfte schnell hinein, dankbar, aus der flachen Nussschale herauszukommen.
Drinnen war es stockdunkel.
„Hallo?“, fragte er in die schattige Schwärze.
„Folge mir!“, sagte eine Frauenstimme von irgendwo her, und Kanaima war etwas erstaunt, war ihm doch noch nie eine Frau bei diesen Treffen aufgefallen.
„Wo bist du?“ Er konnte wirklich nicht das Geringste sehen.
„Na, hier.“ Er hörte ein Schnippen mit den Fingern.
‚Sehr witzig’, dachte er und tastete sich voran. Sein Fuß stieß gegen eine Schwelle und er wäre beinahe gefallen. Kanaima fluchte leise.
„Du weißt doch, wir brauchen hier kein Licht“, erklärte die Stimme in einem leicht belustigten Tonfall.
„Ja, ja, aber ich könnte es gebrauchen!“, brummte er verstimmt. Wieder hörte er ein Fingerschnippen. Und als er meinte, in die Richtung zu blicken, gewahrte er einen schwachen Lichtschimmer. Das undurchdringliche Schwarz ging in ein trübes Grau über, und die Konturen eines Ganges wurden sichtbar - und in dem Gang die Silhouette einer Person.
„Hab ich dich!“, zischte Kanaima leise durch seine Zähne.
„Das habe ich gehört! Nun komm endlich, schleich nicht so daher!“
Das Weibsstück hat nicht nur Katzenaugen, sondern auch noch Katzenohren, dachte er, diesmal ohne es gleichzeitig zu flüstern.
Sie bogen um die Ecke und standen mit einem Mal in einem großen dämmrigen Raum. Von einem Spalt in einem der Fensterläden weiter oben fiel ein einziger Sonnenstrahl auf den Fußboden aus morschen Dielen. Kanaima blickte nach oben und konnte das Deckengebälk hoch über ihm erkennen, diverse Seile hingen von dort herunter. Ein ehemaliges Speicherhaus, dachte er. Der Hafen war ja auch nicht fern.
„Hallo mein Freund!“, ertönte es plötzlich aus dem Nichts vor ihm.
Kanaima konnte die Person zu der Stimme zwar nicht sehen, aber er erkannte sie trotz allem. Das war er, der „Patron“.
Er atmete erleichtert auf. „Hallo, Patron, seid gegrüßt.“
„Wie ich sehe, habt Ihr auch diesmal gut den Weg hierher zu mir gefunden. Was haltet Ihr übrigens von meinen Leuten?“
„Leider muss ich sagen, dass es ihnen anscheinend an Manieren fehlt und es ihnen sehr viel Freude bereitet, mich zu verhöhnen. Schließlich bin ich ...“
„Ja ja, Ihr seid der Prinz von Askhar, ich weiß, aber den können wir hier nicht gebrauchen. Vergesst Euren Titel. Der scheint ja ohnehin nicht allzu viel wert zu sein, wenn Ihr hier durch diese Stadt streunt und auf der Suche nach derart zwielichtigem Beinstand wie uns seid!“ Die Stimme klang gutmütig amüsiert, aber Kanaima fühlte sich beleidigt.
„Ich bin vielleicht ein Prinz, der keine Macht hat, aber ich bin auch ein Ehrenmann, der es nicht gerne mag, wenn er verspottet wird! Genau wir Ihr ohne Zweifel ebenfalls ein Ehrenmann seid!“ Mit vor der Brust verschränkten Armen wartete Kanaima auf eine Antwort.

Der Patron musterte den askharischen Besucher aus dem Dunkel heraus. Er kannte ihn mittlerweile recht gut. Für einen Mann wie ihn war es natürlich ein Leichtes gewesen, die grundlegenden Dinge über ihn in Erfahrung zu bringen. Obwohl der Prinz anfangs einen falschen Namen benutzt hatte, aber in Sachen falscher Namen war er schließlich ein Experte, denn auch der Patron war nur eine von vielen Identitäten, die er sein ganzes Leben über schon besessen hatte. Zuerst hatte er das Anliegen des Askharers angelehnt, aber der Prinz war ein sehr entschlossener Mann und besaß ein überzeugendes Auftreten. Bei den Absichten, die er verfolgte, zeigte er eine beharrliche Zielstrebigkeit, und er hatte sofort erkennen können, wie gründlich durchdacht jede einzelne seiner Ideen war. Der Patron hatte sich aufgrund seines hohen Alters zwar schon seit längerer Zeit aus seinem eigentlichen Metier zurückgezogen, doch diese Sache hier hatte seinen Unternehmungsgeist wieder geweckt. Das Verlockende daran war aber nicht etwa der Sack voll Gold, den der Askharer ihm als Belohnung geboten hatte - nein, er war reich genug, er hatte mehr Gold, als er bis an sein Lebensende ausgeben konnte . Vielmehr reizte ihn die Tatsache, dass dieses Mal lediglich sein bloßes Wissen gefragt war. Er selbst würde nicht aktiv eingreifen müssen, wie er es früher immer getan hatte. In diesem besonderen Falle würde sich sein Part auf bloße Instruktionen beschränken, weiter nichts. Denn alles, was der Askharer wollte, waren seine Erfahrungen und sein Wissen, und er war durchaus auch gewillt, das alles mit ihm zu teilen. Der Patron spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Das Gefühl wieder an einer großen Sache mitzuwirken, hatte ihm wirklich gefehlt. In seinen Adern floss nun einmal das Blut der Verschwörung, und dafür lebte er! Er straffte seine Gestalt und trat in den Sonnenstrahl.

„Ich entschuldige mich für das Verhalten meiner Leute“, entschuldigte sich der Patron.
Kanaima sah, wie der alte Mann eine Hand hob, und sein Blick folgte der Geste bis zu der Frau neben ihm. Sie hatte er ganz vergessen. Im Dämmerlicht nahm er wahr, wie sie sich verneigte.
„Die Entschuldigung ist angenommen“, sagte er nickend.
Die Frau sah wieder auf und ihm direkt ins Gesicht, und trotz des Zwielichtes konnte er ein Lächeln auf ihren hübschen Zügen erkennen. Ihre Augen blitzten aufreizend auf, und ehe Kanaima ihrer vollkommen gewahr werden konnte, drehte sie sich auf ihrem Absatz und verschwand in der Dunkelheit. Er registrierte, dass sie Männerkleidung trug und sich geschmeidig bewegte. Ganz und gar eine Katze, dachte er und stellte fest, dass er Gefallen an ihr fand.
„Sie heißt Janita, und sie ist blind!“, bedeutete der Patron. Er musste seinem Blick gefolgt sein.
Kanaima war überrascht. „Blind? Aber sie ...“
„Sie bewegt sich perfekt, nicht wahr! Man sieht ihr nichts an, zumindest im Dunkeln nicht. Sie ist für die Dunkelheit geschaffen! Sie ist die Tochter eines großen Kaufmannes hier aus Borgossa. Dieser Geizhals hatte offensichtlich keine Lust, wegen ihres Makels für ihre Verheiratung die doppelte Mitgift zu zahlen und verstieß sie daraufhin. Sie irrte durch die Stadt, war völlig hilflos. Einem meiner Leute ist sie aufgefallen und er brachte sie zu mir. Ich nahm sie auf und lehrte sie, wie man sich im Abseits bewegt, jenseits der Welt, welche die gewöhnlichen Menschen wahrnehmen. Es gibt niemanden, der das besser kann als sie. Sie ist wirklich ganz erstaunlich, sie kann Leute beschatten und ihnen durch die ganze Stadt folgen. Sie erkennt sie an ihren Schritten und am Geruch!“
„Habt Ihr keine Angst, dass sie einmal in einen der Kanäle fällt und ertrinkt?“
„Janita kennt sich in diesem Teil der Stadt besser aus, es irgendjemand anderes. Sie weiß immer, wo sie ist. Die Kanäle sind keine Gefahr für sie, außerdem kann sie schwimmen, ich habe es ihr beigebracht.“
Kanaima schwieg verblüfft.
„Nun zu dem, was Euch herführt. Folgt mir.“ Der Patron trat aus dem Lichtstrahl und ging in eine Ecke des Raumes. Er klopfte mehrmals an eines der Bretter der Wandverkleidung, und sogleich tat sich ein geheimer Durchgang dahinter auf. Kanaima, der sich bisher immer an einem anderen Ort mit dem Patron getroffen hatte, überlegte, ob er sich diesmal im Hauptquartier des „Unternehmens“ befand, welches der Patron betrieb. Er folgte ihm durch die Öffnung. Sie stiegen mehrere schmale Stiegen hinauf und traten durch eine Tür unvermittelt auf das Dach. Das Haus, auf dem sie sich befanden, war nicht viel höher als die umstehenden, und trotzdem hatte man von hier aus eine ausgezeichnete Sicht über die Stadt. Durch den etwas breiteren Kanalzug, der nach Nordwesten führte, und die sich anschließende Straße sah man den südlichen Zugang zum Marktplatz und dahinter das großartige Kuppeldach des Ratspalastes von Borgossa. Blickte man sich hier oben über die Schulter, so konnte man die Masten der großen Schiffe vom Hafen aufragen sehen. Ein strategisch gut gewählter Ort, dachte Kanaima und prägte sich jede Kleinigkeit ein. Schließlich war er hier, um zu lernen! Sie überquerten das Dach und kletterten über einen breiten, gemauerten First auf das Dach des angrenzenden Hauses. Die Häuser standen hier so dicht beieinander, dass man den Zwischenraum auch ohne Mühe hätte überspringen können, so schmal waren die Gassen und Kanäle, welche die Gebäude von einander trennten. Auf dem Nachbardach hob der Patron eine mit Ziegeln getarnte Falltür in der Schräge an und stieg hinab in das Loch. Kanaima tat es ihm nach. Einige verzweigte Gänge und Treppen später erreichten sie einen großen Raum; eigentlich war es fast eher eine Halle, die sehr behaglich eingerichtet war. Sie hatte zwei hohe, verglaste Spitzbogenfenster, einen Kamin und war mit Möbelstücken eingerichtet, die man am Hofe eines Königs vermutet hätte, aber nicht hier in diesem Räubernest. In der Mitte des Raumes stand ein großer, schwerer Eichentisch, auf dem neben Schreibutensilien unzählige Papiere verteilt herumlagen. Wertvolle Kerzenleuchter erhellten die dunklen Ecken, und Kanaima konnte dort, wo nicht vollgestopfte Bücherregale bis zur Decke ragten, noch wertvollere Teppiche hängen sehen. Ungefähr auf der halben Höhe eines der Regale befand sich etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Es war eine Art Schrein, so vermutete er zumindest, denn zwischen zwei frisch geschnittenen Rosen und zwei Kerzen stand dort ein kreuzförmiges Gebilde aus Gold. Es erinnerte ihn vage daran, als Kind schon einmal so etwas Ähnliches am Hals seiner Großmutter hängen gesehen zu haben. Sie und der Patron waren offenbar beide Anhänger derselben religiösen Sekte.
Der Patron schien den Blick seines Gastes zu bemerken und erklärte: „Ich habe alles verloren in meinem Leben, alles, bis auf meinen Glauben!“
Kanaima fiel es schwer, diese Äußerung zu glauben, sah er doch den ganzen Reichtum, in dem der alte Mann hier lebte. Zumindest sein Vermögen schien er gleichfalls nicht verloren zu haben, dachte er bissig, ahnte jedoch im selben Moment, dass der Patron damit etwas anderes gemeint hatte als all die materiellen Dinge, die an diesem Ort angehäuft waren.
„Und die vielen Bücher?“, wollte Kanaima wissen.
„Das ist ein Vergnügen, das ich mir gönne: Ich lese gern! Ihr solltet auch lesen.“
„Ich? Du liebe Güte, Bücher langweilen mich nur. Ich habe mich schon genug mit ihnen herumquälen müssen an der Akademie. Was hat man schon davon, ein Buchstabenreiter zu sein?“
„Wissen, mein Freund, Wissen! Das kann manchmal mächtiger sein, als das Schwert!“
„Ach, tatsächlich? Ich bin aber im Sinne des Schwertes erzogen worden und das ist es, woran ich glaube, die Macht des Schwertes! Ich brauche keinen Gott. Nur Feiglinge verkriechen sich hinter Büchern oder Göttern.“
„Ach je“, der Patron klang beinahe mitleidig, „ich sehe, ich muss Euch noch einiges beibringen. Aber jetzt setzt Euch erst einmal und trinkt.“ Er wies auf einen Stuhl ihm gegenüber. Auf dem Tisch standen zwei Becher mit kaltem Wasser.
„Ihr wisst doch, dass wir uns hier in der Stadt des Wissens befinden, oder nicht? Des Wissens und des Handelns. Hier hat das Schwert nichts zu sagen, es hat hier absolut keine Macht!“
„Ja, das weiß ich“, entgegnete Kanaima kühl auf diese Belehrung.
„Warum seid Ihr dann hier und sucht den Rat eines alten Mannes, der nicht einmal mehr weiß, wie man ein Schwert führt, da er es vor langer Zeit aufgegeben hat?“
Kanaima schwieg.
„Weil Ihr das Wissen sucht! Und das ist gut, es zeigt, dass Ihr auf dem richtigen Wege seid, denn das Schwert ist nur bis zu einem bestimmten Maße geeignet, um seine Ziele durchzusetzen. Ich nenne das den Unteren Weg. Der Obere Weg aber ist die eigentliche Kunst und unser Ziel: Die Arbeit im Hintergrund. Das Schwert ist nur ein Werkzeug, und das lässt man am besten andere führen! Ein kluger Kopf sollte sich niemals selbst mit Blut besudeln, er muss unangreifbar bleiben, nichts darf man ihm nachweisen können. Nur so kann er ungestört arbeiten.“
Kanaima nickte. Er hatte die erste Lektion des Patron verstanden. Er trank ruhig noch ein paar Schlucke des kalten Wassers.
„König Katthike besitzt auch viele Bücher, wenn nicht sogar noch mehr als Ihr!“, sagte er anschließend und zeigte auf die Regale.
„Dann muss er ein sehr kluger Mann sein!“, rief der Patron anerkennend aus und strich sich seinen grauen Schnurrbart glatt.
„Nein! Er ist ein Feigling und ein Dummkopf!“, antwortete Kanaima auffahrend. Er musste sich Mühe geben, nicht allzu viel Hass aus seiner Stimme klingen zu lassen. Das volle Ausmaß seines Abscheus gegen seinen Vater ging den Patron nichts an.
„Nun, wenn Euer Vater die Bücher nicht nur zur Zierde besitzt, sondern sie auch alle gelesen hat, dann muss er ein kluger Mann sein! Seine Leistungen für Euer Königreich bestätigen das immerhin. Zugegeben, er ist nicht gerade diplomatisch, aber das braucht er in seiner Position auch nicht zu sein, oder? Er hat Eurem Volk Wohlstand gebracht und er hat geschafft, was keiner Eurer Könige vor ihm vollbracht hat: Er hat die Hy besiegt und ein großes Stück ihres fruchtbaren Landes erobert! Und nun sagt mir, was daran feige und dumm sein soll?“
Kanaima kochte vor Wut. Warum redete der Patron so gut von seinem Vater? Wusste der denn nicht, was für ein Mensch er war?
„Mein Vater“, stieß er verächtlich aus, „König Katthike ist ein Ungeheuer. Ja, er hat Askhar Ruhm und Wohlstand gebracht, aber auch jede Menge von neuen, irrsinnigen Gesetzen, die seinem kranken Geist entsprungen sind und mit denen er jetzt sein eigenes Volk geißelt, da es die Armut selbst nicht mehr tut! Wenn ihr mich fragt, ist das nur wieder ein anderer Vorwand, um Menschen aus purem Vergnügen töten zu können! Ihr müsst nämlich wissen, König Katthike liebt es, Blut fließen zu sehen, er ist besessen davon. Und manchmal trinkt er es sogar - das für ihn angeblich so reine Blut der Hy, weil er denkt, es mache ihn stark und reinige sein eigenes Blut. Das ist doch abartig!“ Kanaima schlug sich mit der flachen Hand an den Kopf. Er war völlig aus der Fassung. „Der ehrenwerte König“, fauchte er, „hat seinen eigenen Bruder hinterrücks ermordet, um auf den Thron zu kommen! Dieses widerwärtige Schwein! Drückt sich so etwa der Mut eines Ehrenmannes aus?“
„Hmm.“ Der Patron hatte mit aneinandergelegten Fingerspitzen zugehört und schürzte nun nachdenklich die Lippen.
„Hmm? Mehr wollt Ihr dazu nicht sagen?“, polterte Kanaima unbeherrscht weiter.
„Doch, doch, nur gemach“, der Alte sah ihn unverwandt an. „Was, denkt Ihr, unterscheidet Euch von Eurem Vater? Denn ich meine mich zu erinnern, dass Ihr auf ganz ähnliche Weise wie er Euren Stiefbruder hattet töten wollen, und das nur, um an dessen Stelle zu kommen! Wenn ich ehrlich bin, erkenne ich da keinen großen Unterschied.“
Der Hieb hatte gesessen. Kanaima sprang auf und hätte beinahe dabei seinen Stuhl umgestoßen. Er ballte die Fäuste, und sein Gesicht war hochrot. Seine blauen Augen blitzten wütend.
„Ich bin anders! Ich bin nicht wie er! Ich habe erkannt, dass das falsch war. Ich habe mich geändert!“
„So, so, tatsächlich“, erwiderte der Patron ruhig.
„Gebt acht, was Ihr da redet!“, schrie Kanaima hitzig und fuhr mit der Hand unvermittelt an seine linke Seite, wo sein Schwert gehangen hätte, wenn es in Borgossa nicht verboten gewesen wäre, eines zu tragen.
Der Patron schnellte in die Höhe und entgegnete laut, aber beherrscht: „Ihr wollt mir drohen, Askharer? Darf ich Euch daran erinnern, dass Ihr es seid, der um meine Hilfe gebeten hat. Habt Ihr das vergessen? Wenn Ihr erreichen wollt, was Ihr vorhabt, dann müsst Ihr das tun, was ich Euch sage. Ihr seid der Schüler und ich bin Euer Lehrmeister. Entweder Ihr vertraut mir und meinem Wissen, oder Ihr geht direkt hier zur Tür hinaus, und wir haben uns heute das letzte Mal gesehen! Eure Hitzköpfigkeit ist hier absolut fehl am Platz. Haben wir uns verstanden?“
Der strenge Ton des Patron und seine trotz des vorgerückten Alters beeindruckende Persönlichkeit ließen Kanaima zur Besinnung kommen. Aus der Röte der Wut wurde eine Röte der Verlegenheit. Beschämt senkte er den Blick. Er hatte die Kontrolle über sich verloren, das war überaus peinlich. ‚Ich muss wohl noch hart an mir arbeiten. Auch wenn ich derart angegriffen werde, darf ich meine Emotionen keinesfalls entblößen’, erinnerte er sich an den Rat seines Onkels Karlis-Renandi. Er sah den Patron an, der beide Hände auf die Tischplatte gestützt hatte.
„Entschuldigt bitte. Ihr habt natürlich Recht“, gab er kleinlaut zu und setzte sich wieder hin. Unsicher starrte er auf die Tischplatte, während der Patron noch immer schwieg.
„Bitte, lehrt mich Euer Wissen, lehrt mich, wie ich es einsetzen kann“, bat er und knetete dabei seine Finger.
Der Patron löste sich aus seiner Haltung. „Nun gut, aber zuerst gebt Ihr mir Euer Wort darauf, Euch besser in Zurückhaltung und Selbstdisziplin zu üben. Ich kann nicht mit Euch zusammenarbeiten, wenn Ihr ein derart großes Risiko für meine Leute und mich darstellt!“
„Ihr habt mein Wort. Ich bin es, der sich hier wie ein Dummkopf aufgeführt hat!“
„Ihr seid kein Dummkopf! Ihr habt erkannt, dass Ihr nicht so sein wollt wie Euer Vater, aber der nächste Schritt ist noch nicht vollzogen. Ihr müsst versuchen, Euch komplett von ihm zu lösen, Euch von dem zu entfernen, was erst ist. Und hört auf, Euch selbst dafür zu bemitleiden, dass Ihr sein Sohn seid! Vergesst das alles. Ich weiß, dass das Euer größter Wunsch gleichzeitig aber auch Eure größte Schwäche ist. Doch diese Schwäche müsst Ihr beseitigen, oder wenigstens so verbergen, dass sie andere nicht spüren können. Besser wäre aber, wenn Euch das Erstere gelänge. Seht, Ihr seid hier in Borgossa - sehr weit weg von Eurer Heimat und weit weg von ihm! Er kann Euch hier nichts tun. Ihr könntet Euch sogar auf der Stelle von ihm freisprechen und für immer hier bleiben. Und ich vermute sogar, dass es König Katthike wahrscheinlich nicht sonderlich stören würde, Euch ganz los zu sein.“
Kanaima wusste nicht, worauf der Patron hinauswollte und ließ ihn fortfahren.
„Aber Ihr wollt unbedingt zurück in die Höhle des Löwen, zurück zu Hass und Gewalt und zurück zu den Pflichten der Krone. Ich weiß, dass Euch schweres Unrecht widerfahren ist, indem Ihr um Eure Erbfolge und die Krone Askhars betrogen worden seid, aber eines möchte ich noch wissen: Was ist Euer tatsächliches Anliegen? Wollt ihr Euch bloß an Eurem Vater rächen und nebenbei Eurer Thronrecht zurückerobern, oder habt Ihr noch andere Gründe?“
„Ich will das vernichten, was ich hasse!“, erklärte Kanaima kalt. Der Patron beugte sich vor und sah ihm tief in die Augen.
„Liebt Ihr Euer Volk eigentlich?“, fragte er mit eindringlichem Ton. „Nicht, dass das für mich eine Rolle spielt, aber für Euch sollte es doch von angemessener Wichtigkeit sein, denn schließlich trägt ein Herrscher die Verantwortung für ein ganzes Volk, und man sollte wissen, ob man diese auch übernehmen will, wenn man den Thron besteigt! Frei ist man überall, nur bestimmt nicht auf dem Thron!“
Kanaima wusste darauf zuerst nichts zu erwidern. Bisher hatte ihn nur der blinde Hass angetrieben. Er wollte, dass sein Vater und alle um ihn herum dafür büßen mussten. Er wollte seinen Vater für seine durchtriebene Verdorbenheit bestrafen, aber über die Konsequenzen hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. Der Patron hatte mit seiner Frage Recht. Konnte er überhaupt das lieben, woraus er hervorgekommen war? Konnte er das lieben, was seine Wurzeln waren: Das askharische Volk? Tief in seinem Herzen rührte sich etwas, doch es war noch zu undeutlich, um eine greifbaren Empfindung sein zu können.
„Ich werde mein Volk von Katthike und seinem Bastard-Prinzen befreien, egal was es koste und egal wie lange es dauern wird! Dann habe ich meine Rache“, antwortete Kanaima schließlich.
„Gut. Und ich will Euch dabei helfen, Euren Wunsch zu erfüllen. Durch mich habt Ihr jetzt vielleicht auch endlich das geeignete Werkzeug dazu. Das ist doch schon eine ganze Menge, oder etwa nicht?“ Der Patron sah ihn lächelnd an, und Kanaima nickte. Sie gaben sich einen festen Handschlag, der ihre Zusammenarbeit besiegelte.
„Also gut“, fuhr der Patron fort, „und nun zu dem, was Ihr alles über Euren Vater und sein Umfeld wisst. Teilt Euer Wissen mit mir, dann können wir darüber beraten, wie wir es zusammen mit meinem Wissen am wirkungsvollsten gegen ihn einsetzen können. Überlegt doch einmal, erzählt ...“
Kanaima überlegte und begann dann zu berichten: Alles über seine Kindheit, seine Jugend und seine Verbannung. Der Patron hörte aufmerksam zu und machte sich einige Notizen auf einem Zettel.
Als Kanaima geendet hatte, war es draußen vor den hohen Spitzbogenfenstern bereits dunkel geworden. Der Patron legte seine Schreibfeder beiseite und erhob sich.
„Ich werde Euch etwas mitgeben“, sagte er und ging um den Tisch herum auf eines der Regale zu. Er zog ein kleines Buch zwischen den anderen heraus und reichte es Kanaima. „Lest es aufmerksam. Danach werden wir uns wiedertreffen am ersten Tag zum Fest der Masken in einem Monat. In dem Trubel, der dann hier überall herrschen wird, könnt ihr Eure Beschatter leicht abstreifen. Einer meiner Leute wird Euch wieder wie üblich zu mir führen. Ich muss jetzt erst einmal nachdenken.“
Kanaima besah sich das kleine Buch, das einen ledernen Einband hatte, und las laut den handgeschriebenen Titel auf der ersten Seite.
„Die Verschwörung der Lichter.“ Er sah fragend zum Patron auf.
„Wir werden später darüber sprechen.“
Kanaima nickte, und sie nahmen Abschied. Ein Gehilfe des Patrons führte ihn zum Boot hinunter, mit dem er zum Hafen gebracht wurde. Dort mischte er sich unauffällig unter die Leute und verschwand schließlich in den nächtlichen Gassen.

22. Kapitel



Der Sommer hielt für Raen gleich zwei erfreuliche Ereignisse bereit. Zum einen hatte Andra ihre endgültige Heimkehr nach Shari angekündigt, und zum anderen durfte er endlich Kosam besuchen.
Und so reiste er zu Beginn des Erntemondes gemeinsam mit einem anderen Krieger nach Rotenas. Raen war ganz froh über die Begleitung, denn er kannte sich noch nicht gut auf dem weit verzweigten Netz der Wege aus, das durch den unendlichen Wald führte.
Es war eine lange Reise über drei Tage und sie übernachteten einmal in einem Turm und einmal unter freiem Himmel, was Raen viel besser gefiel, denn er liebte es, am Lagerfeuer zu sitzen und in der Nacht die Geräusche des Waldes zu hören. Das gab ihm ein angenehmes Gefühl von Geborgenheit, auch wenn er nicht wusste, was genau die Quelle der Geräusche war. Hier draußen fühlte er sich zu Hause.
Wie er zuvor schon einmal festgestellt hatte, machte ihm das Reisen erstaunlich viel Freude, denn die Ausblicke in fremde Gefilde faszinierten ihn und befriedigten gleichzeitig seine Neugier auf das Unbekannte.
Am dritten Tag erreichten sie ein großes Stück Grasland, das sie überquerten, indem sie die Pferde einfach laufen ließen. Solch eine große Fläche ohne Bäume hatte Raen zuvor noch nicht gesehen, sie war größer als ihr Chor und kündigte die weniger waldreichen Flächen des Nordens an, an deren Rand sich der Rotenas Clan befand. Von dort aus war es auch nicht mehr weit bis zum Nori. Aber auch wenn es rund um Rotenas weniger Wald gab, zählte es doch noch zum Waldland.
Als sie schließlich bei Sonnenuntergang in Rotenas ankamen, wurden sie freundlich begrüßt. Kosam erwartete ihn zusammen mit ihrer Familie auf dem Hof des Chorten, der einfach mitten in der flachen Ebene des Chors stand. Der Chorten selbst erschien lange nicht so majestätisch wie der von Shari, obwohl er viel größer war und einen Wohnturm mehr besaß. Aber er thronte eben nicht markant auf einem Felsen wie zu Hause. Auch das Land rund um Rotenas wies keine weiteren nennenswerten Erhebungen auf und wirkte deshalb etwas eintönig.
Kosam lächelte Raen glücklich an, fiel ihm aber nicht gleich in die Arme. Er schob ihre ungewohnte Schüchternheit darauf, dass ihre Familie hinter ihr stand und alle Augen auf sie und ihn gerichtet waren. Kosam nahm ihn beim Ärmel und stellte ihn jedem einzelnen vor. Raen grüßte formell und sprach der Familie, deren Kleidung unübersehbar mit den roten Trauersäumen versehen war, sein Beileid aus.
Kosam war zwar das einzige Kind ihrer Eltern, aber dafür hatte sie vier Cousinen, die sie als ihre Schwestern ansah. Die Handvoll quirliger Mädchen überschüttete Raen förmlich mit ihrer Fröhlichkeit, und er musste sich Mühe geben, weiterhin souverän zu wirken, bei all dem übermütigen Gekicher. Er fühlte sich derart gehemmt bei so viel weiblicher Aufmerksamkeit, dass er sich nicht traute, Kosam endlich einen Begrüßungskuss zu geben. Und schließlich tat sie diesen Schritt unter dem lauten Beifall ihrer Cousinen. Nun wurde Raen doch rot und lachte verschämt.
Er wurde von der Schar in die Küche geleitet, wo sich alle gemeinsam setzten und Schüsseln mit gekochtem Gemüse gereicht bekamen. Während des Essens beruhigten sich die Mädchen wieder ein wenig, und Raen konnte Kosam die Frage zuflüstern, wann sie denn endlich alleine sein könnten?
„Heute Nacht, wenn du nicht zu müde von der Reise bist“, war die Antwort. „Ich hole dich aus deinem Zimmer ab.“
Natürlich würde Raen nicht zu müde sein. Er nickte und lächelte sie verliebt an.
Kosams Eltern waren freundlich, aber reserviert. Sie stellten dem jungen Verehrer ihrer Tochter gerade nur so viele Fragen, wie es die Höflichkeit gebot, aber mit ihren Augen forschten sie immer wieder gründlich über seine Oberfläche.
Raen war das unangenehm, doch er verstand ihre Gründe. Kosam war schließlich ihre einzige Tochter, und er für sie ein Fremder. Da er spürte, wie sehr sie ihre Wissbegier unterdrückten, kam er ihnen ein wenig entgegen und beantwortete ihre Fragen etwas ausführlicher.
Nachdem die Förmlichkeiten beendet waren, und Raen seinen Schlafplatz zugewiesen bekommen hatte, lag er auf dem Bett und sein Herz beruhigte sich für einen Moment, aber nur um sogleich schneller wieder los zu galoppieren, als er Kosams Stimme flüstern hörte.
„Raen, komm.“
Er hatte sich gar nicht erst ausgezogen und schlich nun schnell zu ihr. Auf dem Korridor vor der Tür umarmten sie sich das erste Mal richtig. Er küsste Kosam lang und ausgiebig.
Dann zog sie ihn wortlos hinter sich her. Er brannte innerlich lichterloh!
Draußen war es warm, und der Sternenhimmel leuchtete über ihren Köpfen. Kosam führte ihn hinaus aus dem Chorten, wobei sie eine kleine Seitentür benutzten. Sie gingen mitten in die Felder. An einer Stelle, wo eine dichte Hecke die Sicht auf den Chorten verbarg, setzten sie sich ins hohe Gras am Rande eines reifen Kornfeldes. Kosam hatte diesen Ort offenabr mit Bedacht gewählt, denn hier schienen sie wirklich ungestört sein zu können. Heißhungrig klebten ihre Körper wenig später aneinander, und es dauerte fast die halbe Nacht, bis sie einander wieder losließen.

Raen und Kosam verbrachten die nächste Zeit ausschließlich zusammen. Sie nahm ihn überall mit hin, zeigte ihm alles ausführlich und stellte ihn bei ihren Freunden vor. Raen kostete sein Verliebtsein voll aus und empfand Kosams Anwesenheit an seiner Seite als süße Belohnung für sein schweres Liebesleiden in den vorangegangenen Wochen.
Auch wenn es auf Kosten ihres Schlafes ging, trafen sie sich jede Nacht heimlich an der Stelle, die durch einen plattgelegenen Fleck im Gras verriet, dass sich hier in behaglicher Verborgenheit zwei Verliebte trafen. Und wenn sie einmal nicht nur an die Liebe dachten, unterhielten sie sich über ihre gemeinsamen, ungewöhnlichen Ansichten, und jeder ging vollkommen in dem Verständnis des andern auf, wodurch sich ein immer festeres Band des Vertrauens zwischen ihnen flocht.
Eines jedoch bemerkte Raen an Kosam, und er war darüber nicht so recht glücklich. In Shari war Kosam ein viel offenerer, lebenslustigerer Mensch gewesen. Hier bei sich zu Hause verhielt sie sich jedoch überaus vorsichtig, besonders wenn andere Leute anwesend waren. Dann schien sie bloß nur noch ein Hauch ihrer selbst zu sein; ihre Stimme dünn und leise, ihr Gang weniger aufrecht. So als versuche sie ihre wahre Natur zurückzudrängen aus Angst, damit auf irgendeine Art den Unmut ihrer Mitmenschen zu erregen. Diese derartige Unterdrückung ihres Wesens gefiel ihm ganz und gar nicht, und er sprach sie eines Morgens darauf an.
„Verstehst du das nicht?“, fragte sie ihn zurück.
„Ja und nein. Ich weiß zwar, was du meinst, aber ich lasse mir nicht verbieten, so zu sein, wie ich bin. Am Anfang haben die Lehrmeister und all die anderen es zwar versucht und mich regelrecht damit gequält, aber inzwischen bin ich dazu übergegangen, mich zu denken, was ich will!“
„Aber sagst du auch, was du denkst?“
„Ja, oft genug sogar, und fast jedes Mal gibt es auch Ärger, aber der lässt mich kalt!“
„Du hast ja auch leicht reden, du bist ein Krieger und dir gestattet man viel mehr als uns anderen. Ich dürfte nicht so reden, auf keinen Fall. Mich lässt der Ärger auch nicht kalt, besonders der Ärger von meinen Eltern! Was sagt denn dein Vater dazu?“
„Nichts. Na ja, zumindest nicht viel. Wir verstehen uns gut.“
Kosam seufzte. „Du hast wenigsten jemanden, mit dem du reden kannst, aber ich ... ich habe hier niemanden. Nicht einmal eine von meinen Cousinen versteht mich, geschweige denn meine Eltern. Raen, du bist der Einzige, mit dem ich reden kann!“ Ihre Unterlippe begann zu zittern, so sehr schien ihr ihre Situation zuzusetzen.
„Ich kann nicht so sein, wie ich bin. Ich bin nicht stark genug dafür, so wie du.“ Sie begann leise zu weinen. Raen nahm sie in den Arm, um sie zu trösten. Er wusste, dass er es besser hatte. Er hatte zwar nur wenige, aber er hatte immerhin ein paar Freunde, mit denen er reden konnte. Kosam hingegen schien vollkommen allein zu sein.
„Bitte hol mich hier raus!“, flüsterte sie kaum hörbar.
„Was?“
Sie löste sich von ihm und sah im direkt in die Augen.
„Bitte hol mich hier raus!“, wiederholte sie mit fester Stimme. Raen erfasste eine Welle des Unbehagens.
„Wie soll ich das denn machen?“
„Indem du mich heiratest! Dann kann ich hier fort!“
Er stutzte. Das war deutlich.
„Bei euch in Shari habe ich mich viel besser gefühlt.“
„Ich weiß aber nicht, ob das bei uns auch tatsächlich viel besser ist, verstehst du? Bei uns sind doch die Regeln nicht anders als hier bei euch.“
„Doch, es würde besser sein, denn du bist ja da!“
„Ich ... ich weiß nicht, ob das eine so gute ...“, er brach ab, ihre plötzliche Bitte hatte ihn vollkommen überrumpelt. Bisher hatte er noch nicht über das Heiraten nachgedacht. Er war doch das erste Mal mit einer Frau zusammen, wie sollte er da gleich schon ans Heiraten denken. Sicher, er liebte Kosam, sehr sogar, aber Heiraten war ein großer Schritt. Mit einem Mal würde er vom Zweiten in den Vierten, den verantwortungsvollsten Grad aufsteigen. Dafür fühlte er sich noch nicht bereit. Er hatte ja gerade erst gelernt, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen.
„Ich werde darüber nachdenken“, sagte er, und er spürte, dass ihr diese Antwort nicht genügte. Sie wurde still und blickte ins Gras zu ihren Füßen. Aber mehr konnte er ihr nicht geben. Das ging alles viel zu schnell. Raen spürte wie der Strudel der Gefühle ihn zu packen und zu ersticken drohte. Er strich Kosam über die Wange und erhob sich dann.
„Ich gehe in den Tempel, die Morgenwäsche wartet. Wir sehen uns oben in der Küche?“
Kosam nickte, und Raen ließ sie allein im Gras sitzen. So sehr er sie auch gerne getröstet und in den Arm genommen hätte, aber er musste jetzt eine Weile allein sein!

Die letzten paar Tage in Rotenas waren seltsam verändert seit Kosams Offenbarung, die er eigentlich als Kompliment hätte empfinden sollen und nicht als Bedrängnis. Aber unerwartete Schwere hatte sein Gemüt verdüstert, und er spürte, dass er dringend Rat brauchte, denn er selbst kam mit seinen Gedanken nicht mehr weiter. Er hatte einfach noch zu wenig Erfahrung in solchen Dingen. Oh, er hätte schreien können! Bisher war alles schön und unkompliziert gewesen, und er hatte sich wunderbar sorglos gefühlt. Warum war das Gute nur so kurzlebig?
Als Raen Rotenas verließ, ließ er Kosam mit gemischten Gefühlen zurück. Er würde sie vermissen, aber es würde auch nicht wieder so sein, wie es vorher einmal gewesen war. Das spürte er. Die Unbeschwertheit war verflogen, und der Ernst des Lebens war jäh wieder zurück im Zentrum seines Bewusstseins.
Die drei Tage, die sie durch den Wald zurück reisten, konnte Raen an nichts anderes denken. Er war sehr schweigsam, und sein Begleiter wunderte sich darüber, denn auf der Hinreise hatte Raen ununterbrochen geredet.
Nachdem sie in Shari angekommen waren, wurde Raen sogleich zum ersten Ernteeinsatz eingeteilt, und er bekam dadurch vorerst keine Möglichkeit, mit jemandem über seine Misere sprechen zu können. Denn er war auf dem Hof am Fluss eingesetzt, wo er mit einigen anderen Kriegern das Korn schnitt. Hals über Kopf stürzte er sich in die Arbeit auf den Feldern und fiel abends todmüde auf sein Lager. Die brennende Sonne und die schwere, monotone Arbeit machten seine Gedanken träge, und so konnte er sein Problem wenigstens für die nächsten Wochen verdrängen. Die einzig erfreuliche Abwechslung bot das allabendliche Bad im Fluss. Er führte zu dieser Jahreszeit recht wenig Wasser, was die Stromschnellen ungefährlich machte. Raen hatte einen Riesenspaß daran, mit den anderen dort herum zu plantschen, auch wenn seine Knochen schmerzten. Beim Schwimmen von den lachenden Mädchen und Frauen beobachtet, fiel allmählich etwas von dem Ernst von ihm ab, und er fühlte sich endlich wieder wie der Jugendliche, der er eigentlich war.
Als die Felder abgeerntet waren, konnten die Krieger sich wieder auf den Weg zum Chorten machen. Die Bauern und Hofarbeiter würden den Rest ohne sie erledigen.
Nur wenige Tage später traf Andra in Shari ein. Sofort ließ Raen alles stehen und liegen und stürmte ihr entgegen, um sie mit überschwänglicher Wiedersehensfreude zu empfangen.
„Oh, lass mir noch etwas Luft zum Atmen!“, lachte Andra, als Raen sie fest an sich drückte.
„Schön, dass du wieder da bist!“ Er sah seine Schwester von oben bis unten an. Ihre Züge waren noch etwas schmaler geworden, und das Mädchenhafte in ihr schien sich nun ganz verabschiedet zu haben, was sie noch viel ernster wirken ließ. Ihre Augen aber, die so grün strahlten wie die seinen, spiegelten ihre tief empfundene, herzliche Zuneigung wider, die sie für ihn hegte. Und Raen, der meinte, nun langsam einen Blick für Frauen bekommen zu haben, gestand sich ein, dass seine Schwester eine sehr begehrenswerte Frau geworden war. Ihre ebenmäßigen Züge mit den hohen Wangenknochen beeindruckten ihn, und er vergaß dabei, dass er beinahe sein eigenes Spiegelbild vor sich hatte, so ähnlich waren sie sich. Aber auch ihre Mutter blickte aus ihren zwei Gesichtern, und so war auch Roman ganz gerührt bei dem Anblick seiner beiden ältesten Kinder, die nun auf der Schwelle zum Erwachsenwerden standen.
Dass Alea in ihren Kindern so deutlich sichtbar weiterlebte, machte ihn am meisten glücklich. Das Bild seiner verstorbenen Frau würde er nun immer auffrischen können. Roman hatte sich schon darum gesorgt, denn nach all den Jahren war das Gesicht seiner Frau bereits verblasst. Jetzt aber brauchte er nur seine Tochter anzuschauen, um seine geliebte Alea sehen zu können. Er drückte sie ebenfalls fest an sich.

Auch Resa war natürlich bei der großen Wiederzusammenführung seiner Familie, aber da ihm seine große Schwester über die Zeit ihrer Abwesenheit fremd geworden war, versteckte er sich hinter Raens Rücken und wich nicht eine Handbreit von ihm ab, während er immer wieder bewundernd zu ihm aufsah. Sein großer Bruder war für ihn sein ein und alles, sein Vorbild. So wie Raen wollte er auch einmal werden. Ja, auch er wollte einmal ein Krieger sein! Leider nur hatte Raen nicht mehr so viel Zeit für ihn. Er musste jeden Tag mit den anderen Kriegern üben und war dann abends viel zu müde, als dass er ihm noch eine Geschichte erzählen konnte. Und dabei liebte er Raens Erzählungen. Sie waren besser, als die von Shani, oder die seines Vaters, der, wie er fand, nicht besonders gut Geschichten erzählen konnte. Aber Raen berichtete ihm immer von dem, was er bei seiner Ausbildung erlebte, ob nun auf dem Übungsplatz, bei den Pferden oder draußen im Wald. Das alles fand Resa sehr spannend. Aber er verstand auch, warum sein Bruder nicht mehr so oft bei ihm sein konnte, und er freute sich deshalb um so mehr über jeden Augenblick, den er in seiner Nähe verbringen konnte. Nur das mit dem Mädchen, das hatte er noch nicht verstanden. Warum hatte sein Bruder so viel Zeit mit ihr verbracht und alles um sich herum vergessen, unter anderem auch ihn? Resa war aus unerfindlichen Gründen böse auf das Mädchen mit den schwarzen Haaren, obwohl sie ihm nichts getan hatte. Aber sie nahm ihm seinen Bruder weg, und jetzt war er sogar bei ihr gewesen. Resa hoffte inständig, dass Raen eines Tages nicht etwa ganz bei ihr bleiben würde. Er blickte wieder zu seinem Bruder auf, der sich gerade mit Osa unterhielt. Der hatte Andra begleitet, und jeder wusste natürlich auch, warum. Der Grund seines Besuchs hatte sich schon Tage vorher überall herumgesprochen. Osa wollte Andra heiraten und musste nun bei ihrem Vater vorstellig werden. Misstrauisch beäugte Resa den kräftig gebauten, jungen Mann in seinen blaugrünen Clanfarben, wie er da neben Andra stand. Plötzlich lachte Andra hell auf, weil Raen einen Scherz gemacht hatte. Und Resa sah, dass sie einen Arm um Osa legte. Auch Osa lächelte, doch das Lächeln gefiel dem Achtjährigen nicht.

„Was macht denn deine Ausbildung?“, wurde Raen am nächsten Tag beim Morgenmahl von Andra gefragt.
„Er ist der Beste im Bogenschießen! Und im Reiten!“, tönte Resa vorlaut dazwischen.
„He, lass doch deinen Bruder selbst antworten, ja?“, mahnte Andra mit erhobenem Zeigefinger.
„Wann hast du denn deine Schwertleite? Das kann doch nicht mehr lange hin sein“, fragte sie schließlich weiter.
Raen musste lächeln. Es war klar, warum das wissen wollte, denn seine Schwertleite würde der Moment sein, mit dem sie beginnen würde, sich ernsthaft Sorgen um ihn zu machen. Er würde dann das tun müssen, wofür er erwählt wurde. Raen dachte, dass Andra in ihren Lehrjahren bei den Medizi bestimmt ausreichend erfahren hatte, was ein Krieger tat. Aber ihre Fürsorge rührte ihn sehr.
„Noch brauchst du dir keine allzu großen Sorgen zu machen, liebes Schwesterchen! Meine Schwertleite ist noch hin. Vielleicht im nächsten Frühjahr.“
Andra grinste, offenbar hatte er sie verstanden.
„Ich habe nicht nur von dem kleinen Schelm hier gehört, dass du sehr gut bist!“ Andra strich Resa über seinen Schopf.
„Ach, nie darf ich etwas erzählen!”, murrte Resa und stütze beleidigt das Kinn in seine Hände. Andra hob wieder einen Finger. „Wenn du an der Reihe bist, dann kannst du etwas zum Besten geben. Aber jetzt ist Raen dran.“
Osa begann zu lachen.
„Sei nicht traurig, mein Freund, das macht sie mit mir auch immer so!“ Er stupste Resa an und rümpfte scherzhaft die Nase. „Mädchen!“
Resa blickte ihn an als verstünde er nicht.
Raen nickte verlegen. „Ja, ich bin wohl ganz gut, aber sie haben sich mit mir auch viel Mühe geben müssen.“
„Das kann ich mir lebhaft vorstellen! Deinem Dickschädel möchte ich nicht sagen, was er zu tun hat! Das kenne ich von früher.“
„Wieso, ich mache doch immer, was man mir sagt.“ Raen blickte sie schmunzelnd an.
„Ach ja? Und was ist mir da zu Ohren gekommen? Ich sage nur: ‚Der wilde Sohn von Roman’! Besser wohl noch: ‚Die wilden Söhne von Roman’! Ich glaube, ich muss hier einiges für die Wiederherstellung unserer Familienehre tun! Vater hat mir natürlich alles erzählt. Ihr zwei Rabauken! Gut, dass ich wieder da bin, meine strenge Hand hat hier offensichtlich gefehlt!“
Raen lachte laut, und Andra knuffte ihn einmal fest in den Oberarm. Aber wahrscheinlich hatte sie doch ein bisschen Recht.

Dass seine Schwester wieder zu Hause war, gab Raen frische Zuversicht für den Schritt, den er zu gehen gedachte. Er fühlte die wärmende Sicherheit ihrer Gegenwart, und ihre vernunftappellierende Art hatte sie sich ja glücklicherweise auch erhalten. Auch wenn ihn das früher immer gestört hatte, war er jetzt doch froh darüber. Damit war sie der ruhige Gegenpol zu seinem oft halsbrecherischen Draufgängertum. Ihr manchmal kühles, aber sehr überlegtes Wesen zu spüren, tat ihm gut, und bald war es zwischen ihnen wieder so vertraut, als wäre sie nie fortgewesen.
Raen hoffte natürlich auch, dass seine Schwester bereit sein würde, sich sein Problem anzuhören. Deshalb sprach er eines Abends mit ihr allein im Zimmer ihres Vaters. Sie saßen im Erker ganz wie in alten Zeiten, und Raen erzählte ihr in welcher Zwickmühle er steckte. Doch auch nachdem er Andra alle - zumindest fast alle - seine Gedanken um Kosam offenbart hatte, sagte sie schlicht: „Lass dein Herz entscheiden. Heirate sie, wenn du sie liebst. Und wenn nicht, lass es bleiben. Ganz einfach.“
„Ganz einfach!“, entgegnete Raen überrascht. „Was um alles in der Welt ist daran einfach? Ich wünschte, ich hätte deine Klarsicht, Schwester.“
Doch Andra zuckte nur lächelnd mit den Schultern.
Nach diesem Gespräch fühlte Raen sich hilfloser denn je. Eine Entscheidung zu fällen schien ihm unmöglich. Lange schob er es vor sich hin und bewerkstelligte es noch nicht einmal, Kosam eine vernünftige Antwort auf ihre doch recht zahlreichen Briefe in der letzten Zeit zu schreiben. Schließlich drängte es ihn zu Loenka, und zu seiner Erleichterung nahm der Priester sich der Sache sehr gerne an.
„Du musst dir ernsthaft überlegen, ob du dafür bereit bist, Raen. Ich meine, gut zusammenpassen tut ihr ja, aber es gehört noch viel mehr dazu als das, um auch eine gute Ehe zu führen. Du wirst viel mehr Verantwortung haben. Neben den Pflichten als Krieger, die nicht gerade gering sind, wirst du auch deiner Frau und später auch deinen Kindern gegenüber gerecht werden müssen. Vielleicht solltest du darüber auch noch mal mit deinem Vater sprechen. Der kann dir erzählen, wie das ist, Krieger und Familienvater zu sein.“
‚Kinder?’, dachte Raen halbwegs entsetzt. Daran hatte er nun wirklich noch nicht gedacht.
„Ich weiß nicht, Loenka, das geht mir alles irgendwie zu schnell. Ich bin erst siebzehn, ich will doch noch keine Kinder!“
„Ihr müsst ja auch nicht gleich welche bekommen. Da könnt ihr euch beruhigt noch etwas Zeit lassen. Ihr seid noch jung.“
„Warum muss das alles immer nur so kompliziert sein!“, stöhnte Raen.
„Es ist nicht kompliziert, man sollte sich nur ausgiebig Gedanken darüber machen, sein Herz befragen und dann eine Entscheidung treffen.“
Das hatte auch Andra gesagt, erinnerte er sich und fragte: „Kosam ist todunglücklich, und ich will ihr helfen, aber ... so?“ Raen hatte es gewagt, Loenka zuvor die volle Wahrheit zu erzählen, und der Priester hatte sich sehr besorgt um Kosam gezeigt.
„Das musst du herausfinden, dabei kann ich dir nicht helfen. Aber diese Entscheidung steht dir zu, und deshalb nimm dir dafür die Zeit, die du brauchst. Kosam sollte dafür Verständnis haben.“
Als Raen den Tempel verließ, hatte er das Gefühl, auch mit Loenkas Rat nicht wesentlich weitergekommen zu sein. Der Priester hatte zwar Recht damit, dass er ihm die Entscheidung nicht abnehmen konnte, aber wie sollte er denn ganz allein jemals herausfinden, welches überhaupt die richtige Entscheidung war?

23. Kapitel



Das Fest war das größte, welches Askhari-Kaise seit der legendären Siegesfeier nach der großen Eroberung je gesehen hatte. König Katthike ließ sich nicht lumpen und richtete neben einem fulminanten Bankett ein eindrucksvolles Turnier mit noch mehr Teilnehmern als zu dem jährlichen Turnier der Besten aus. Setnas Großjährigkeit sollte mit dem größten nur erdenklichen Aufwand gefeiert werden, und von allem sollte es nur das Beste geben. Es musste einem Kronprinzen würdig sein.
Setna war der ganze Pomp um ihn herum völlig egal, er machte sich aus alldem nichts, ja, das Aufheben, welches sein Vater um ihn gestaltete, war ihm eher sogar unangenehm. Vor allem in den letzten Tagen vor dem Fest hatte er sich besonders lächerlich und geckenhaft verhalten. Und jetzt saß er neben ihm auf dem Podium auf seinem Thron und tat so, als ob er der großzügigste Mensch auf Erden wäre. Sein gönnerhaftes Gebaren fand Setna peinlich. Er war der Ansicht, dass sein Vater es als König nicht nötig hatte, sich bei seinen Untertanen derart einzuschmeicheln. Er gefiel ihm deutlich besser, wenn er über seinen Plänen hockte und sich neue Grausamkeiten ausdachte.
Äußerst gelangweilt biss Setna von einer Lammkeule ab. Es waren reichlich Köstlichkeiten aufgetragen worden, das Bankett bereits im vollen Gange und die Leute so heiter und fröhlich, wie man es in der Gegenwart des Königs nur sein konnte.
‚Welch Vergeudung’, dachte Setna, der übertriebenen Üppigkeit des Banketts überdrüssig. ‚Das ganze Geld hätte man viel besser einsetzen können. Aber bestimmt nicht, um all diese Hofschranzen abzufüttern!’
Katthike legte Setna eine Hand auf die seine und raunte ihm voller Vorfreude zu:
„Ich habe eine solch schöne Überraschung für dich, mein Sohn! Warte nur, bis du sie bekommst, du wirst dich freuen!“
Setna nickte Katthike mit einem angedeuteten Lächeln zu. Vielleicht hatte sein Vater ja diesmal tatsächlich das für ihn, was er sich wünschte! Setna musste zugeben, dass er gespannt darauf war. Er hatte sich nicht oft etwas wirklich gewünscht, aber diesmal hoffte er, dass Katthike ihm gut zugehört hatte. Es waren keine Prachtgewänder, keine goldene Rüstung oder wertvolle Pferde, nein, davon hatte er bereits genug. Das, was er sich wünschte, war ein Krieg. Er war jetzt schließlich großjährig, und er wollte, dass sein Vater endlich wieder in den Krieg zog und ihn mitnahm. Am besten einen Krieg gegen diese verdammten Hy, die er genauso zu hassen gelernt hatte wie jedes andere askharische Kind. Er verabscheute die arrogante Bauernbrut hinter dem Junghal-Gebirge, und er hatte die ewigen Trainingskämpfe satt. Er wollte gegen richtige Gegner kämpfen, wollte sein Schwert endlich einmal mit Blut tränken!
Setna lächelte breiter bei diesem Gedanken. Er nahm seinen Weinkelch und prostete seinem Vater ausgelassen zu. Danach grinste er weiter geübt blasiert in die Runde.
Mit an ihrem Tisch auf dem Podium saß der klägliche Rest der Königsfamilie, der lediglich aus Katthikes Mutter Posana und seiner Tochter Laika bestand. Setna konnte sie beide nicht leiden, und das beruhte mit Sicherheit auch auf Gegenseitigkeit, aber das war ihm relativ gleich, da er die verwelkte, alte Greisin und dieses vorlaute, für seinen Geschmack viel zu selbstbewusste Weibsstück von Stiefschwester sowieso kaum zu Gesicht bekam. Aber für dieses so wichtige Ereignis hatte sein Vater alle aus ihren hinterletzten Winkeln heran zitiert. Zum Glück, dachte Setna, saßen die Vettern und Basen des Königs und deren Familien zu ihren Füßen an den zahlreichen anderen Tischen in der großen Halle. Auch wenn sie keinen Ton zu sagen wagten, fiel ihm doch sehr wohl ihre offensichtliche Feindseligkeit gegen ihn auf. Sie konnten es noch immer nur schwerlich akzeptieren, dass der König ihn zu seinem Thronfolger ernannt hatte, was er zu Beginn des Banketts noch einmal sehr deutlich für alle in einer Ansprache wiederholt hatte. Dabei hatte Setna bemerkt, dass es seinem Vater ebenso zu gefallen schien, die Missbilligung in den Augen der höchsten Familien von Askhar zu lesen. Und er bewunderte ihn für sein sadistisches Geschick aus vollem Herzen. Schon jetzt sah Setna jenem Tag mit großer Genugtuung entgegen, an dem er die Macht über all diese aufgeblasenen Nichtsnutze in die Hand bekommen würde.
Er ließ seinen Blick scheinbar gelassen über die illustre Gesellschaft schweifen. Auch die Mitglieder des Rates waren weit genug von ihm entfernt platziert. Setna beobachtete den erlauchten Zirkel der königlichen Ratgeber abschätzig. Der undurchsichtige Konsultas Lata war ihm darunter am meisten zuwider und er verstand nicht, warum dieser bei seinem Vater so hoch in der Gunst stand. Für ihn war Lata bloß ein ausländischer Schmarotzer, der sich in dem Glanze der wahren Größe des askharischen Reiches sonnte. Danach kamen gleich all die anderen wichtigtuerischen Gelehrten, die sein Vater berufen hatte. Den einzigen unter ihnen, den er zu schätzen gelernt hatte, war General Kasai, dessen patriotische Gradlinigkeit und enormes Wissen über die Kriegsführung ihn beeindruckten. Der General war der einzige Mann bei Hofe, dem der König wirklich und absolut vertrauen konnte. Kasai war Setnas Vorbild und die Verkörperung eines echten askharischen Ehrenmannes. Bei ihm wollte er - wenn er durfte - alles lernen, was es über die Kriegführung zu wissen gab, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als an seiner Seite ein kampfdurstiges Heer zum Sieg zu geleiten.
Wohlige Vorfreude erfüllte ihn. Sein Vater würde ihm bestimmt genau das schenken. Es war höchste Zeit für ihn, endlich in den Krieg zu ziehen, so wie es alle anderen Söhne adligen Blutes taten, wenn sie großjährig wurden.
Plötzlich hämmerte Katthike mit der Faust auf den Tisch, dass es laut schepperte. Erschrocken kam die gesamte Halle zum Schweigen.
„So höret nun Seine Majestät!“, rief der Hofmarshall hinter Katthike. Dieser erhob sich und deutete auf Setna.
„Da meinem Sohn, Prinz Hokhan Setna, zu seiner Großjährigkeit ein ganz besonderes Geschenk gebührt, habe ich keine Kosten und Mühen gescheut, ihm dieses auch machen zu können!“ Katthike klang sehr klar, obwohl er schon sehr viel getrunken hatte. Setna wurde von freudiger Erwartung gepackt, aber er versuchte, sie zu unterdrücken. Keiner sollte bemerken, dass es etwas gab, das ihn aus der Ruhe bringen konnte. Er wollte sein Geschenk würdevoll entgegennehmen.
„Nun, mein Sohn, ich bin sicher, es wird dir gefallen. Es ist eine Zierde, mit der sich besonders der Hokhan von Askhar schmücken sollte. Nur die höchsten aller Edelmänner können sich mit ihr auszeichnen! Und da du mit dem heutigen Tage deiner Großjährigkeit der höchste aller Edelmänner bist, darfst du auch nicht länger darauf verzichten!“ Katthike machte eine theatralische Pause, und Setna platzte fast vor Neugier. Gebannt sah er seinen Vater an und ließ seine äußere Fassung dabei schließlich doch außer Acht: Sein Gesicht begann vor jugendlicher Freude zu glühen.
„Ich habe die besten Männer für dich ausgewählt, und sie werden ihr Bestes geben, dich nicht zu enttäuschen! Obwohl solch eine Unternehmung - wie wir alle wissen - immer einen ungewissen Ausgang parat hält. Aber das macht diese Sache ja auch so spannend! Schon morgen können diese wackeren Männer aufbrechen, wenn du es wünschst, Setna, du musst ihnen nur den Befehl dazu geben!“ Er schwenkte seinen Arm in Richtung des Eingangs. Die große Tür würde geöffnet und ein Dutzend Gestalten traten ein. Neugierig wurden sie von der Menge beäugt. Als sie näher kamen, sah Setna, dass sie gar keine Uniformen oder Rüstungen trugen. Erster Missmut machte sich in ihm breit. Was sollte das? Er hatte gedacht, er würde Soldaten an seine Seite gestellt bekommen, die ihn in den Krieg begleiteten. Aber diese Kerle da waren alles andere als Soldaten; ein unordentlicher Haufen von offensichtlich rauen Gesellen. Sie verbeugten sich gemeinsam vor dem König und ihm.
„Zu Euren Diensten, verehrter Prinz Hokhan Setna!“, riefen sie aus voller Brust aus.
Setna war stumm vor Enttäuschung. Es war wie ein kalter Guss.
„Was ist, freust du dich nicht?“, fragte sein Vater.
„Doch, aber was bedeutet das eigentlich?“, flüsterte er.
„Hahaha, willst du mir etwa sagen, dass du das nicht weißt?“
Setna sah seinen Vater an. Die Enttäuschung war übermächtig. Natürlich wusste er, was diese verwegenen Figuren dort unten zu bedeuten hatten, aber er wollte es nicht wahrhaben. Das war absolut nicht das, was er gewollt hatte!
„Doch, habt Dank mein König, ich fühle mich sehr geehrt“, presste er hervor und war bemüht, glücklich auszusehen, denn nichts war jetzt wichtiger, als vor all diesen Leuten Haltung zu bewahren.
„Vielen Dank, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!“
Katthike lächelte breit. „Wusste ich es doch!“
Setna sah verlegen nach unten.
„Und, was ist jetzt?“, wollte Katthike wissen.
„Was meint Ihr?“ Nur mit Mühe brachte er diesen Satz ohne ein Zittern in der Stimme hervor
„Na, wirst du ihnen jetzt den Befehl geben?“
Setna straffte seinen Rücken, blickte gebieterisch auf die Männer herab und gebot laut und vernehmlich den Aufbruch der „Jagdgesellschaft“, dann setzte er sich. Die wilde Bande verbeugte sich vor ihm und seinem Vater.
„Es wird uns ein Vergnügen sein, erfolgreich wieder heimzukehren, Majestät!“, erwiderte der, der allem Anschein nach der Anführer war, und der Trupp verließ die Halle auf demselben Wege, wie er gekommen war. Applaus brandete auf, ob dieses überaus wertvollen Geschenks, das Katthike seinem Sohn gemacht hatte und ihm den Neid der Wohlhabenden sicher sein ließ.
„Eine Jagdgesellschaft! Ist das nicht toll?“, flüsterten sie sich zu.
„Wer kann sich das heute noch leisten!“
„Wo hat er nur die vielen Männer gefunden? Hoffentlich sind sie auch erfolgreich!“
Setna saß wie erschlagen in seinem Stuhl. Am liebsten hätte er das Bankett sofort verlassen. Ihm war es vollkommen egal, ob die Jagdgesellschaft Erfolg haben würde. Wenn es nach ihm ginge, konnte sie bereits an der Grenze zu Hy verrecken!
‚So eine Verschwendung’, dachte er, da er wusste, wie viel Gold dahinter steckte. Was hatte sich sein Vater bloß dabei gedacht? Hatte er ihm überhaupt jemals richtig zugehört? Offenkundig nicht! Was sollte er mit einem Hy-Sklaven anfangen? Womöglich noch mit einer Frau? Er machte sich nichts aus solchen Statussymbolen. Sie waren überflüssig, zu nichts nutze, lediglich weiterer Ballast in seinem bereits überdimensionalen Besitz. Er brauchte nichts, er wollte einfach wie ein Soldat leben, ein genügsamer Kämpfer sein, ein Eroberer, der es verdient hatte, auf den Thron zu kommen.
„Halt!“, rief er plötzlich. „Mein König, lasst sie zurückholen!“
Katthike blickte ihn fragend an.
„Tut es, bitte“
Katthike ließ die Männer zurückrufen, und als sie wieder vor ihnen standen, verriet seine Miene leichten Unmut.
Aber Setna wollte das Geschenk nicht ablehnen. Auf keinen Fall. Das hätte seinen Vater sehr gedemütigt und das wollte er nicht. Erst recht nicht vor der ganzen Meute, die nur danach lechzte, dass der König bei irgendeiner Gelegenheit sein Gesicht verlieren könnte. Er wollte versuchen, das Geschenk - sowenig es ihm auch gefiel - wenigstens so umzugestalten, dass er vielleicht doch noch etwas davon hatte.
„Höret, ihr mutigen Jäger! Ich will, dass ihr noch mutiger seid und mir aus dem Lande der Hy einen Krieger bringt!“
Katthike stutzte.
„Warum denn das?“, fragte er entgeistert. „Warum keine von den hübschen Frauen?“
„Weil ich an schönen, askharischen Frauen hier genug haben kann. Wenn mir aber schon das Beste gebührt, dann will ich einen Krieger aus der besagten Kämpfergilde, welche bis über die Grenzen hinaus berühmt für ihre außerordentliche Kampfkunst ist. Damit ich mich mit ihm messen kann!“
Katthike stand plötzlich der Mund offen. Und seine Miene sagte nur allzu deutlich: ‚Warum bin ich nicht darauf gekommen!’
Setna blickte ihn erhobenen Hauptes an.
„Gut, mein Sohn, so soll es sein! Nun zieht denn los, ihr tapferen Jäger, und versucht euer Glück! Ihr wisst ja, die Belohnung steigt mit dem Wert der Ware!“ Katthike machte einen Wink, und der Trupp entfernte sich ein weiteres Mal.
Stolz sah er auf Setna.
„Das war eine hervorragende Entscheidung, mein Sohn!“ Er klopfte ihm auf die Schulter.
Setna lächelte gezwungen und ließ sich Wein einschenken. Er würde sich jetzt betrinken, um den Rest des Abends zu überstehen.

„Aber Vater, ich hatte Euch doch gesagt, was ich mir wünsche! Habt Ihr das etwa vergessen?“, klagte Setna am nächsten Tag beim Morgenmahl.
„Nein, ich habe es keineswegs vergessen“, gab sich der König ungerührt.
„Aber wann bekomme ich es denn?“
Katthike seufzte. „Wenn du alt genug bist!“
„Aber ich bin jetzt alt genug dafür! Gestern habt Ihr noch gesagt, ich sei jetzt ein Mann.“
Der König schien gereizt. Seine Kiefermuskeln begannen zu mahlen. Setna kannte dieses Alarmsignal sehr wohl, übersah es aber in seiner Hitzköpfigkeit und lamentierte weiter.
„Ich will kämpfen, nicht immer nur üben, richtig kämpfen! Außerdem ist es höchste Zeit, dass Ihr wieder Krieg führt. Ein kriegsfauler König ist nicht gut für Askhar, das sagt selbst der General!“
Jetzt platzte Katthike der Kragen.
„Das ist UNERHÖRT!“, schrie er, ließ seine Faust auf den Tisch krachen und lehnte sich seinem Sohn drohend entgegen. „Willst du Grünschnabel mir erzählen, wann der richtige Zeitpunkt für einen Krieg ist? Du weißt doch gar nichts! Nicht einmal, was es bedeutet, richtig zu kämpfen! Welch unerhörte Selbstüberschätzung ist dir in dein Spatzenhirn gefahren?“
Setna erkannte mit Schrecken seinen Fehler. Sofort wurde er kleinlaut.
„Entschuldigt bitte, Vater.“
Katthike pumpte Luft für den nächsten wütenden Tadel in seine Lungen.
„Willst du dich gegen mich auflehnen, du undankbarer Flegel! Spuckst hier große Töne, kaum dass ich dich in deinen Stand erhoben habe! Aber ich bin der König und dein Vater, und ich entscheide, wann du alt genug sein wirst, all das tun zu können, wonach es dich gelüstet! Hast du verstanden? Und ich werde keine Diskussion darüber führen!“
Setna senkte den Blick auf seine Hände, die er verschüchtert in seinem Schoß gelegt hatte. Er brachte keinen Ton mehr heraus. Er kannte den Zorn seines Vater nur zu gut und fürchtete sich nun davor. Zu Recht - denn er hatte immer in Erinnerung, was dieser mit seinem leiblichen Sohn gemacht hatte. Auch wenn er, Setna, momentan für den König an erster Stelle stand, war es doch durchaus nicht undenkbar, dass sich Katthikes Gunst durch das kleinste, dumme Ungeschick schnell gegen ihn wenden konnte.
„Du wirst noch viel mehr Training an den Waffen bekommen, und du wirst so lange üben, bis ich sage, dass du gut genug bist, um in den Krieg zu ziehen! Und jetzt verschwinde aus meinen Augen! Ich will dich bis zum Beginn des Turnieres nicht mehr sehen!“ Des Königs Stimme war nur noch ein gefährliches Knurren. „Und richte dem Diener vor meiner Tür aus, unverzüglich General Kasai zu mir zu bringen. Dessen Äußerungen gehen beileibe zu weit, erst recht, wenn er dadurch einem unerfahrenen Halbstarken wir dir Flausen in den Kopf setzt!“
Setna schoss das schlechte Gewissen heiß durch die Adern. Er hatte zu viel ausgeplappert, und der General bekam seinetwegen nun Schwierigkeiten. So schnell er nur konnte, verließ er den Balkon und verschwand in seinen Gemächern.

*



‚Der kleine Wurm Setna muss doch in diesen Tagen sein Großjährigkeitsfest haben’, dachte Kanaima bei sich, als er gemütlich bei einem verspäteten Mittagsmahl im Patio seines kleinen Hauses saß, das er in Borgossa bewohnte. Die Sonne schien wie immer großzügig vom Himmel hinab. In dieser Stadt war das Klima einfach herrlich! Im Winter mild und trocken und im Sommer durch die Seebriese nicht zu warm. Nur einige Wochen im Hochsommer und bei Windstille herrschte drückende Hitze in den Gassen zwischen den hohen Mauern der Häuser. Im Herbst und im Frühjahr brachten die vielen Kanäle immer etwas Erfrischung vom kühlen Meer mit sich, leider aber auch oft Nebel oder Regen.
Kanaima lehnte sich zurück, verschränkte die Hände im Nacken und ließ sich die pralle Sonne ins Gesicht scheinen. Diesen Vormittag hatte er in der Akademie für Kriegskünste die letzte der Prüfungen absolviert, welche das vorläufige Ende seines Studiums markierten, und natürlich wie alle mit Bravour bestanden. Von nun an war es ihm erlaubt, den Titel „Magistrate del Art Militaris strategica“ zusätzlich zu seinem Namen zu führen. Aber das reichte ihm noch nicht. Kanaima strebte noch weit mehr an. Er wollte den höchsten Titel erlangen, der an der Akademie vergeben wurde und den es an der Waffenakademie in Askhari-Kaise nicht zu erringen gab: Den des „Maestros“. Denn so sehr sich der kleine Setna auch anstrengen mochte, würde er doch niemals an den Wissensstand eines Maestros von der renommiertesten Universität des gesamten Freien Ostens herankommen. Und das, so freute sich Kanaima, würde ihm den Weg zurück in den Palast ebnen! Keiner würde ihm mehr das Wasser reichen können, bis auf der alte General Kasai vielleicht!
Er nahm noch einen Happen von der vorzüglichen, kalten Hühnerbrust, die sein Küchenmeister extra für ihn zur Feier des Tages zubereitet hatte. Das zarte Fleisch ließ seine Zunge frohlocken, und er aß noch mehr. Anschließend biss er in einen saftigen Pfirsich und kümmerte sich dabei nicht um die Tropfen, die auf seine Kleidung fielen. Mit seiner spätsommerlichen Süße kündigte das Obst das Ende der Erntezeit an. Bereits in zwei Tagen war das Fest der Masken und dann wollte sich Kanaima wieder mit dem Patron treffen.
Er hatte seine Hausaufgaben gemacht und das kleine Buch, welches ihm der Patron mitgegeben hatte, sogleich innerhalb eines Tages verschlungen. Er war kein besonders schneller Leser, aber das viele Lernen aus Büchern für sein Studium hatte ihm etwas Übung verschafft, und er musste zugeben, dass es ihm in letzter Zeit doch einigen Spaß gemacht hatte, in der riesigen Bibliothek der borgossinischen Universität herumzustöbern. Dorthin war er, nachdem er das Buch gelesen hatte, gegangen und hatte nach weiteren Informationen über „Die Verschwörung der Lichter“ geforscht. Und er war fündig geworden. Sein Geist war angeregt worden und das war, wie Kanaima vermutete, genau das gewesen, was der Patron neben dem tatsächlichen Inhalt des Buches hatte bezwecken wollen.
„Die Verschwörung der Lichter“ war das Tagebuch einer Revolte, geschrieben vom Patron selbst. Damals war er noch ein junger Bursche gewesen und hatte an der Seite seines Vaters gearbeitet - natürlich im Untergrund. Sein Vater war ein großer Untergrundkämpfer gewesen, und der Patron war in dieses Leben hineingeboren worden. Aber das hatte Kanaima schon gewusst, als er damals Erkundigungen über den Patron eingeholt hatte. Per Zufall war ihm vor einem Jahr der Name des Patron begegnet. Er hatte in einer der Hafenschänken gesessen, in denen er sich des Öfteren auf der Suche nach geeigneten Männern für sein Vorhaben herumtrieb, als am Nebentisch zwei heruntergekommene Kerle über ihre Gaunereien geprahlt hatten und schließlich jemanden erwähnten, den sie den „Sohn des Königs der Unterwelt“ nannten. Kanaima war hellhörig geworden, denn wer konnte ihm besser behilflich sein, als der „Sohn des Königs der Unterwelt“, vorausgesetzt, dass es sich dabei nicht nur um eine Märchenfigur handelte.
Also war Kanaima losgezogen, und hatte sich vorsichtig umgehört. Es war mühevoll gewesen. Immer wieder hatte er sich verkleiden, in ständig wechselnde Rollen schlüpfen und gleichzeitig seine eigenen Beschatter loswerden müssen. Aber das, was er in wochenlanger Arbeit schließlich herausgefunden hatte, war die Anstrengung wert gewesen. Der Patron war einer der mächtigsten Männer in Borgossa - natürlich jenseits des sichtbaren Lebens in den Straßen und Kanälen - und ein Dorn im Auge aller rechtschaffenden Kaufleute der Stadt, falls es so etwas überhaupt gab. Unter der schillernden Oberfläche Borgossas hielt er alle Fäden fest in der Hand, und kein Verbrecher oder sonstiges zwielichtiges Geschmeiß konnte ohne seine Zustimmung agieren. Seine Heimat war die Welt der Schatten und seine Waffen die Durchtriebenheit der Menschen, die er sich beinahe spielerisch zu Nutzen machte. Nach dem Tode seines Vaters hatte der Patron dessen heimliches Imperium übernommen und war nun der uneingeschränkte Herr über sämtliche Diebe und Schmuggler Borgossas. Von seinem Versteck aus lenkte er mehr Geschicke in der mächtigen Handelsmetropole als so manchem bewusst und lieb war.
Kanaima konnte sich noch genau an den Tag erinnern, an dem er das erste Mal dem Patron gegenübergestanden hatte, einem alten Mann mit schlohweißem Haar und grauem Bart. Und welch Enttäuschung er bei dessen Anblick verspürt hatte. Aber seine erste Meinung über den Patron hatte er mittlerweile gehörig ändern müssen.
Kanaima warf den Pfirsichkern in einem hohen Bogen in einen der Blumenkübel, die im Innenhof standen, und grinste still vor sich hin. Noch im Nachhinein amüsierte er sich über seine eigene Naivität, mit der er den Patron betrachtet hatte. Während er sich wochenlang vermeintlich unauffällig in der Stadt umhergetrieben hatte, um Nachforschungen anzustellen, hatte der Patron sich in derselben Zeit genauestens über ihn erkundigt; so genau, dass er bereits schon vorher gewusst hatte, was der Askharer von ihm wollte. Kanaima, der sich selbst immer für recht gewieft gehalten hatte, hatte das schlaue, alte Wiesel schlicht unterschätzt. Und auch jetzt noch offenbarten sich an ihm noch immer wieder völlig neue Seiten. Der Patron war ein Tausendsassa! Und Kanaima begann allmählich, ihn wirklich zu bewundern, genau wie er seinen Onkel Karlis bewunderte.

Der Mann, der Kanaima diesmal zum Patron führte, war ihm gänzlich unbekannt. Nachdem er seine Beschatter abgehängt hatte - ein Kinderspiel bei den bunt maskierten Menschenmassen des heutigen Festes - war der Mann an ihn heran getreten. Nun ruderte dieser ihn zu der Tür am Kanal.
Der Patron saß genauso an seinem Schreibtisch, wie Kanaima ihn vor einem Monat dort verlassen hatte; als ob er sich die ganze Zeit über nicht um eine Haaresbreite bewegt hätte.
Doch der Patron hatte sich bewegt, sehr viel sogar für seine alten Tage. Er betrachtete Kanaima in seiner Maskierung und musste schmunzeln.
„Ich hätte es mir denken können, dass Ihr als König zu mir kommt!“, sagte er und wies den Jüngeren an, sich zu setzen.
Kanaima zog sich die Königsmaske vom Gesicht und das Buch aus seiner Jackentasche und legte beides vor dem Patron auf den Tisch.
„Dazu kommen wir später“, eröffnete der Patron das Gespräch mit seinem Schüler, „zuerst möchte ich Euch zum erfolgreichen Bestehen Eurer Prüfungen gratulieren, Prinz Kanaima, Magistrate del Art Militaris strategica!“
Kanaima lächelte. Es war überflüssig zu fragen, woher er es wusste.
„Danke“, sagte er schlicht.
„Macht nur so weiter! Ich versichere Euch, das wird Euch später Tür und Tor öffnen!“
„Ich will mir die beste Mühe geben.“
„Gut, gut, nicht weniger verlange ich von Euch. Sagt, nehmt Ihr in diesen Tagen auch an dem großen Turnier teil?“, wollte der Patron wissen, denn während der Festtage fand auch das größte Turnier des Freien Ostens vor den Stadtmauern von Borgossa statt. Vor den Toren deshalb, weil die Gründerväter der „Stadt des Friedens“ ein Waffenverbot innerhalb der Stadtmauern erhoben hatten, das mit einem Zutrittsverbot auf Lebenszeit drohte, wenn es gebrochen werden sollte. Doch das Turnier war schon vor der Unabhängigkeit Borgossas ein wichtiges gesellschaftliches Ereignis gewesen und sollte es auch bleiben. Ein jeder Kämpfer und Krieger auf der Suche nach Anerkennung fieberte diesem Wettkampf entgegen, denn es war eine große Sache, daran teilzunehmen. Die Preisgelder waren fürstlich, und das Publikum feierte seine Helden mit aller Leidenschaft, das Wichtigste aber war, dass der Ruhm die Gewinner bis weit über die Grenzen bekannt machte. Ein Campione di Borgossa war stets und überall geachtet.
„Nein, dieses Jahr bin ich nicht dabei“, antwortete Kanaima, „ich konnte nicht viel üben, denn ich musste, wie Ihr wisst, für die Prüfung lernen.“
„Das ist schade, sonst hätte ich auf Euch gewettet.“
„Dann hättet Ihr verloren“, sagte Kanaima bescheiden. Er war zwar ein recht passabler Schwertkämpfer, aber zu dem großen Turnier kamen nur die besten Krieger der umgebenden Länder, und denen konnte er einfach nicht das Wasser reichen.
„Nun gut“, der Patron lehnte sich zurück und faltete die Hände über seinem Bauch, „ich habe da übrigens etwas herausgefunden. Über den Berater Eures Vaters.“
„Lata?“, fragte Kanaima und spürte ein erwartungsvolles Kribbeln. Er richtete sich in seinem Stuhl auf.
„Ja. Und eines kann ich Euch mit sicherer Gewissheit sagen: Dieser Mann ist alles, aber bestimmt kein Graçener oder Borgossiner!“ Der Patron ließ diese neue Tatsache kurz auf sein Gegenüber wirken und fuhr dann fort: „Ich habe mit einigen Kaufleuten und deren Arbeitern gesprochen, von denen ich der Meinung war, sie könnten etwas über einen gewissen Lata wissen. Es waren allesamt Teehändler, die ältere Generation versteht sich! Und dabei ich bin an einen Mann geraten - über siebzig ist der Gute -, der ein fast phänomenales Gedächtnis besaß. Ganz wie das meine.“ Der Patron zwinkerte Kanaima mit einem Auge zu. „Dieser alte Kaufmann erinnerte sich daran, vor genau vierundzwanzig Jahren tatsächlich einen jungen Mann namens Lata bei sich beschäftigt zu haben. Er war zu ihm gekommen und hatte nach Arbeit gefragt. Und da er ihm jung und kräftig erschien und einen anständigen Eindruck machte, stellte er ihn als Hilfsarbeiter ein, obwohl - und jetzt kommen wir zu dem eigentlich interessanten Punkt - er keinerlei Angaben zu seiner Herkunft machen konnte. Er sprach zudem ein überaus miserables Graçenisch und hätte sich aufgrund dessen auch nur schlecht für einen Graçener ausgeben können. Sein Akzent war schwer, aber es war keiner, den der Kaufmann kannte. Er erkundigte sich bei dem jungen Kerl danach, doch dieser antwortete nur, er habe seine Heimat verloren und wolle diese gern vergessen. Zwei Jahre arbeitete der Mann namens Lata bei ihm im Kontor, doch eines Tages verschwand er spurlos und ohne seine Sachen mitzunehmen. Das wunderte den Kaufmann, denn der Kerl war ein sehr tüchtiger und zuverlässiger Arbeiter gewesen. Der Alte beschrieb ihn zu Beginn als ein wenig naiv und unbedarft, wie die Leute vom Lande halt so sind, dafür aber überraschend schnell im Lernen. Graçenisch sprach er seinen Angaben zufolge bereits nach einem Jahr fließend. Nach seinem Verschwinden machte sich der Kaufmann sogar die Mühe, am Stadttor und am Hafen nachzufragen, ob er auf einer der Ausreiselisten stand. Doch nichts. Und wenn, dann ist er unter einem falschen Namen ausgereist, wofür man hier in Borgossa wiederum falsche Papier benötigt.“
Während der Patron erzählte, rechnete Kanaima im Kopf nach.
„Vor zweiundzwanzig Jahren ist Lata nach Askhar gekommen“, warf er daraufhin ein. „Ich kann mich selbst zwar nicht daran erinnern, aber es passt genau! Dieser Lügner, ich habe es geahnt. Er ist weder ein Kaufmann noch ein Graçener! Mit diesem Beweis werde ihn fertig machen!“ Er schlug sich mit der Faust in die Handfläche.
„Gemach, gemach, dazu gehört noch einiges mehr, das wir vorher noch bedenken müssen“, bremste der Patron den aufwallenden Eifer Kanaimas. „Wie ist er zum Beispiel unbemerkt aus Borgossa herausgekommen?“
Kanaima zuckte als Antwort nur mit den Schultern.
„Das geht nur auf zwei Wegen: Erstens, er wurde geschmuggelt, zweitens, er hatte falsche Papiere! Das Erste ist heute leider nicht mehr festzustellen, aber beim Letzteren kommt uns zu Hilfe, dass Borgossa von tintenklecksenden Pfeffersäcken regiert wird, die ganz genau hinsehen, wenn es darum geht, wer hier in ihrer Stadt ein- und ausgeht. Im Ratspalast gibt es deshalb ein Archiv, in dem nicht nur alle Handelsbewegungen der vergangenen Jahrzehnte registriert sind, sondern auch die Besuche und Aufenthalte sämtlicher Ausländer! Ich habe ein wenig meine Kontakte spielen lassen und einen Blick auf die Einträge aus jenem Jahr werfen können, in dem Lata verschwunden ist. Natürlich steht sein Name nicht in den Pergamenten. Dem Register zufolge hält er sich noch immer in Borgossa auf, denn er ist auf der Einreiseliste eingetragen. Aber beim durchsehen der Namen habe ich etwas anderes interessantes herausgefunden: Die Hafenverwaltung hat nur zwei Wochen nach Latas Verschwinden eine Gruppe von fünf Askharern verzeichnet, die eine direkte Passage in ihre Heimat genommen haben. Alles angeblich Studenten.“
„Ja, und?“ Kanaima wusste nicht, was das mit Lata zu tun haben sollte. „Das ist doch nicht unüblich oder? Askharische Studenten hat es hier schon immer gegeben. Gerade jetzt halten sich in Borgossa neun davon auf, meine Person eingeschlossen. Das hat man mir am Stadttor erzählt ...“ Er stutzte und langsam dämmerte es ihm. „Es waren nur vier bei der Einreise gemeldet, richtig?“
„Genau das!“
„Dann hatte einer von ihnen falsche Papiere! Lata!“
„Ja!“
„Aber wieso bekam er sie ausgerechnet von Askharern?“
„War es Eurem Vater nicht gelungen, anhand von geheimen Schiffsplänen Galeeren zu bauen, die den borgossinischen verdammt ähnlich waren, um damit das Grenzmeer nach Hy zu überqueren?“
„Ja, die Pläne soll Lata, soweit ich weiß, hier gestohlen haben.“
„Na, da haben wir doch den Grund! Lata gelang es irgendwie geheime Schiffspläne in die Finger zu bekommen. Das wundert mich zwar, denn die Werften sind strengstens von der Öffentlichkeit abgeschottet, und kein Unbefugter erhält dort Zutritt. Aber es kann sich um einen dummen Zufall handeln, das ist durchaus möglich. Lata fielen die Pläne ohne sein Zutun in die Hände. Und dann wurden die Leute aus Askhar auf ihn aufmerksam, vielleicht waren sie gleichfalls hinter den Plänen her, als Studenten getarnt im Auftrag des Königs vielleicht. Sie schnappten sich Lata, versprachen ihm viel Geld und schleusten ihn aus Borgossa heraus. Fragt sich nur, warum sie ihm die Pläne nicht einfach abgenommen und ihn dann beseitigt haben? Warum haben sie ihn mitgenommen? Was war seine Lebensversicherung? Das wüsste ich zu gerne.“ Der Patron blickte nachdenklich in den Raum und strich sich über den Bart.
Da klopfte es an der Tür, und sie öffnete sich, nachdem der Patron „herein“ gerufen hatte.
Es war die junge Frau. Janita, die Blinde.
„Dein Kundschafter lässt ausrichten, dass er am Bürgermeister dran ist. Im Festgetümmel hat er ihn bis nach La Gioia verfolgt und gesehen, wie er in eines der großen Freudenhäuser gegangen ist“, sagte sie.
‚Oh ha! Der Patron war delikaten Informationen auf der Spur’, dachte Kanaima amüsiert und lächelte Janita gewinnend zu. Besann sich aber gleich darauf wieder, denn sie konnte ihn ja nicht sehen. Enttäuscht verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf über seine Reaktion. Ein askharischer Mann hatte es nicht nötig, sich bei einem Weib einzuschmeicheln! Waren sie doch alle gleich. Man brauchte nur mit den Fingern zu schnippen, und schon waren sie einem zu Willen. Und wenn sie mit einem fertig waren, suchten sie sich den nächsten, der genug Vermögen oder Einfluss versprach. So war es immer.
Ein Lächeln erhellte plötzlich Janitas Gesicht.
„Ist der Askharer da?“, fragte sie, und Kanaima sah sie überrascht an. Er hatte keinen Laut von sich gegeben, seit sie den Raum betreten hatte. Wie hatte sie das nur ...?
„Ja, er ist hier“, sagte der Patron.
Janitas Lächeln wurde noch einen Hauch herzlicher. „Seid gegrüßt, Prinz Kanaima, wie geht es Euch?“ Sie knickste leicht, doch Kanaima wusste nicht, ob sie ihn wieder verulkte.
„Äh, mir geht es gut, danke der Nachfrage“, stammelte er nun doch etwas unsicher. ‚Sie hat erstaunliche Fähigkeiten’, drängte es sich ihm auf, ‚und sie ist außergewöhnlich hübsch.’ Im Sonnenlicht, das zum Fenster hereinfiel, konnte er sie das erste Mal mit dem Genuss eines Kenners betrachten. Entspannt lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie hatte rötlichbraunes, zu einem Zopf zurückgebundenes Haar mit vielen kleinen Locken. Ihre Haut war trotz des vielen Sonnenscheins hier in Borgossa sehr hell und übersät mit Sommersprossen. Und ihre Augen, die ihn direkt anzusehen schienen, waren blaugrün wie das Wasser in den flachen Meeresbuchten daheim in Askhar. Ihr Körper war schlank und ihr Brustansatz unter der Männerkleidung verborgen. Sie strich sich verlegen über die Wange, als bemerkte sie seinen taxierenden Blick.
„Ihr seht mich an, Prinz, nicht wahr?“, fragte sie darauf tatsächlich. Ganz zu Kanaimas Erstaunen wurde sie rot, und die Sommersprossen verschwanden. Unangenehm berührt senkte er den Blick, da er sie im Schutze ihrer Blindheit so unverhohlen angestarrt hatte.
„Verzeiht bitte, wenn ich nicht so aussehe wie die feinen Damen, mit denen Ihr Euch sonst umgebt.“
„Ach, nein“, lachte Kanaima gönnerhaft. „Du musst dich nicht entschuldigen. Du bist ganz entzückend, wahrlich.“ Er stellte sich vor, wie sie wohl als Bettgefährtin sein mochte.
„Hab Dank für Euer Kompliment“, sagte sie und lächelte wieder, dabei zeigte sie ihre mädchenhaft kleinen, weißen Zähne. Mit einem weiteren Knicks wandte sie sich zum Patron.
„Hast du noch einen Auftrag für mich heute Abend?“
„Nein, du kannst auf das Fest gehen, wenn du willst“ Der Patron lächelte sie väterlich an.
„Gut. Auf bald, Prinz Kanaima!“ In ihren Augen blitzte es spitzbübisch auf, und noch bevor Kanaima etwas entgegnet konnte, war sie flink entschwunden.
„Sie gefällt Euch, nicht wahr! Nun, ich muss Euch leider enttäuschen, sie ist sehr wählerisch. Und ich glaube, sie bevorzug blonde Männer.“
Kanaima sah an sich herunter und dann den Patron an. Dann lachte er auf.
„Beinahe hättet Ihr mich reingelegt, aber nur beinahe!“ Kanaima schnalzte mit der Zunge.
„Ein kleiner Scherz am Rande. Aber nun zurück zu Lata!“, lenkte der Patron das Gespräch wieder auf den ersten Erzfeind Kanaimas.
„Lata muss sich also abgesichert haben, bevor er sich mit den Askharern einließ. Denn offen gesagt, wäre es für diese Halunken doch nur eine allzu große Verlockung, den Ruhm und die Belohnung für diesen Fischzug einfach selbst einzustreichen. Aber sie haben ihn nach Askhar gebracht, lebend. Und seine Versicherung muss ihn wahrscheinlich auch direkt bis zum König geführt haben, denn jetzt ist er dessen erster Berater! Unfassbar, wie er das angestellt hat, meine Hochachtung! Entweder, er hatte bloß unverschämtes Glück, oder er ist außerordentlich gerissen! Wir sollten davon ausgehen, dass es das Zweite ist. Deshalb ist es geboten, Euch vor ihm sehr in Acht nehmen, auch wenn er mittlerweile vielleicht etwas eingerostet ist!“
Kanaima nickte.
„Bleibt noch ein Punkt: Warum wusste er so viel über Hy, wenn er, wie wir jetzt wissen, als angeblicher Kaufmann niemals dorthin gereist ist?“
„Vielleicht ist er ja ein Hy!“, schlug Kanaima scherzhaft vor.
„Nein, das kann nicht sein, auf keinen Fall!“
„Aber wieso denn eigentlich nicht?“ Kanaima fand den Gedanken mit einem Mal gar nicht mehr so abwegig.
„Habt ihr Euch jemals schon mit den Hy beschäftigt, ich meine ernsthaft?“
„Na ja, ich weiß, was alle über sie wissen.“
„Und das wäre?“
„Dass sie ein einfältiges und rückständiges Bauernvolk sind. Dass sie sich aus Angst, man könnte ihre Schätze stehlen, hinter ihren Mauern verschanzen. Sie verachten alle anderen Völker und lassen keinen Fremden in ihr Land. Sie sind feige und hängen einem aberwitzigen, schon an Selbstzerstörung grenzenden Schicksalsglauben an. Ihre Krieger aber beherrschen das Kriegshandwerk angeblich wie kaum ein anderes Volk. Alles nur aufgebauschte Märchen, wenn ihr mich fragt“, zitierte Kanaima in Auszügen sein Wissen über die Hy, von denen es allerorts die phantastischsten Spekulationen gab.
Der Patron stieß ein belustigtes Lachen aus. „Das sind die gängigen Vorurteile über diese Menschen. Leider muss ich sagen, dass ich auch nichts anderes von Euch erwartet habe, wenn Ihr erlaubt! Aber Ihr seid nun einmal ein Askharer, ein Abkömmling des Volkes, welches die Hy am meisten verabscheut. Deshalb ist es nur verständlich, dass Ihr nichts anderes über sie wisst, außer die mannigfaltigen Hassreden, die man Euch schon als Kind beigebracht hat!“
Kanaima wollte sich gerade über diese Beleidigung echauffieren, als der Patron die Hand hob.
„Ich will damit nur sagen, dass Ihr die Dinge stets hinterfragen solltet, mögen sie auch noch so felsenfest in Eurem Denken verankert sein. Nicht immer ist alles so, wie es scheint. Allerdings habt Ihr bei den Hy vollkommen Recht, wenn Ihr sagt, sie besäßen ein doch recht einfaches Gemüt. In meinem ganzen Leben sind mir nur eine Handvoll von diesen seltsamen Volk begegnet, und von diesen kann ich nur bestätigen, dass sie vortreffliche Beispiele ihrer Volkszugehörigkeit waren. Sie waren allesamt leichtgläubig und sehr zurückhaltend aber zugleich auch offenherzig und unbekümmert fröhlich wie kleine Kinder. Sie waren zutiefst aufrichtig und ...“, der Patron hob einen Zeigefinger, „... komplett untauglich für die Arbeit im Untergrund! Sie sind unfähig, zu lügen!“
„Ja, richtig, das habe ich auch festgestellt, an den Sklaven, die wir im Palast haben. Sie können absolut nicht Lügen! Aber vielleicht gibt es ja Ausnahmen!“, gab Kanaima erneut zu bedenken.
„Nein, unmöglich, denn die Hy selbst sind das Volk ohne Ausnahmen! Lata kann kein Hy sein, dazu erscheint er mir viel zu listenreich. Wo soll er denn gelernt haben, so zu sein? In Hy bestimmt nicht! Vielleicht hat er sein Wissen über die Hy von anderen Arbeitern im Kontor des alten Kaufmanns oder von Reisenden. Die Gasthäuser sind doch voll von ihnen und dort wird doch auch immer gern geredet.“
Kanaima schwieg grüblerisch.
„Die Hauptsache ist jedenfalls, dass wir ihn als Lügner entlarvt haben. Und viel wichtiger als seine Herkunft sind seine Beweggründe, die übrigens von äußerst niederer Natur sein müssen - was ebenfalls ein Beweis dafür wäre, dass er kein Hy sein kann! Die sind gegen so etwas irgendwie gefeit. Fragt mich nicht wieso, aber es ist so.“ Der Patron lehnte sich vor und legte seine Hände auf die Tischplatte. „Warum also hat Lata sich nun dazu überreden lassen, nach Askhar zu gehen, um danach an der Seite Eures Vaters zu arbeiten? Was hat er davon?“
„Macht hat er davon!“, antwortete Kanaima.
„Richtig! Und ich glaube, das ist es auch, was er sucht. Ich habe in meinem Leben mit so vielen von diesen unwürdigen Kreaturen zu tun gehabt, dass ich all ihre Beweggründe kenne. Aber das Streben nach Macht besaßen sie alle gemeinsam.“ Der Patron sah Kanaima scharf an. „Und vielleicht gibt es im Falle von Lata auch noch einen weiteren Grund, und diesen kennt vermutlich nicht einmal der König! Ich würde sagen, das wären für den Anfang genug Rätsel, die Ihr zu lösen habt, wenn Ihr zurück in Askhar und im Palast seid.“
Kanaima gab dem Patron mit einem Wink zu erkennen, dass er verstanden hatte. Der alte Meister der Arglisten rief nach einem seiner Gehilfen. Als dieser in der Tür erschien, befahl er ihm, die Kerzen auf dem großen silbernen Leuchter, der mitten auf dem Tisch stand, zu entzünden. Es war dunkel in dem Raum geworden, die Sonne längst über den Dächern der Stadt untergegangen.
Nachdem der Gehilfe den Kienspan an die Dochte gehalten hatte, flammten die kleinen Lichter auf und strahlten warm in ihre Gesichter.
„Und nun zu dem Buch, das ich Euch zu lesen aufgetragen habe!“, wechselte der Patron das Thema, während der Bursche den Raum verließ. „Für eine Revolte oder den Sturz eines Machthabers braucht man drei wichtige Dinge“, dozierte er im besten Lehrmeisterton.
„Verzeiht, Patron“, unterbrach Kanaima ihn vorsichtig, „aber darf ich Euch vorher noch eine Frage stellen, die das Buch betrifft?“
„Nur zu.“
„In der Bibliothek habe ich etwas gefunden, das genau das Gegenteil von dem behauptet, was Ihr da in Euerer Niederschrift geschildert habt. In einer Chronik über Lavantina habe ich gelesen, dass ‚Die Verschwörung der Lichter’ ein von einer einzigen machtbesessenen Person durchgeführter politischer Handstreich gewesen sei, und nicht etwa, wie Ihr es schreibt, die Revolution eines Volkes. Ein wohlpositionierter Günstling am Hof soll durch jahrelange, gutgeplante Bestechungen das Militär auf seine Seite gebracht und mit Waffengewalt dann den König gestürzt haben. Die Hintermänner in diesem Spiel sollen aber keine Leute aus dem eigenen Land gewesen sein. Die Quelle aus der Bibliothek berichtet, der Günstling habe sich die Hilfe von ausländischen Untergrundkämpfern gesichert. Eine berüchtigte Söldnergruppe aus dem unkontrollierten Grenzland im nördlichen Sesa Noviè soll den Mann auf den Thon gebracht haben, der später als der ‚Schächter von Lavant’ in die Geschichte eingegangen ist, weil er einen Teil seines Volkes durch Kehlschnitte hat hinrichten lassen!“ Als Kanaima seine Darstellung beendete, merkte er an der Stille des Raumes, wie laut er gesprochen hatte.
Die Miene des Patron war ungerührt. „Ein gutes Beispiel dafür, wie eine zuvor gesetzte, sogar bei Gott und vor dem Volke geschworene Absicht sich in das völlige Gegenteil kehren kann!“
„Da ich Euer Buch gelesen habe, weiß ich auch, warum Ihr diesen Mann unterstützt habt, aber ich verstehe nicht, wieso Ihr ihn dann nicht wieder beseitigt habt, nachdem dieser seinen Eid gebrochen hat.“
„Er hatte sich hinter unserem Rücken weit mehr Macht angeeignet, als wir dachten. Er hat sich sozusagen doppelt abgesichert und uns nur benutzt. Wir hatten dennoch versucht, an ihn heranzukommen, doch es war unmöglich gewesen. Er hatte schließlich das gesamte Militär hinter sich und nach dem Ende der Revolution eine Belohnung auf unsere Köpfe ausgesetzt. Wir mussten fliehen.“
„Aber wie könnt Ihr mit solch einer Schuld leben! Ihr habt ein ganzes Volk betrogen und ein halbes auf dem Gewissen!“ Aus Kanaima brach all die Empörung erneut aus ihm heraus, die er beim Recherchieren über die Verschwörung verspürt hatte.
„Wenn Ihr glaubt, das sei alles, was ich auf dem Gewissen habe, dann täuscht Ihr Euch gewaltig, Söhnchen! Ich muss mit weit mehr leben, als Ihr Euch überhaupt nur vorstellen könnt! Ich habe schon als junger Bursche Dinge gesehen, die jeden anderen Mann um den gesunden Verstand und den Glauben an Gott gebracht hätten!“ Der Patron blitzte Kanaima böse an. „Im Untergrund zu leben und zu kämpfen hat nichts mit Ehre zu tun, und auch nichts mit Mitgefühl oder gar aufrechtem Patriotismus! Wir sind Söldner! Und das ist es, was Ihr gerade in diesem Moment in Anspruch nehmt, meine verdammte Söldnerseele! Hört also auf, von solchen Dingen wie meinem Gewissen zu sprechen!“
„Verzeiht bitte, ich wollte Euch nicht angreifen, ich weiß ja, wie das alles geschehen konnte“, versuchte Kanaima sein Gegenüber zu besänftigen. Die Geschichte von der Verschwörung der Lichter war eine besonders traurige, und sie muss für den Patron als jungen Mann eine Lehre gewesen sein und sollte als solche jetzt wohl auch für ihn gelten. Kanaima rief sich die Geschehnisse in Erinnerung, die der Patron in seinem Büchlein festgehalten hatte. Die Söldnergruppe aus dem schroffen Niemandsland an der Grenze zwischen Sesa Noviè und Sovrano Montagne war damals von dem Volk der Lavantinen dafür verpflichtet worden, sie im Kampf gegen den damaligen König zu unterstützen. Volkskämpfer hatten eine Liga zur Befreiung des Landes gegründet, die sich „Lichter der Freiheit“ nannte und zu deren geheimen Mitgliedern auch ein einflussreicher Mann bei Hofe gezählt hatte. Dieser Mann hatte sich nach und nach durch sein besonnenes Denken und seiner gemäßigten Vorstellung von einem von der Tyrannei der gegenwärtigen Königslinie befreiten Lavantinas beim Volke beliebt gemacht und sich als zukünftiger Volksherrscher empfohlen. Schließlich hatten das Volk und sein gewählter Wunschkönig gemeinsam mit den Kämpfern des Untergrunds auf den Tag hingearbeitet, an dem der alte König gestürzt werden und das Licht der Freiheit wieder zurück nach Lavantina gebracht werden sollte. Gezielt waren dafür im Militär die Schlüsselpositionen ausspioniert und dann bestochen oder durch Meuchelmörder beseitigt worden. Am Tag der Machtübernahme war dann alles, wie gehofft, sehr schnell und ohne großes Blutvergießen verlaufen, und noch am selben Abend hatte das Volk von Lavantina seine Befreiung und den Beginn einer neuen politischen Ära gefeiert. Alles hatte nach einer gelungenen Volksrevolution ausgesehen. Doch nur wenige Wochen nach der Thronbesteigung hatte der neue König seinen wahren Charakter offenbart. Es hatte sich herausgestellt, dass er genauso größenwahnsinnig war wie alle anderen machgierigen Ungeheuer, die vorher auf dem Thron von Lavantina gesessen hatten. Der Mann hatte sie alle getäuscht und verraten! Unsinnig mordend war er schließlich zusammen mit dem Militär durch das Land gezogen und hatte den letzten Heller aus seinem Volk herausgepresst. Mit dem erbeuteten Geld hatte er sich eine noch viel größere Armee erschaffen, die ins Nachbarland einmarschieren sollte - in das große Ohaoud. Nachdem er aber sein halbes Volk vernichtet hatte, weil er es grausam hatte hinrichten lassen, und seine Soldaten am Ende von Ohaouds gefürchteter „Ewiger Armee“ niedergemetzelt worden waren, hatte das Nachbarland seine Chance gesehen und zugegriffen. Die Ohaoudis waren in den Palast eingedrungen und hatten den ‚Schächter von Lavant’ getötet, ohne dabei auf großen Widerstand zu treffen. Kurzerhand hatten sie die Kontrolle über Lavantina übernommen, das bis heute eine von Ohauod verwaltete und besetzte Provinz war. Die Moral von der Geschichte war, so ahnte Kanaima, dass zu guter Letzt das Volk von Lavantina alles verloren hatte: Seine Souveränität, seine Freiheit und seinen Stolz. Und wenn man daran dachte, dass der Patron und sein Vater daran maßgeblich beteiligt gewesen waren, dann konnte man sich nur wundern, wie dieser mit der Last der Schuld zurechtkam. Aber der alte Herr der Unterwelt war womöglich über die Jahre hart und glatt wie ein Flussfels geworden, der unberührt in der Strömung der Zeit lag. Kanaima bemerkte den ungerührten Blick des Patrons, doch ein verräterisches Glänzen darin ließ ihn zweifeln. Er konnte spüren, dass unter der erstarrten Oberfläche des Mannes noch etwas gärte. Etwas, das genau mit dieser Geschichte zu tun hatte. Kanaima durchforschte sein Gedächtnis, noch immer beobachtet von den dunklen Augen seines Gegenübers. Und mit einem Mal durchfuhr es ihn. Natürlich hatte diesen Mann all die vielen Jahre über schreckliche Schuld gequält, denn nur aus diesem einen Grund hatte er ihn beim letzten Treffen gefragt, ob er sein Volk liebte! Kanaima betrachtete den Patron, der selbst nie ein Volk gehabt und nie erfahren hatte, was es bedeutete, Seinesgleichen zu lieben oder für das eigene Blut zu kämpfen und einen Volksstolz zu besitzen. Das war ein tragisches Schicksal, befand er mitfühlend, aber der Patron hatte etwas daraus gelernt. Und es war eine versteckte Botschaft an ihn, den jungen Schüler; eine Mahnung für das, was in den Augen des Patrons das schlimmste aller Verbrechen war. Und plötzlich offenbarte sich Kanaima die ganze Philosophie seines Lehrmeisters. Klar und deutlich drang sie aus jedem Wort, das zwischen ihnen gesprochen worden war. Für den Patron bestand die größte aller Schwächen der Menschen nicht darin, andere zu verraten, sondern sich selbst untreu zu sein!
Kanaima wusste nun, was er zu tun hatte, und er wollte den Patron ganz bestimmt nicht enttäuschen.
„Ich verspreche Euch hiermit - und ich schwöre nicht auf irgendeinen Gott oder so etwas Unsinniges, sondern ich sage dies aus meinem lauteren Herzen heraus: Ich werde Euer Wissen niemals dafür missbrauchen, um meinem Volk Schaden zuzufügen!“ Lange sah der Patron ihn an. Sehr lange. Dann nickte er. Eine unbestimmte Regung huschte über sein zerfurchtes Gesicht, war aber verschwunden, bevor Kanaima sie deuten konnte. Der Patron stand auf, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und schritt hinüber zum Fenster. Eine Weile sah er hinaus in die von unzähligen Lichtern erhellte Nacht.
„Gut“, sagte der alte Untergrundkämpfer schließlich und wandte sich wieder Kanaima zu, der ihn schweigend beobachtet hatte. „Es ist gut, diese Worte von Euch zu hören.“ Erleichterung schwang leise in seiner Stimme mit. Er kam wieder zum Tisch herüber und setzte sich.
Den Rest des späten Abends sprachen sie über Theorie und Praxis einer Revolte. Und als Kanaima das Haus später mit dem Boot verließ und maskiert in der warmen Spätsommernacht hinauf zum Marktplatz schlenderte, verfestigte sich in ihm allmählich das, was der Volksmund wohl Gewissen genannt hätte. Versonnen blickte der enterbte Prinz in den Himmel hinauf und sah schwach die Sterne leuchten. Langsam atmete er ein und wieder aus, noch nie hatte er solche Befriedigung gefühlt.
Schließlich setzte er hinter seiner Maske ein Lächeln auf und stürzte sich in das heitere Getümmel des Festes, das noch immer im vollen Gange war in dieser besonderen Nacht, in der alle Grenzen aufgehoben und alle Menschen gleich waren.

24. Kapitel



Zuviel Zeit war verstrichen, zu viel passiert, und Raen hatte immer noch keine Entscheidung treffen können. Mittlerweile war es Spätherbst, die letzten Blätter fielen von den Bäumen, und der Nebel behauptete sich als unumstrittener Herrscher in den Stunden, in denen Tag und Nacht sich ablösten. Der Nebel verkörperte für die Hy alles, wovor sie sich fürchteten. Er kam lautlos heran, wenn die Ahnen der Lüfte schwiegen und ihren schützenden Atem anhielten. Dann öffnete die Unterwelt ihre Tore.
Der Nebel verschluckte Menschen, er veränderte die vertraute Landschaft und machte sie zu einem trügerischen Labyrinth, er gab dem Schrecken Schutz, verbarg den Feind und all das Böse, auf das nicht einmal Zaizura Einfluss hatte! Er hatte klamme und kalte Finger, die einem unentwegt über Gesicht und Hände streiften, gierig an der Seele leckend. Und wenn er draußen schwebend lauerte, ging niemand vor die Tür, wenn es nicht unbedingt nötig war. Musste man es aber doch, so rief man Hyaun um Schutz an und rieb einen Wermutzweig kräftig zwischen den Händen. Der starke, aromatische Geruch vereitelte die unheimlichen Absichten des Nebels und machte es den Nüstern der Unterweltwesen schwer, die Seele eines Menschen zu wittern.
Es war kurz nach Sonnenaufgang und nichts rührte sich in den dicken Nebelschwaden zu Füßen des Chorten, als Raen bewaffnet mit einem Wermutzweig und einer Laterne durch das Tor ins Freie trat. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, dennoch fasste er all seien Mut zusammen und ging hinaus in das undurchdringliche weiße Nichts, den Blick immer fest vor sich auf den Schotterweg gerichtet. Er würde ihn sicher geleiten. Nach ein paar Schritten schaute Raen kurz zurück. Der Chorten war verschwunden, die weißen Nebelwände hatten sich lautlos davorgeschoben. Unwillkürlich blieb er stehen. Orientierungslosigkeit drohte sich seiner zu bemächtigen. Raen konnte nichts um sich herum erkennen, nicht einmal vage Konturen.
Sollte er lieber umkehren? Im Chorten wäre er sicher.
Nein, er wollte seine Angst überwinden. Er würde weitergehen.
Es war totenstill. Nur der Schotter unter seinen Füßen knirschte. Weiß, nichts als Weiß, und wie ein paar Irrlichter waberten darin die Laternen von Henendras Hof in der Ferne, wurden kurz darauf aber wieder vom Nichts verschluckt.
Er hätte im Chorten bleiben sollen. Keiner hatte ihn dazu gezwungen, hinauszugehen. Aber die Sorge trieb ihn weiter. Er musste wissen, wie es ihr ging. Er hätte am besten die Nacht bei ihr verbringen sollen, vielleicht war sie jetzt schon ... Nein! Raen dachte seine Befürchtungen nicht weiter. Wie ein Blinder tappte er durch den Nebel, in der einen Hand die Laterne, in der anderen den Wermutzweig. Vor sich sah er eine Graskante auftauchen. Hier war die Kreuzung, jetzt musste er nur nach links abbiegen, und der Weg würde ihn direkt am Hof vorbeiführen.
Erneut packte ihn ohne Grund ein Schauer, und er blickte sich ruckartig um, als ob ein kalter Schatten hinter ihm langgeschlichen wäre.
‚So ein Blödsinn‘, redete er sich gut zu, ‚hier ist niemand außer mir Verrücktem!‘ Doch er beschleunigte seinen Schritt und sah dabei wachsam um sich. Jetzt müsste der Hof doch eigentlich bald kommen. Aber nichts war zu sehen, nicht einmal die Lichter tauchten auch. Er ging noch schneller, der Schotter unter seinen Sohlen knirschte bedrohlich laut, verriet ihn. Was ist, wenn ich schon auf dem falschen Weg bin und etwas in dem Nebel auf mich wartet, um mir die Seele zu stehlen? Raen packte eine ungewohnte Angst. Nicht einmal bei Dunkelheit im Wald hatte er eine solche Furcht verspürt. Seine Phantasie ging mit ihm durch, und er meinte halbdurchsichtige Gestalten durch den Nebel wandeln zu sehen. Große Gestalten mit vielen langen Beinen und langen Haaren.
„Bleib ruhig!“, mahnte er sich selbst, du bist zwischen dem Chorten und dem Hof von Henendra, und sonst ist niemand hier! Er lief beinahe und endlich erkannte er die Konturen mehrerer Häuser. Der Hof! Erleichtert atmete er auf. Die Gestalten, die er meinte, gesehen zu haben, entpuppten sich als die Stuten mit ihren Fohlen, die in dem Pferch vor dem Hof umher trotteten. Zwei Laternen zeigten ihm den Weg zum Eingang des Stalls. Als er eintrat, umfing ihn geborgene Dunkelheit, und die leisen Geräusche der Pferde sagten ihm, dass er hier vor dem leeren, kalten Nichts draußen sicher war.
„Hereke?“, rief Raen leise, und er musste auch nicht lange auf eine Antwort warten.
„Hier bin ich!“
Raen folgte der Stimme und kam schließlich bei dem kleinen Einzelstall an, wo Hereke den Hals der kohlrabenschwarzen Stute streichelte.
„Jakori! Es geht dir wieder gut!“, stieß Raen erfreut aus und lief zu seinem Pferd.
„Ja, es geht ihr besser, aber sie braucht jetzt noch eine Weile gutes Futter und sollte hier im warmen Stall bleiben, damit sie sich erholen kann“, erklärte Hereke.
Raen warf sich um den Hals der Stute, die mit einem Schnauben zu verstehen gab, dass sie ihren Herren erkannte. Raen strich ihr liebevoll über die Stirn. Jakori war ihm sehr ans Herz gewachsen, viel hatten sie zusammen durchstehen müssen, denn die Ausbildung war für sie beide hart gewesen. Sie waren sozusagen Leidensgenossen, aber noch viel wichtiger war es, dass sie sich blind verstanden, denn das konnte einem Krieger im Kampfe das Leben retten. Darum hatte es ihn natürlich sehr bekümmert, als sie krank geworden war. Mehrere Tage lang hatte ihr Leben am seidenen Faden gehangen. Henendra und Hereke vermuteten, dass das ungewöhnlich feuchte Wetter in diesem Herbst ihre Lungen angegriffen hatte.
„Jetzt brauchst du dir jedenfalls keine Sorgen mehr zu machen, sie ist über den Berg. Und nun komm mit ins Haus, so wie ich dich kenne, hattest du bestimmt noch kein Morgenmahl!“ Hereke klopfte Raen auf die Schulter und verschloss die Tür zu dem kleinen Stall.
Der junge Krieger folgte seinem Freund ins Haus, wo sie von Herekes Mutter eine Schale Tee mit Milch und gesüßte Getreidegrütze bekamen. Raen fühlte sich an seine Kindheit erinnert. Wie oft hatten sie hier zum Aufwärmen in der Küche gesessen und Tee getrunken, nachdem sie draußen bis zur Erschöpfung herumgetobt waren?
„Dass du dich wirklich durch den Nebel getraut hast!“, sagte Herekes Mutter ehrfürchtig und schlug schnell das Zeichen der drei Säulen vor ihrer Brust.
„Es war ganz schön unheimlich!“, gab Raen zu.
„Na, wenn du dich nicht traust, dann keiner hier! Du bist wirklich der Mutigste von allen!“, lobte ihn Hereke.
„Ich musste doch wissen, wie es Jakori geht.“
Herekes Mutter lächelte. „Ich lass euch jetzt mal allein, ich muss mich bei diesem schaurigen Wetter wenigstens um die Hühner kümmern.“ Sie verließ die Küche.
Schweigend aßen die beiden jungen Männer ihre Grütze. Hereke war seit kurzem sogar höher graduiert als Raen, der noch immer auf seine Schwertleite wartete. Henendra, der die Reitmeistergilde vertrat, hatte vor ein paar Wochen die Ausbildung seines Sohnes für abgeschlossen befunden und ihn zusammen mit dem Clanchef feierlich in den Dritten Grad erhoben. Nun war Hereke erwachsen und hatte das Recht auf Entscheidungsfreiheit. Aber er hatte seinem Freund berichtet, dass er sich nicht besonders anders fühle als vorher und dass er auch noch nicht wisse, wofür er sein neues Entscheidungsrecht nutzen solle. Der junge Reitmeister war im Moment sehr zufrieden mit sich und der Welt. Er fühlte sich wohl mit dem, was er hatte. Alles an ihm strahlte vollkommene Ausgeglichenheit aus. Er genoss sichtlich sein Leben, das mit Suneka nun auch endlich die erwünschte Würze erhalten hatte. Raen beneidete ihm heimlich darum.
„Wie war eigentlich die Hochzeit deiner Schwester?“, fragte der Ältere.
„Ach, schön. Ein großes Fest. In Rinzai können sie auch gut feiern, aber das weißt du ja selbst!“
„Oh ja, allerdings! Ich erinnere mich noch gut an das Frühlingsfest dort. Das stand unserem in nichts nach. Aber sag mal, wie ist denn dieser Osa jetzt eigentlich? Ich habe ihn bisher nur wenig zu Gesicht bekommen.“
„Er ist sehr nett, ein ruhiger, sympathischer Bursche, und ich finde, er passt gut zu meiner Schwester. So viel ich mitbekommen habe, sind alle von ihm sehr begeistert. Und er hat einen wirklich eisernen Griff, das sage ich dir, da können wir nicht mithalten. Wir haben auf dem Fest Zweiertauziehen gespielt und da hat er mich glatt in den Dreck geworfen!“
„Tja, kein Wunder, ein Schmied eben! Er ist ja auch reichlich stämmig, wenn ich mich recht entsinne“, lachte Hereke.
„Aber der Abschied aus Rinzai war sehr schwer für ihn. Ich stelle mir das auch nicht leicht vor, die Familie verlassen zu müssen und in einen anderen Clan zu gehen. Nur der Liebe wegen!“ Raen kam plötzlich Kosam in den Sinn, denn genau das, was Osa so schwergefallen war, wollte sie mit aller Entschiedenheit: Fort von ihrem Clan, weg von ihrer Familie. In Raens Gesicht ging eine Veränderung vor, die Hereke bemerkte.
„Lass mich raten, woran du gerade denkst!“, sagte er. „Kosam.“
Raen senkte den Blick.
„Ich muss sagen, du lässt sie ganz schön hängen, mein Lieber!“ Hereke tadelte ihn zu recht.
„Ich weiß. Es tut mir auch schrecklich leid, aber ich bin immer noch vollkommen ratlos.“
„Ach, hör doch auf, wie oft habe ich diese Entschuldigung schon von dir gehört, und wie oft willst du sie noch anbringen? Raen, das ist sehr schwach von dir. Irgendwann musst du dich doch mal entscheiden, das kann doch nicht ewig so weitergehen. Du liebst sie doch, oder nicht?“
Raen nickte zaghaft.
„Na also, dann verstehe ich nicht, warum du noch so lange darüber nachdenkst! Muss das Glück dir erst einen Tritt in den Hintern geben, bis du etwas davon merkst? Du bist doch sonst nicht so zögerlich, was ist nur los mit dir? Ich glaube, ich nehme mein Kompliment von vorhin wieder zurück, für manche Dinge fehlt dir einfach noch der Mut! Oder soll ich besser sagen, die Reife?“
Raen biss sich auf den Daumennagel. Hereke hatten den wunden Punkt getroffen. Es war offensichtlich, dass sein Freund längst Partei für Kosam ergriffen hatte, war Hereke doch lange genug auch der Verschmähte gewesen und wusste, wie sich das anfühlte. Raen setzte zu einer weiteren halbherzigen Ausrede an. „Du hast ja Recht, aber was soll ich nur tun? Einerseits liebe ich sie und vermisse sie sehr, aber auf der anderen Seite habe ich Angst, meine Freiheit zu verlieren, wenn ich sie zu mir hole. Verstehst du das? Ich habe erst viel zu kurz das Gefühl, endlich Freiheiten zu besitzen, nicht mehr Kind zu sein und als solches behandelt zu werden. Ich will das nicht verlieren.“
„Das verlierst du doch nicht. Im Gegenteil, du bekommst noch viel mehr Respekt von den anderen, wenn du verheiratet bist.“
„Ja ... und nein. Allein nur das ist es ja nicht. Es ist auch irgendwie meine persönliche Freiheit, die ich nicht verlieren möchte. Ich will noch nicht für jemand anderen verantwortlich sein. Stell dir vor, Kosam würde gleich auch noch Kinder haben wollen! Das kann ich nicht!“
Hereke schien sich damit in keiner Weise zufrieden zu geben, er bohrte weiter in der Wunde und klang dabei wirklich ernst.
„Du drückst dich vor Verantwortung, Raen Sohn von Roman, und das als Krieger! Was soll ich dazu sagen? Nicht gerade vorbildlich. Das kann ich als Mitglied unserer Gemeinschaft nicht akzeptieren und als Freund erst recht nicht! Außerdem ist Kosam ein aufrichtiges Mädchen, sie hat es nicht verdient, wie du sie behandelst!“
Raen zuckte verzweifelt mit den Schultern, weil er dem nichts entgegenzusetzen hatte. Die Widersinnigkeit seiner Gefühle machte ihn fast verrückt. Immer hatte er angenommen, ganz besondere Fähigkeiten zu besitzen und den anderen voraus zu sein. Seine große Stärke hatte er stets darin gesehen, keine Angst vor schnellen Entscheidungen zu haben. Ja, das war er gewesen: Raen, der blindlings mit allem zurechtkam! Und nun war er nur noch ein haderndes Häufchen Elend. Er stützte sein Kinn in beide Hände und musste sich Mühe geben, nicht zu heulen.
„Oh, Junge, dir ist wirklich nicht zu helfen“, schüttelte Hereke mit dem Kopf, „ Aber eines rate ich dir, lass Kosam nicht noch länger warten, sonst bist du sie los. Es ist sowieso erstaunlich, dass sie überhaupt noch auf dich wartet. Das zeigt wie viel du ihr bedeutest.“
Raen sah stumm auf seine Hände. Er schämte sich für seine Zweifel.
„Ich werde sie einladen, wenn es dich beruhigt. Dann kann ich mit ihr reden“, sagte er schließlich und versuchte dabei entschlossen zu klingen.
„Tu das, aber warte damit nicht allzu lange, dir und ihr zuliebe!“

Mit den mahnenden Worten Herekes noch in den Ohren eilte Raen anschließend zum Chorten hinauf. Im Geiste war er so sehr damit beschäftigt, einen Brief an Kosam zu verfassen, dass er die bedrohlichen Nebelschwaden völlig vergaß. Er lief direkt in den Tempel, wo er sich Schreibzeug holte, und setzte sich in eine ruhige Ecke im Oberen Heiligtum. Dann begann er zu schreiben:
„Meine liebste Kosam, es schmerzt mich, dich so lange im Ungewissen gelassen zu haben. Und ich bitte dich um Vergebung. Leider binden mich hier in Shari noch immer die Verpflichtungen. Weißt du, die Jagdzeit steht vor der Tür und jeder Krieger wird dabei benötigt, aber ich wünsche mir, dass du diese Einladung annimmst und hierher kommst, so schnell es sich einrichten lässt. Es tut mir unendlich leid, dir solch großen Kummer bereitet zu haben. Ich sehne mich danach, dich bald wieder in den Armen halten zu können! Ich freue mich auf deinen Besuch. Und nimm dich in Acht vor dem Nebel!
In Liebe, dein Raen.“
Er las das Geschriebene noch einmal durch und ließ die Farbe auf der Holztafel trocknen. Seine Worte klangen doch recht zuversichtlich, befand er, denn er hatte so ehrlich wie möglich geschrieben. Das dünne Täfelchen bekam Kosams vollen Namen auf die Rückseite und musste nun nur noch von dem Postreiter mitgenommen werden, der in den nächsten Tagen hier vorbeikommen sollte. Raen hoffte, dass er damit etwas in Gang setzte, wodurch er möglicherweise endlich eine Entscheidung herbeiführen konnte.

Als der Nebel nach einigen dunstverhangenen Tagen seine Herrschaft endlich wieder an die Ahnen der Winde zurückgegeben hatte, entschied man in Shari, die jährliche Herbstjagd zu veranstalten. Sie war Pflicht für alle Krieger, denn es war ihre Aufgabe, den ganzen Clan mit Fleisch für die Wintervorräte zu versorgen.
Raen war bereits bei den Vorbereitungen aufgeregt wie ein kleiner Junge, denn er freute sich auf die Tage im Wald und auf die Pirsch. Bei der Jagd fühlte er sich immer besonders nützlich. Nicht nur weil er es gut konnte, sondern weil sie eben nur von den Kriegern durchgeführt werden konnte. Wegen des unvermeidlichen Tötungsaktes war sie aber auch eine der wichtigsten Lektionen, die ein junger Krieger auf dem Weg zu seiner eigentlichen Bestimmung zu lernen hatte. Ein vorläufiger Bluttest.
Zelte, Ausrüstung und Proviant wurden am Abend auf Wagen geladen, und am nächsten Tag ging es los, nachdem der Oberpriester Hrauna um eine erfolgreiche Jagd angerufen hatte.
Kaera ritt neben Raen durch den grauen Tag und machte ein nicht sehr begeistertes Gesicht. Raen wusste auch ganz genau, warum. Kaera hatte es noch nie gefallen, den Tieren durch Gestrüpp und Dreck hinterher zu kriechen, um sie dann hinterrücks niederzustrecken. Und jener Teil der Jagd, der für gewöhnlich darauf folgte, sagte ihm noch weniger zu: Das Verwerten der Tiere. An die rote Farbe des Blutes hatte er sich einfach noch nicht gewöhnen können.
Sie ritten zwei Tage komplett durch und stiegen nur ab, um zu rasten oder um nach Fährten zu schauen. Das Wetter war frühwinterlich. Die Nächte und Morgenstunden waren kalt mit dem ersten Raureif auf dem knisternden Laub, tagsüber jedoch schien die Sonne durch das kahle Geäst des Waldes und wärmte die Reiter.
Das Jagdlager errichteten sie auf dem Rücken einer Erhebung mitten unter mächtigen Buchen, nachdem die Umgebung aufgrund der zahlreichen Fährten für vielversprechend erklärt worden war.
Am nächsten Morgen teilte Kensa die jungen Krieger zu den älteren ein. In Vierergruppen zog man dann in unterschiedliche Richtungen los. Jeder war mit einem kleinem Proviantbeutel und Pfeil und Bogen ausgerüstet. Raen war mit Kaera, Roman und noch einem jüngeren Burschen unterwegs. Sie schlugen sich nach Westen durch den reichlich unwegsamen und hügeligen Wald und machten sich auf Spurensuche. Es war kein einfaches Vorankommen, da sie sich möglichst leise bewegen mussten. Immer wieder war dabei Kaera derjenige, der mit seinem Bogen oder dem Köcher im Gebüsch hängen blieb. Raen rollte ungeduldig mit den Augen. Warum stellte sich Kaera bloß immer so ungeschickt an? Er würde ihnen noch sämtliches Wild vertreiben mit dem Lärm, den er veranstaltete.
Mit einer verlegenen Geste fixierte der jüngere Krieger die Pfeile wieder neu im Köcher, so dass sie beim Laufen nicht laut aneinander klapperten.
Raen schüttelte genervt den Kopf. Er sah, dass sein Vater über Kaeras Mühen lediglich amüsiert lächelte, und besann sich. Er nahm sich vor, selbst etwas mehr Nachsicht zu üben.
Das Gestrüpp, durch das sie sich vorarbeiteten, lichtete sich etwas, und zu Füßen des nächsten Abhanges fanden sie dann endlich frische Fährten an einem kleinen Bachlauf. Auch die Losung, die sie untersuchten, schien keine Ka-Stunde alt. Sie überquerten den Bachlauf und folgten der Spur, die darauf hindeutete, dass hier im Morgengrauen eine ganze Schar Hirsche vorbeigezogen war.
Am sanft ansteigenden Hang der nächsten Erhebung teilte sich die Spur in mehrere verschiedene Pfade auf, und die Jäger stellten fest, dass sich hier ein dichtes Netz von Wildwechseln über den mit kupferfarbenem Laub bedeckten Waldboden zog. Roman entschied, dass sie sich trennen und zu zweit je einem anderen Pfad folgen sollten. Raen hoffte, sein Vater würde ihn mitnehmen, bekam dann aber Kaera zugeteilt. Er wusste, dass dies eine Herausforderung aber auch Anerkennung für ihn darstellen sollte. Es zeigte, wie sehr sein Vater ihm bereits vertraute. Also übernahm er bereitwillig die Führung über seine Zweiergruppe und folgte mit Kaera dem Wildpfad bergan, während sein Vater mit dem jüngeren Krieger rechterhand um den Hügel herumlief.
Konzentriert las Raen die frischen Spuren zwischen dem Laub. Er ging in dieser Aufgabe voll auf und bewegte sich schnell und sehr leise. Kaera war in einigem Abstand hinter ihm und hielt ohne zu murren erstaunlich gut mit. Der einzige Laut, den sie ab und an von sich gaben, war ein kehliger Ton, der wie der Ruf des Raben klang. Er sollte die anderen Jäger über ihr Fortkommen unterrichten, damit sie nicht fälschlicherweise für Hirsche gehalten und über den Haufen geschossen würden.
Den Spuren hinterher drangen Raen und Kaera immer tiefer in das ihnen unbekannte Waldgebiet vor. Größere lichte Stellen wechselten sich mit mannshohem Unterholz ab, das die Sicht behinderte. Immer wieder drehte Raen sich nach Kaera um und vergewisserte sich, ob dieser auch hinter ihm blieb. Aber Kaera hielt tapfer Anschluss und bemühte sich redlich, so geschickt vorwärts zu kommen wie sein Vordermann.
Schließlich kamen sie an das Ende des dichten Unterholzes aus jungen Buchen und traten auf ein weitgehend freies Stück Wald, wo ein riesiger, erst kürzlich umgestürzter Baum ihnen den Weg versperrte. Sein mächtiges Wurzelwerk ragte über einem großen Loch, das er aufgerissen hatte, in die Höhe, und der silbrig glatte Stamm hatte solch beachtliche Maße, dass man nicht einfach über ihn hinweg klettern hätte können. Zu ihrer Rechten griff das ausladende Geäst des Baumes knorrig in alle Richtungen aus gleich einem gestürzten Riesen, der verzweifelt nach Halt sucht, um sich wieder aufrichten zu können.
Bei dem Anblick sog Kaera in Raens Rücken lautstark Luft ein, und der Ältere verzog verächtlich seine Mundwinkel. Wahrscheinlich fühlte Kaera sich geradewegs in einen seiner Alpträume versetzt, in denen der Wald versuchte, ihn mit seinen Klauen zu packen. Unvermittelt hielt Raen in seinen Gedanken inne und lauschte. Dann gab er Kaera ein Zeichen, sich zu ducken. Ihnen gegenüber, ungefähr dreißig Schritte entfernt, ging die unbewachsene Stelle wieder in eine Wand aus Unterholz über, und dort hatte sich etwas bewegt.
Raen gab einen gedämpften Rabenruf von sich, doch er erhielt keine Antwort.
„Was ist da?“, flüsterte Kaera mit deutlichem Unbehagen in der Stimme.
„Schhht!“ Ärgerlich legte Raen einen Finger an die Lippen. Es war ihm unbegreiflich, wie schlecht das Gespür seines Kameraden war. Hörte er es denn etwa nicht? Wie angewachsen spähte er über den Stamm hinweg in das Gestrüpp. Ganz sicher, da war etwas! Raen prüfte die Windrichtung: Sie kam immer noch leicht von vorn. Gut. Leider hatten sich mittlerweile Wolken vor die Sonne geschoben, und es war spürbar kälter geworden. Raen blieb an seiner Stelle, nahm seinen Bogen vom Rücken und legte einen Pfeil auf. Kaera hockte neben ihm und fuhr regelrecht zusammen, als es aus dem Dickicht vor ihnen laut knackte. Mahnend hob der Ältere erneut den Zeigefinger, schlich daraufhin geduckt zu den Wurzeln des umgestürzten Baumes und äugte vorsichtig darum herum. Aber noch immer war nichts zu sehen. Kaera ließ seinen Bogen, wo er war und schaute seinem Kameraden hinterher. Es knackte wieder, und Raen packte die Aufregung. Es musste etwas sehr Großes dort in dem Gebüsch sein! Er vergaß alles um sich herum, konzentrierte sich nur noch auf die Geräusche und wartete still. Seine kalten Finger hielten den Bogen fest im Griff. Durch die mangelnde Bewegung wurde ihm allmählich kalt und er musste ein aufkommendes Zähneklappern unterdrücken. Plötzlich fühlte er etwas auf seiner Schulter und fuhr herum. Kaera war überraschend lautlos an ihn herangeschlichen und deutete etwas weiter zu ihrer Linken in das Unterholz. Mit grimmig zusammengezogenen Brauen sah Raen in die Richtung. Dort war tatsächlich eine Bewegung auszumachen. Wiederholt krächzte er leise wie ein Rabe, um sicher zu gehen, dass es sich nicht um seinen Vater oder eine andere Gruppe handelte. Doch erneut blieb eine Antwort aus. Stattdessen erstarrte die Bewegung. Raen gab Kaera ein Zeichen, und wagte sich eine Länge weiter vor. Er wollte ein freies Schussfeld haben.
Das vertrocknete Laub des Unterholzes bewegte sich raschelnd, und mit einem Mal konnte er zotteliges, braunes Fell dazwischen ausmachen. Ein lautes Knacken ertönte, und im nächsten Augenblick trat ein Hirsch aus dem Dickicht. Raen gefror in seiner Haltung, die Sehne seines Bogens leicht gespannt.
Misstrauisch blieb das stattliche Tier stehen und witterte seine Umgebung, hob die Nüstern hoch in die Luft. Sein Geweih war gewaltig und sein Schultermaß kaum niedriger als das eines Pferdes. Der Hirsch trat ein paar weitere vorsichtige Schritte in die lichte Schneise, und Raen spürte, wie Kaera ihm in die Seite stieß. Aber er gedachte noch nicht zu schießen. Der Hirsch war viel zu nah dran und würde sofort wahrnehmen, wenn er seinen Bogen hob. Sie mussten warten, bis er abgelenkt war. Beharrlich beobachten die beiden jungen Jäger, wie das Tier sein Haupt senkte und den Waldboden beschnupperte. Dann hob es den Kopf wieder, und als sei dies ein Signal gewesen, brach schließlich ein knappes Dutzend Hirschkühe aus dem Unterholz. Stumm und erhaben schritt der Hirsch weiter auf die offene Fläche hinaus, ihm folgend sein Harem. Raen gewahrte, dass Kaera unruhig wurde, weil er noch immer nichts unternahm, während die Gruppe Hirsche davonzog. Aber es war noch immer nicht der rechte Moment. Erst als die Tiere etwa fünfzig Schritt von ihnen entfernt waren, und einige Bäume zwischen ihnen standen, wagte Raen es, seine Position zu verändern. Doch vorher prüfte er den Waldboden: Viel trockenes Laub, es würde nicht leicht sein, sich darauf geräuschlos anzuschleichen. Wieder beobachte er die Hirsche. Die weiblichen Tiere schienen ruhiger zu werden und begannen hier und dort die letzten Grashalme am Boden auszuzupfen. Das männliche Tier aber hielt erhobenen Hauptes aufmerksam Wache. Raen gab Kaera zu verstehen, hier am Stamm zu warten und pirschte los. Ganz langsam brachte er einen Baum zwischen sich und den witternden Hirsch, damit dieser ihn nicht sehen konnte. Die anderen Tiere verließen sich ganz auf dessen Aufmerksamkeit und ästen arglos weiter. Raen ging hinter dem Baum in Stellung, suchte sein Ziel und spannte den Bogen. Eine der Hirschkühe bot ihm offen ihre linke Flanke. Perfekt, dachte er und fixierte die Stelle direkt hinter dem Schulterblatt. Dann ließen seine unterkühlten Finger die Sehne fahren, und der Pfeil mit der scharfen Spitze war unterwegs. Ein dumpfes Geräusch folgte kurz darauf, und Raen sah, wie der Pfeil sein Ziel sauber getroffen hatte. Augenblicklich schreckten die Tiere auf und flohen. Auch die getroffene Hirschkuh machte ein paar Sprünge, brach dann aber zusammen und blieb regungslos im Laub liegen. Raen rief Kaera und rannte zu seiner Jagdbeute. Sie lag mit ausgestrecktem Hals und starrweiten, schwarzen Augen da, das Blut rann ihr frisch aus der Wunde ins Fell. Mit einem Lächeln kniete der erfolgreiche Jägern sich vor ihr nieder, strich ihr sanft über die Stirn und sprach ein kurzes Gebet, wie er es gelernt hatte. Danach verbeugte er sich und dankte ihr und Hrauna dafür, dass sie ihn ernährten. Inzwischen war Kaera bei ihm angekommen und verneigte sich ebenfalls.
„Gut gemacht!“, sagte er. „Das war ein hervorragender Schuss!“
„Danke, aber das nächste Mal kannst du es ruhig selbst versuchen. Auch deine Pfeile sind spitz!“, zog Raen ihn mit seiner Bangigkeit auf.
„Du kannst es aber viel besser als ich!“
„Du könntest das auch gut, wenn du es nur wolltest. So, und jetzt hilf mir, halt das Hinterbein hier fest.“ Raen drehte die tote Hirschkuh auf den Rücken, zog das große Jagdmesser aus seinem Gürtel und machte sich daran, das Tier aufzubrechen. Kaera tat zwar wie ihm geheißen, wandte dabei aber seine Augen ab.
Raen keuchte als leiste er Schwerstarbeit, als er unter Schaben und Knacken den Brustkorb öffnete.
„Kaera, hier halt mal“, sagte er und drückte seinem Kameraden das blutige Messer in die Hand. Metallischer Blutgeruch und der typische Odem der Eingeweide stieg ihm in die Nase, während er seine Hände in die Körperhöhle des Tieres steckte und geübt die Innereien entfernte. In der Kälte dampfend lagen sie schließlich neben der Hirschkuh. Raen ließ sich das Messer reichen, schnitt Leber und Lunge heraus und legte sie wieder in die Bauchhöhle zurück. Unterdrückte Würgegeräusche ließen ihn seine Arbeit unterbrechen. Mit einem Seufzen sah er zu dem Jüngeren auf, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, und hinterließ dort einen blutigen Streifen.
„Mann, Kaera, sag bloß, dass du jetzt schon wieder nicht durchhältst!“
Aber da war es schon zu spät. Kaera drehte sich um und übergab sich lautstark ins Laub. Raen winkte ab und kümmerte sich nicht weiter darum, zog derweil je eine dicke Hanfschnur durch die Fußsehnen der Vorder- und Hinterbeine der Hirschkuh und band sie damit zusammen. Dabei dachte er, dass ihm Kaera kein Stück leid tat. Er zog den letzten Knoten fest und sah sich um. In ihrer Nähe wuchsen mehrere kleine Bäumchen. Eines von ihnen hackte er um und entfernte die Äste. Dann schob er den Stamm durch die Schlaufen.
„Bist du jetzt fertig?“, fragte er anschließend Kaera, der sich seinen Mund mit trockenem Laub abgewischt hatte. Der Jüngere nickte, war aber noch immer etwas bleich um die Nase. Raen konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen.
Er fragte sich, wie es Kaera wohl später einmal ergehen mochte, wenn das Blut, welches an seinen Händen klebte, nicht mehr nur von Tieren stammte!
„Ja, es geht“, gab Kaera als Antwort und riss sich sichtlich zusammen. Er warf einen Blick auf die tote Hirschkuh, nur um seinem Kameraden zu beweisen, dass er es doch konnte.
Raen musterte ihn währenddessen. Vermutlich war dem Knaben der Appetit auf gebratenes Wildfleisch mal wieder gründlich vergangen. Mit einem Wink wies er ihm die vordere Position zu, und beide zusammen hoben sie den Stamm mit der schweren Jagdbeute auf ihre Schultern. Immer wieder warnende Rabenrufe ausstoßend stapften sie anschließend durch das Unterholz.

Nach einem strammen Marsch mit ihrer nicht geringen Last kamen sie erschöpft im Lager an. Mit fröhlichen Glückwünschen ob ihres Jagderfolges wurden sie in Empfang genommen. Raen schwieg kameradschaftlich über Kaeras kleine Schwäche, und sie luden ihre Beute ab. Sie sahen, dass auch einige andere gutes Jagdglück gehabt hatten. Neun Hirschkühe lagen schon bereit, um an den Waidgestellen, die sie am Tag zuvor errichtet hatten, aufgehängt zu werden. Doch darum kümmerten sich andere. Die Jäger durften sich erholen und am Feuer aufwärmen. Roman war noch nicht wieder da. Raen setzte sich mit Kaera ans das einladend prasselnde Feuer und beide schwiegen jeder ein seine Gedanken vertieft.
Gegen Abend, als alle wieder im Lager eingetroffen waren, durchzog ein köstlicher Geruch nach Wildbret die kalte Luft. Der erste Bissen des Fleisches gebührte den von Hrauna gesegneten Jägern. Raen hatte seinem Vater am Lagerfeuer von seinem guten Schuss berichtet, und dieser hatte ihm erzählt, wie er selbst seinen Hirsch erlegt hatte. Dabei scherzte er auch darüber, wie oft er in der Vergangenheit schon daneben geschossen hatte und leer ausgegangen war. Das brachte sogar Kaera endlich wieder zum Lachen, und wenig später sah Raen ihn mit erstaunlich großem Appetit das wunderbare Fleisch verzehren. Doch die vorangegangene Anstrengung und das gute Essen machte die Jäger müde und so krochen schließlich alle bis auf die Wachen nacheinander unter ihre Decken in den Zelten und schliefen zufrieden ein.

Nach zwei anstrengenden aber einträglichen Jagdwochen in den Wäldern rund um den Shari-Chor kehrten die Krieger mit dreißig erlegten Hirschen, zwanzig Rehen und noch einmal so vielen Wildschweinen auf ihren Wagen zum Chorten zurück. Und in den nächsten Tagen waren sie voll und ganz damit beschäftigt, das Fleisch für den Winter haltbar zu machen, wobei sie bei dem späteren „sauberen“ Teil des Pökelns und Räucherns tatkräftige Unterstützung von den Frauen und Männern des Hauses erhielten. Auch die Häute der erlegten Tiere wurden zuerst von den Kriegern vorbearbeitet und danach an die Gerberei weitergegeben.
Raen war die Arbeit im Fassraum zugeteilt worden, der sich gleich neben den Werkstätten befand. Er war dafür verantwortlich, Fleischstücke sorgfältig in mit Salzlake gefüllte Fässer zu schichten, und diese anschließend mit Hilfe des Küfers verschließen zu lassen. Laut schlugen der Küfer und sein Lehrling mit ihren Holzhämmern den letzten Eisenring über den Rand des Fasses, das Raen soeben verdeckelt hatte. Deshalb hörte er auch nicht, wie sich die große Tür in seinem Rücken öffnete, und eine schmale Gestalt auf ihn zu geschritten kam. Emsig und mit hochgekrempelten Ärmeln nahm er weiterhin rohe Fleischstücke aus einer großen Molle und legte sie in die Lake eines neuen Fasses.
Schließlich stand die Gestalt neben ihm, und er sah ihr überrascht in die Augen. Mit einem Platschen fiel das Stück Fleisch aus seiner Hand in die Lake.
„Du?“ rief er entgeistert aus.
Kosam lächelte ihn an. „Ja, ich!“, sagte sie und streckte zur Begrüßung ihre Arme aus. Raen hätte sie gern in den Arm genommen, aber seine Hände und seine Kleidung waren unrein. Entschuldigend ließ er seine mit Fleischsaft verschmierten Finger vor ihren Augen wackeln und lächelte verlegen zurück. „Verzeih bitte, aber ich muss erst noch zu Ende arbeiten. Drei Fässer müssen heute noch gefüllt werden und dann kann ich mich waschen gehen.“
Sie nickte und ihr Lächeln verblasste um einen Hauch.
„Gut, dann sehe ich dir eben zu!“, entgegnete sie bestimmt und stellte sich ihm gegenüber mit dem Rücken verschränkten Armen auf und beobachtete ihn bei seiner Arbeit. Als er endlich fertig war, spülte er seine Hände kurz in einem Eimer mit Wasser ab, gab Kosam ein Zeichen, ihm zu folgen, und ging mit ihr nach draußen. Es war kalt und bereits dunkel, ein unbehaglicher Winterabend.
„Möchtest du mit in den Tempel kommen, oder schon vorgehen in die Küche, und dort auf mich warten?“, fragte er. Sein Blick huschte scheu über ihr Gesicht, doch bevor sich seine unsicheren Gefühle auf seinen eigenen Zügen offenbaren konnten, wandte er sich schnell wieder ab.
„Ich komme mit!“
Raen nickte und geleitete Kosam quer über den Hof zum Tempel. Sein Unbehagen wuchs.
„Es wird nicht lange dauern“, sagte er vor der Tür zum Oberen Heiligtum und ließ sie mit einem leicht verunglückten Lächeln allein.
Der Geruch des Melams beruhigte sein Herz etwas, als er das Obere Heiligtum durchquerte. Im Waschraum entledigte er sich seiner Kleidung und schrubbte sich rasch die unguten Säfte von der Haut, denn er hatte den ganzen Tag bis zu den Ellenbogen in rohem Fleisch gesteckt. Und während er sich das Wasser über den Schädel laufen ließ, versuchte er, sich darüber klar zu werden, was er Kosam eigentlich sagen wollte. Auf jeden Fall musste er ehrlich zu ihr sein.

Als er wenig später in sauberer Kleidung und seinem Riva in der Hand die paar Stufen herunter ins Untere Heiligtum gelaufen kam, sah er Kosam vor dem Altar hocken.
Sie hob die Hand, und er setzte sich zu ihr. Aus seinem kurzen Haar tropfte noch das Wasser.
„Du hättest dich aber ruhig noch abtrocknen können“, scherzte sie und strich ihm einige Tropfen von der Augenbraue.
Plötzlich umschlang sie ihn und drückte sich fest an ihn. Erschöpft von der langen Reise lehnte sie ihren Kopf an seine Brust.
„Ich bin so froh!“, flüsterte sie.
Raen fuhr ihr mit der Hand über den Rücken und ließ sich nicht anmerken, wie entsetzt er in Wirklichkeit war. Zögernd strich er ihr über das Haar und legte seine Wange an ihren Scheitel. Doch die richtigen Worte wollten ihm nicht einfallen. Stattdessen wiegte er sie wie ein Kind in seinen Armen. Er hörte, wie sie leise zu weinen begann, und seine Brust wurde ihm eng. Der schwarze Stoff seiner Jacke sog ihre Tränen auf und ließ sie gleich unsichtbar werden, doch ihre Traurigkeit erschütterte ihn dennoch. Raen sah zu Hyaun auf, und Ihn Seinem Blick lag ein unverhohlener Vorwurf.
Eine geraume Weile saßen sie so da, bis Kosams Schluchzen schließlich weniger wurde, und sie mit geröteten Augen zu ihm aufsah. „Schick mich bitte nicht wieder zurück nach Rotenas! Ich möchte für immer hier bei dir bleiben“, sagte sie stockend.
Raen konnte nichts, als sich auf die Lippen beißen. Ihre Forderung drohte ihn zu ersticken. Was sollte er ihr sagen? Er fasste sie bei den Schultern. „Bitte, Kosam, beruhige dich. Es wird alles gut“, log er, während er in seinem Kopf verzweifelt nach einer Lösung suchte. Hätte er sie doch bloß nicht eingeladen nach Shari zu kommen. Ihre Gegenwart machte ihm plötzlich bewusst, dass er nicht bereit für sie war.
„Liebst du mich denn noch?“ Kam die gefürchtete Frage aus ihrem Munde.
In Raens Kehle stieg Übelkeit auf. ‚Wenn ich das wüsste‘, dachte er gehetzt. Fahrig fuhr er sich mit der Hand über den Mund, auf der Suche nach einer passende Antwort. Er warf einen hilfesuchenden Blick zu Hyaun hinauf, doch der starrte nur verständnislos zurück.
„Ja, natürlich“, antwortete er schließlich hastig und spürte, wie er sich immer tiefer in etwas hinein manövrierte, das kein gutes Ende nehmen konnte.
Er schaute in Kosams blasses Gesicht, in dem ihre tränenfeuchten Augen riesengroß wirkten. Sie begann zu zittern.
„Dann lass mich hierbleiben“, flehte sie.
Raen spürte, dass die Panik in nun endgültig erfasste. Damit sie es nicht bemerkte, drückte er sie erneut hilflos an sich. So fest sie konnte, schlang Kosam ihre Arme um seine Taille und vergrub ihr Gesicht erneut an seiner Brust. Bestürzt dachte er, dass soeben alles aus dem Ruder gelaufen war. Er hatte vernünftig mit ihr reden und ihr seine Probleme verständlich machen wollen, doch das war ihm nicht gelungen. Anstatt dessen hatte er den Fehler begangen und etwas gesagt, das nicht stimmte. Doch jetzt war es zu spät. Raen verdammte seine Unfähigkeit, die richtigen Worte zu finden, und die ungewollt auf ihn wirkende Verletzlichkeit Kosams, die ihn dazu gebracht hatte, von seinem Vorhaben abzukommen.
Er hielt sie fest, bis sie fast eingeschlafen war. Behutsam streichelte er ihr vom Kummer gezeichnetes Gesicht, das trotz oder vielleicht auch gerade wegen der scharfen Schatten, wunderschön war. Seine aufgescheuchten Gefühle kamen nur zögerlich zur Ruhe. Er blickte auf Kosam hinab. In seinem Herzen regte sich etwas, er spürte, das etwas zerbrochen war. Dann hob er sie hoch - sie war federleicht - und trug sie hinüber in den Wohnturm zu ihrem Schlaflager.

25. Kapitel



Als Raen am nächsten Morgen zusammen mit Kosam die Küche betrat, fühlte er sich als könne man ihm bis auf die Knochen ansehen, wie unehrlich er war.
„Ah, da ist ja meine Schwester“, sagte er schnell und steuerte auf Andra zu, in der Hoffnung, ein Gespräch mit ihr könnte Kosam von ihrer Forderung ablenken und ihm mehr Zeit verschaffen.
„Das ist sie also, die hübsche Kosam!“ Vielsagend hob Andra die Brauen. „Endlich stellst du sie uns einmal vor!“
Raens Kiefer verkrampften sich.
„Sehr erfreut“, grüßte Kosam schüchtern zurück, „und herzlichen Glückwunsch nachträglich zur Hochzeit und zum Vierten Grad!“, ergänzte sie.
Andra nickte erfreut. „Danke! Schön, dich endlich kennenzulernen, Kosam. Raen hat schon viel von dir erzählt. Wir waren alle ganz gespannt auf dich! Aber, setzt euch doch.“
Raens Herz schnürte sich immer mehr zusammen. Wenn der Tag so weiterging, würde er irgendwann noch durchdrehen. Er musste dringend mit jemandem sprechen. Nur mit wem? Er ließ sich mit Kosam neben Andra nieder.
Er zwinkerte Resa zu, der augenscheinlich schlecht gelaunt war und die Arme vor der schmalen Brust verschränkt hielt. Er sah aus, wie Raen sich fühlte. Auch Kosam lächelte Resa an, doch der lächelte nicht zurück.
„Wie geht es denn mit deiner Schmiede voran, Osa?“, fragte Raen seinen Schwager, um auf andere Gedanken zu kommen, dabei strich er aus Gewohnheit über den Kopf seines kleinen Bruders. Das schien Resas Stimmung etwas zu lösen und er lehnte sich an seine Schulter.
„Ganz gut“, antwortete Osa, der eine angenehm tiefe Stimme hatte. „Es ist fast alles eingerichtet und in den nächsten Wochen erwarten wir das Roheisen aus der Provinz Krane, dann kann ich mit den ersten Schwertern beginnen!“
„Dann wirst du ja auch irgendwann mein Schwert schmieden!“, bemerkte Raen erwartungsvoll.
„Wahrscheinlich ja.“
„Kann ich dabei vielleicht zusehen?“
Osa schüttelte den Kopf. „Leider nein. Keiner außer dem Schmied und seinen Gehilfen ist es erlaubt, das Schwert während seiner Geburt zu betrachten! Der Schmied überträgt all sein Können auf das Schwert, es bekommt also seinen Geist, und erst wenn es das erste Mal die Hand seines eigentlichen Besitzers berührt, und dessen Augen auf ihm ruhen, wird die Seele des Schwertes vollständig. Es wird dann auf immer mit dir verbunden sein, hat seinen Ursprung aber bei mir“, klärte Osa ihn über die Philosophie und die Geheimnisse des heiligen Prozesses des Schwertschmiedens auf. Kosam hörte gleichfalls interessiert zu.
„Ach, so ist das“, entgegnete Raen. „Dann denk beim Schmieden meines Schwerstes doch bitte an meine Schwester, auf das es so scharf werde wie ihr Verstand!“, scherzte er und kassierte dafür prompt einen für Kosam überraschenden Klaps von Andra auf seinen Oberschenkel.
„He! Warum denn immer gleich so grob!“, rief er empört aus und drohte seiner Schwester mit dem Zeigefinger.
„Pass gut auf, Kosam“, wandte sich Andra an sie, „wenn er frech wird, dann ist das das einzige Mittel, das hilft. Merk dir das!“
Raen sah, dass Kosam zurückhaltend grinste.
Nachdem sie das Morgenmahl beendet hatten, machte sich jeder an seine Arbeit. Da Raen zumindest am Vormittag noch sein Tagwerk zu erfüllen hatte, musste Kosam sich die Zeit bis zum Mittag allein vertreiben. Raen schlug ihr vor, bei Suneka in der Küche zu bleiben, doch das lehnte sie gleich ab.
„Wieso denn nicht?“, fragte er sie.
„Ich glaube, sie mag mich nicht, sie sieht mich immer so komisch an“, gab sie als Antwort.
Raen hob verständnislos die Brauen. „Weshalb sollte Suneka dich nicht mögen?“
„Das weiß ich auch nicht, aber ich spüre es, und deshalb möchte ich nicht bei ihr bleiben!“
Er zuckte mit den Schultern und überlegte. „Wenn du möchtest, dann bringe ich dich zu Hyaunset Loenka, mit ihm kann man sich wirklich gut unterhalten“, bot er ihr daraufhin an.
„Ich überlege es mir. Vielleicht gehe ich später zu ihm. Ich werde schon klarkommen.“
„Nun, gut“, brummelte er, ließ sie allein in der Eingangshalle des Wohnturmes zurück, und eilte zu seiner Arbeit in den Fassraum. Er wollte es nicht zugeben, aber er fühlte sich erleichtert, Kosams Nähe endlich für ein paar Stunden entkommen zu können. Er wollte sie nutzen, um nachzudenken.

Für Kosam hingegen war klar, dass sie den Tag allein verbringen würde, denn zu heftig kreisten ihr die verschiedensten Empfindungen in der Brust. Mit gemischten Gefühlen erinnerte sie sich an das, was Raen gestern Abend zu ihr gesagt, ihre Zweifel aber nicht gelindert hatte: ‚Natürlich liebe ich dich!’ Beinahe heiß durchrieselte sie die verzweifelte Liebe zu ihm. Warum nur, war er immer noch so distanziert? Sie hatte es deutlich gespürt, als er sie vor dem Morgenmahl abgeholt hatte. Da hatte er ihr bloß einen flüchtigen Kuss auf den Mundwinkel gedrückt. Was, wenn er es aus Verlegenheit nur so daher gesagt hatte, was, wenn er sie gar nicht mehr wirklich liebte?
„Aber ich liebe dich doch, Raen!“, flüsterte Kosam leise vor sich hin und machte sich daran, die Treppen im Wohnturm hinauf bis unter das Dach hinaufzusteigen. Dort setzte sie sich im Halbdunkel auf die Truhe mit den Flaggen, neben der sie und Raen ihre erste Nacht zusammen verbracht hatten. Es war so schön gewesen. Wehmütig reif sie sich die übersprudelnde, gerade frisch zum Leben erwachte Liebe in Erinnerung, die sie in jenem Moment beseelt hatte. Was hatte sich seit dem verändert? Warum war Raen so kühl zu ihr? Wie ein garstiger Dorn hakte sich dieser eine Gedanke in ihrem Kopf fest. Beklemmende Angst griff nach ihr. Was, wenn er sie nicht nach Shari holte?
Mit wachsender Panik fühlte sie einen kleinen, bösartigen Schatten durch ihre Gedanken schlüpfen wie ein Aal durch dunkle Gewässer.
Verzagt warf Kosam ihren Kopf auf die Knie. Sie wollte nicht mehr daran denken. Sie wollte frei sein. Leise rollten die ersten Tränen über ihre Wangen, obwohl sie sie zurückzuhalten versuchte. Wenig später schluchzte sie so laut, dass es sie schüttelte. Der Druck in ihrem Kopf verstärkte sich, und in ihrem Herzen verkrampften sich ihre Sorgen, aber sie konnte einfach nicht aufhören. Die Angst war da und lies sich nicht wieder verscheuchen.
Eine ganze Usui-Stunde weinte sie vor sich hin, und als die salzige Flut endlich versiegte, war auch der drohende Schatten verschwunden. Erleichtert wischte sie sich das Gesicht trocken, und unentschlossen wanderte ihr Blick durch den dämmrigen Raum. Die Klappen der Fensterschlitze rund herum waren allesamt geschlossen, nur von den Öffnungen über ihr fiel Licht herein. Sie sah hinauf, und im selben Moment kam ihr eine Idee. Kosam ging zu der Stiege, ignorierte den Taubendreck auf den Sprossen und begann hinaufzuklettern. Oben auf der kleinen Plattform angekommen, trat sie an die Öffnungen und sah hinaus. Schneidend kalter Wind wehte ihr entgegen und lies sie frösteln. Am Horizont zogen düstere Wolken über den endlosen, kahlen Wald hinweg, und nur vereinzelt riss das Grau auf und ließ gelbliches Licht hindurch scheinen. Auf den Hügeln lag ein Hauch von Schnee. In der Ferne sah Kosam einen Schwarm Raben. Mit ausgebreiteten Schwingen ließen sich die großen Vögel vom Wind mittragen. Sie waren unglaublich schnell und verschwanden schließlich irgendwo im dichten Geäst des Waldes.
Über sich hörte sie den Wimpel des Shari Clans im Wind knattern. Sie zog ihren Kopf wieder hinein und sah im Innern nach oben. Die mit Taubendreck verschmutzen Balken leuchteten in der Dunkelheit über ihr. Die Tauben selbst waren ausgeflogen. Kosam legte eine Hand auf die Leiter, die zu der Luke im Dach hinaufführte. Einen Moment zögerte sie, doch dann griff sie nach den Sprossen. Eine nach der anderen kletterte sie empor, bis sie schließlich an der Luke ankam. Sie tastete nach dem Riegel. Er ließ sich problemlos öffnen. Kosam stemmte ihre Schulter gegen die Luke, und sie ging auf. Vom Wind wurde sie aus ihrer Hand gerissen und schlug laut aufs Dach. Erschrocken sah sich das Mädchen um, aber hier war natürlich niemand, der sie hätte sehen können. Mit Bedacht schob sie ihren Oberkörper aus der Luke, klammerte sich an den verwitterten Holzschindeln fest, mit denen das Dach gedeckt war, und drehte sich zum Wimpel um. Die Haare wehten ihr peitschend ins Gesicht, und sie musste sie mit einer Hand wegstreichen, damit sie wieder etwas sehen konnte. Die Clanfarben von Shari bewegten sich straff im Wind: Grün, Dunkelrot und Weiß. Wie gern wäre sie ein Kind dieser Farben gewesen! Und wie sehr verabscheute sie ihre eigenen Farben! Sie sah an sich herunter. Der ganze angestaute Abscheu gegen ihre Familie, gegen ihren Clan und zu guter Letzt auch gegen sich selbst, brach plötzlich aus ihr heraus, und wütend riss sie sich ihre Jacke auf. Sie wollte diese Farben nicht länger tragen! Die schwindelerregende Höhe völlig außer Acht lassend, zerrte sie wie besessen an ihrem Gürtel. Doch der Knoten auf ihrem Rücken wollte sich nicht lösen. Zornig schrie sie auf, zerrte stärker. Plötzlich löste sich der braune Gürtel, und Kosam verlor das Gleichgewicht. Sie kippte hinten über und rutschte ein Stück das schlüpfrige Dach hinunter. Panisch versuchte sie sich, an den Dachschindeln festzukrallen. Dabei riss sie sich schmerzhaft Holzsplitter unter die Fingernägel, konnte ihre Abwärtsbewegung aber schließlich stoppen. Rücklings und mit dem Kopf nach unten hing sie auf dem Dach fest. Über ihr flatterte der Wimpel weiter ungerührt im Wind. Ihr Herz klopfte wild. Vorsichtig wagte Kosam es, ihren Kopf von einer Seite zur anderen zu bewegen, um sehen zu können, wie weit sie von der Kante entfernt war. Etwa eine Körperlänge, schätzte sie. Glücklicherweise war das Dach nicht sehr steil, sonst wäre sie wohl geradewegs nach unten gestürzt. Mehrere Augenblicke vergingen, und Kosam lag einfach nur da. Sie starrte in den trüben Himmel und spürte weder die Kälte noch Furcht vor der Höhe. Auch ihr Herzschlag beruhigte sich wieder.
„Warum bin ich nicht gefallen?“, dachte sie ernüchtert. „Das hätte allem ein Ende bereitet.“
Sie drehte sich auf den Bauch, jetzt konnte sie sehen, dass sie gerade mal eine Armlänge von der Dachkante entfernt war. Sie robbte weiter vor und konnte schließlich über die Kante blicken, doch unter ihr setzte sich das Dach in einer weiteren Stufe fort. Enttäuscht senkte sie ihr Kinn auf die Dachschindeln. Sie dachte an Raen, und wie es ihm wohl dabei ergangen wäre, wenn er sie zerschmettert unten auf dem Hof vorgefunden hätte. Hätte er um sie geweint? Die Liebe zu ihm begann erneut schmerzhaft in ihrer Brust zu pochen. Nein, so lange das letzte Fünkchen Hoffnung noch glomm, wollte sie leben. Für ihn leben! Sie schob sich rückwärts vom Rand nach oben und drehte sich langsam um, so dass sie nach oben schaute. Es war nicht leicht, auf dem feuchten, mit Moos bewachsenen Dach zur Luke zurück zu kriechen, aber schließlich bekam ihre Hand den Rand der Öffnung zu fassen. Mit spürbar schwindender Kraft zog sie sich daran hoch und stieg mit zittrigen Beinen wieder hinein. Ohne die Luke zu schließen, stieg sie die Leiter so schnell hinab, wie ihre wackeligen Arme und Beine es zuließen. Auf der Plattform sank sie schwer atmend zu Boden. Ach einer Weile besah sie sich ihre Hände. Blut und Splitter waren unter den Fingernägeln, einer war tief eingerissen und schmerzte pulsierend. Mit Absicht wischte sie das Blut an ihrer verschmutzen Jacke ab, band sich resolut den Gürtel wieder zu, schob den Knoten auf den Rücken und machte sich schließlich an den Abstieg aus den Wohnturm. Ungesehen gelangte sie in das Waschhaus. Dort zog sie ihre Kleider aus und seifte sich von Kopf bis Fuß ein, als wolle sie nicht nur den Schmutz und das Blut, sondern auch ihre Clanfarben von sich abwaschen. Danach hob sie das Knäuel Kleidung auf und warf es unachtsam in eine Ecke. Im Nebenraum fand sie mehrere frische Kleidungsstücke an einem Haken hängen und schlüpfte in eine Hose und eine Jacke, die ihre frischen blauen Flecken verdeckten. Sie sah an sich hinunter. Grün und Rot standen ihr entschieden besser! Lediglich ihren eigenen Gürtel wickelte sie sich wieder um ihre Taille. Sie würde sogleich Bescheid geben, dass sie sich die Kleidung von jemand anderen ausgeliehen hatte. Doch zuerst brauchte sie eine gute Ausrede.

„Nanu, warum hast du andere Kleider an?“, fragte Raen, als er Kosam beim Mittagsmahl sitzen sah.
„Ich bin auf dem Hof ausgerutscht und genau in eine Pfütze gefallen. Ich war von oben bis unten schmutzig“, erzählte sie offen über ihre eigene Ungeschicktheit amüsiert. „Shani war so freundlich, und hat mir erlaubt, diese Kleidung auszuleihen.“
„Stehen dir gut, unsere Farben. Und die Winterhose auch!“ Er zwinkerte ihr zu, und Kosam lächelte verlegen. „Morgen kann ich wieder meinen Rock anziehen“, entschuldigte sie sich, aber er wusste, dass sie insgeheim gerne Hosen anhatte. Frauen trugen sie eigentlich nur, wenn der Rock sie daran hinderte, ihre Arbeit zu tun, zum Beispiel, wenn sie im Winter viel draußen, oder mit den Pferden arbeiteten, oder wenn sie auf Reisen gingen.
„Hast du mit Hyaunset Loenka gesprochen?“, wollte er wissen.
„Nein. Ich bin leider nicht dazu gekommen.“ Kosam senkte ihren Blick.
Raen bemerkte, dass sie es vermied, ihn anzusehen. Zaghaft, so als hätte sie keinen Appetit, biss sie von ihrem Stück Brot mit Salzbutter ab.
„Sag mal, Ist etwas mit dir?“
Kosam sah auf. „Nein, was soll sein?“
Raen sah sie nachdenklich an. Auch wenn sie es verneinte, meinte er trotz allem zu sehen, dass sie etwas belastete. Hatte sie etwa bemerkt, wie es um ihn stand?
„Und was machen wir jetzt?“ Er stieß sie unternehmungslustig an, um sie und auch sich selbst aufzumuntern.
„Lass uns doch zum Steinwald reiten, ja?“, bat Kosam ihn spontan.
Raen zögerte. Draußen war es ungemütlich kalt und so richtig stabil war das Wetter nicht. Außerdem würde es bereits in einer Ka-Stunden dunkel werden.
„Ich weiß nicht.“
„Bitte, ich möchte mit dir ganz allein sein!“
Es war eine Frage der Zeit gewesen, wann sie diesen Wunsch äußern würde. Raen seufzte innerlich. Er würde so oder so nicht darum herum kommen.
„Na gut, dann müssen wir uns aber beeilen!“
Geschwind machten sie sich auf den Weg zum Hof von Henendra.
Hereke sah die beiden kommen und kam ihnen entgegen.
„Hallo! Wo wollt ihr denn hin?“, fragte er.
Raen sah, dass er sich ein anzügliches Grinsen verkniff.
Er versuchte unbekümmert zu wirken und entgegnete: „Wir wollen ausreiten.“
„Bei dem Wetter? Naja, die junge Liebe verleiht einem innere Glut, stimmt’s?“
Raen wäre froh gewesen, wenn sein Freund sich seine Bemerkung gespart hätte. Er war absolut nicht zum Spaßen aufgelegt, und erst recht nicht bei diesem heiklen Thema.
„Herzlich willkommen auf dem bescheidenen Hof des Reitmeisters, Kosam aus Rotenas!“, begrüßte Hereke sie formvollendet und verneigte sich tief.
„Danke, Hereke, schön, dich wiederzusehen!“ Lachend strich Kosam sich die Strähnen aus dem Gesicht.
„Die Ehre ist ganz auf meiner Seite!“, erwiderte Hereke, und zu Raen sagte er: „Ist ihr Lächeln nicht umwerfend!“
„Alter Schmeichler“, gab Raen trocken zurück, inständig hoffend, sein Freund würde endlich aufhören.
Hereke zwinkerte ihm zu. „Na, dann kommt mal mit. Zwei Pferde braucht ihr? Sicher.“
Kosam nickte. „Zwei schnelle Pferde!“, fügte sie hinzu.
Raen nahm die gesundete Jakori, und Kosam bekam eine schlanke, rotbraune Stute. Nachdem Hereke sie für sie fertiggemacht hatte, stiegen sie auf.
„Danke, Hereke“, sagte Kosam, und der Pferdebursche hob die Hand vor die Brust.
„Gern geschehen!“
‚Jetzt halt aber mal den Rand!‘, dachte Raen wütend und gab Jakori seine Hacken in die Flanken. Die Stute sprang los.
Es war kälter geworden, und die beinah eisige Luft schnitt ihm ins Gesicht, während Jakori im vollen Galopp dahinflog. Hinter sich hörte er den Hufschlag des anderen Pferdes. Es holte auf. Kosam musste reiten wie eine Gejagte.
Ihre Stute war erstaunlich schnell, und furchtlos zog Kosam schließlich an ihn vorbei. Ihr schwarzes Haar wehte wie ein Banner hinter ihr her.
Nicht Raen, sondern der Wald brachte sie schließlich wieder zum Stehen. Ihr Atem ging schnell und ihre roten Wangen und Lippen leuchteten aus ihrem übermütig strahlenden Gesicht. „Wo ging es noch mal lang? Dort, nicht wahr?“, fragte sie.
Raen war erstaunt über ihren guten Orientierungssinn. Er nickte, und schon war sie wieder unterwegs. In halsbrecherischem Tempo scheuchte sie ihr Pferd bergan, und Raen hatte mit Jakori alle Mühe, ihr zu folgen.
Was war bloß in sie gefahren?, dachte er angestrengt. So aufgedreht hatte er sie noch nie erlebt.
Bei den großen Steinwalzen, auf denen eine dünne Schicht Schnee lag, hielt sie endlich an und sprang behände aus dem Sattel. Das angefrorene Laub unter ihren Füßen knisterte.
„Erster!“, sagte sie.
Raen stieg ab und legte beiden Pferden die Fußfesseln an.
„Soll ich dir auch welche anlegen, damit du mir nicht ständig davonläufst?“, brummte er im Scherz.
„Laufe ich dir denn davon?“, neckte sie ihn mit leicht vorwurfsvollem Ton. „Ich glaube, das bist ja wohl eher du, der davonläuft!“
Raen blickte verlegen auf die Steinwalzen hinter ihr.
Kosam breitete die Arme aus. „Jetzt stehe ich jedenfalls hier und werde ganz bestimmt nicht mehr weglaufen! Also, wenn du etwas von mir willst, dann komm!“ Um ihre Aussage zu unterstreichen, stemmte sie die Hände in die Hüften und reckte ihr Kinn vor.
Langsam ging er auf sie zu, mit jeder Muskelfaser darauf gefasst, dass etwas geschah. Doch sie rührte sich nicht. Eine Armeslänge vor ihr blieb Raen stehen, und sie blickten sich lange an. In ihrem Gesicht konnte er nicht die geringste Regung ausmachen. Lediglich das trübe Licht des ausklingenden Nachmittags spiegelte sich matt in ihren Augen wieder.
‚Liebst du dieses Mädchen?’, fragte sein Kopf.
Kosam wartete geduldig darauf, dass er etwas sagte oder tat.
‚Sie ist so schön!’, antwortete sein Herz.
‚Das ist es aber nicht, wonach ich dich gefragt habe!’, beharrte sein Kopf. ‚Liebst du sie?’
‚Aber wenn ich es doch nicht sagen kann!’, rief sein Herz zurück. ‚Ich will sie nicht verletzen.‘ Er drängte das Gezeter seiner widerstreitenden Gefühle zur Seite und nahm Kosams Gesicht in seine behandschuhten Hände. Dann küsste er sie in der Erwartung, er würde vielleicht etwas spüren, das ihm half, endlich mit ihr darüber sprechen zu können. Doch er fühlte nichts, nur Leere.
Kosam schien sein halbherziges Zögern zu spüren. Brüsk streifte sie seine Hände ab und trat einen Schritt zurück.
„Sag mir endlich, was du willst!“, fuhr sie ihn unsanft an, und etwas Dunkles huschte dabei durch ihren Blick.
Während Raen sie ansah, spürte er ihren lodernden Zorn und ihre Verzweiflung.
„Sag mir, was du willst“, wiederholte mühsam beherrscht.
Raen wand sich, rang um Worte. „Ich ..., es tut mir leid, Kosam, ich will es nicht, ich will noch nicht heiraten“, brachte er schließlich mit hängenden Schultern hervor.
Und dann geschah es. Kosam verzog das Gesicht und hob zitternd die Hände an ihre Stirn.
„Geh fort! Verschwinde!“, hörte er sie leise sagen.
Er hob hilfesuchend die Hände.
„Verschwinde, hab ich gesagt!“ Sie presste die Handballen auf die Augen und gab einen gequälten Laut von sich.
„Kosam“, versuchte Raen sie zu beschwichtigen.
Plötzlich entrang sich ihrer Kehle ein schriller Schrei. Mit geballten Fäusten schrie Kosam ihre Enttäuschung in den Himmel empor.
Unangenehm berührt trat Raen an sie heran, doch sie wich vor ihm zurück als hätte er eine ansteckende Krankheit. Sie stolperte rückwärts und stieß mit dem Rücken gegen eine der Steinwalzen. Mit Tränen im Blick sah sie ihn an.
„Geh weg!“ schrie sie ihm ins Gesicht. „Verschwinde endlich, du Scheusal!!“
Raen wollte sie packen, doch sie schlug nach ihm, verpasste ihm einen heftigen Treffer an der Schläfe, so dass er von ihr abließ. Schließlich bekam er sie aber doch zu fassen und schüttelte sie. Ihr schwarzes Haar flog ihr ins Gesicht, aber sie hörte nicht auf, zu schreien. Bis sie mit einem Mal alle Kraft verließ, und sie auf die Knie sank.
„Geh weg“, stammelte sie matt und verbarg ihr Gesicht hinter ihren Händen. „Und fass mich nie wieder an!“
Raen hatte sie losgelassen und starrte entsetzt auf sie hinab.
Was hatte er da bloß angerichtet?
Es wurde langsam dunkel, sie mussten zurück zum Chorten.
„Kosam?“, fragte er nach einer Weile besorgt.
Sie antwortete nicht, schien beinahe wie in Trance. Ihre Arme um ihre Knie geschlungen, wiegte sie sich vor und zurück. Ihre blassen Lippen zitterten.
Raen blickte sich ratlos um. Er musste Kosam zum Chorten bringen, auch wenn sie es nicht zuließ, dass er sie berührte. Er konnte sie nicht hier draußen lassen, in der Nacht wurde es empfindlich kalt. Sie könnte erfrieren.
Er ging auf sie zu und fasste sie sanft an der Schulter. Da sie sich nicht wehrte, griff er ihr unter die Achseln und hob sie hoch. Ohne jeglichen Widerstand ließ sie sich zu ihrem Pferd führten. Mit angewandtem Gesicht stieg sie auf.
Stumm ritten sie anschließend den Hang hinab und durch die Felder. Nicht ein einziges Mal auf dem ganzen Rückweg sah Kosam ihn an.
Als sie später in der Dunkelheit den Hof erreichten, gaben sie die Pferde bei Hereke ab und gingen immer noch schweigend zum Chorten hinauf.
Raen spürte die wachsende Distanz zwischen ihnen. Er hätte eine Hand ausstrecken können, um sie zu überbrücken, doch er tat es nicht.
Es war vorbei.

Am nächsten Tag war für alle deutlich zu erkennen, dass zwischen dem einstigen Liebespaar etwas vorgefallen war. Raen und Kosam wichen einander in stillem Einverständnis aus, und das Mädchen aus Rotenas kündigte an, gleich morgen früh nach Hause aufbrechen zu wollen. Sie verließ den Raum, sichtlich darum bemüht, Haltung zu wahren, und als Raen einige Zeit später sein Morgenmahl beendete, um sich in den Tempel zu begeben, fing ihn Andra in der Vorhalle des Wohnturmes ab.
Sie packte ihn unsanft am Oberarm. Überrascht sah Raen sie an. In ihren grünen Augen funkelte es bedrohlich.
„Was ist passiert?“, fauchte sie ihn an.
„Das geht dich nichts an!“
„Und ob es mich etwas angeht. Du bist mein Bruder und du bist gerade dabei, das Ansehen unserer Familie zu beschmutzen.“
Raen schob trotzig die Unterlippe vor. „Besser, als ein Leben lang mit der falschen Frau verheiratet zu sein!“
„Wenn hier einer falsch ist, dann bist du das!“
„Ich glaube, dass ich mir das nicht anhören muss!“ Raen kochte innerlich, was mischte seine Schwester sich ein? Er wollte sich aus ihrem Griff befreien, doch Andra ließ nicht locker.
„Du bleibst schön hier Freundchen, und hörst dir an, was ich dir zu sagen habe!“, zischte sie ihm ins Ohr.
Er packte ihre Hand und verdrehte sie ihr schmerzhaft. Sie gab einen leisen Schrei von sich.
„Und du wirst mich nicht mehr länger wie ein kleines Kind behandeln!“, knurrte er. „Lass - mich - los!“
„Nein, das werde ich nicht tun!“ Heiß sprühte die Wut aus ihren Augen, aber das beeindruckte ihn nicht.
Er verstärkte seinen Griff und bog ihr Handgelenk noch weiter zurück. Entschlossen stemmte sich Andra gegen seine Gewalt. Sie musste höllische Schmerzen haben, zeigte es aber nicht.
Ein spöttisches Lachen drang aus seiner Kehle. Sie war so lächerlich schwach!
Was konnte sie schon gegen ihn ausrichten? Nichts. Er grinste sie frech an.
„Du hast mir nichts mehr zu sagen, Schwester!“
Er sah, wie ihr Gesicht vor Zorn und Schmerzen rot überlief, und für einen kurzen Moment genoss er sein Gefühl von Macht.
Dann landete eine schallende Ohrfeige in seinem Gesicht.
Verblüfft riss er die Augen auf und ließ Andra los. Er hatte vergessen, dass sie auch noch eine zweite Hand hatte.
Offenbar erschrocken über ihre eigene Reaktion wich Andra ebenfalls zurück. Sie hob die Hand, mit der sie ihn geschlagen hatte, und sah sie zutiefst entsetzt an.
„Entschuldige“, sagte sie benommen, und zum ersten Mal in seinem Leben sah Raen sie unsicher werden. Das brachte ihn schlagartig zur Vernunft. Was hatte ihn da soeben geritten? Bestürzt blickte er seine Schwester an.
„Nein, mir tut es leid, Andra. Ich wollte dir nicht wehtun“, sagte er sanft und machte einen Schritt auf sie zu. Sie kannte es also auch, dachte er erschrocken und erleichtert zugleich, das namenlose, brennende Gefühl! Nur hatte sie es bisher so gut unter Kontrolle gehabt, dass selbst er davon nie etwas mitbekommen hatte. „Du kennst es auch. Ich kann dir sagen, was ...“
„Ich will darüber nicht reden!“, unterbrach sie ihn barsch, ihr Blick wurde wieder kühl. „Hast du verstanden? Es ist unnötig auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Ich weiß es, du weißt es und sonst niemand! Klar? Uns so soll es auch bleiben.“
Er zögerte kurz, gab dann aber klein bei. „Du hast Recht.“ Er blickte sie unverwandt an, und seine Wange brannte als Beweis ihrer schicksalhaften Entgleisung. Sie hatten einander offenbart. In jenem kleinen Moment waren ihre sorgfältig verleugneten Energien mit aller Wucht aufeinandergeprallt, und Raen war froh darüber, dass es niemand mitbekommen hatte. Er sah, wie schwer es seiner Schwester fiel, das zu verarbeiten. Mit leerem Blick knetete sie ihr schmerzendes Handgelenk. Raen aber fühlte sich von diesem Augenblick an noch mehr mit ihr verbunden als zuvor. Er wollte ihr eine Hand auf den Arm legen, doch sie ließ ihn nicht an sich heran. Abwehrend hielt sie eine Hand vor sich, so wie Kosam es erst gestern getan hatte.
„Bleib wo du bist! Wir sind noch nicht fertig!“
Raen spürte, wie der Raum wieder kleiner wurde. Ihre Energien wuchsen erneut an, stießen und rieben sich aneinander. Raen fühlte ein Prickeln wie kurz vor einem Gewitter auf seiner Haut, und er versuchte, ruhig zu bleiben.
„Was willst du, Andra?“
„Es geht immer noch um das Mädchen!“, erinnerte sie ihn an den Grund, der sie überhaupt erst in diese Situation gebracht hatte. „Was ist mit euch?“
„Ich werde sie nicht heiraten!“
„Und das habt ihr gemeinsam beschlossen?“
„Ja.“ Raen wich ihrem Blick aus. „Nein. Ach, verdammt, es ist schwierig zu erklären. Ich habe es beschlossen, und sie hat es akzeptiert.“
„Du bist also feige!“
„Wieso feige?“
„Weil du dich vor der Verantwortung drückst!“
„Na und? Ich will eben noch nicht heiraten“, brauste Raen wieder auf, und dabei knisterte die Luft zwischen ihnen regelrecht. Eine Zeit lang starrten sie sich nur an, nicht bereit, auch nur einen Fingerbreit von ihrem Standpunkt abzuweichen. Der Raum schrumpfte immer weiter unter den gewaltigen emotionalen Kräften, die von ihnen ausgingen.
Es war schließlich nicht überraschend, dass Andra sich als Erste zurückzog und sich auf ihre hyaunischen Tugenden besann.
„Du bist und bleibst ein starrsinniger Idiot! Aber ich werde dir nicht wieder vorschreiben, was du zu tun hast. Schließlich behauptest du von dir, erwachsen zu sein. Dann handele gefälligst auch so. Nur eines rate ich dir noch: Denk dir eine verdammt gute Erklärung für den ganzen Schlamassel aus. Nicht für mich, Hyaun bewahre, sondern Vater zu Liebe! Er muss deinen Mist schließlich immer ausbaden.“ Mit resignierter Miene wandte sie sich ab, und zähneknirschend rauschte Raen an ihr vorbei zur Tür hinaus auf den Hof. Vereinzelte Schneeflocken schwebten vom kalten Himmel hinab und bedeckten langsam das Hofpflaster. An der kühlen Luft ließ das beengende Gefühl in seinem Kopf endlich nach. Verstimmt stiefelte er zum Tempel hinüber. Er musste allein sein

Den Rest des Tages erntete Raen von seiner Schwester nichts als vorwurfsvolle Blicke, jedes Mal wenn sie sich begegneten. Stören tat ihn das jedoch wenig, denn er war überzeugt, dass sie sich über kurz oder lang schon wieder beruhigen würde. Viel wichtiger war ihm, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Er würde Kosam nicht heiraten, das war ihm jetzt klarer denn je, und am Abend erklärte er ihr auch warum. Zudem entschuldigte er sich bei ihr mit allem gebotenen Respekt für sein unaufrichtiges Verhalten und auch dafür, sie dem Gerede der Leute preisgegeben zu haben. Sie verzieh ihm mit kalter, verschlossener Miene und reiste am nächsten Morgen ab, ohne sich noch einmal umzusehen. Raen wusste, dass er seinen Fehler nicht wieder gutmachen konnte, und hoffte, Hyaun möge Kosam auf ihrem weiteren Lebensweg beistehen. Ein schlechtes Gewissen überkam ihn, als er ihr hinterher blickte, und er versuchte sich einzureden, dass ihre Probleme, die sie zu Hause hatte, nicht seine Schuld waren. Doch gleichzeitig hallte auch die Stimme seiner Schwester hart in seinem Ohr wider: „Feigling …“
Er beobachtete, wie die kleine Reisegruppe im verschneiten Wald verschwand.
„Lebe wohl, Kosam. Ich werde für dich beten und hoffen, dass dich ein anderer aus deinem Schicksal erlöst.“
Als er sich oben auf der Mauer abwandte, begann es erneut zu schneien.

Das Blutpferd trabte heran. Unter seinen Hufen schmolz der Schnee, und die nasse Erde wurde schwarz. Auffordernd warf es den Kopf hoch und wieherte. Im tief verschneiten Wald leuchtete sein blutgetränktes Fell noch intensiver als sonst. Hell tropfte das Blut in seine Fährte. Plötzlich bäumte es sich auf und preschte durch den Schnee davon, eine schwarzrote Spur hinterlassend. Es verschwand im vollkommenen Weiß des Waldes. Ruhe folgte, und nur der Schnee rieselte leise von den schwer beladenen Ästen.
War da nicht ein Schatten, der hinter den Stämmen durch den Wald huschte? Er bewegte sich beinahe hüpfend fort, schien sich über etwas zu freuen, oder es auszulachen. Der Schatten kam näher. Er war klein und grau, und hatte keinen Mund, dafür aber zwei kümmerliche, kalte Maulwurfsaugen. Mit einem Mal blieb er stehen, und es sah aus, als wittere er etwas, dabei gab er ein grässlich zufriedenes Quieken von sich.
Doch bevor er sich wieder in Bewegung setzen konnte, sprang plötzlich das Blutpferd aus dem weiß verschneiten Dickicht hervor. Es krachte laut, und Schnee stob in alle Richtungen auf. Wie ein großer roter Rachegott schnellte das Pferd auf den kleinen Schatten zu, um ihn zu zermalmen. Es trat hart nach ihm aus, trampelte wild durch den Schnee, doch der Schatten wich geschickt zur Seite. War das ein Kichern? Das Blutpferd wieherte wütend und galoppierte davon. Auf seinem Rücken saß eine Frau mit wehenden schwarzen Haaren!
Kosam?
Raen erwachte schlagartig und erst, als er erkannte, dass er sich nicht mitten in einem winterlichen Wald befand, sondern in seinem Bett, wagte er es, sich zu rühren.
Das war doch Kosam gewesen!, dachte er aufgewühlt und fasste sich an die Stirn. Sein Aun gab ein vibrierendes Summen von sich, und als er es berührte, fuhr ein Lichtblitz durch seinen Kopf. Hatte er bloß geträumt? Oder war es eine Botschaft vom Setna?
Er lauschte auf die sanft murmelnde Stimme des Prinzen in seinem Kopf. Neben ihm schliefen die anderen jungen Krieger ruhig atmend. Nichts schien ungewöhnlich. Raen legte sich zurück und starrte in die Dunkelheit.
Kosam war zusammen mit dem Blutpferd in seinem Traum erschienen. Was hatte das zu bedeuten? Er hatte das Blutpferd sehr lange nicht mehr gesehen, bisweilen hatte er es sogar ganz vergessen gehabt. Doch nun war es wieder da. Völlig unerwartet. Doch Raen empfand das Pferd seit langem nicht mehr als bedrohlich. Es war eher eine Art Wächter oder auch Führer für ihn, ein guter Geist. Was hatte es aber mit Kosam zu tun? Sie hatte auf dem Pferd gesessen und war auf der Flucht gewesen, vor ... - Raen versuchte sich zu erinnern - ... einem Schatten? Einem kleinen, aber unheimlichen Schatten. Zum Glück war das Pferd bei ihr gewesen, dachte er, es würde sie beschützen. Dieser Gedanke beruhigte ihn schließlich, und er konnte wieder einschlafen.

„Na, dann wollen wir mal!“, sagte Roman und hob bedeutungsvoll den Pinsel. Er tunkte ihn in die Farbe. Auf seinem Schoß lag ein Schreibbrett und darauf eine Holztafel. Er begann zu schreiben und sagte das Geschriebene dabei laut vor. Zuerst die förmliche Anrede, dann das Anliegen mit Bitte um freundliche Beachtung, ein paar persönliche Worte der Entschuldigung von ihm und zum Schluss von Raen selbst.
„Gut so?“, fragte er seinen Sohn, der neben ihm im Erker saß und nickte.
Raen war froh, dass sein Vater die ganze Angelegenheit so ruhig aufnahm und ihm dabei half, ein Entschuldigungsschreiben an Kosams Familie zu verfassen.
„Dann müssen wir das jetzt nur noch dem Clanrat vorlegen, damit auch er es unterzeichnen kann. Er ist für heute Abend einberufen. Wir werden gemeinsam dort vorsprechen und uns anhören, was der Rat zu sagen hat.“
„Und, wenn sie mich bestrafen?“, erkundigte sich Raen besorgt.
„Das werden sie nicht. Es ist eine rein formelle Angelegenheit.“ Sein Vater lächelte. „Du hättest bei deiner Absage an das arme Mädchen allerdings mit etwas mehr Fingerspitzengefühl vorgehen können.“ Er sah ihn einen Moment mahnend in die Augen, nahm dann die Holztafel und pustete die Farbe trocken.
„Ach, Vater, könnest du noch darunter schreiben, dass Kosam bitte eine Antwort schicken soll. Ich möchte wenigstens wissen, ob sie gut zu Hause angekommen ist.“
„Natürlich.“ Sein Vater nahm den Pinsel wieder zur Hand.
‚Gut‘, dachte Raen bei sich. Sein Traum von letzter Nacht hatte ihn etwas unruhig werden lassen, und deshalb wollte er sichergehen, dass Kosam wohl auf war.
Denn eines war ihm nach so langer Zeit wieder bewusst geworden: Immer, wenn das rote Pferd auftauchte, würde etwas geschehen!
„Ich habe übrigens mit Kensa und Reni gesprochen.“ Sein Vater sah von seiner Schreibarbeit auf. „Sie sind sehr zufrieden mit dir. Ich darf dir von ihnen ausrichten, dass du unser bester Schüler bist. Sie sagen, wenn du dich jetzt noch weiter anstrengst, dann kann zum neuen Jahr im Frühling dein Al Hyaun stattfinden!“
„Auch, nach dieser … Angelegenheit?“
„Ja. Das hat nichts damit zu tun.“
Raen war erleichtert. „Ich werde mir ganz bestimmt Mühe geben!“, antwortete er strahlend.
„Das freut mich zu hören. Dann geh jetzt zum Training, und heute Abend sehen wir uns nach dem Nachtmahl bei der Ratsversammlung.“
Raen bedankte sich bei seinem Vater und verließ den Raum.

Am nächsten Morgen nahm der Postreiter von Shari den gleichen Weg nach Rotenas, wie zwei Tage zuvor Kosam und ihre Begleiter. In seiner Tasche hatte er den vom Clanrat unterzeichneten Brief von Roman und Raen.

Das Blutpferd scharrte im Schnee. Der Mond schien hell, und die Bäume warfen lange Schatten auf die weißen Flächen. Das Pferd hatte etwas gefunden und senkte seinen Kopf. Halb verhungert lag dort etwas im Schnee.
„Lass es!“, rief eine Frauenstimme.
Ein menschlicher Schatten bewegte sich auf das Pferd zu.
„Lass es hier sterben!“, sagte die Frau und strich ihm über den Hals. Dann starrte sie auf das, was im Schnee lag.
Ein schwaches Quieken ertönte. Das kleine Wesen zu ihren Füßen röchelte und piepste erschöpft, flehte um Hilfe. Doch die Frau hob ungerührt einen Fuß und trat so fest darauf, wie sie konnte. Sie drehte den Ballen hin und her, und ein schriller Sterbensschrei zerriss die Nacht. Das Haar der Frau rutschte über die Schulter und fiel ihr wie ein schwarzer Schleier vor das Gesicht.
Mit einem letzten triumphierenden Tritt beendete sie ihre Hinrichtung, denn nichts anderes war es gewesen. Das Etwas war tot. Seine grauen Gedärme lagen herausgequetscht neben seinem zermalmten Körper. Doch kein Blut war zu sehen.
Die Frau schaute auf, in ihren schwarzen Augen spiegelte sich der Mond. Sie hielt dem Blutpferd eine Hand entgegen, und es ließ sie aufspringen. Friedlich trottete das Pferd mit seiner Reiterin durch das Mondlicht davon.
Zurück blieb ein dunkler, formloser Fleck im zerstampften Schnee und eine sonderbare, schwarze Fährte.

Um seine Handgelenke aufzuwärmen, ließ Raen sein Holzschwert mal in der einen und mal in der anderen Hand kreisen. Er war mit den anderen jungen Kriegern in der Übungshalle beim morgendlichen Training.
„So, darf ich bitten!“, ertönte Kensas Stimme, und Raen sah auf. Er hatte gerade über seinen zweiten Traum vom Blutpferd nachgesonnen, den er vor einigen Nächten gehabt hatte, und er hatte auch daran gedacht, wie es Kosam wohl gehen mochte.
„Aufstellen und mit den Grundschlägen beginnen!“, kam eine weitere Anweisung des Lehrmeisters, und Raen stellte sich einem Jungen gegenüber, der gerade erst vor ein paar Monaten die Ausbildung begonnen hatte. Er bemerkte, wie unsicher dieser war, und erinnerte sich an seine eigenen ersten Übungsstunden. Er nahm die Grundhaltung ein und wartete, bis sein Gegenüber es ihm nachtat. Blitzschnell schoss er vor und zog das Schwert mit der rechten Hand in einer gedachten Schnittlinie von der Schulter bis zum Bauchnabel dicht vor dem Jungen durch die Luft. Der schreckte wie erwartet einen Schritt nach hinten, und Raen nutzte die Veränderung seiner Haltung für einen nächsten Schlag schräg auf den Kopf aus, den er natürlich kurz vorher abstoppte. Danach verneigte er sich und ließ den Jüngeren wieder in seine alte Position zurückkommen. Jetzt geschah das ganze Spielchen andersherum. Gewissenhaft wiederholten Raen und sein Partner in gleicher Weise alles, was sie an Grundschlägen und -schnitten gelernt hatten. Er wusste, dass Kensa sehr zufrieden war über die Präzision, mit der er sich nun endlich zu bewegen verstand. Schnell und ohne nachzudenken lenkte er sein Schwert immer genau auf jene Stellen, die man für eine tödliche Verletzung treffen musste. Auch seine Intuition stimmte jetzt mit seinen Bewegungen, das spürte er. Monatelang hatte er sich damit herumgequält und immer wieder geübt, das „Atemgetragen“ zu erreichen. Aber der Erfolg war nun deutlich sichtbar. Er fühlte, dass er reif für eine echte Klinge war!
„Banskeid Kensa!“, hörte Raen jemand hinter sich sagen, und er tauchte aus seinen Gedanken auf.
Sein Vater hatte die Halle betreten, und Kensa sah ihn fragend an.
„Ich muss Raen sprechen, jetzt sofort!“, flüsterte Roman ernst, und bei seinem Namen stellten sich Raens Ohren auf. Was gab es denn so Wichtiges? Er wandte sich zu seinem Vater um, in dessen Blick ein merkwürdiger Glanz lag. Roman trat auf ihn zu, nahm ihn beim Arm und schob ihn aus der Halle hinaus, noch ehe Raen fragen konnte, was eigentlich los war. Draußen wartete der Postreiter. Er war aus Rotenas zurück.

„Das kann nicht sein! Du musst dich irren!“ Raen schluckte, obwohl sein Mund staubtrocken war. Der Schreck ließ ihn am ganzen Körper zittern. Er spürte, wie sein Geist versuchte, das, was er soeben gehört hatte, zu begreifen. „Es gibt bestimmt noch ein anderes Mädchen, das Kosam heißt.“
Der Postreiter schüttelte ernst mit dem Kopf.
Raen sah erst seinen Vater an und dann auf die hölzerne Veranda unter seinen Füßen. Sie wankte, als
‚Das kann nicht sein! Das ist nicht wahr!‘, schrie eine kleine hysterische Stimme in seinem Kopf immer wieder. Heiße Übelkeit brodelte in seinem Magen, und Raen presste sich die Hände auf den Bauch, als er das volle Ausmaß seiner vergangenen Fehltritte begriff.
‚Du bist Schuld!‘, schoss es ihm durch den Kopf. ‚Du bist Schuld, dass schon wieder ein Mensch tot ist! Erst deine Mutter und jetzt Kosam! Was bist du nur für ein Ungeheuer!‘
Plötzlich konnte Rean es nicht mehr aufhalten. Er stürzte ein paar Schritte nach vor und übergab sich in den Schnee vor der Veranda.
Unter den starren Blicken der beiden Männer würgte er, bis nur noch gelbe Galle kam.
„W-wieso hat sie das getan?“, stieß er mühsam hervor. Mit beiden Händen hielt er den Kragen seiner Jacke umklammert, denn ihm war mit einem Mal bitter kalt. Doch diese Empfindung kam nicht vom winterlichen Wetter, sondern aus seinem tiefsten Innern. Aus seinem eigenen ekelerregendem Innern!
„Niemand weiß, warum sie es getan hat“, antwortete der Postreiter. „Ihre beiden Begleiter haben berichtet, dass Kosam am Morgen des dritten Reisetages einfach fort war. Sie haben den ganzen Turm nach ihr durchsucht und später auch die Umgebung.“
„Aber man geht doch nicht mitten in der Nacht und im tiefsten Winter einfach in den Wald hinaus!“ Raen wischte sich den kalten Schweiß von der Oberlippe.
„Es sei denn, man will seinem Leben bewusst ein Ende setzen“, drang sein Vater dazwischen.
Raen und der Bote sahen ihn fassungslos an. Selbstmord war ein äußerst heikles Thema. Sich selbst das Leben zu nehmen, war eine Kriegserklärung an Zaizura. Nur sie bestimmte über das Schicksal eines jeden einzelnen. Und es war nicht klar, ob sie die Seele desjenigen, der versucht hatte, ihr ein Schnippchen zu schlagen, nach dem Tode nicht heimsuchte und bestrafte.
„Wieso sollte jemand das tun? Das ist …“ Raen verschlug es die Stimme, als die nächste Welle der Übelkeit ihn packte. Doch es gelang ihm, das Würgen in den Griff zu bekommen, ohne dabei Galle zu spucken. Gequält von der furchtbaren Vorstellung, Kosams zarte Seele könnte von der schrecklichen Zaizura zerquetscht werden, blickte er seinen Vater an, bis dieser erneut das Wort ergriff.
„Es ist nicht klar, ob sie es wollte, oder was sie dazu getrieben hat. Und wir werden sie auch nicht mehr fragen können, aber es ist dennoch möglich, dass sie es bewusst getan hat. Alles, was wir tun können, ist, für sie zu beten und zu hoffen, Zaizura möge gnädig mit ihrer Seele sein.“
‚Bitte sag, dass sie es nicht wegen mir getan hat! Sag, dass ich kein schlechter Mensch bin!‘; wollte Raen seinen Vater anflehen, doch er schämte sich, dies vor dem Postreiter zu tun. Der Mann stand mit gebeugten Schultern da, und es war ihm anzusehen, dass er am liebsten Reißaus genommen hätte. Von Dingen, die Zaizura herausforderten, hielt man sich besser fern.
„Wir werden später eine Beileidsbekundung an Kosams Familie verfassen“, sagte sein Vater. „Komm am Abend zu mir ins Zimmer.“ Mit versteinerter Miene gab er dem Postreiter ein Zeichen, und beide Männer wandten sich zum Gehen. Raen blieb allein auf der Veranda zurück.

26. Kapitel



Hoch in den Bergen von Ghor lag noch Schnee, als Sorgha aufbrach. Er hatte einen Auftrag zu erfüllen, und Meister Soghul hatte dafür natürlich wieder einmal seinen verlässlichsten und erfahrensten Diener ausgewählt.
„Mein treuer Sorgha“, hatte das große Orakel gesprochen und ihn dabei mit seinen weißen Augen genau angesehen, „nun ist der Moment gekommen, das zu erfüllen, was mir Al Nor vor mehr als achtzehn Jahren aufgetragen hat. Die Prophezeiung wird vollständig! Nimm dies und bringe es nach Süden in das Land der Hy.“
Sorgha hatte die kleine Holzschatulle aus den Händen Soghuls entgegengenommen und mit ihr einen Brief mit dem schwarzen Siegel des Orakels. Sorgha hatte den Namen, der darauf stand, gelesen und sich sofort erinnert. Dort war schon einmal ein Bote Tulgas gewesen.
„Die Prophezeiung wird vollständig!“, hatte Sorgha feierlich wiederholt und sich vor seinem Meister verneigt.
Er führte sein Pferd am Zügel vorsichtig über die steilen Gebirgspfade. Die Sonne schien freundlich und vertrieb langsam die Kälte des Winters aus seinen Gliedern. Wilde Schmelzwasserbäche begleiteten weißschäumend seinen Weg nach unten in die Ebene. Schließlich erreichte er die Baumgrenze - und den Frühling. Der milde Duft nach langsam trocknendem Holz und aufgetauter Erde frohlockte in seiner Nase, und der Teppich aus kleinen weißen und gelben Blüten auf dem Waldboden stimmten sein Herz fröhlich.
Doch trotz seiner Heiterkeit führten ihn seine Gedanken auch zurück in die Vergangenheit und zu dem Mann, den er natürlich nicht bis heute vergessen hatte: Prinz Raeson. Diese Erinnerung erweckte eine tief empfundene, fast schöne Traurigkeit in ihm. All die Jahre hatte er sie in sich getragen, sie als Andenken an diesen mutigen Mann bewahrt. Und endlich spürte Sorgha auch ein Lächeln mit ihr aufsteigen. In wenigen Wochen würde der Tod von Raeson endlich einen Sinn bekommen.
Sorgha hatte es schon damals in seinen Lehrjahren aufgegeben, sich zu fragen, warum die Zukunft all diese Opfer forderte, um sich erfüllen zu können, oder wie und wonach sie ihre Wege überhaupt auswählte, und welchem Sinn das alles folgte. In diesem Fall aber hatte er es sich nicht verkneifen können, hin und wieder darüber nachzusinnen, wie verworren und trügerisch die Wege der Zukunft doch waren und welch wichtige Rolle ein scheinbar unwichtiger Tod dabei spielen konnte. Sorgha vermutete, dass wohl nicht einmal sein Meister Soghul das alles wusste.
Sorgha hielt an einem Bach an und stieg ab, um seinen Trinkschlauch neu zu füllen. Einen Moment lang blieb er zwischen den kleinen Blüten sitzen und lauschte dem Gesang der Vögel. Er war zwar oft unterwegs, aber die letzten Monate hatte er ausschließlich im Berg verbracht. Dort oben gab es viel Ruhe, und die Abgeschiedenheit von der Welt wusste er sehr wohl zu schätzen, doch die lebendigen Geräusche des Waldes vermisste er trotz allem. Auch wenn er keine Ahnung hatte, in welchem Land er geboren worden war, fühlte er doch eine starke Verbundenheit mit dem Wald. Mit gerade einmal zwei Jahren war er von seinen Eltern nach Tulga gebracht worden. Zumindest glaubte Sorgha, dass es seine Eltern gewesen waren, denn er konnte sich noch an die Worte ‚Mutter’ und ‚Vater’ entsinnen. Sonst hatte er aber keinerlei Erinnerung an die Sprache, die seine Eltern gesprochen hatten. In Tulga war er von den Novizen Soghuls aufgezogen worden und hatte mehrere Sprachen gelernt, unter anderem auch Hyaunisch und Graçenisch.
Sorgha betrachtete seine Hände. Sie waren schneeweiß. Er war unübersehbar ein Kind Al Nors, dem Hüter der Zukunft, und sein Leben gehörte dem Orakel. So besagte es ein uraltes Gesetz, das aus dem Anbeginn der Zeiten stammte, an dem die Mächte des Universums das Chaos bezwungen und die Welt unter sich aufgeteilt hatten. Al Nor war dabei eine der bescheideneren Mächte gewesen und hatte lediglich Anspruch auf die Menschenwesen erhoben, die mit jener ungewöhnlich weißen Hautfarbe geboren wurden. Er hatte für sie den geheimen Ort Tulga erschaffen, an dem sie leben sollten als seine Diener, tief im Berg geschützt vor dem misstrauischen Auge Zaizuras. Denn das Schicksal und die Zukunft waren nicht immer einer Meinung. Die Abgeschiedenheit der Berge war für Tulga eine glückliche Wahl gewesen, so hatte es den Aufstieg und Niedergang unzähliger Völker und deren Kriege kommen und gehen gesehen und unberührt von den Ereignissen uralt werden können - bis zum heutigen Tage. Und noch immer wurden alle Weißling-Kinder, egal welchem Volke sie angehörten, zum Sitz des Orakels gebracht, wo sie eine Heimat inmitten unter Ihresgleichen fanden, fern von der Neugier und dem Argwohn dieser Welt, der sie von diesem Zeitpunkt an nicht mehr angehörten. So war es auch Sorgha ergangen.
Für einen kurzen Moment schloss er seine hellblauen Augen und gedachte still seiner Eltern, die, wo immer sie auch leben mochten, bestimmt nicht glücklich darüber gewesen waren, eines ihrer Kinder weggeben zu müssen. Sorgha schickte ein kurzes Gebet an sie und hoffte, dass es ihnen gut ging und dass sie ihn nicht vergessen hatten. Er selbst war zufrieden mit dem Leben, welches seine Hautfärbung ihm beschert hatte.
Er erhob sich aus dem Blumenteppich, stieg auf sein Pferd und steuerte auf den nächsten Turm der Hy zu, der für die kommende Nacht sein Unterschlupf sein sollte.

*



Raen blickte ruhig der orangerot glühenden Morgensonne entgegen. In den vergangenen Monaten waren sein Gemüt und sein Herz weiter abgekühlt, die Kälte in seinem Innern geblieben. Kosams Freitod hatte ihn sehr mitgenommen und ihm quälende Schuldgefühle beschert. Viele Nächte hatte er nicht schlafen können. Vergeblich hatte er versucht, Antworten von seinen Mitmenschen zu bekommen, doch er war jedes Mal auf stummen Granit gestoßen. Lediglich sein Vater und seine Schwester hatten sich seiner Qual angenommen und sich bemüht, ihm zu verstehen zu geben, dass nicht er ein schlechter Mensch war, sondern Kosam. Denn sie war ohne Erklärung fortgegangen und hatte ihre Lieben in Bestürzung und Verzweiflung zurückgelassen. Sie war es, die Unrecht begangen hatte. Doch das wollte Raen nicht glauben und rief sich das Bild von der glücklich lächelnden Kosam in Erinnerung. Für ihn war sie ein guter Mensch. Sie war unschuldig genau wie er. Inzwischen war er zu der Ansicht gelangt, dass nicht er ihre Seelenpein verursacht hatte, sondern ihre Familie und ihr Clan. Sie hatten Kosam nicht gut behandelt. Sie hatten ihr das Gefühl gegeben, nicht erwünscht zu sein. Doch das wollte niemand hören. Sie hatten ihn ausgelacht, und Raen hatte irgendwann aufgehört, darüber zu sprechen. In seinen Gedanken aber blieb der stumme Vorwurf an das Haus Rotenas.
Er löste sich von dem erhabenen Anblick der aufgehenden Sonnen und ging zu den Steinbecken des Waschraumes hinüber, wo er sich verdrossen kaltes Wasser ins Gesicht und auf seinen frisch geschorenen Scheitel klatschte.
Eigentlich hätte er glücklich sein müssen. Denn heute war der Tag seines Al Hyauns und seiner Schwertleite.
Doch anstatt aufgeregt zu sein, dass heute endlich sein langgehegter Wunsch in Erfüllung ging, fühlte er bloß dumpfe Ernüchterung. Raen erhob sich von dem Hocker und durchschritt die drei kalten Wasserstrahlen, die aus er Wand kamen. Dabei stellte er fest, dass sich die Abgestumpftheit seines Geistes mittlerweile auf seinen ganzen Körper übertragen hatte, denn er spürte kaum etwas, als die eisigen Strahlen auf seine Haut trafen. Gleichgültig trocknete er sich anschließend ab.
Er konnte sich nicht helfen, aber durch Kosams Tod war etwas sichtbar geworden, das er lieber nicht erkannt hätte. Etwas, das lange vor ihm existiert hatte, hatte sie dazu gebracht, in jener eisigen Nacht in den Wald hinauszugehen, etwas, das stärker gewesen war, als ihr Lebenswille. Vielleicht, so dachte Raen, hätte er ihr tatsächlich helfen können, wenn er nur gewusst hätte, was er jetzt wusste, doch dafür war es jetzt zu spät.
Tief in seine Gedanken gehüllt nahm er das dottergelbe Priestergewand von dem Haken an der Wand, schlüpfte hinein und wickelte die lange Stoffbahn um seinen Körper.
Kosam war an der Hartherzigkeit ihrer eigenen Clangemeinschaft, ihrer eigenen Familie zugrunde gegangen. Sie hatten sich nie die Mühe gemacht, sie zu verstehen oder ihr gar Hilfe anzubieten. Mit Menschen, die anders waren, hatte man in Rotenas scheinbar noch weniger Geduld als hier in Shari. Unwillkürlich lief Raen ein Schauer über den Rücken.
Schnell richtete er das Gewand und betrat schließlich das Obere Heiligtum.
Sämtliche Mitglieder der Krieger- und Priesterkaste erwarteten ihn bereits. Raen straffte seine Haltung und hob seinen Kopf. Er stand an der Schwelle zu etwas Neuem. Heute würde sein Leben den Sinn bekommen, den Hyaun für ihn ausgewählt hatte, und obwohl sein Herz schwer war, spürte er dennoch eine leise, positive Aufbruchsstimmung in sich. Er würde diesen Raum als Krieger und mündiger Erwachsener verlassen. Von nun an würde er als ehrbares Mitglied der Gemeinschaft von ihr auch ernst genommen werden. Kurz betete er für sich zu Hyaun, dankte Ihm für Sein Vertrauen und verneigte sich vor der Versammlung.
Gelassen schritt er anschließend zum Altar, wo er vom Oberpriester und Lako erwartet wurde. Raen verneigte sich auch vor ihnen. Hinter den beiden Männern konnte er eine neue Garnitur Kleidung liegen sehen und unter einem weißen Tuch das, was schon von Kindesbeinen an seine größte Sehnsucht verkörperte. Lako wandte sich an die Menge und verkündete den feierlichen Anlass ihrer heutigen Zusammenkunft: Das Al Hyaun von Banskeid Raen.
Nach einem gemeinsamen Gebet wurde Raen aufgefordert, seinen Schwur, den er bereits bei seinem Al Aun abgelegt hatte, zu erneuern.
Daraufhin übernahm der Oberpriester das Wort: „Erhabener Hyaun, nimm diesen von dir erwählten Mann nun endgültig auf in die Gemeinschaft der Eingeweihten. Beschütze und geleite ihn auf seinem Weg, auf dass er fähig sei, selbst zu beschützen und zu geleiten!“
Gahin führte Raen zu der Kleidung und bedeutete ihm, sie anzulegen.
Willig schlüpfte Raen aus dem Priestergewand, doch bevor er die neuen Kleidungsstücke anzog, strich er andächtig über die schönen Stickereien, welche die Säume der neuen tiefschwarzen Jacke schmückten.
„Empfange jetzt die drei Attribute des Kriegers, bei welchen du geschworen hast, sie immer bei dir zu tragen!“, sagte Lako und überreichte Raen von Neuem seinen Helm, den er sich gleich aufsetzte.
Als nächstes hielt Lako ein kleines Lederbeutelchen in der Hand. Raens Zhangha-Vorrat. Er band ihn sich an den Gürtel und blickte dann gespannt auf die zwei länglichen Gegenstände unter dem Tuch. Der Clanchef lüftete es schließlich, und zum Vorschein kamen die zwei Schwerter, in deren Umgang Raen in den letzten Jahren tagtäglich geschult worden war. In ihm knisterte die Erwartung. Das waren seine Schwerter!
Lako hüllte seine Hand in ein Tuch und hob das Breitschwert auf.
Gebannt blickte Raen auf das Skeid, welches das Symbol für alle Pflichten und Tugenden eines Kriegers war. Mit einer Verbeugung hob Lako das Schwert zuerst Hyaun entgegen, und zog es danach vorsichtig aus seiner Scheide, sorgsam darauf bedacht, das noch unbefleckte Metall nicht zu berühren.
Fasziniert starrte Raen auf die entblößte, glänzende Klinge, in die kurz über dem Heft sein Name eingraviert war.
Mit feierlicher Stimme begann Lako die Verse der Schwertleite aufzusagen:

„Du, der die Blutklinge führt.
Du, der das Zhangha isst.
Du, der du ein Diener deines Volkes bist.
Dieses Schwert sei dein Herz,
sei dein Geist und dein Atem.
Es ist geboren im Feuer und kennt der Welten Schmerz.
Es trägt der Ahnen Brodem.
Im reinen Angesicht unseres erhabenen Beschützers
Al Hyaun
überreiche ich dir,
Banskeid Raen,
diese Klinge,
auf dass sie in deiner Hand stark und unbeirrt
die Feinde unseres Friedens züchtige.“

Lako hielt ihm das Skeid mit dem Griff zuerst entgegen, und Raen erinnerte sich an das, was Osa gesagt hatte. Das Schwert würde jetzt vollkommen werden, noch im selben Moment, in dem seine Hand es berührte. Behutsam streckte er seine Finger aus und berührte den lederumflochtenen Griff. Dann packte er entschlossen zu und hob das Schwert aus Lakos Händen. Es lag ausgesprochen gut in seiner Hand, und die Klinge schien kaum etwas zu wiegen, so hervorragend ausbalanciert war sie. Ehrfurcht erfüllte Raen. Nicht nur vor dem, was dieses Schwert bedeutete, sondern auch vor Osas meisterlicher Handwerkskunst. Im Stillen dankte er seinem Schwager dafür, scheinbar all sein Können in dieses Schwert gelegt und ihm nicht nur ein hervorragendes Werkzeug, sondern auch seinen wohlmeinenden Geist zum Geschenk gemacht zu haben. Raen betrachtete das Muster der hundertfach gefalteten Stahllagen im Schein der Öllampen. Es war hauchzart und stellte in seiner vollkommenen Schönheit die höchste Kunst und das größte Geheimnis der Schwertschmiede Hys dar.
„Ich danke euch!“, sprach Raen und verneigte sich, die Klinge in Richtung Hyaun über seinen Kopf erhoben. Lako reichte ihm die Scheide, und Raen ließ das Schwert lautlos hinein gleiten. Mit dem Seis, dem Leichtschwert, verfuhr Lako hernach gleichermaßen.
Nach der Zeremonie forderte der Clanchef Raen auf, sich in das Arnor in Skeid des Clans einzutragen. Er reichte ihm einen Pinsel und öffnete das Buch, das einen sehr alten Eindruck machte.
„Es sei an dieser Stelle auch erwähnt, dass es für dich eine besondere Ehre ist, deinen Namen unter den deines Urururgroßvaters Rimdyn, deines Ururgroßvaters Roakyn, deines Urgroßvaters Reto, deines Großvaters Roido und deines Vaters Roman setzen zu dürfen!“, kommentierte Lako die Einträge in dem Buch, das nichts anderes als ein Verzeichnis aller Generationen von Kriegern des Shari Clans war. Die versammelte Menge raunte anerkennend bei der langen, ununterbrochenen Liste der Namen.
Schwungvoll und mit einem Lächeln auf den Lippen schrieb Raen seinen neuen Namen unter den seines Vaters: Hyaun Banskeid Raen Ra Roman adh Chor Shari.
Seine Familie hatte der Gemeinschaft Hyauns wahrlich viele Krieger geschenkt. Den eigenen Namen nun in dieser beachtlichen Aufzählung zu sehen, machte Raen stolz. Und auch er würde wie seine Vorfahren sein Leben in den Dienst und das Wohl der Gemeinschaft stellen. Er drehte sich zu den Versammelten um und verneigte sich tief.
„Wir heißen unser neues Mitglied, Banskeid Raen, willkommen!“, rief Lako, und die Versammlung antwortete geschlossen mit einem dreifachen Hochruf.
Raens Lächeln wurde breiter. Seit langem hatte er sich nicht mehr so stark gefühlt.

Roman betrachtete seinen Sohn in seiner prächtigen neuen Ausstattung und den zwei Schwerter in den Händen. Er war ganz ergriffen von diesem Augenblick und musste an das stürmische und kaum zu bändigende Kind zurückdenken, das Raen einst gewesen war. Er war froh, dass er jetzt ein sehr anständiger und gewissenhafter, junger Mann geworden war, auch wenn es viele Schwierigkeiten geben hatte. Und er dachte an Alea, die in diesem Moment bestimmt von ihrem erhabenen Platz bei den Ahnen auf sie herabsah und aller Wahrscheinlichkeit nach sehr glücklich war.
„Du kannst stolz auf ihn sein, Alea, er ist wirklich ein guter Junge!“, flüsterte Roman leise und seine Augenwinkel füllten sich mit Tränen. „Ach, und liebste Alea, würdest du das bitte auch einem gewissen Mädchen ausrichten, dessen Seele den Namen Kosam trägt? Sie müsste derweil bei euch ankommen sein!“ Er hatte das Mädchen aus Rotenas gemocht und bedauerte es noch immer, dass sie sich das Leben genommen hatte. Er schaute wieder zu Raen hinüber, und ihre Blicke trafen sich. Er schenkte seinem Sohn ein anerkennendes Nicken, und Raens Lächeln strahlte noch heller.
‚Sei glücklich, mein Junge, dein neuer Stand wird dich hoffentlich auf andere Gedanken bringen. Aber schmerzhafte Erfahrungen, egal welcher Art, pflastern den Weg eines jeden Kriegers, und Kosam wird nicht die letzte gewesen sein.’ Er erhob sich. Die Zeremonie war beendet. Er trat zu Raen, und als sie sich gegenüberstanden, nahm er ihn in die Arme. Danach gingen sie gemeinsam zum Haupteingang hinaus.
Vor dem Tempel wurde Raen von all denen erwartet, die ihm gratulieren wollten. Mit großer Freude sah Roman, dass sein Sohn viel Schulterklopfen erhielt und sogar einige Küsse auf die Wange, speziell von den Mädchen und Frauen. Shani drückte ihn mütterlich fest an ihre üppige Brust und gab ihn, wie Roman es zuvor getan hatte, endgültig frei in das Erwachsenenleben. Sie war wie immer ganz gerührt.
Auch Raens bester Freund Hereke schien zum ersten Mal tief beeindruckt, denn ganz ungewohnt ernst überbrachte er seine Glückwünsche. Nach dem Sohn des Reitmeisters kam Osa an die Reihe und drückte Raen fest den Unterarm. Bedeutungsvoll sah er ihm dabei in die Augen.
„Danke, Anparta Nannoeru Osa!“, sagte Raen schlicht und hob die Schwerter.
Osa nickte, ohne etwas zu sagen. Es waren seine ersten Schwerter gewesen, die er für Shari hergestellt hatte, und Roman wusste, dass der Schmied besonders viel Sorgfalt in ihre Erschaffung gelegt hatte.
Als letztes machte Andra ihrem Bruder die Aufwartung. Sie umschloss ihn mit den Armen und hielt ihn eine Weile an sich gedrückt. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, und Roman sah, dass Raen leise lächelte. Er löste sich von seiner Schwester und ging schließlich zusammen mit Hereke davon, um den Tag zu feiern.
Roman und Andra blieben zurück und sahen ihm nach. Seine Tochter lehnte sich gegen ihn und seufzte. Roman legte einen Arm um sie und küsste das braune Haar auf ihrem Scheitel, das die Erinnerung an den Geruch ihrer Mutter in sich trug.
„Er wird seinen Weg schon gehen, und Hyaun wird über ihn wachen“, bedeutete er mit viel Zuversicht in der Stimme. Er wollte Andras ewige Sorge um ihren Bruder ein wenig mildern, denn er spürte, dass es das einzig wirklich Zerbrechliche an ihr war.

*

Sorgha erreichte das Gebiet des Shari Clans spät in der Nacht. Es war sehr dunkel, und nur wenige Lichter brannten in den Türmen der Festung, doch Sorgha fand sicher den Weg hinauf zum Tor. Dort erhielt er einen freundlichen Empfang von den Wachen, die ihn einließen. Eigentlich hatte er einen ganzen Tag früher hier eintreffen sollen, doch auf der Reise hatte es immer wieder Verzögerungen gegeben.
Eine der Frauen des Hauses wurde geweckt, und er bekam in der Küche ein warmes Essen. Danach führte man ihn zu seinem Nachtlager. Die Gastfreundschaft der Hy war wirklich sehr fürsorglich, dachte er, während er sich in seine Decke wickelte und seelenruhig einschlief.
Obwohl er erst spät zu Bett gegangen war, erwachte Sorgha am nächsten Morgen pünktlich bei Sonnenaufgang. Er stand auf und trat ans Fenster. Eine famose Aussicht tat sich vor ihm auf. Die rote Sonne erhob sich gerade über der Hügelkette im Osten aus dem letzten Dunst der Nacht. Unter sich sah der Novize von Tulga das Dach des Tempels, und vereinzelt überquerten Bewohner der Festung den Hof. Alles machte einen sehr friedlichen und geborgenen Eindruck, und Sorgha dachte, dass die Hy in einer einzigartigen Gemeinschaft lebten, in der sich sogar Auswärtige sofort wohl fühlten. Diese Leute hatten für sich einen Lebensraum geschaffen, in dem Gewalt und Elend keinen Platz hatten. Sie hatten all die schlechten Gedanken, Begierden und Gelüste überwunden, welche die Menschen immer wieder ins Unglück stürzten, und sie lange hinter sich gelassen. Sorgha atmete tief die Luft dieses uralten und beständigen Geistes der Hy ein, der aus jedem Winkel hervorzutreten schien. Es war die klare Ordnung hinter all dem, die er schätzte. Bei allen möglichen Völkern war er bereits zu Gast gewesen und hatte die verschiedensten Sitten und Gebräuche kennengelernt, aber mit den Hy fühlte er sich besonders verbunden. Sorgha vermutete, dass es die Einfachheit war, mit der die Hy ihr Leben führten, die Einfachheit des Denkens und des Handelns.
Sorgha mahnte sich daran, dass er einen Auftrag auszuführen hatte. Er schloss das Fenster und kleidete sich an. Auf dem Weg in den anderen Turm wurde er freundlich gegrüßt. Dort erhielt er in der Küche nicht nur eine Schale mit honigsüßer Weizengrütze, sondern auch die Auskunft, wo sich der Empfänger der Botschaft befand, die er bei sich trug.
Er leerte die Schüssel und wurde schließlich von einem netten jungen Mädchen namens Suneka zu dem jungen Mann gebracht, den er suchte.
Dessen Augen weiteten sich vor Überraschung, als der Novize von Tulga ihm auf der Veranda der Übungshalle gegenüberstand. Vermutlich hatte der junge Hy bis dahin noch nie einen Weißling gesehen. Sorgha lächelte in sich hinein und erklärte ihm den Grund seines Besuches. Er hatte dem Vater des Burschen erlaubt, vorerst dabei zu sein. Ihm war aber nicht entgangen, dass diesem bei dem Anblick seiner weißen Haut sofort alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war.
„Hyaun-Banskeid-Raen-Ra-Roman-adh-Chor-Shari?“, wandte Sorgha sich mit seinem leicht rollenden Akzent wieder an den Jüngeren.
„Ja, das bin ich“, bestätigte dieser schüchtern.
„Ich bin Sorgha, ein Jünger des ehrwürdigen Orakels Soghul von Tulga und ich überbringe Euch eine Botschaft!“
Es schien, als hätte der Angesprochene keine Ahnung, was das bedeuten sollte, denn er antwortete nicht gleich. Sorgha sah den bleichen Vater an, doch dieser wollte offenbar auch keine Erklärung dazu abgeben. Deshalb sprach er erneut: „Es ist eine Botschaft, die nur für Euch bestimmt ist, Banskeid Raen. Kein anderer darf sie lesen, oder etwas über ihren Inhalt wissen, außer Euch. Denn sonst, um es mit Euren Worten zu sagen, würdet Ihr den Zorn Zaizuras herauf beschwören!“
Der junge Krieger blickte seinen Vater an, der sie bereitwillig allein ließ.
Daraufhin sagte Sorgha: „Ihr braucht keine Angst zu haben, Banskeid Raen, Ihr müsst nur diese eine Regel einhalten!“ Er bemerkte, dass der junge Mann ihn nicht furchtsam, sondern eher neugierig betrachtete.
„Wie fühlt es sich an ... so zu sein?“, fragte unvermittelt und streckte einen Zeigefinger aus, mit dem er leicht über Sorghas weiße Haut strich.
Sorgha lächelte amüsiert. Er fuhr sich selbst über die Wange.
„Nicht anders, als Ihr Euch fühlt, nehme ich mal an. Nur muss man im Sommer etwas mit der Sonne aufpassen. Aber nun zu der Botschaft. Hier ist der Brief des Großen Orakels, und dies soll ich Euch auch noch geben.“ Er hielt dem Hy das versiegelte Papier und das Kästchen entgegen, und der nahm beides aus seinen Händen. „Mein bescheidener Rat ist: Lest zuerst, was mein Meister Euch mitzuteilen hat, und seht danach erst nach, was in dem Kästchen ist! Noch eins: Ich bin nur der Überbringer der Botschaft, mich etwas fragen zu wollen, hat keinerlei Sinn.“
Der junge, in Schwarz gekleidete Krieger blickte vom Brief auf Sorgha und dann wieder auf den Brief.
„Könnte ich denn das Orakel etwas fragen?“, wollte er wissen.
Das war eine sehr besonnene Frage, dachte Sorgha, und er hatte sie noch nicht allzu oft gehört, da die meisten, die eine Botschaft von Soghul erhielten, zu begierig darauf waren, sie sofort zu lesen. Sie konnten nicht abwarten, zu erfahren, welch vielversprechendes Schicksal ihnen beschert wurde. Purer Irrglauben. Zwar war es ein Geschenk, eine Prophezeiung zu erhalten, aber es musste nicht immer gut sein, was darin stand. Das Geschenk war allein der Blick in die Zukunft, die der erhabene Al Nor einem gewährte. Und wenn man diesen Blick denn zu deuten vermochte, hatte man der Welt und der Zeit einen kleinen Vorsprung voraus. Wie man diesen für sich nutzte, war jedem selbst überlassen. Macht und Reichtum versprach eine Prophezeiung Soghuls aber niemals.
„Das Orakel ist bloß der Übermittler, er gibt weiter, was ihm von Al Nor, dem Hüter der Zukunft, aufgetragen wurde.“
„Wie empfängt Euer Meister denn die Botschaften von Al Nor?“
Diese Frage war Sorgha noch nie gestellt worden und er war nun doch überrascht von dem jungen Mann, der sich anscheinend nichts daraus machte, mit einer der begehrten prophetischen Botschaften bedacht worden zu sein.
„Ehrlich gesagt, weiß ich das auch nicht. Er zieht sich dafür jedes Mal tief in den Berg zurück. Niemand darf dann bei ihm sein. Aber ich vermute, dass er das, was er sieht, noch im selben Moment aufschreibt. Und eines kann ich Euch noch verraten: Er schreibt es offenbar gleich in jener Sprache, die der Empfänger spricht, denn niemand hat mich je um eine Übersetzung gebeten!“
Raen nickte anerkennend. „Danke für Eure Mühen, Sorgha.“ Er blickte ihn offen an, und Sorgha meinte, in seinen Augen kurz den Hauch jenes übernatürlichen Schimmers wahrzunehmen, den er damals bei Prinz Raeson gesehen hatte. Er lächelte unbewusst. Das konnte ja durchaus sein, denn das Schicksal hatte diese beiden Menschen schließlich miteinander verbunden. Doch er besann sich und unterließ es, über den Sinn des Ganzen nachzugrübeln. Seine Aufgabe war hiermit beendet. Er verneigte sich leicht.
„Wenn Ihr erlaubt, ziehe ich mich jetzt zurück. Ich werde noch heute abreisen. Lebt wohl, Banskeid Raen.“ Und obwohl es eigentlich nicht seine Art war, persönliche Regungen zum Besten zu geben, es ihn aber aus einem seltsamen Gefühl dazu drängte, fügte er noch leise hinzu: „Und gebt stets Acht auf Euch.“ Dann ließ er den außergewöhnlichen jungen Mann allein.

Raen sah dem Novizen von Tulga nach, bis dieser auf seinem Weg zum Chorten hinauf hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden war. Erst dann sah er sich nach einem geeigneten Ort um, an dem er ungestört die Botschaft lesen konnte. Er erblickte den Schatten hinter dem Schuppen zu seiner Linken und zog sich dahin zurück.
Neugierig untersuchte er zunächst das Kästchen, öffnete es aber nicht, denn er wollte den Rat Sorghas beherzigen. Er hockte sich mit dem Rücken gegen die Schuppenwand, legte das Kästchen ins Gras und las erneut seinen Namen, der tatsächlich auf dem Brief stand. Verwundert fragte er sich, woher das Orakel wusste, dass er diesen Namen schreiben musste, er hatte ihn doch erst seit gestern. Und der Bote war bestimmt länger als einen Tag unterwegs gewesen. Raen zuckte mit den Schultern und brach das schwarze Siegel auf. Er entfaltete das Papier und las:

„Raen Shari,

für diese Botschaft wurde ich, Soghul von Tulga, durch Al Nor,
dem Hüter der Zukunft, bestimmt,
um für Euch zu sehen, was nur für Eure Augen ist!
Vernehmt also das Geschenk, welches Euch die Zukunft macht:

So seid Euch bewusst,
dass vom Tage Eures Schwertes an
alles und nichts von dem,
was Ihr tut,
Folgen haben wird.

Sehet diese Spitze,
geschmiedet aus der Aura des Setna,
welcher den Geist Hyauns zu Euch brachte.
Nur in Eurer Hand kann sie Ende und Anfang zugleich bedeuten.

Ihr werdet erkennen, wann es Zeit ist,
anstelle von Zaizura zu entscheiden,
ob das Dunkel weiterleben oder vergehen soll,
ob die Spitze ihr Ziel findet oder es verfehlt.
Sohn des Lichts,
Raen.

Verbündeter der Zukunft
Soghul von Tulga.“


Raen ließ das Papier sinken. ,Bei allem Respekt für Euer Geschenk, Meister Soghul’, dachte er, ‚aber diese Prophezeiung bringt mich in arge Schwierigkeiten!’ Er blickte sich um, doch niemand war zu sehen. Das Kästchen kam ihm wieder in den Sinn. Vorsichtig hob er es auf und öffnete es. In seinem Innern lag ein kleiner, in samtenen Stoff gewickelter Gegenstand. Raen nahm ihn heraus und wog ihn in der Hand. Für seine geringe Größe war er recht schwer. Mit spitzen Fingern wickelte er den Stoff auseinander. Zum Vorschein kam etwas Goldenes in Form einer Pfeilspitze. Das scharf geschliffene Blatt der Spitze war so lang wie die ersten zwei Glieder seines kleinen Fingers, und der Dorn, der in den Schaft des Pfeils eingelassen werden würde, war noch einmal so lang.
‚Und worauf soll ich jetzt damit Jagd machen?’ Nachdenklich starrte er auf die Spitze. Er versuchte, sie zu biegen, aber das Metall blieb hart und unnachgiebig. War das wirklich Gold? Raen runzelte die Stirn und las noch einmal die zu der Spitze zugehörigen Zeilen der Botschaft: „Geschmiedet aus der Aura des Setna.“
Welchem Setna?, fragte er sich, denn es gab ja eine ganze Reihe von ihnen. Und war mit Aura das Aun gemeint? Und für wen oder was sollte es Ende und Anfang zugleich sein? Raen war ratlos.
„Oh, Hyaun!“, stöhnte er mit leidvoll verzogener Miene. „Was soll noch alles passieren?“ Er lehnte den Kopf zurück an die Wand und blickte eine Zeit lang in das Gebüsch, das an den Schuppen grenzte. Dann besann er sich und steckte den Brief in den Ausschnitt seiner Jacke. Er würde ihn auswendig lernen und danach verbrennen, beschloss er und ließ die Pfeilspitze in seinem Zhangha-Beutel verschwinden. Noch einmal sah er sich kurz um und löste sich dann aus dem Schatten des Schuppens.
Er ging zur Übungshalle hinüber. Beim Training der Höhergraduierten erwartete man ihn, den „Neuen“, mit Sicherheit bereits. Raen rückte sein Schwert hinten in seinem Gürtel zurecht und betrat die Halle. An das neue Gewicht in seinem Rücken musste er sich erst noch gewöhnen.

Am Abend verschwand Raen unauffällig im Tempel. Er schlich nach oben in das Archiv des Wissens, das sich gleich neben dem Studierzimmer der Priester und Krieger befand. Niemand war dort und er schloss leise die Tür hinter sich. Er begab sich zu den Schränken, in denen die Bücher in Holzkisten aufbewahrt wurden und öffnete den Schrank, von dem er vermutete, dass er die Geschichtsaufzeichnungen enthielt. Ein muffiger Geruch nach altem Pergament und den Konservierungskräutern, die in kleinen Stoffbeutelchen im Schrank hingen, drang ihm in die Nase. Er nahm die oberste Kiste heraus und fand darin gleich, wonach er suchte: „Die Chronik der Prinzen“. Mit nervösen Fingern schlug er das Buch auf, blätterte auf die aktuellste Seite und las die Namen. Der letzte Eintrag lautete: „Al Setna Bijae aus Kaekon. Eine Krankheit nahm ihm den Atem und beendete sein Leben mit neununddreißig Jahren und seine Trägerschaft nach fünf Jahren.“ Raen schnaubte verächtlich. Die Krankheit war es ja wohl nicht gewesen, die ihn getötet hatte! Warum stand das da so beschönigt? Er zog die Augenbrauen zusammen und las die Reihe der Prinzen vor Setna Bijae.
„Palghat, ... Savahnin, ... Raeson.“ Bei diesem Namen hielt er inne, da hinter ihm auch wieder ein längerer Eintrag stand.
„Al Setna Raeson aus Saitenas. Im Großen Krieg opferte er sich für das Volk Hyauns. Er setzte seinem Leben als Gefangener in Askhar eigenhändig ein Ende nach vierunddreißig Lebensjahren und drei Jahren seiner Trägerschaft.“ Raen rechnete. Dieser Setna war genau in dem Jahr gestorben, in dem er geboren worden war, und bis auf ihn und Bijae, waren die letzten vier Prinzen sogar noch am Leben. Er fuhr sich mit der Hand über sein Aun. Von wem stammte nun der Stirnreif, aus dem die Pfeilspitze geschmiedet worden war? Bijae? Raeson? Wenn es von Letzterem war, wie war es dann von Askhar wieder nach Hy gelangt? Und wer hatte es zurückgebracht? Diese Fragen brachten Raen zum ersten Mal weit über sein auf den eigenen Chor begrenztes Denken hinaus. Ihm wurde erneut bewusst, dass es eine Welt jenseits der eigenen Grenzen gab, und dass dort gleichfalls Menschen lebten. Schlagartig war sein Interesse an übergeordneten Gefügen und Mächten geweckt. Er betrachtete die Titel der anderen Bücher, die sich ebenfalls mit in der Kiste befanden. Eines hieß „Chronik von Shari“. Der neueste Eintrag darin war seine eigene Schwertleite, datiert auf den zwanzigsten Tag des Saatmondes im ersten Jahre der Trägerschaft des Setna nach Bijae. Durch die Geheimhaltung des momentanen Prinzennamens, wurde die zeitliche Einordnung der Daten noch komplizierter, trotzdem blätterte er neugierig weiter. Er fand die Hochzeit seiner Schwester, ihre Erhebung in den Dritten Grad, seinen Kall, die Geburt Resas und den Tod seiner Mutter, bis er schließlich den Eintrag seiner Geburt entdeckte.
„Das gibt es doch gar nicht!“, platzte es aus ihm heraus. „Warum hat mir das nie jemand gesagt?“ Wie hatte man ihm etwas so Wichtiges verschweigen können?
„Raen, Sohn von Roman“, las er laut, „geboren am sechsundzwanzigsten Tag des Eismondes, in der Stunde des Todes des Al Setna Raeson.“

27. Kapitel



„Verehrter Prinz Setna, ein Schreiben ist für Euch eingetroffen.“ Mit einer steifen Verbeugung legte der Diener das versiegelte Papier in Setnas Hände. Mit einer knappen Handbewegung schickte er ihn fort.
Setna wunderte sich ein wenig über diesen Brief. Er überraschte ihn - und Überraschungen mochte er nicht! Er hatte keinen Brief erwartet und schon gar nicht aus Braud. Dort kannte er niemanden, lediglich den Statthalter. Aber von dem war das Schreiben nicht. Misstrauisch untersuchte Setna das Siegel. Es war recht grob und zeigte einen Ziegenbock mit wuchtig gebogenen Hörnern. Wer zum Teufel hatte einen Ziegenbock als Wappen? Schließlich zog er seinen kleinen Dolch und öffnete den Brief vorsichtig, ohne das Siegel zu zerstören. Er wollte es später seinem Vater zeigen, falls er Inhalt des Briefes keinen Aufschluss über seinen Verfasser geben sollte.
Er faltete das Papier auseinander und erkannte, dass die Worte lächerlicherweise mit Blut geschrieben waren.
„Verehrter Prinz Hokhan Setna“, las er die unbeholfene Handschrift. „Bei meinem Blute habe ich geschworen, den Auftrag, welchen Eure Hoheit mir überantwortet hat, zu erfüllen. Wenn Euch dieser Brief nun erreicht, bedeutet es zu unser aller größten Schande, dass dies mir und allen anderen, die dieser Jagd angehörten, nicht gelungen ist. Betrachtet mein Haupt in Demut und Schuld gesenkt. Wir haben versagt, und der Tod, der uns mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ereilt hat - auch wenn es durch die Hand unserer verhasstesten Feinde geschehen ist -, eine noch zu geringe Strafe für unsere unverzeihliche Untauglichkeit.
Ich bitte Euch weder um Vergebung noch um Verzeihung, doch ich bitte Euch wenigstens um ein gutes Wort vor den Göttern für meine tapferen Männer und mich. Unser Fleisch werden die Wölfe fressen, und unsere Gebeine die Geier in alle Winde verstreuen, aber unsere Namen sollen zu den Göttern gelangen, denn wir haben im Namen Seiner Majestät des Königs und für Euch, dem Kronprinzen zu Askhar, unser Leben gelassen in treuer Erfüllung unserer Pflicht.
Dies schrieb Euch in Dankbarkeit für Euer Vertrauen,
Kartan aus Bolthaishan.“
Deshalb der Ziegenbock, dachte Setna, er war das Wappen der in Bolthaishan ansässigen Stämme. Er las die Fußzeile: „Dieser Brief wurde im Mond des Pferdes in Braud hinterlegt. Er wird Euch überbracht werden, wenn seitdem sechs volle Monde vorüber und wir nicht wieder dort eingetroffen sind.“
Setna ließ den Brief sinken. Was für ein Geschwafel! In ihm regte sich keinerlei Mitleid für die Männer, die allem Anschein nach ihr Leben bei dem höchst ehrenvollen Versuch verloren hatten, der herrschenden Klasse Askhars ihren überflüssigen Firlefanz zu beschaffen. Er hatte von Anfang an nichts von dieser Sache gehalten. Die pure Geldverschwendung! Aber zum Glück war es jetzt so ausgegangen, denn sonst hätte sie der Sold für den Erfolg der Jagdgesellschaft noch ein vieles Mehr gekostet. Er legte den Brief unachtsam beiseite. Sein Vater würde bestimmt darüber verärgert sein, dachte er gelassen, aber er selbst machte sich nichts daraus. Er fand, dass Katthike sich sowieso viel zu sehr über unwichtige Dinge aufregte.
Setna kratzte seinen schwarzen Schopf und wandte sich wieder der Lektüre zu, bei der er durch den unwichtigen Brief unterbrochen worden war: Taktische Kriegsführung. General Kasai hatte ihm dieses und andere Bücher zur Vertiefung seines Wissens empfohlen. Und da Setna jederzeit Zugang zu der königlichen Bibliothek hatte, folgte er dem Rat des Generals und nutzte jede freie Gelegenheit, um sich neben den praktischen Kriegstugenden, die ihm natürlich weitaus mehr lagen, auch in theoretischen Dingen zu bilden.
Er blätterte auf die nächste Seite des Buches, das vor ihm auf dem Tisch lag. Sie zeigte vereinfachte Darstellungen von verschiedenen Formationen, die ein Heer für eine Schlacht einnehmen konnte, und verglich anschaulich die alten mit den neuen Marschtaktiken. Aufmerksam betrachtete Setna sie, und Ehrfurcht erfüllte ihn, als er den Namen des Mannes las, der diese neuen Strukturen entwickelt hatte: General Herzog Kasai. Unwillkürlich fragte sich Setna, warum sein Vater den beneidenswert großen Erfahrungsschatz des Generals nicht viel besser nutzte? Warum ließ er das Schlachtfeld brach liegen und die Jahre einfach so ungeschehen ins Land ziehen? Setna schüttelte verständnislos den Kopf. Hatte man ihm und allen anderen Kindern des Königreiches nicht beigebracht, dass Askhar ein kriegerisches Volk sei, ein Volk, das stolz auf sein furchteinflößendes Heer sein könne?
Setna empfand es als Schande, sich wie sein Vater faul und bequem auf den Kissen des Müßigganges niederzulassen, anstatt zu kämpfen und dem Reich Ehre zu bringen. Askhar hatte einen Ruf, und dem musste es gerecht werden, wenn es jemals seine Autorität in der östlichen Welt behaupten wollte.
Natürlich war König Katthike einst ehrgeizig gewesen, doch in den vergangenen Jahren hatte er ganz zu Setnas Missbilligung davon abgelassen, über die Grenzen zu schauen und mit entschlossener Faust neue Ländereien samt Untertanen einzufordern. Stattdessen konzentrierte er sich auf sein „Edikt zur Gesundung des Volkes“ und hielt seinen Blick stur nach Innen gerichtet. Seine Pläne zur „Musterung“ hatten sich gut entwickelt, aber General Kasai hatte den König mehr als einmal davor gewarnt, außenpolitisch Untätig zubleiben, denn das ließ den Respekt vor dem Königreich bei den anderen Völkern mit der Zeit sinken. Respekt aber war wichtig, das hatte Setna gelernt, und er stimmte dem General zu, diesen bedingungslos einzufordern und sei es mit roher Waffengewalt. Aber sein Vater ließ sich offenbar nicht davon überzeugen. Er war und blieb ein sturer Bock. Dabei wünschte Setna sich endlich einen Krieg!
Er seufzte und klappte das Buch mit einem laut Knall zu. Staubkörner wirbelten auf und tanzten orientierungslos in den Sonnenstrahlen, die schräg zum Fenster hineinfielen.
Eine Weile beobachtete er sie gedankenverloren, stand dann aber auf und stellte das Buch wieder zurück in das Regal. Mit hängenden Schultern schlurfte er zur Tür. Da fiel ihm der Brief ein. Er machte kehrt und holte ihn. Als er dann die Tür öffnen wollte, flog sie mit einem Mal ohne Vorwarnung auf. Erschrocken sprang er zur Seite, um sie nicht vor den Kopf zu bekommen. Wut kochte ihn im hoch, als er sah, wer die Tür derart ungehobelt aufgestoßen hatte.
„Oh, mein junger Prinz! Verzeiht bitte!“, entgegnete Lata mit einem falschen Lächeln auf den Lippen. Unverschämt reckte er sein Kinn vor, anstatt demütig sein Haupt zu senken, wie es sich eigentlich gehört hätte. Seine hochgewachsene, asketische Gestalt wirkte arrogant und abweisend.
Setna sprühte böse Blitze gegen den Konsultas.
‚Warte nur, bis ich hier das Sagen habe, du widerlicher Speichellecker’, dachte er zornig, ‚dann mache ich dich um deinen Schlangenkopf und deinen Hundeschwanz kürzer!’ Er warf dem obersten Berater seines Vaters einen vernichtenden Blick zu und wand sich an ihm vorbei. Warum hatte er ständig das Gefühl, im Palast nur von heuchlerischen und unwürdigen Kreaturen umgeben zu sein? Zu gern würde er hier einmal gründlich aufräumen! Es gab zu viele dunkle Ecken voller Ungeziefer, in die jahrzehntelang kein Lichtschimmer gefallen war.
Mit schnellen Schritten, die trügerisch selbstbewusst von den Wänden wiederhallten, eilte Setna durch die endlosen Gänge und ärgerte sich über die mangelnde Achtung, die ihm der höchste Berater immer dann entgegenbrachte, wenn sein Vater nicht anwesend war. Einmal hatte er sich beim ihm über Lata beschwert, doch Katthike hatte nur gelacht. Erbost verzog Setna das Gesicht bei dieser Erinnerung. Die schützende Hand, die der König über Lata hielt, machte den Konsultas so unangreifbar wie einen Krebs in seiner harten Schale. Mit nichts war ihm beizukommen. Setna traute diesem dreckigen Ausländer nicht ein Stück über den Weg!
Voller Ingrimm brauste er die große Freitreppe hinab und auf den Hof hinaus. Er war immer noch so vertieft in seinen Ärger, dass er die höflichen Verneigungen der Diener und Soldaten, an denen er vorüberkam, nicht bemerkte.
„Am besten, ich gehe jetzt gleich zu Rebian auf den Kampfplatz. Ich brauche jetzt etwas Ehrliches, einen ehrlichen Waffengang, Mann gegen Mann!“ Er steuerte durch das Innere Tor und dann scharf nach links hinüber zu den Waffenplätzen. Auch Meister Rebian war einer von eben diesen Günstlingen seines Vaters, die er nicht leiden konnte. Er bewunderte zwar dessen Schwertkunst, aber ansonsten war er für ihn nichts weiter als ein altkluger Emporkömmling niederer soldatischer Herkunft.
Setnas pechschwarze Augen glühten in der tiefstehenden Nachmittagssonne, als er den Namen des obersten Fechtmeisters der Königlichen Garde quer über den staubigen Platz brüllte. Trotz seiner jungen Jahre war er es gewohnt, zu kommandieren und es störte ihn nicht, dass sofort alle Soldaten und Knappen in ihren Übungen innehielten und sich verneigten. Geradewegs schritt er auf Rebian zu, der gerade dabei gewesen war, die Haltung eines schlaksigen, jungen Soldaten der Königlichen Garde zu verbessern.
Setna wartete, bis dieser sich entfernt hatte, doch noch bevor er etwas sagen konnte, fragte Rebian ihn: „Mein Prinz, möchtet Ihr fechten?“
‚Dieser verdammte Kerl mit seiner vorausschauenden Art!’, dachte Setna ungehalten und antwortete: „Ja, natürlich!“
Schon kam ein Diener mit zwei Schilden und Übungsschwertern aus schwerem Eisen herbeigelaufen. Der Prinz ignorierte die Schilde, wählte lediglich eines der Schwerter aus und stellte sich abwartend Rebian gegenüber. Dieser winkte einen der älteren und erfahrenen Soldaten herbei, der sich vor Setna verbeugte und nach dem anderen Schwert griff.
„Nein! Ich will heute gegen dich kämpfen, Rebian!“, forderte Setna vor Selbstbewusstsein strotzend.
Der Schwertmeister sah ihn mit seinen grauen Augen kühl abschätzend an. Seine Miene blieb dabei vollkommen gelassen.
„Nun gut, junger Prinz, ganz wie Ihr wünscht!“, willigte Rebian ein, nahm das Schwert des Soldaten, prüfte aufreizend langsam die Klinge und begab sich dann erst in Stellung, während die umstehenden Männer einen großen Kreis bildeten und mit Spannung das Duell erwarteten.
Setna beobachtete Rebian. Nichts an dem Schwertmeister verriet, was er gerade dachte. Nur, dass er bereit war, zu kämpfen, das strahlte sein ganzer stahlhart trainierter Körper aus.
Setna begann seinen Gegner locker zu umkreisen. Die Sohlen seiner Stiefel knirschten im Sand. Die von Rebians Schuhen nicht, sie waren völlig lautlos. Als Setna die Sonne im Rücken hatte, vollführte er den ersten Schlag. Doch er war mit viel zu viel Kraft ausgeführt. Rebian wich gekonnt aus, und ließ ihn ins Leere laufen. Wütend fuhr Setna herum, stieß einen entschlossenen Kampfschrei aus und stürmte erneut auf Rebian zu. Diesmal parierte dieser den Hieb. Ihre Schwerter krachten laut klirrend aufeinander. Geschickt wich Setna zurück, als Rebian ihm einen Stoß mit dem Ellenbogen versetzen wollte. Danach war es an dem Schwertmeister, seinen Schüler zu umkreisen, seine gedrungene Gestalt wirkte dabei wie eine sprungbereite Raubkatze. Das Muskelspiel seiner sehnigen Arme war beeindruckend, aber Setna versuchte, sich nicht davon ablenken zu lassen und ihm lediglich in die Augen zu schauen. Rebian selbst hatte ihn das gelehrt. Die Augen des Gegners verrieten einem immer, was dieser als nächstes vorhatte. Setna fixierte Rebians Blick, war auf alles gefasst.
Als der Meister angriff, fing er dessen Schwert mit seiner Klinge ab. Dann löste er seine Linke vom Griff und verpasste ihm schließlich durch die offene Deckung einen Faustschlag auf die Nase.
Rebian stöhnte vor Schmerz auf und hielt sich die blutende Nase, ließ sein Gegenüber aber keinen Herzschlag lang aus den Augen.
‚Tja’, dachte Setna boshaft, ‚ich bin wohl besser, als du gedacht hattest! Du hast mich glatt unterschätzt in deiner lehrmeisterhaften Überheblichkeit.’ Er sah, wie der Schwertmeister sich das Blut mit einem Ärmel fortwischte und rot vor ihm in den Sand spuckte. Der Kampf war noch nicht beendet. Setnas Lippen teilten sich und lächelten zufrieden.
Beide Kämpfer setzten sich wieder in Bewegung. Sie bemerkten nicht, wie die Menge sich teilte und ehrfürchtig einem weiteren Zuschauer Platz machte.
Setna griff an. Er wusste, er konnte Rebian schlagen. Die gebrochene Nase beeinträchtigte ihn. Doch der Schwertmeister drehte sich ungewöhnlich schnell um seine eigene Achse, und noch bevor Setna den Gegenangriff abwehren konnte, traf ihn das Schwert Rebians an der Schulter. Er spürte ein Knacken und die Luft blieb ihm weg. Hastig stolperte er rückwärts, um aus der Bedrängnis zu kommen, doch Rebian setzte sofort nach, entwand ihm mühelos das Schwert und brachte ihn endgültig zu Fall. Er setzte seine Schwertspitze an Setnas Hals und forderte ihn auf, sich zu ergeben.
Setna klopfte zähneknirschend zweimal in den Staub, und Rebian ließ von ihm ab.
Ein einsames Händeklatschen brachte die beiden Kämpfer anschließend wieder zu sich und sie hoben gleichzeitig ihren Blick. Katthike grinste über das ganze Gesicht und applaudierte gelassen dem Sieger.
„Gut gemacht, mein lieber Rebian!“, sprach er gönnerhaft, und Rebian neigte schnell sein blutverschmiertes Gesicht vor ihm.
„Habt Dank, mein König!“
„Zeigt mir Euer Schwert!“
Setna erhob sich unter Schmerzen aus dem Sand und beobachtete, wie Rebian dem König die schartige, aber stumpfe Klinge seines Übungsschwertes entgegen hielt. Katthike betrachtete sie und nickte. Wahrscheinlich hatte er befürchtet, sie wären mit scharfen Waffen aufeinander losgegangen. In dieser Gefahr hätte er seinen Sohn natürlich nur sehr ungern gesehen, aber das wusste jeder seiner Untertanen selbstverständlich.
„Euer Sohn hat sich sehr gut geschlagen!“, lobte der Schwertmeister mit näselndem Ton.
„Das sehe ich“, entgegnete Katthike und deutete auf Rebians ruinierte und angeschwollene Nase. Setna grinste verstohlen.
„Er hat ausgezeichnete Fortschritte gemacht“, ergänzte Rebian und es klang, als meinte es ehrlich.
Der Blick Katthikes schwenkte zu Setna herum, der schnell schuldbewusst den Kopf senkte und sich die Stelle oberhalb seines Brustbeins hielt. Er spürte, wie sein Vater ihn streng musterte. Er wusste, dass der seinen Drang, sich messen zu wollen, nicht guthieß und wartete auf eine Zurechtweisung.
„Mir scheint, dass hier zwei Hitzköpfe ganz ordentlich ihr Mütchen gekühlt haben. Und da ihr euch schon gegenseitig für eure Unvernunft bestraft habt, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als euch nun zu meinem Leibarzt zu schicken. Sieht mir ganz nach einer gebrochenen Nase und einem angeknacksten Schlüsselbein aus!“, sagte der König kühl.
Aus den Augenwinkeln sah Setna, wie Rebian sich verneigte und neben ihn trat. Er spürte, wie er von ihm am Arm gefasst wurde und fügte sich wortlos. Zusammen mit dem Schwertmeister verließ er den Kampfplatz in Richtung des Inneren Tores. Dabei sah er ihn nicht ein einziges Mal an.

„Und ihr dreckigen Nichtsnutze geht sofort wieder an eure Arbeit, aber ein bisschen plötzlich!“, schrie Katthike die gaffenden Soldaten an. Er machte schwungvoll kehrt und ging so würdevoll, wie es sein Hinken zuließ, zu dem langgestreckten Gebäude hinter den Übungsplätzen hinüber, welches die Waffenakademie beherbergte. Dort hatte der General sein Quartier. Die letzten fünf Jahre hatte dieser ausschließlich damit zugebracht, den Offiziersnachwuchs in der Theorie der Kriegstaktiken zu unterrichten. Doch das sollte sich recht bald ändern. Katthike betrat das Gebäude durch den Haupteingang. Im unteren Bereich waren eine kleine Bibliothek mit Kartenmaterial und zwei Unterrichtsräume eingerichtet. Katthike sah in allen drei Räumen nach, aber der General war dort nicht zu finden. Dafür stand etwas in dem letzten Raum, das Katthikes Aufmerksamkeit erregte, und er ging zu der großen, aufgebockten Holzplatte hinüber. Er erkannte, dass auf ihr ein ausgesprochen gutes, verkleinertes Abbild der hyaunischen Grenze am Junghal-Gebirge mit ihren gesamten Wehranlagen nachgebaut war.
‚Was für eine gute Arbeit!’, dachte er. Das bewies, dass der General bereits viele Informationen zusammengetragen und anhand dieses Modells ausgewertet hatte. Seinen ersten Auftrag hatte er also erledigt. Jetzt würde er seinen nächsten bekommen, und darüber, da war sich Katthike sicher, würde der alte Dachs sich freuen.
Lächelnd verließ er den Raum wieder und stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf. Er fand Kasai in seinem Studierzimmer über ein Buch gebeugt, das er gerade säuberlich mit kleinen Zahlenkolonnen füllte.
„Sei gegrüßt, du alter Bücherhengst!“, tönte Katthike und lehnte sich lässig gegen die Türfüllung.
Der General sah überrascht auf. „Eure Majestät!“ Er verneigte sich zackig.
Katthike schätzte an Kasai besonders diese bis in die Haarspitzen verinnerlichte disziplinierte Haltung und er betrachtete es mit Wohlwollen, dass der Herzog in all den Jahren, in denen er dem Schlachtfeld ferngeblieben war, sich nicht wie andere der leichtlebigen Völlerei und Zuchtlosigkeit hingegeben hatte. Stets achtete er auf seine Kampftauglichkeit und übte noch täglich mit dem Schwert. Das zeigte sein immer noch sehr muskulöser, straffer Körper recht deutlich, wie Katthike fand, auch wenn das Grau in den Haaren des Generals das Schwarz schon längst verdrängt hatte.
„Wird langsam Zeit, dich wieder hinaus ins Feld zu schicken!“, sagte er kameradschaftlich, und Kasai sah ihn erwartungsvoll an.
„Ich habe das Modell bereits gesehen. Ich schätze, es ist detailgetreu?“
„Ja, das ist es, ich habe alle Berichte unserer Späher gründlich ausgewertet. Als letztes bleibt jetzt nur noch, es selbst in Augenschein zu nehmen, unter anderem auch die Lage vor Ort in Braud.“
„Deshalb bin ich hier, mein Freund!“ Der General war einer der wenigen Menschen, die er so anredete. „Du kannst deine Sachen packen und deine Rüstung wieder auf Hochglanz polieren, wir werden Krieg führen!“
Ein verjüngendes Leuchten huschte über Kasais zerfurchtes Gesicht, so sehr brachte die Aussicht auf einen Feldzug sein Blut in Wallung. Kasai lebte für die Schlacht.
„Du gibst mir Bescheid, wenn deine Zahlen vollständig sind, ja? Ich plane, nächsten Sommer loszumarschieren!“ Katthike leckte sich über die Unterlippe, weil auch er plötzlich Erregung spürte. Kasai hatte recht gehabt, viel zu lange war er untätig gewesen.
„Verzeiht, Majestät, und was ist mit Konsultas Lata?“, erkundigte sich der General und lächelte vorsichtig, dabei entblößte er eine Zahnlücke. Den Schneidezahn hatte er sich bei einer Schlägerei in seiner Jugend abgebrochen und er verlieh ihm noch immer ein verwegenes Aussehen.
Katthike musterte Kasai. Er verstand dessen Argwohn gegen den Konsultas nur zu gut. Die beiden Männer waren wie Licht und Schatten, und nicht unterschiedlicher hätte man ihre Gesinnungen beschreiben können, doch sie ergänzten sich noch immer ganz ausgezeichnet. Ein von beiden Mitspielern ungewolltes und doch äußerst fruchtbares Zusammenwirken, bei dem er, Katthike, eigens die Fäden in der Hand hielt.
„Lata wird vorerst hier in Askhari-Kaise bleiben“, antwortete er schließlich. „Du wirst ganz ungestört walten können.“
„Ich werde Euch nicht enttäuschen, Majestät!“ Sichtlich zufrieden verneigte Kasai sich, was Katthike mit einem großzügigen Lächeln quittierte.

Setna war schlichtweg begeistert, als sein Vater ihm in der Bibliothek eröffnete, dass er einen Feldzug gegen die Hy plane. Fast wäre er ihm um den Hals gefallen, doch ihm wurde gerade noch rechtzeitig bewusst, wie kindisch das war, und nun hüpfte er vor dem Stuhl des Königs lediglich auf und ab wie ein kleines Äffchen, was in den Augen eines äußeren Betrachters sicherlich auch nicht wesentlich erwachsener wirkte.
„Ist das wahr, mein König? Das ist ja großartig!“
Katthike löste die Hand von seinem Kinn und lächelte ihn väterlich an, er schien es zu genießen, dass sein Sohn sich freute. Sein Finger deutete auf Setna. „Ja, und du wirst mitgehen, an der Seite des Generals. Du sollst schließlich alles von ihm lernen, auch wie man in eine Schlacht zieht.“
„Wann geht es los?“, fragte Setna aufgeregt und wippte auf den Fußballen.
„Nun mal langsam. Ich gedenke, das Heer im nächsten Frühjahr vollständig aufgerüstet zu haben, und nach der Schneeschmelze in den Bergen werden wir dann auf die Grenze marschieren. Du hast also ein Jahr lang Zeit, dich darauf vorzubereiten. Bis dahin erwarte ich noch weitere Fortschritte in deinen Leistungen.“
Setna senkte enttäuscht den Kopf. „Erst nächstes Jahr? Aber mir ist zu Ohren gekommen, dass der General noch diesen Monat zur Grenze aufbricht. Ich würde ihn so gern begleiten, ich könnte doch jetzt schon von ihm lernen. Die Vorbereitungen gehören doch schließlich auch zu einem Feldzug.“
„Setna!“ Katthike rollte ungeduldig mit den Augen. „Wie oft muss ich dir noch in Erinnerung rufen, dass getan wird, was ich sage und nichts anderes! Außerdem ist dein Schlüsselbein noch nicht wieder ganz verheilt.“
„Es tut doch gar nicht mehr weh. Ich könnte doch wenigstens mit nach Braud reisen, dort kann ich genauso gut üben wie hier, und Eure Leibgarde passt derweil auf mich auf!“, bedrängte Setna seinen Vater weiter, obwohl die Erfahrung ihn gelehrt hatte, dass dieser Widerworte hasste. Und kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, lief Katthikes Gesicht auch schon tiefrot an, und seine Finger krallten sich bedrohlich knirschend in die Stuhllehnen.
Setna wappnete sich innerlich. Aber der erwartete Ausbruch blieb aus. Stattdessen erhellte sich die Miene seines Vaters unvermittelt wieder, als hätte lediglich eine kleine Wolke kurz die Sonne verdunkelt. Die eisblauen Augen bekamen wieder jenen winzigen Hauch von Milde, zu dem sie fähig waren.
„Mein Sohn, das ist tatsächlich eine sehr gute Idee von dir!“, pflichtete Katthike ihm schließlich bei, und Setna war davon noch mehr überrascht als zuvor.
„Ich denke, dieses eine Mal kann ich mich getrost von dir umstimmen lassen, denn wir beide werden reisen! Braud hat längst einmal wieder einen Besuch meinerseits verdient.“
Setna wusste nicht, ob er sich darüber nun freuen sollte oder nicht. Einerseits würde er jetzt endlich einmal wieder aus dem ungesunden Mief des Palastes herauskommen und die frische Luft des bevorstehenden Abenteuers schnuppern, andererseits würde er dabei der allgegenwärtigen und stets überbesorgten Beobachtung seines Vaters nicht entkommen können. Er oder die Garde würde ihn nicht einmal auch nur für einen Tag aus den Augen lassen. Doch wenn er unbedingt nach Braud wollte, dann musste er sich mit der Bevormundung seines Vaters abfinden.
Dankend verneigte er sich vor dem König und verließ darauf flugs den großen, mit Büchern vollgestopften Raum.

Natürlich war Setna vor Aufregung kaum zu bändigen, als er drei Wochen später samt großer Eskorte und dem für Reisen nötigen Hofstaat neben seinem Vater und dem General durch das Äußere Palasttor ritt. Und eines freute Setna noch obendrein: Lata, dieser giftzüngelnde Wurm, würde zurückbleiben. Der König hatte bei dieser Reise keine Verwendung für ihn.
Von den Mauern der Palastwehr winkten ihnen die Bediensteten und Wachsoldaten zum Abschied zu, sicherlich erleichtert darüber, dass ihnen ein paar Monate Ruhe bevorstanden, in denen nicht ständig die dräuende Faust des Königs über ihnen schwebte.
Erwartungsvoll blickte Setna auf die Stadt vor ihm, die sie am Fuße des Burgberges schließlich in ihre wirren Verwindungen von ungezählten Straßen und Gassen aufnahm.
Alle Menschen, an denen die lange Prozession der königlichen Reisegesellschaft vorbeizog, verharrten augenblicklich in dem, was sie taten, und verneigten sich tief in Ehrfurcht vor ihrem König. Aber Setna wusste, dass er dem findigen askharischen Volk Unrecht täte, wenn er es durchweg als ängstlich und katzbucklerisch bezeichnete. Seit Jahrhunderten war es daran gewöhnt, die Launen seiner Herrscher zu ertragen und dadurch besonders wandlungs- und anpassungsfähig geworden. Die stetige Veränderung war ein unvermeidlicher Teil ihres Lebens.
‚Nichts ist so treu wie der Wandel!’, besagte daher auch eines der ältesten askharischen Sprichwörter.
Während sie durch Askhari-Kaise ritten, war Setnas Blick überall gleichzeitig: Auf den Ständen mit bunten Waren, auf den demütig gebeugten Rücken der Leute, auf den Straßenhunden, Schweinen und Ziegen, die zwischen ihnen umherliefen, auf den lehmigen Fassaden der Häuser und auf den Tauben, die hoch über ihren Köpfen im grellen, wolkenlosen Himmelsausschnitt pfeilschnell dahinglitten. Er war jedes Mal aufs Neue erstaunt darüber, wie groß und überfüllt diese Stadt war. Man konnte sich hoffnungslos in ihr verlaufen, wenn man nicht wenigstens grob die Hauptstraßen kannte, die vom zentral liegenden Palast aus in alle Himmelsrichtungen führten. Wahrscheinlich gab es nur wenige Leute, die einen genauen Plan von der ganzen Stadt hatten. Die meisten Menschen aber blieben in ihren Vierteln, es gab keinen Grund für sie, es jemals zu verlassen. Denn jedes Viertel war für sich wieder wie eine eigene kleine Stadt.
König Katthike hatte über die Jahre mehrmals Karten von Askhari-Kaise anfertigen lassen, doch die Stadt war wie ein lebendiges Wesen, das wuchs und dadurch auch ständig sein Äußeres veränderte. Ganze Straßenzüge konnten verlegt werden; an einer Stelle wurde etwas abgerissen und etwas anderes auf dessen Platz errichtet, an anderer Stelle baute man einfach komplett ein Gebäude um, dass es nicht wiederzuerkennen war; und in den Außenbezirken entstanden jeden Tag neue Hütten und Verschläge, die später wieder Steinhäusern würden weichen müssen.
Das war Askhari-Kaise: Die Große, die Königliche, die Tausendjährige!

Lata hatte sich zum Abschied des Gefolges natürlich auch auf den Vorplatz des Palastes bequemen müssen. Höflich hatte er dem König und dem Prinzen eine gute Reise und eine gesunde Rückkehr gewünscht, ganz wie es sich für den Obersten Berater gehörte, aber hinter seiner aufgesetzt galanten Miene brodelte der Groll gegen seinen Gebieter. Der König hatte ihm für die Zeit, die er nicht am Hof sein würde, zwar sämtliche Regierungsgeschäfte übertagen, die Askhari-Kaise betrafen, aber es wurmte ihn, dass Katthike ihn bei seinen Kriegsplänen ganz außen vorließ, und der General wieder einmal mehr in dessen Gunst aufgerückt war.
Als die Reisenden zum Inneren Tor hinaus waren, machte Lata sofort auf dem Absatz kehrt und eilte in das Palastgebäude zurück.
„Aber, Konsultas, so wartet doch, was ist jetzt mit dem Frühjahrssegen in zwei Tagen? Seine Majestät hat Euch doch angewiesen, die Vorkehrungen dafür zu treffen!“, rief der Hofmarschall aufgeregt hinter ihm her. Doch Lata wollte sich jetzt nicht mit solch belanglosem Zeug beschäftigen, ihm gingen wichtigere Dinge durch den Kopf.
„Jetzt nicht, kommt später in das Regierungszimmer!“, fertigte er den Hofmarschall ab, der ihn ziehen ließ, seine Entrüstung darüber aber kaum verbarg.
Lata ahnte, was der Mann dachte, aber nicht wagte auszusprechen: ‚Kaum ist der König zum Tor hinaus, da spielt dieser Untermensch sich auf, als sei er hier der Herr und Meister!’ Doch das störte den Konsultas nicht im Geringsten, denn er war von diesem Augenblick an in der Tat der Herr und Meister in diesem Gemäuer!
Ohne Umwege begab er sich in das Regierungszimmer und bestellte bei dem Diener, der an der Tür bereit stand, eine kleine Mittagsmahlzeit. Ungeniert ließ er sich auf dem Stuhl des Königs nieder und wartete auf sein Essen. Er nahm seine schwarze Kopfhaube ab und legte sie auf den Tisch, dann löste er den strengen, dicken Zopf, der darunter versteckt war, und schüttelte das braune Haar auseinander, das noch keine einzige graue Strähne aufwies. Der König war fort und mit ihm der Zwang der Etikette.
Lata seufzte befreit. Er stützte sein Kinn in die Hand und verfiel ins Grübeln. Schon seit Wochen ließ es ihn nicht los, dass er nicht an den Plänen Katthikes beteiligt worden war. Er hatte all seine Spione ausgeschickt, um an Informationen zu kommen, und sie hatten ihm berichtet, dass der König im nächsten Jahr einen Krieg gegen die Hy zu führen gedachte und den General mit der Organisation beauftragt hatte. Kasai hatte seine Leute an die Grenze geschickt, und sie hatten dort mit dem Ausbau Brauds als Armeehauptquartier begonnen. Sie hielten die betroffenen Statthalter unter ihrer Befehlsgewalt und ließen keine Informationen von der Grenze nach außen dringen. Sämtliche Briefwechsel liefen über den General, und es war unmöglich, in die eingeschworene Nachrichtenreihe von Kasais Untergebenen einzudringen.
‚Der alte Hund ist wieder zurück im Geschäft!’, dachte Lata missgünstig. Dabei hatte er selbst viel mehr Ahnung von den Hy als der in die Jahre gekommene Kriegsrecke. Zugegeben, die praktische Kriegsführung war nicht gerade sein ausführlichstes Wissensgebiet, da sollte sich lieber der General die Hände schmutzig machen, aber er kannte sich an der hyaunischen Grenze sehr gut aus. Er selbst war den Doban-Pass schon unzählige Male gegangen. Er kannte seine Tücken im Schlaf, wusste wo eine Armee beim Überqueren Acht geben musste. Warum also hatte der König ihn nicht zu Rate gezogen? War Katthike dabei, ihm das Vertrauen zu entziehen? Dieser Gedanke machte Lata ganz krank. Er befand sich im Zenit seiner Schaffenskraft und er wollte sich nicht von einem ausgemusterten Kriegsross wie Kasai den Rang ablaufen lassen. Er war ein Mann, der sich mit bloßer Zweitrangigkeit nicht zu Frieden gab. Aber was zum Teufel konnte er tun? Vielleicht hatte er sich die vergangenen Jahre etwas zu sehr auf seiner scheinbar unangreifbaren Position ausgeruht.
„Verdammt!“ Lata schlug mit seinen reich beringten Fingern auf die Armlehne des Stuhls und tat sich dabei weh. Wütend rieb er sich die Hand. Im selben Moment klopfte es an der Tür. Es war das Essen. Lata ließ sich servieren und schickte den Diener dann unwirsch wieder hinaus.
Er nahm einen Bissen von dem kalten, gut gewürzten Schweinefleisch, warf er es dann aber sogleich wieder auf den Teller zurück. Ihm war der Appetit vergangen.
Lata stand auf und begann rastlos hin und her zuwandern.
‚Ich könnte Kasai endlich beseitigen lassen. Vielleicht ist der richtige Moment gekommen. Selbst ein General kann in einem Gefecht fallen. Und aus welcher Richtung der Pfeil kam, kann hinterher sowieso keiner mehr feststellen. Das wäre zwar nicht leicht, aber es ist dennoch machbar. Und all diejenigen, die als Nachfolger Kasais in Frage kommen, sind lange nicht so einflussreich wie der alte Hund.“ Lata hatte schon viele Male darüber nachgedacht, einen Attentäter auf den General anzusetzen, hatte dann aber jedes Mal davon abgelassen, da die Spur zu eindeutig auf ihn gewiesen hätte. Es gab schließlich nur einen, der einen Nutzen davon hatte, wenn der General das Zeitliche segnete, und das war sein ärgster Konkurrent und die rechte Hand des Königs: Der Konsultas. Doch nun war die linke Hand scheinbar stärker geworden als die rechte! Und das konnte Lata nicht zulassen. Er strich sich mit den Fingern über sein glattes Kinn. Langsam gefiel ihm der Gedanke, dem General nun doch endlich ein Ende zu setzen. Es würde sogar ein sehr ehrenvolles Ende sein, dachte er gönnerhaft. Auf dem Schlachtfeld zu fallen, dafür würde ihm Kasai bestimmt dankbar sein. Denn so wie er den alten Hund einschätzte, gab es für den untadeligen askharischen Krieger des alten Schlages bestimmt nichts Schlimmeres, als sein Leben als nutzloser, alter Mann am heimischen Herd auszuhauchen. Lata rieb sich diebisch die Hände. Ja, solch eine Möglichkeit würde sich ihm mit Sicherheit so schnell nicht wieder bieten!
Mit einem Mal regte sich sein Appetit wieder, und er setzte sich an den Tisch.
Er hatte ein ganzes Jahr Zeit, um alles planen zu können. Er würde gute, zuverlässige Männer brauchen. Doch wenn man genug Geld besaß, war das das geringste Problem. Auch die besten und unbescholtensten Männer wurden irgendwann für Geld empfänglich. Lata leckte sich die Soße von den Fingern und grinste in das leere Regierungszimmer.
‚Auf in den Kampf, mein lieber Kasai!’, sagte ihm sein zu neuem Tatendrang erwachter Geist.

*

Nach zwei Wochen im gemächlichen Reisetempo hatten sie das Alte Grenzmeer hinter sich gelassen, die Hyaunische Halbinsel überquert und die größte Stadt Neu-Askhars, Tedan, besucht. Nun zogen sie langsam entlang des Flusses Terr immer weiter gen Westen.
König Katthike, des ewigen Reitens müde, hatte schon seit mehreren Tagen in einem der großen bequemeren Reisewagen Platz genommen, welche die Eskorte mit sich führte, und Setna konnte sich dadurch endlich etwas freier fühlen. Er ritt an der Seite des Generals und wenn er mit ihm nicht gerade Gespräche über den Grund der Reise führte, genügte es ihm, sich als Eroberer dieses Landstriches zu fühlen. Setna war bei Weitem nicht das erste Mal in Neu-Askhar und deshalb war ihm die Gegend hier gut bekannt. Dennoch überkam ihn das Gefühl, aufregendes Neuland zu betreten. Die Landschaft war hier vollkommen anders als zu Hause; dunkle feuchte Erde statt des alles erstickenden roten Staubes; hohe und dichte Laubwälder von erfrischendem Grün anstelle der ewig nach Wasser dürstenden, abweisend verholzten Vegetation mit den dürrsparrigen Palmen, den knorrigen Pinien, den fatalen Agavenkronen und den stacheligen Kakteen. Sicher, es gab auch schöne und erquickende Orte in Askhar: Uralte schattige Olivenhaine, die in Stufen die Bergflanken empor kletterten, herrliche Oasen im Südosten, mit rauschenden Schilfwiesen zwischen den verbrannten Wüstenfelsen und das sagenhafte Wolkenland in den Bergen der Nordküste mit seinen saftigen Hochweiden. Beinahe die gesamten Küsten des Königreiches säumten Bäume, die zweimal im Jahr Früchte trugen, und selbst in der endlosen Stadt Askhari-Kaise gab es große, angelegte Gärten mit erfrischenden Springbrunnen, zumeist um die Tempel herum.
Aber das hier - Setna schaute von rechts über den glänzenden Fluss nach links auf den bewaldeten Berghang des Tals -, das war etwas vollkommen Anderes. Die Sonne schien längst nicht so unerbittlich vom Himmel herab, die Luft war frisch und das Wasser war sauber. Dieses Land hatte etwas Lebendiges, etwas Uraltes und Kraftvolles. Wie würde es erst sein, wenn sie noch viel mehr davon erobern würden? Dann könnte das askharische Volk die Kraft dieses Landes in sich aufnehmen und noch stärker werden, dachte Setna. Wenn sie die Hy erst einmal geschlagen hatten, würde sie niemand mehr aufhalten können!
Aber eigentlich war er auch neugierig darauf, endlich mal einen Hy zu Gesicht zu bekommen. Einen echten, nicht diese manipulierten Gestalten, die sich sein Vater als Sklaven hielt. Denn auch wenn Setna die Hy zutiefst verachtete und er seine eigene hyaunische Seite vor sich selbst verleugnete, hegte er heimlich doch ein gewisses Interesse daran, wie diese Menschen nun in Wirklichkeit waren. Vielleicht auch nur deshalb, weil er feststellen wollte, dass er nichts mit ihnen gemein hatte!
Seine Gedanken schweiften unwillentlich in die Vergangenheit. Nachdem ihm schon als kleiner Junge auf sehr unsanfte Weise beigebracht worden war, dass er nur zur Hälfte ein Askharer und der König gar nicht sein richtiger Vater sei, hatte er natürlich wissen wollen, wer seine richtigen Eltern gewesen waren. Die schlimmsten Schmähungen und abenteuerlichsten Märchen waren ihm ins Ohr geflüstert worden, sei es im Kinderzimmer von der Dienerschaft oder bei Festlichkeiten von Angehörigen aus dem Kreise der Adeligen. Sie hatten Setna regelrecht damit gequält, und Katthike hatte dies erst unterbinden können, in dem er gedroht hatte, jedem, der damit fortfuhr, die Zunge herauszuschneiden.
Aber damit war immer noch nicht Setnas Frage nach seinen Eltern beantwortet gewesen, und schließlich hatte Katthike ihm sichtlich angespannt erklärt, er sei das Kind einer achtbaren Askharerin und eines hyaunischen Kriegers. Aber er, Katthike, sehe gerade in Letzterem die besondere Stärke Setnas. Doch für Setna, der sich auf kindlich naive Weise eingeredet hatte, dass all die bösen Anspielungen der Leute nur bloße Lügen gewesen waren, war eine Welt zusammengebrochen. Danach hatte es lange gedauert und Katthike wohl auch einige größere Anstrengungen seiner väterlichen Bemühungen abgefordert, bis Setna wieder zu ihm Vertrauen gefasst hatte.
Jetzt, als junger Mann, machte er sich nicht mehr viel daraus, was die Leute im Palast auf der Straße oder anderswo von ihm dachten oder über ihn redeten. Er war der Sohn des Königs, der Thronfolger, und niemand konnte ihm etwas anhaben. Ob Halbblut oder nicht, er würde nach Katthike der König von Askhar sein!
Setna war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er gar nicht bemerkte, wie der General mit ihm sprach. Erst ein unsanfter, aber freundschaftlicher Klaps mit dessen Reitpeitsche auf den Hals seines Pferdes brachte ihn wieder zurück in die Gegenwart.
„Ich habe Euch etwas gefragt, Junge!“, bellte Kasai in seiner kernigen Art, die Setna sympathisch war. Er war der Einzige, dem er es erlaubte, ihn „Junge“ zu nennen.
„Was? Verzeiht bitte, General, ich habe nicht zugehört.“
„Ich fragte, ob Ihr Euch im Klaren darüber seid, dass es auf dem Schlachtfeld keine Bequemlichkeiten mehr geben wird? In Braud werdet Ihr noch standesgemäß untergebracht sein. Wahrscheinlich lässt sich der oberste Statthalter nicht lumpen und quartiert Euch in seinen besten Gemächern ein, aber wenn wir erst einmal das Feldlager an der Grenze bezogen haben, wird es vorbei sein mit den Annehmlichkeiten. Ihr werdet dann kaum mehr haben als ein einfacher Soldat!“
Setna lächelte. „Das ist mir natürlich klar. Und ich ziehe die soldatische Einfachheit einem üppig ausgestatteten Gemach in jeder Hinsicht vor. Im Krieg gibt es wichtigere Dinge als eitle Bequemlichkeit!“ Er sah sich kurz um und fügte dann etwas leiser hinzu: „Auch wenn mein Vater das vermutlich etwas anders sehen wird.“
Kasai sah ihn ernst an. „Euer Vater hat viel für dieses Land getan, es ist sein gutes Recht, sich nun etwas zurückzunehmen. Dafür hat er Hunderte ehrenhafter Männer, die in seinem Namen reiten werden, und selbstverständlich auch Euch!“
Setna fühlte sich geschmeichelt, und seine Brust schwoll vor Stolz. Denn seit er über die heftigen Auseinandersetzungen Bescheid wusste, die zwischen der Patriotischen Liga Askhars und dem König herrschten, wog für ihn jedes Lob des Generals doppelt. Kasai, der eines der gewichtigsten Mitglieder der Patriotischen Liga war, hatte ihn einst selbst über die Ereignisse aufgeklärt und auch wie es dazu gekommen war, dass die Liga von ihrer ehernen und eigentlich als unverrückbare geltenden Gesinnung abgerückt war, obwohl sie sich viele Jahre offen geweigert hat, die Ernennung Setnas, der in ihren Augen als nicht reinblütiger Bastard galt, zum Thronfolger anzuerkennen. Aber einige der ältesten Mitglieder der Liga hatten schließlich begriffen, dass der König durch nichts davon abzubringen war, Setna auf den Thron zu heben, und drohte, der Liga seine Gust zu entziehen. Als Folge dessen hatte man sich zusammengesetzt und lange beraten. Am Ende hatte sich sogar der General davon überzeugen lassen, dass es besser sei, einen fremdblütigen Prinzen zu protegieren als gar keinen, denn da Prinz Kanaima in Ungnade gefallen war, gab es mit Setna nur diesen einen Kandidaten für die Krone Askhars. Und so hatte sich das Gesicht der Liga verändert, sie war von der dogmatischen Verfechtung der Reinblütigkeit des Adelsstandes, die ja durch Katthikes „Musterungs-Gesetz“ eh schon einen schweren Dämpfer erlitten hatte, abgekommen und widmete sich nun voll und ganz der Unterstützung des Kronprinzen auf seinem Weg zum Thonerbe. Überdies wurde auch der Gegenpol zu dem ewig undurchschaubaren Lata aufrechterhalten, dessen Einfluss auf das Königshaus kontrolliert werden musste.
Bei diesen offenen Worten des Generals hatte Setna schon damals eine Ahnung davon bekommen, wie sehr Kasai den Konsultas hasste, und seither beschäftigte ihn die Frage, warum es dem General bis heute nicht gelungen war, Lata zu beseitigen.
‚Vielleicht ist das Risiko zu groß. Der König würde es schließlich nicht gutheißen, wenn er seinen oberster Vertrauten verlöre’, dachte Setna und musterte den General von der Seite. Wenn er jemanden für seine Geradlinigkeit bewunderte, dann diesen alten kriegserprobten Kämpfer, der schon so manche Schlacht für Askhar gewonnen hatte. Sicher, Kasai hatte auch Niederlagen erlitten, doch das schien ihn nur noch umso härter und unerschrockener gemacht zu haben. Setna hatte das Gefühl, dass nichts und niemand diesen General umwerfen konnte.
‚Mein guter Kasai, ich verspreche Euch, dass ich diesen giftspeienden Teufel Lata für Euch in die Wüste jagen werde, wenn ich erst einmal König bin!’, schwor er stumm und dachte an seinen zweiten einigermaßen ernst zu nehmenden Widersacher nach dem Konsultas. Denn das Umdenken, das damals durch die Patriotische Liga gegangen war hatte manch einem Mitglied nicht gepasst. Einige eingefleischte Anhänger hatten scheinbar unbeirrbar an der alten Ordnung festgehalten und waren nicht gewillt gewesen, den neuen Ideen zu folgen. So hatte sich nach jahrelangen Unruhen innerhalb der Liga unter der Führerschaft des Herzogs Karlis-Renandi eine neue Fraktion von den Patrioten abgespalten und sich den Namen „Königsblutliga“ gegeben! Seitdem hatte sich der Cousin des Königs zu Kasais härtestem Gegner erklärt. Doch der General schien sich darüber kaum Sorgen zu machen. Karlis-Renandi hatte kaum Einfluss auf die Geschehnisse im Palast, denn er und seine Anhänger waren viel zu weit weg. Sollte er doch in seiner unwichtigen, verstaubten Provinz im entfernten Südosten Askhars aushecken, was er wollte, laut Kasai würde er niemals etwas ausrichten können! Das erleichterte Setna gewissermaßen, denn auch wenn ihm die Patrioten treu ergeben den Rücken stärkten, gefiel ihm der Gedanken nicht, dass es irgendwo da draußen einige Männer gab, die ihn nicht als das akzeptierten, was er war: Der zukünftige König!
„Was schaut Ihr so, mein Prinz?“, fragte Kasai. Er hatte Setnas düsteren Blick offenbar bemerkt.
„Ach, ich stelle mir nur vor, welch hervorragende Figur ich auf dem Schlachtfeld in einer ähnlich wundervollen Rüstung wie der Euren machen werde!“, wich Setna aus. Seine Gedanken wollte er für sich behalten.
Ein Grinsen zerknitterte noch mehr das ohnehin zerfurchte Gesicht des Generals. Je eine tiefe senkrechte Falte zog sich dabei von dessen Augen abwärts über seine Wangen. Kasai wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als von hinten eine Stimme an ihre Ohren schallte: „Daraus wird leider nichts!“
Ohne sich umzusehen, verzog Setna das Gesicht.
„Oh, Eure Majestät, verzeiht, dass wir Euch nicht haben kommen hören!“, entschuldigte sich Kasai fast unterwürfig, und Setna fand, dass das dem General nicht stand. Er wusste zwar, wie sehr der General den König verehrte, aber musste er sich deswegen derart vor ihm erniedrigen?
Er wandte sich an seinen Vater und fragte: „Wieso wird nichts daraus?“
„Weil du deine schöne Paraderüstung nicht tragen wirst!“, antwortete Katthike trocken.
„Und aus welchem Grund, verdammt noch mal?“, brauste Setna auf.
„Mäßige gefälligst deinen Ton, Bürschchen!“, fuhr der König ihn an. „Ich habe mir schließlich etwas dabei gedacht. Du wirst die einfache Rüstung eines Leibwächters tragen, damit du nicht auffällst. Es muss dich ja nicht gleich jeder erkennen!“
„Das ist doch lächerlich, warum soll man mich nicht erkennen? Ich vertrete schließlich das Königshaus! Ich bin der Hokhan von Askhar!“
Aus Katthikes kalten Augen funkelte es ihm ungehalten entgegen.
„Wenn ich mich einmischen darf, Majestät?“, bat Kasai.
Setna sah, wie der König kaum merklich nickte, und daraufhin sprach der General weiter: „Prinz Setna, wenn ich Euren Vater richtig verstehe, dann ist er lediglich um Eure Sicherheit besorgt. Der Feind könnte vom königlichen Ornat angelockt werden!“
„Aber ich will das königliche Wappen tragen!“, verlangte Setna. „Es ist mein Recht! Wenn Ihr in den Krieg reitet, mein König, dann tragt Ihr es doch schließlich auch! Lockt das den Feind etwa nicht an?“, wollte er von seinem Vater wissen.
„Doch, aber du bist die Zukunft Askhars und deshalb musst du besser geschützt sein als der alte König.“ Katthike zwinkerte ihm überraschend besänftigt zu. „Als Leibwächter kannst du immerhin das Banner des Königshauses tragen, ist das etwa nichts?“
Setna überlegte kurz und entschied sich dann, sich vorläufig damit zufriedenzugeben. Es war ja noch lange hin bis zum Beginn des Feldzuges und bis dahin würde er seinen Vater noch bearbeiten können.
Schweigend ritten sie anschließend weiter nebeneinander her, und jeder schwelgte für sich in der sommerlichen, immer bergiger werdenden Landschaft.

28. Kapitel



Mit schmerzendem Rücken stand Raen in der Erntereihe des Weizenfeldes. In einen bestimmten Rhythmus umfasste er immer wieder eine Handvoll Halme, schnitt sie mit der Sichel ab und legte sie hinter sich auf die abgeernteten Reihen, wo sie von jemand anderem aufgenommen und zu größeren Bündeln zusammengebunden wurden. Bücken, fassen, schneiden - eins, zwei, drei - in einem fort. Es war fürchterlich heiß, sein Rücken brachte ihn um, und der Schweiß rann ihm immer wieder in die Augen, obwohl er sich ein Tuch um den Kopf gebunden hatte. Durst quälte ihn. Er hielt kurz inne und richtete sich auf, streckte sein geplagtes Kreuz. Er blickte sich zu dem Jungen um, der heute den Wasserdienst hatte und winkte ihn herbei. Sogleich kam er mit einem Eimer angelaufen und gab Raen drei Kellen zu trinken.
„Danke“, sagte der und schickte den Burschen wieder weg. Er schirmte seine Augen gegen die Sonne ab und spähte zum flimmernden Feldrand, wo der Verpflegungswagen stand.
‚Hoffentlich ist bald Mittagspause’, dachte er und machte sich wieder an die Arbeit. Bücken, fassen, schneiden. Als er überlegte, ob es ihm vielleicht noch etwas mehr Erleichterung brächte, wenn er auch noch sein ärmelloses Untergewand auszog, das vollkommen durchgeschwitzt an seiner Haut klebte, erklang der ersehnte Ruf zur Pause. Erleichtert stöhnte er auf, streckte sich noch einmal und ging zum Feldrand hinüber, wo der Wagen stand. Alle Feldarbeiter versammelten sich dort, nahmen ihr Essen und ihr Wasser entgegen und setzten sich in den Schatten des angrenzenden Obsthains. Raen ließ sich unter einem Apfelbaum kraftlos ins Gras fallen und aß mit nicht allzu großem Appetit das Stück Brot mit dem Käse. Als er seinen Durst gestillt hatte, zog er nun doch das verschwitzte Untergewand aus und breitete es zum Trocknen neben sich aus. Er versuchte, das elende Jucken an seinen nackten Waden und Armen zu ignorieren, das vom Stroh kam, und streckte sich im kühlen Gras aus. Ach, wie sehr er sich nach dem abendlichen Bad sehnte. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah nach oben in den Baum. Über ihm hingen die Äpfel bereits leicht gerötet an den Ästen. Er gewahrte eine kleine Bewegung und erkannte eine Spinne, die gerade dabei war, ihr Netz zwischen zwei Ästchen zu weben. Raen schloss schnell die Augen. Es brachte Unglück den kleinen Weberinnen zuzusehen, die auf Zaizuras Geheiß arbeiteten und am Schicksal der Menschen spannen. Kleine Wolkenfetzen zogen träge am Himmel entlang, und er döste ein.
Ein Aufprall neben seinem Kopf weckte ihn wieder. Er setzte sich auf und sah sich verwirrt um. Aber da war nichts, außer mehreren Äpfeln, die um ihn herum im Gras lagen. Einer von ihnen musste wohl gerade vom Baum gefallen sein, dachte er sich und griff nach dem nächstliegenden. Er inspizierte ihn auf Würmer.
„He, fragst du mich gefälligst, ob du ihn auch essen darfst?“, sagte eine strenge Stimme zu ihm herab, als er gerade hineinbeißen wollte. Er drehte sich um. Direkt hinter ihm stand Suneka mit einem Korb im Arm. Allem Anschein nach sammelte sie zusammen mit ein paar anderen Mädchen das Fallobst ein.
Raen rieb den Apfel an seiner verschwitzten Hose ab und reichte ihn ihr mit einem kecken Grinsen.
„Den kannst du jetzt behalten“, rümpfte Suneka die Nase.
„Na gut“, antwortete Raen und biss sofort hinein. Der Apfel war noch ziemlich sauer, und er verzog unwillentlich das Gesicht, so dass Suneka lachen musste.
„Geschieht dir ganz recht!“ Sie stupste ihn mit dem Knie an. Er schnitt ihr eine Grimasse und tat so, als äße er den Apfel mit höchstem Genuss. Den Stiel schnippte er in ihre Richtung. Doch Suneka bemerkte es gar nicht mehr, weil sie schon wieder damit beschäftigt war, das Fallobst einzusammeln. Raen beobachtete sie.
Immer wieder bückte sie sich, beugte ihren schlanken, elastischen Körper und griff nach einem Apfel. Sie war barfuß und hatte sich den Rocksaum in den Gürtel gesteckt, um etwas Luft an die Beine zu bekommen. Raen sah auf ihre wohlgeformten Unterschenkel und die Kniekehlen, erahnte Übergang zu den kräftigen Oberschenkeln. Gedankenverloren kratzte er sich an der Wade und konnte seinen Blick nicht abwenden, der mittlerweile schamlos zu Sunekas rundem festem Po hinauf gewandert war. Von dort aus ließ er ihn weiterschweifen über den sich immer wieder biegenden Rücken, auf dem ihr langer, geflochtener Zopf hin und her pendelte, bis hin zu den Schultern und dem zart wirkenden Nacken ihres langen Halses. Dort verharrte er.
„Hereke, du Glückspilz!“, flüsterte er leise, und unwillkürlich breitete sich ein begehrliches Gefühl in seiner Lendengegend aus. Verdutzt über diese Reaktion verkrampfte er sich und richtete seinen Blick schnell vor sich ins Gras. Doch das half nicht, noch immer sah er Suneka vor sich. Abrupt sprang er auf und ging mit steifen Schritten zum Wagen, wo ein paar Männer damit beschäftigt waren, die Sicheln zu schärfen. Wortlos reichte er dem einen sein Erntewerkzeug, während seine Gedanken verwirrt um den Anblick der Frau kreisten, die er bis zu diesem Augenblick nie zuvor richtig beachtet hatte. Für ihn war Suneka immer wie eine Schwester gewesen, und ihre Reize hatten auf ihn keinerlei Wirkung gehabt. Nun aber erschein sie ihm plötzlich atemberaubend schön.
Suneka! Er fühlte sich, wie mit dem Hammer vor den Kopf geschlagen. Es war, als hätte er heute das erste Mal richtig hingesehen. Raen biss sich auf die Unterlippe. Aber das durfte nicht sein! Er musste sich gegen dieses ungebührliche Gefühl stemmen, denn es war nicht richtig. Suneka war nicht mehr zu haben, sie war Herekes Freundin und vielleicht sogar dessen zukünftige Frau!
‚Vergiss das also ganz schnell wieder!’ Er versuchte diesen unanständigen Gedanken zu verscheuchen, der sich wie eine Krähe auf einem frisch ausgesäten Feld niederlassen wollte. Ein Schweißtropfen lief ihm ins Auge, und er wischte ihn mit fahriger Gewalt fort.
‚Komm zu dir, Junge!’, forderte er sich selbst stumm auf. ‚Die Hitze hat dir bloß einen Streich gespielt. Weiter nichts.’ Er wagte es nicht, noch einmal in Sunekas Richtung zu sehen und beobachtete stattdessen die geübt arbeitenden Hände der Männer, wie sie die Sicheln schärften. Er war dankbar, als das Ende der Pause verkündet wurde, und er endlich wieder auf das Feld zurückkonnte - möglichst weit weg von der geisterhaften Erscheinung, die er soeben im Schatten der Obstbäume gehabt und die ihn derartig durcheinander gebracht hatte.
‚So, und jetzt konzentrierst du dich wieder auf die Arbeit, sie wird dich schon wieder in die Wirklichkeit zurückbefördern. Und heute Abend ist alles vergessen!’ Raen bückte sich nach den Halmen, umfasste sie und schnitt sie ab. Eins, zwei, drei, und schnell hatte der Rhythmus ihn wieder. Doch die Ablenkung hielt nur kurz an. Zwar war es nun nicht mehr Suneka, die in seinem Kopf umher spukte, aber dafür war Kosam aufgetaucht. Der Schmerz in seiner Brust war noch immer da, und auch das schlechte Gewissen, wenn er an sie denken musste. Er schnitt die nächste Handvoll Halme ab.
„Ach, Kosam“, flüsterte er. „Ich hoffe, du bist mir nicht allzu gram.“
Für einen Moment tauchte Kosams lächelndes Gesicht vor seinem geistigen Auge auf. Doch dann verschwamm es wie eine kurze Trübung auf einem spiegelglatten See, und Raen lief wieder der Schweiß in die Augen. Mit einer Hand wischte er ihn weg und damit auch das Bild Kosams. Und als er die Augen wieder öffnete, war an ihre Stelle plötzlich das andere Mädchen getreten:
Suneka, wie sie barfuß mit ihrem Korb voll Äpfeln dastand und ihn anlächelte.
Raen schüttelte den Kopf, die Schweißperlen flogen in alle Richtungen, aber das Bild blieb.
„Ist mit dir alles in Ordnung?“, erkundigte sich einer der Arbeiter hinter ihm in der Erntereihe.
Raen nickte und schnitt weiter. Seine Augen brannten. Wieder rieb er mit dem Handrücken, aber er sah nur noch Schlieren - und zwischen den Schlieren tanzte Sunekas Bild, als wolle es ihn necken. Sie lachte und lockte ihn mit einem Finger.
„Siehst du endlich richtig?“, fragte sie amüsiert. „Siehst du es jetzt, du Dummkopf! Und was nun?“
„Was nun?“, lallte Raen und kippte ohne Vorwarnung nach vorn ins Feld. Entkräftet rollte er sich auf den Rücken und versuchte, seine bleischweren Lider zu öffnen, doch die Sonne stach ihre gleißenden Strahlen direkt in seine Pupillen. Schützend warf er seine Arme über die Augen, aber da war sie, die lachende Suneka.
„He, was ist?“, rief der Arbeiter hinter ihm und eilte zu Raen. Der Rest der Feldarbeiter drehte sich nun auch zu ihnen um.
„Schnell, wir brauchen Wasser! Er hat einen Hitzschlag!“, rief der Mann, der sich über ihn gebeugt hatte und nur als Schatten zu erkennen war.
Der Junge mit dem Wassereimer kam mit fliegenden Füßen herbei, und der Inhalt wurde komplett über Raen ausgeschüttet. Doch der rührte sich nicht. Schnell trugen sie ihn zum Verpflegungswagen in den Schatten. Ein mit Wasser getränktes Tuch wurde ihm an die Stirn gepresst.
„He, Raen, wach auf!“ Jemand schlug ihm auf die Wangen, und seine Lider flatterten. Langsam öffneten sie sich. Verständnislos blickte Raen in die Runde besorgter Gesichter.
„Was ist los?“, stotterte er.
„Du hast einen Hitzschlag! Wahrscheinlich hast du zu wenig getrunken“, sagte der Krieger.
„Oh!“, gab Raen überrascht von sich.
„Das ist nicht so schlimm, das kann mal passieren, gerade bei solch einem Wetter. Aber du solltest jetzt besser nicht mehr weiterarbeiten. Wir bringen dich in den Chorten, dort kannst du dich erholen.“
Raen wurde auf die Füße gehoben und von zwei Männern in den Chorten hinauf geschleppt.
Mit besorgter Miene nahm Andra ihren Bruder in Empfang und ließ ihn auf kühle Laken betten. Sie fühlte seinen Puls und seine Stirn. Er war noch sehr warm. Mit Bedacht gab sie ihm kalten Kräutertee zu trinken.
Raen, dem immer noch ganz schwindelig war, hatte das Gefühl, als würde sein Kopf zwischen zwei Mühlsteinen zerquetscht werden. Jede Bewegung war schier unerträglich; das gesamte Universum schien ins Schwanken geraten zu sein.
Andra sagte kaum etwas, außer, dass er auch noch einen üblen Sonnenbrand im Nacken hätte, doch das hatte er inzwischen selbst bemerkt. Es brannte höllisch. Sie tupfte die gerötete Haut mit Öl ab und brachte ihm schließlich noch eine Medizin gegen die Kopfschmerzen.
„Bleib schön liegen. Ich komme später noch einmal und sehe nach dir“, sagte sie und ließ ihn allein, nachdem sie das Fenster mit einem Tuch abgedunkelt hatte.
Raen schloss die Augen, und als die Medizin zu wirken begann, schlief er ein.

„Und was nun, du Dummkopf!“
„Woher soll ich dass wissen?“ Seine eigene Stimme weckte Raen aus seinem nahezu bewusstlosen Schlaft auf. Er öffnete die Augen und sah sich orientierungslos um. Sofort war der hämmernde Schmerz wieder da. Raen stöhnte und griff sich an die Stirn.
Das konnte doch nicht sein, jetzt sah er Suneka immer noch vor sich.
„Willst du etwas trinken?“
Erschrocken riss er die Augen auf.
Da saß sie tatsächlich und leibhaftig an seinem Lager und lächelte ihn an: Suneka.
„Ob du etwas trinken möchtest?“ Ihr Tonfall war sanft und in keinster Weise spöttisch. Aber was suchte sie hier? Sie war doch sonst nicht so fürsorglich. Oder doch? Raen versuchte sich zu erinnern, aber sein Kopf wollte bei so viel Schmerzen nicht denken.
„Ja, bitte“, konnte er mit Mühe antworten.
Sie reichte ihm einen Becher, und er trank ein paar Schlucke.
„Wie lange sitzt du schon hier?“, fragte er, nachdem er zum Fenster gespäht und festgestellt hatte, dass es bereits dunkel draußen war.
„Schon etwas länger. Hereke war auch hier und wollte wissen, wie es dir geht. Er musste wieder zu den Pferden, lässt dir aber Grüße ausrichten. Du hast lange geschlafen.“
Bei dem besorgten Blick Sunekas, der manchmal sehr dem ihrer Mutter Shani glich, erinnerte er sich endlich, dass sie in der Vergangenheit durchaus des Öfteren bei ihm gesessen hatte und dabei auch immer sehr auf sein Wohlergehen bedacht gewesen war. Das war ihm bisher nicht aufgefallen. Raen versuchte, ihr in die Augen zu sehen, doch er blickte gleich wieder weg, als sich das ungehörige Gefühl in seinem Unterleib wieder meldete.
‚Nein!’, fluchte er innerlich und verzog das Gesicht vor Schmerzen. „Würdest du bitte meiner Schwester sagen, dass ich noch etwas gegen meine Kopfschmerzen brauche“, stöhnte er.
Suneka nickte. „Kann ich dir sonst noch etwas bringen? Etwas zu essen vielleicht?“
„Nein danke, ich habe keinen Hunger.“ Tatsächlich verkrampfte sich bei dem Gedanken an Essen sein Magen.
„Gut, dann ... gute Besserung!“ Sie stand auf und strich ihren Rock glatt.
Raen versuchte nicht hinzusehen.
Sie ging zur Tür.
„Ach, und grüß mir doch Hereke zurück!“, rief er ihr hinterher, bereute es aber sogleich, da der Schmiedehammer in seinem Kopf noch einen Zahn zulegte.
Suneka drehte sich noch einmal um. „Ja, mach’ ich“, sagte sie und lächelte dabei scheu.
Raen wandte schnell seinen Blick ab.
‚Verflucht und verdammt noch mal, Schwachkopf, reiß dich zusammen!’, beschimpfte er sich selbst und warf sich wieder zurück auf sein Kissen, die Arme über den Kopf geschlagen.

Am nächsten Tag ging es ihm bereits wieder besser, auch die Kopfschmerzen hatten über Nacht nachgelassen, und er konnte sein Lager wieder verlassen. Andra verordnete ihm aber trotzdem noch einen Tag Ruhe und ohne Sonne. Murrend fügte er sich. Er schämte sich dafür, dass er zusammengeklappt war und heute nicht weiter bei der Ernte helfen konnte. Zwar mochte er die Erntearbeit nicht besonders, denn sie war ihm zu eintönig, aber es war ihrer aller Pflicht, gemeinsam für die Versorgung des Clans beizutragen.
Schnell aß er in der Küche sein Morgenmahl und war froh, dass er dabei Suneka nicht begegnete. Dann suchte er seinen Lieblingsplatz auf der Westmauer des Chorten auf und ließ sich dort nieder. Es war ein etwas gefährlicher Platz in luftiger Höhe zwischen der Verbrennungsstätte und dem nächsten Wachtturm, den er aber schon seit seiner Kindheit benutzte, wenn er allein sein wollte. Man konnte dort seinen Rücken an die Mauer des Turmes lehnen und die Beine über den Rand baumeln lassen - und er würde hier, wie Andra es angeordnet hatte, den gesamten Vormittag im Schatten sitzen.
Raen sah hinaus über das Land. Von hier aus konnte er auch das Feld sehen, auf dem der Erntetrupp schon fleißig bei der Arbeit war. Nur noch wenige Reihen fehlten und dann würden sie auf das nächste Feld gehen. Er lehnte sich an die raue Steinwand zurück und gähnte laut. Ein angenehm lauer Wind zog ihm unter der Nase durch, und die Mauersegler schossen in hohen Tönen pfeifend um die Ecken. Ein schöner Tag, dachte er wohlig, ganz im Gegensatz zu dem gestrigen! Er hatte frei bekommen und würde es genießen.
„Hallo, Raen!“, weckte ihn eine vertraute Stimme aus seinem dösigen Zustand.
„Resa, was machst du denn hier? Ach ja, heute ist ja das allmonatliche Schulfrei. Komm und setz dich zu mir, aber sei vorsichtig - nicht so viel herum zappeln! Hier geht es tief nach unten! Und erzähl auf keinen Fall Andra oder Vater, dass ich dich hier hab sitzen lassen, hörst du!“
Der neunjährige Resa nickte und schon saß er neben seinem Bruder angelehnt an der Mauer.
„Was machst du hier?“, fragte er und sah dabei Raen mit seinen dunklen Augen an. Seine Haare standen, obwohl sie mit Sicherheit erst kürzlich von Shani ordentlich gekämmt worden waren, kreuz und quer von seinem Kopf ab. Raen musste leise lächeln.
„Ich sitze hier einfach nur so, weißt du. Ich soll mich heute ausruhen, weil es mir gestern nicht gut ging.“
„Habe ich gehört. Was hattest du denn?“ Resa klang ganz besorgt.
„Ach, die Sonne hat mir bloß das Hirn raus gebrannt! Aber dank Andra habe ich ein neues bekommen. Sie hat mir den Kopf aufgeschnitten und eines von den Hühnern vom Hof hineingetan!“, scherzte Raen und gackerte wie ein Huhn. „Ich glaube - gack -, deshalb sitze ich auch hier - gack - auf der Mauer. Gack - ich überlege gerade, wie man Eier legt - Kikerikiiiiii!“
Resa prustete los vor Lachen.
„Vorsicht, fall nicht von der Mauer - gack! Du kannst nämlich nicht fliegen!“
Raen legte einen Arm um Resa und knuffte ihn locker auf den Oberarm. Eine Weile saßen sie so da und schauten auf die Felder, auf denen eine Schnur unermüdlicher Punkte sich langsam fortbewegte.
„Du, Raen?“
„Ja?“
„Wie wird man denn ein Krieger?“
In seiner Erinnerung sah sich Raen neben seinem Vater sitzen und ihm genau dieselbe Frage stellen. Er blickte Resa an.
„Wieso?“
„Weil ich auch einer werden will. Ich will so werden wie du!“ Resa schaute ernst zu ihm auf.
Raen war verblüfft. Ihm war zwar bewusst, dass Resa ihn ein bisschen bewunderte, doch dass er sein großes Vorbild für ihn darstelle, hatte er nicht geahnt.
„Also, das entscheidet Hyaun. Du selbst kannst dafür gar nichts tun. Konnte ich auch nicht. Er hat mich einfach zum Krieger erwählt.“
„Aber du hast es dir doch auch gewünscht, und dann hat Er dich gerufen. Also muss ich es mir nur ebenfalls ganz fest wünschen und dann ...“
„Ganz so ist das nicht, Resa. Du kannst das nicht beeinflussen, glaube mir.“
„Aber das ist doch blöd!“, stieß Resa hervor. „Warum kann ich nicht machen, was ich will? Immer sagt einer: Resa, das darfst du nicht! Resa, lass das! Das geht mir auf die Nerven!“ Er sah ihn offen an, und Raen erkannte die Zwickmühle, in der er sich jetzt befand. Auf der einen Seite verstand er Resa nur zu gut, denn er selbst hatte sich als Kind ganz ähnlich gefühlt, und er war froh, dass diese Zeit vorbei war. Aber auf der anderen Seite durfte er ihn nicht ermutigen, einfach seinen Kopf durchzusetzen, so wie er es damals getan hatte. Das konnte Resa nur in Schwierigkeiten bringen. Unwillkürlich musste Raen an Kosam denken. Sie war daran gescheitert, sich ihren eigenen Weg zu erkämpfen. Und auf keinen Fall wollte er, dass es seinem kleinen Bruder auch so erging.
„Resa“, sagte er deswegen ernst, „du musst auf Hyaun vertrauen. Er wird dir den richtigen Weg zeigen.“
Resa schüttelte mit dem Kopf. „Das glaube ich nicht.“
„Du hast es doch noch nicht einmal versucht! Vorher glaube ich dir nämlich nicht - gack!“ Raen stupste Resa in die Seite, und der Jüngere grinste. Dann lehnte er sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen zurück an die Mauer, und Resa tat es ihm nach.
Nach einer Weile wurde der kleine Bruder unruhig, und Raen schielte aus den Augenwinkeln zu ihm herüber. Er spürte, dass der Jüngere noch etwas auf dem Herzen hatte, sich jedoch nicht traute, damit herauszurücken.
„Na, was ist, willst du mir noch etwas mitteilen?“, ermunterte er ihn.
„Hm, ja. Ich wollte dir sagen, es tut mir sehr leid, dass Kosam tot ist!“
Raen sah ihn verdutzt an. Dann hob er die Hand und entgegnete: „Ist schon gut.“
„Es tut mir aber wirklich leid!“, beharrte Resa.
Raen runzelte die Stirn. „Aber warum sollte es dir denn nicht leid tun?“
„Weil“, Resa druckste herum, „na, weil ich sie nicht mochte. Du hast so viel Zeit mit ihr verbracht, und da war ich sauer. Ich habe mir gewünscht, dass sie verschwindet!“
Der Ältere sah, wie sich Tränen in den Augen seines kleinen Bruders sammelten. Er wollte ihn trösten und legte wieder einen Arm um die schmalen Schultern.
„Ist schon gut. Du hast es dir zwar gewünscht, aber du bist doch nicht Schuld daran, dass es auch wirklich passiert ist.“
„Doch, das bin ich! Ich habe es mir gewünscht, und es ist wahr geworden!“, wimmerte der Jüngere unglücklich und drückte die Wange an Raens Schulter.
Und mit einem Mal beschlich den großen Bruder ein ungutes Gefühl. Er spürte, wie ihm heiß wurde, und er musste schlucken. Er zog Resa von seiner Schulter und sah ihm in die Augen.
„Hast du es dir gewünscht, oder hast du es geträumt?“, fragte er schließlich und klang dabei eindringlicher als er beabsichtigt hatte. Denn mit aller Macht wurde ihm die Tatsache bewusst, dass Resa sein Bruder war, und der Bengel deshalb sehr wohl auch jene eigentümlichen Besonderheiten aufweisen konnte. Vielleicht wurde auch er von hellsichtigen Träumen oder diesem namenlosen Gefühl heimgesucht. Raens Hände wurden feucht, während er den Blick des Neunjährigen zu ergründen versuchte. Die Tränen rollten noch immer über dessen Gesicht.
„Nein, ich habe es nicht geträumt“, versicherte Resa.
Aber Raen ließ nicht locker. Er vertiefte seinen Blick und fragte: „Sag, hast du jemals schon etwas anderes komisches geträumt und es ist wahr geworden?“
„Nein, ich habe doch gesagt, dass ich es mir nur gewünscht habe.“
„Wirklich nicht?“
„Nein!“, erwiderte Resa verteidigend und wischte sich trotzig über die Augen.
Raen war erleichtert. Das war es also nicht! Die Träume ließen seinen Bruder in Ruhe. „Gut“, sagte er, und die Spannung fiel von ihm ab. Er lächelte Resa an. „Jetzt beruhige dich mal wieder. Ich bin sicher, dass dein Wunsch nichts mit Kosams Verschwinden zu tun hatte! Das war bloß Zufall.“
„Bloß Zufall?“, wiederholte Resa zaghaft, als könne er sich der Meinung seines Bruders nicht ganz anschließen.
„Ja ... “, seufzte Raen und blickte traurig in die Ferne. „Zufall, Schicksal, was auch immer …“
Resa sah ihn von der Seite lange an. Er spürte, dass es jetzt besser war, Raen keine Fragen mehr zu stellen und schwieg daraufhin. Aber als Zeichen der Dankbarkeit, dass sein Bruder mit ihm über seine Sorgen sprach, strich er mit einem Fingern über den bestickten Saum seiner Jacke.

Die Nachmittagshitze saß Raen im dämmrig kühlen Tempel aus. Resa hatte er nach dem Mittagsmahl bei seinen Freunden abgegeben, denn sonst wäre er ihm noch den ganzen Tag hinterhergelaufen. Raen mochte seinen kleinen Bruder, doch er brauchte auch Zeit für sich allein, außerdem hatte das Gespräch mit ihm einen schlechten Nachgeschmack hinterlassen. Er dachte an Andra, die bisher jeden seiner Versuche, mit ihr über ihr „besonderes Familienerbe“, wie er es nannte, zu sprechen, abgeblockt hatte. Sie hatte es scheinbar gut im Griff, nichts an ihr verriet, dass sie es genauso in sich hatte wie er.
Raen atmete tief den beruhigenden Geruch des Melams ein und drehte dabei die Pfeilspitze von Soghul zwischen seinen Fingern. Sie war auch so etwas, über das er sich ständig den Kopf zerbrach. Wofür war sie gut? Was bedeutete die Prophezeiung? Die Probleme wollten einfach nicht weniger werden. Und dann war da noch ... Suneka.
Sie wollte ihm einfach nicht aus dem Sinn gehen. Er seufzte wieder. Mussten andere Leute auch so viel nachdenken? Diese verworrene Masse an Gedanken in seinem Kopf überforderte ihn.
Er sah auf die Pfeilspitze. Auf ihrer polierten Oberfläche fing sich das samtene Licht der Öllampen. Was wurde ihm da nur aufgebürdet? Das Aun eines Setna in seinen Händen! Raen stieß zischend Luft aus. Oh, Hyaun!
Es juckte ihm an der Schläfe und ohne darüber nachzudenken, benutzte er die Pfeilspitze, um sich dort zu kratzen. Dabei berührte sie sein Aun. Ein grelles Leuchten durchschoss seinen Kopf, und er ließ sie erschrocken fallen. Mit einem leisen metallischen Klirren landete sie auf den Holzbohlen des Fußbodens.
Mit gebührendem Abstand betrachtete Raen sie argwöhnisch. Was war das gewesen?
Er berührte sie vorsichtig. Nichts. Er hob sie auf und betrachtete sie. Dann führte er sie langsam an sein Aun. Als sie wieder mit dem Stirnreif in Kontakt kam, durchzuckte es ihn, aber er widerstand dem Reflex, sie wieder zurückzuziehen. Er presste die Augen zu, und plötzlich wurde das hintergründige Summen des Prinzen von einer machtvoll strömenden Bilderflut überrollt.
Er sah einen Kerkerraum und einen weißhäutigen Mann in einem ebensolch weißen Priestergewand. Raen erkannte ihn, es war Sorgha, der Novize des Orakels - nur viel jünger! Aber noch etwas war seltsam. Die Perspektive, aus der er den Mann betrachtete, war, als läge er am Boden. Raen sah zu dem Novizen hoch, der an der geöffneten Zellentür stand und ein Messer in der Hand hielt, von dem Blut tropfte. Neben seinen Füßen lag regungslos ein Soldat in roter Kleidung. Auch das kam Raen bekannt vor, er musste in Askhar sein. Sorgha kam auf ihn zu, kniete sich neben ihn und sprach ihn an.
„Vergib mir, Setna von Hy, dass ich nicht mehr für dich tun kann!“
Dann zog die Flut der Bilder Raen mit sich, und er erfuhr auf diese seltsame Art, wie Prinz Raeson im fernen Askhar sein Leben verloren hatte.
Am Ende war nur stumme Schwärze, und Raen kam wieder in die Wirklichkeit zurück. Er hatte am ganzen Körper eine Gänsehaut, und zog fröstelnd die Schultern hoch. Ungläubig sah er auf die Pfeilspitze. Er hielt sie noch einmal an seinen Stirnreif, aber es waren erneut dieselben Bilder, die er sah, und er nahm sie wieder herunter.
„Es ist also das Aun von Al Setna Raeson! Nur was soll ausgerechnet ich damit tun?“ Fragend sah er in das goldene Gesicht Hyauns über ihm, fixierte es fast hypnotisierend.
Aber Hyaun rührte sich nicht.
Enttäuscht ließ Raen daraufhin die Schultern sinken und steckte die Pfeilspitze zurück in seinen Zhangha-Beutel.
‚Dann werde ich wohl mal wieder auf die Antwort warten müssen!’, dachte er, wischte sich die feuchten Handflächen an der Hose ab und erhob sich. Als er in den Tempelgarten hinaustrat, schlug ihm schwülwarme Luft entgegen. Raen blickte in den blauen Himmel hinauf. Hohe, weiße Wolkentürme thronten im Westen und verschluckten die Sonne. Ob es wohl ein Gewitter geben würde?
Müde ließ er sich auf die hölzerne Veranda nieder und beobachtete einige der Priester dabei, wie sie die Kräuterbeete pflegten. Unter ihnen war auch Loenka, der grüßend die Hand hob. Raen winkte zurück.
Dass die Pfeilspitze die Stunde von Raesons Tod in sich aufgenommen hatte, war bestimmt auch ein Teil der Prophezeiung, dachte er, und er würde das genauso geheim halten müssen, wie den Brief von Soghul. Unbewusst schabten seine Füße Muster in den feinen Kies vor der Veranda. Ihm kam in den Sinn, was Loenka einmal im Vertrauen zu ihm gesagt hatte: Jeder trug Geheimnisse mit sich herum, obwohl er das eigentlich nicht sollte, denn Geheimnisse schufen stumme Barrieren zwischen den Menschen. Der Priester hatte leider Recht. Raen spürte, wie sehr ihn seine eigenen Geheimnisse belasteten und ihn sich in manchen Momenten einsam fühlen ließen, obwohl er von Menschen umgeben war. Nichts war schlimmer, als seine Sorgen nicht teilen zu können. Seine Brust wurde ihm eng und er betete still zu Hyaun, wenigsten Er möge ihm seine Geheimnisse verzeihen.

In den nächsten Wochen, die ganz von anstrengender Feldarbeit beherrscht waren, und nur kurze, vorüberziehende Regenschauer kleine Pause brachten, versuchte Raen, zumindest einem Problem aus dem Wege zu gehen: Suneka.
Es war eine ehrenhafte Absicht, für die ihn sogar der Clanrat gelobt hätte, aber da Suneka in der Küche arbeitete, und Raen nun einmal dort sein Essen erhielt, blieb sein moralisch einwandfreies Vorhaben bloß ein frommer Wunsch. Obendrein schien es Zaizura noch zu gefallen, seine Bemühungen zu untergraben und Suneka vermehrt durch „Zufälle“ in seine Nähe zu führen. Immer häufiger setzte sich seine Ziehschwester beim Essen zu ihm, um sich mit ihm zu unterhalten.
Raen verfluchte jenen heißen Tag unter den Apfelbäumen und wagte es kaum, Suneka anzublicken. Ihre sprühende Weiblichkeit jagte ihm Angst ein, Angst vor seinen eigenen Gefühlen. Am liebsten wäre er schreiend davongerannt!
„Warum weichst du mir eigentlich andauernd aus?“, fragte sie ihn eines Abends.
Sehnsüchtig schaute Raen zu der offenen Tür. Wenn er doch jetzt nur fliehen könnte! Verlegen um eine Antwort schabte er mit seinem Löffel in der leeren Essschale herum.
„He, Raen Sohn von Roman, ich rede mit dir!“
„Entschuldige, was?“ Er tat, als hätte er sie nicht gehört.
Aber sie durchschaute ihn. Natürlich. Denn dafür kannten sie sich viel zu gut.
„Warum verhältst du dich mir gegenüber so komisch?“
„Ich verhalte mich nicht komisch“, gab er lahm zurück.
„Dann sieh mich doch an, wenn ich mit dir spreche!“
Ihre forsche Art brachte ihn in Bedrängnis, und er fühlte wie ihm der Schweiß den Rücken herunter rann.
‚Steh auf und geh einfach! Noch kannst du dich retten. Aber sieh ihr nicht in die Augen!‘, rief sein um Vernunft bemühter Geist ihm zu.
Doch Raen hob seinen Kopf und sah ihr in die Augen.
Es war wie ein Schlag ins Gesicht!
Ihr sanfter Blick, das dichte braune Haar und das herausfordernde Zucken ihrer Mundwinkel vereinten sich mit den aufreizenden Bewegungen ihres sehr weiblichen Körpers zu einer unaussprechlichen Qual, die Raen für einen Moment das Atmen vergessen ließen. Wie hatte er all die Jahre nur so blind sein können?
Unbewusst spannte er die Fäuste. Das heiße Gefühl in seinem Bauch sackte gefährlich erregend in die Leistengegend ab.
‚Wenn du nicht sofort damit aufhörst, dann wird sie es merken. Du schamloser Idiot! Weißt du eigentlich, was du da tust? Du begaffst die zukünftigen Frau deines besten Freundes!‘
Mit einem gewaltsamen Ruck wandte Raen seinen Blick ab. Langsam atmete er aus. Hoffentlich hatte sie nicht bemerkt, wie nah er daran gewesen war, die Beherrschung zu verlieren. Er setzte ein undurchdringliches Gesicht auf und blickte gerade so viel an ihr vorbei, wie es höflich war.
„Ich muss jetzt gehen. Im Tempel warten sie schon auf mich.“
„Jetzt? Mitten in der Nacht?“ Suneka klang skeptisch - zu Recht.
„Nachtwache!“, log er und erhob sich schnell, bevor sie noch etwas erwidern konnte.
„Wir sehen uns.“ Mit diesen Worten verließ er rasch den Essraum, und konnte sich nur mit aller größter Mühe davon abhalten, nicht zu rennen.
Statt in den Tempel begab er sich in den Schlafraum. Nur notdürftig entkleidete er sich und warf sich auf sein Lager.
Alles war völlig durcheinandergeraten! Und durch seine dumme Verknalltheit setzte er die Freundschaft zu Hereke aufs Spiel! Aber so sehr sich Raen auch um einen kühlen Kopf bemühte, seine aufgewühlten Gefühle nahmen darauf keine Rücksicht. Unbarmherzig tanzten sie ihren liebestollen Reigen und verspotteten seine Moral. Sie brachten ihn dazu, in der Nacht die schamlosesten Träume von Suneka zu haben, und er wusste dass er diesen schwindelerregenden, lusterfüllten Sog gierig genoss. Konnte er in seinen Träumen doch das ausleben, was er in der Wirklichkeit niemals wagen würde!
Erst am Morgen kam der Verrat an seinem besten Freund über ihm wie ein kalter Guss aus einem Wassereimer.
‚Warum, um alles in der Welt, musste ich mich ausgerechnet in Suneka vergucken? Es gibt doch auch noch andere Mädchen in diesem Clan! Warum gerade sie? Ich will das doch gar nicht!’, haderte Raen unglücklich mit seinem außer Kontrolle geratenen Verlangen und versuchte seine Gedanken mit Gewalt in eine andere Richtung zu drängen, um einen weiteren Tag der endlosen Qualen zu überstehen.

Das Erntefest stand bevor, und ringsherum wurde fleißig der Chorten auf Vordermann gebracht. Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte Raen sich sehnsüchtig, er könnte sich wie alle anderen einfach nur betrinken und seine Probleme damit für eine gewisse Zeit vergessen. Zumindest hatte Hereke immer behauptet, dass das mit Bier ganz gut ging. Er hatte diese Art von „Medizin“ ausprobiert, als er selbst noch so hoffnungslos Suneka hofiert hatte!
„Ich werde es ignorieren und beherrschen müssen, es gibt keinen anderen Ausweg!“, sprach Raen leise mit seiner ins Wanken geratenen Vernunft, als er den Wohnturm verließ. Die Sonne schien warm in den Hof.
Aber ich will das nicht!, meldete sich sein Herz und wehrte sich damit heftig gegen die drohende Erstickung der Gefühle, die es so leidenschaftlich hervorbrachte. Ich will sie lieben!
„Ich werde dich schon dazu zwingen, das nicht zu tun, du unseliger Unruhestifter!“, brachte Raen sein Herz rüde zum Schweigen und schlug sich als Bestätigung so hart gegen die Brust, dass es ein hohles Geräusch gab. Danach rückte er entschlossen das Schwert in seinem Gürtel zurecht und lenkte seine Schritte stapfend aus dem Tor hinaus und hinunter zum Übungsgelände. Dort ruhte der Unterricht wegen der Vorbereitungen für das Fest, und nur einige wenige Krieger waren damit beschäftig, auf der Veranda der Übungshalle ihre Waffen zu pflegen, darunter auch Kaera.
„He, guten Morgen Raen, was hast du denn vor?“, rief dieser ihm von seiner Arbeit aus zu.
Raen, der einfach nur den Ort aufsuchen wollte, der am weitesten weg von Suneka war, antwortete ihm: „Ich gehe in den Kartenraum.“
Kaera nickte und ließ den Kameraden ziehen. Raen ging an der Halle vorbei und betrat das Nebengebäude. Der Kartenraum war glücklicherweise leer, und eine angenehm einsame Stille herrschte zwischen den dunklen, hohen Regalen, in denen fein säuberlich die Karten in länglichen Holzschatullen gestapelt waren. Gedämpftes Sonnenlicht drang durch das mit Pergament ausgespannte Fenster. In den Raum durfte nie direktes Sonnenlicht fallen, da die Karten - zumeist sehr alte Stücke - sehr empfindlich waren und sonst einfach zerfallen würden. Es waren andere Karten als die, die sie in der Schule gehabt hatten, und sie waren nur für bestimmte Augen gedacht.
Raen zog die von ihm in vergangener Zeit wohl am häufigsten verwendete Karte aus dem Regal. Er entrollte das große Pergament, das in zwei lange Hartholzstangen gefasst war und hängte es an die Wand. Dann entzündete er die großen Öllampen, die links und rechts von der Karte hingen, setzte sich hernach auf einen Hocker und richtete seine Aufmerksamkeit ganz auf die verschiedenfarbigen Linien und Schriftzüge.
Die schwarzen Linien zeigten sehr detailliert das Junghal-Gebirge und die roten den Grenzverlauf. Gestricheltes Rot bedeutete eine natürliche Grenzbarriere, einen steilen Abhang oder einen Bergkamm, und gepunktetes Rot hieß, dass dort statt der Mauer noch Palisaden standen. Eine zinnenartige Linie kennzeichnete die Bereiche, in denen es Mauern gab, und ein Kästchen mit einem Dach darüber stand für einen Turm. Das Zeichen für ein Tor, eine offene Stelle, war auf dieser Karte vergebens zu suchen. Raen folgte der roten Linie mehrmals und prägte sie sich ein, besonders den Bereich des Doban-Passes. Bald würde er auch an die Grenze gehen müssen. Das war Pflicht für einen jeden jungen Krieger, egal welchem Clan er angehörte. Und Kensa hatte ihm eröffnet, dass es nächstes Jahr für ihn so weit sein würde. Nicht dass er sich sonderlich darüber freute, denn ihm wurde mulmig bei der Vorstellung, so weit von zu Hause fortzumüssen, aber wenn das mit Suneka so weiterging, dann würde er wohl doch noch einen guten Nutzen darin finden, endlich aus ihrer Nähe wegzukommen! Er wischte diesen unerfreulichen Gedanken beiseite, indem er die nächste Karte aus dem Regal holte. Es war eine alte Darstellung der Grenzen Hys, noch von vor dem Großen Krieg, und sie zeigte die verlorenen Provinzen Dane und Tepe. Das Pergament war deutlich vergilbter und die Farben längst nicht mehr so kräftig. Raen hängte sie über die andere Karte. Bei dem Anblick der Berge, Täler, Flüsse und der langen Küstenlinie konnte er es immer noch nicht fassen, dass sie das alles für immer verloren hatten. Es war so viel Land, die Heimat von so vielen Menschen! Das namenlose Gefühl grummelte tief in seinem Bauch. Die Askharer hatten sich einfach genommen, was ihnen nicht gehörte, und es, ohne dabei Skrupel zu empfinden, zu ihrem Hoheitsgebiet erklärt!
„Warum haben wir das so hingenommen?“, fragte Raen sich grimmig. Er kannte zwar das „Nichtangriffsprinzip“, aber er fand es idiotisch. Warum durfte man sich nicht zurückholen, was einem weggenommen worden war? Das war doch schließlich kein Angriff, sondern bloß eine Zurückeroberung. Er erinnerte sich an die heftigen Diskussionen, die er sich mit Kensa und Reni über dieses Thema geliefert hatte, doch er hatte sich an ihrer sturen Ansschauung, dass man sich Zaizuras Willen beugen müsse, die Zähne ausgebissen. Auf die Karte blickend schüttelte Raen den Kopf.
Wenn er an die Grenze käme, dann würde ihn das dämliche Prinzip nicht daran hindern, sie zu überqueren und sein eigenes Land zu betreten! Zaizuras Wille hin oder her, er würde den anderen schon zeigen, dass sie dumm und feige waren! Er stand auf und rollte beide Karten zusammen. Als er sie wieder im Regal verstaut hatte, fiel sein Blick auf die Titel der Schatullen im Nebenregal. Und obwohl er auch diese Karten bereits kannte, konnte er nicht widerstehen. Er zog zwei davon heraus, die ihn am meisten faszinierten.
Sie waren kleiner als die Landkarten, und man konnte sie nebeneinander an die Wand hängen, was Raen auch tat.
Das eine war der „Schnittmann“ und das andere dessen „Körperinneres“.
Andra hatte ihm einmal erzählt, dass auch sie während ihrer Ausbildung diese Karten zum Lernen benutzt hätte. Immerhin hatte sie sich auf Wunden spezialisiert, und darunter fielen schließlich auch sämtliche Arten von Schnittwunden, die durch Schwerter und Messer verursacht werden konnten. Sie hatte die Karte grotesk gefunden, aber gleichzeitig auch eingeräumt, dass sie notwendig sei.
Der „Schnittmann“ zeigte einem Schwertschüler und offenbar auch einem Medizi alle theoretischen Schnitt- und Stoßrichtungen auf einem menschlichen Körper, die mehr oder weniger tödlich waren oder den Gegner zumindest außer Gefecht setzten.
Andra hatte sich bei dem Gedanken daran geschüttelt, dass sie vielleicht einmal Kriegswunden würde versorgen müssen, aber sie hatte ihrem Bruder gegenüber gelobt, tapfer zu sein. Raen hatte hingegen nicht zugegeben, dass auch er gewisses Unbehagen verspürte, das Schwert einmal als das einzusetzen, was es eigentlich war, nämlich ein Instrument zum Töten von Menschen.
Er blickte auf den Schnittmann, dessen Körper von unzähligen Linien gekreuzt wurde, und auf die andere Karte, welche die verletzten Organe bei den jeweiligen Schnitten zeigte. Nummern standen an den Linien. Es waren fünfundvierzig vorne und neununddreißig hinten, also über achtzig Arten, einen Menschen zu versehren. Raen ging jede einzelne Linie mit der dazugehörigen Bewegung im Kopf durch. Und zwei Usui-Stunden später rollte er auch diese Karten zusammen und schritt zur Tat.
Die Halle war leer, und er hatte allen Platz für sich - ganz wie er gehofft hatte. Für die Schwertschüler gab ein lebensechtes Pendant zum Schnittmann in Form einer Jutepuppe, und Raen postierte sie mitten in der Halle. Er nahm eines der Holzschwerter von der Wandhalterung und legte sein Skeid dafür darauf ab. Dann steckte er das Holzschwert in seinen Gürtel und trat vor die Puppe.
„Also dann, eins bis vierundachtzig!“, befahl er sich selbst. Nach einem kurzen Augenblick der Konzentration zog er blitzartig das Schwert, wie er es gelernt hatte, und es landete nach einer eleganten Drehung auf dem ersten Trefferpunkt.
Laut zählte er die Nummern mit, und Kensa wäre stolz auf ihn gewesen, wenn er gesehen hätte, wie exakt sein Schüler die Linien traf. Nach dem letzten Schnitt - ein fataler Streich diagonal über den Rücken - legte Raen eine kurze Pause ein. Sein Atem ging schnell aber kontrolliert. Den Zustand des „Atemgetragen“ erreichte er inzwischen spielend und er schätzte seine Kraft noch auf zehn weitere solcher Runden ein.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und rief sich eine dritte Karte zu dem Schnittmann ins Gedächtnis, eine die die Medizi nicht kannten. Aber sie hätten auch nicht viel damit anfangen können, denn sie führte die gebräuchlichsten Rüstungsteile auf, wie sie die Askharer, Graçener oder auch Tschabanen trugen. Wichtiger als die tatsächliche Form des Eisenpanzers waren jedoch die Übergänge, Nahtstellen und ungeschützten Lücken zwischen den Teilen: Die Schwachstellen. Und diese Karte zeigte wesentlich weniger Trefferflächen als die des „nackten“ Schnittmannes.
„Eins bis achtzehn!“, rief Raen und wirbelte behände um die Puppe herum. Das Holzschwert sauste durch die Luft und landete mit dumpfen Aufschlägen auf dem mit alten Jutesäcken ausgestopften Körper.
Er übte ungestört den ganzen Tag.

Das Erntefestest begann wie fast alle Feste mit einer Andacht im Tempel. Beim anschließenden Festschmaus auf dem in warmes Herbstlicht getauchten Hof saß Raen bei Hereke. Suneka half noch mit beim Austeilen der vielen Köstlichkeiten, und so waren die beiden jungen Männer unter sich. Hereke war in bester Laune und zu Scherzen aufgelegt. Er lenkte Raens Aufmerksamkeit auf jedes vorbeikommende Mädchen, das seines Wissens nach noch nicht vergeben war, und bemühte sich, sie seinem Freund schmackhaft zu machen. Seiner Meinung nach war es höchste Zeit, dass Raen sich neu umsah, denn auch wenn der Verlust von Kosam ihn in seinem Gewissen schwer getroffen hatte, durfte er sich nicht davon entmutigen lassen. Sonst blieb er womöglich noch für immer und ewig eine alte Jungfer!
„He, sieh doch mal!“, wieder stieß er Raen in die Rippen, auf seinem Gesicht saß ein frivoles Grinsen. „Da drüben ist Mamate. Na, ist sie nicht hübsch anzusehen mit den Herbstblumen im Haar!“
„Ja, ganz nett“, entgegnete Raen. Seinem Freund zu Liebe war er bemüht, auf dessen gutgemeinte Ermunterungen einzugehen.
„Nett?“ Hereke zog übertrieben die Brauen hoch. „Bist du noch ganz bei Trost? Sie sieht umwerfend aus! Na los, sprich sie doch mal an.“
„Ich weiß nicht.“
„Ach, jetzt muss doch aber mal Schluss sein mit dem Trübsalblasen! Das Leben geht weiter, Raen, dein Leben geht weiter, und das zumindest bist du Kosam schuldig!“
Raen drehte jäh seinen Kopf und sah Hereke durchdringend an.
Der schwieg vorsichtshalber, da er sich nicht anscheinend sicher war, ob er seinen Freund damit verletzt hatte.
‚Wenn du wüsstest, wie es im mir aussieht!’, dachte Raen bitter und schaute schnell auf seine Hände, die verloren an der Matte zupften, auf der sie saßen.
Hereke deutete Raens sichtbare Seelenqual natürlich falsch, er legte ihm eine Hand auf die Schulter und entschuldigte sich.
Raen blickte kurz in den Himmel hinauf und klopfte mit der Hand auf die Matte.
„Nein, Hereke, mir tut es leid! Du hast recht“, sagte er dann und sah den Reitmeister an. „Das Leben geht weiter.“ - ‚Schneller und unerwarteter als es einem lieb ist!’, ergänzte er in Gedanken. „Aber bitte, lass uns nicht mehr darüber reden, ja?“
„Ist gut“, sagte Hereke kleinlaut, und nun war er es, der verlegen an der Matte herumfummelte.
Raen atmete durch und begann sich wieder etwas zu entspannen. Er nahm die Schale mit dem Essen und aß einen Löffel von dem deftig geschmorten Herbstgemüse mit untergemischten Waldpilzen. Es schmeckte hervorragend. Genüsslich zerkaute er ein saftiges Stück Pilz. In den Tagen nach der Feldernte hatte er selbst die Aufsicht über die älteren Kinder gehabt, die zum Sammeln von Beeren und Pilzen in den Wald geschickt wurden. Für sie war es eine schöne Abwechslung, und Raen erinnerte sich, sser selbst auch immer gerne dabei gewesen war. Mit prall gefüllten Körben waren sie stets in den Chorten zurückmarschiert und hatten in der Küche stolz ihren Erfolg präsentiert. Am liebsten mochte er die goldgelben Pilze, die sie Priestermäntelchen nannten und die gerne direkt am Wegesrand wuchsen und schon von weitem fröhlich leuchteten. Seine Laune besserte sich.
„Raen?“, fragte Hereke, der heute offensichtlich sehr gesprächig war.
„Hm?“ Raen blinzelte kauend in die Sonne.
„Ich weiß, dass du gerade nichts mehr über Frauen hören willst, aber ich habe da doch noch eine Sache, die dich interessieren könnte“, sagte der Reitmeister vorsichtig, ein herauf drängendes Lächeln mit aller Mühe verbergend.
„So? Was denn?“, murmelte Raen, immer noch mit vollem Mund.
„Ich will Suneka heute Abend beim Tanz fragen, ob sie mich heiraten will!“
Raen hätte sich beinahe verschluckt, als er das hörte. Er würgte den Bissen schnell herunter und unterdrückte ein Husten.
„Was ist? Was hältst du davon?“, wollte Hereke aufgeregt wissen. Er hatte Raens Reaktion offenbar gar nicht bemerkt.
Dem Jüngeren schnürte es derweil die Kehle zu, seine Gedanken rasten.
„Äh, gut!“, war alles, was er herausbrachte.
„Wirklich? Meinst du, sie sagt Ja?“, plapperte Hereke ahnungslos weiter.
Raen hielt sich eine Hand vor den Mund und die andere gleichzeitig auf den Magen.
„Ich denke schon“, flüsterte er mit träger Zunge. „Hereke, entschuldige mich bitte, aber mir ist kotz übel!“ Er stand auf und blickte sich suchend um, eine Hand immer noch auf den Bauch gepresst.
Hereke sah ihn verwirrt an. „Ist dir das Essen nicht bekommen? Also, ich finde es gut. Raen, was ist?“
Doch da war Raen schon im Laufschritt unterwegs und bahnte sich einen Weg durch die schwatzende Menge.
„Was hat er denn?“, fragte Suneka, die sich zu Hereke setzte.
„Ich weiß es auch nicht. Er sagt, ihm sei übel. Ganz bleich ist er plötzlich geworden.“
„Vom Essen?“ Suneka zeigte auf Raens halbleer gegessene Schüssel, doch Hereke zuckte lediglich mit den Schultern.

Raen rannte die Treppe auf die Mauer hinauf. Er kümmerte sich nicht darum, dass ihm einige Leute verwundert nachschauten. Als er die Brustwehr erreichte, warf er seinen Oberkörper auf die Breite der Mauer und trommelte unentwegt mit den Fäusten darauf herum. Ein verzweifeltes Wimmern drang aus seiner Kehle: „Nein, nein, nein, nein! Ich halte das nicht mehr aus!“ Er legte seine Stirn unsanft auf den rauen Stein.
„Ich bin krank im Kopf! Ich habe der Verstand verloren!“, sprach er gegen die Mauer. „Ich bin genauso verrückt, wie die beiden Männer, die sie aus Hy verbannt haben!“ Wieder drang ein klagender Laut tief aus seinem Innern.
„Was ist denn los?“
Abrupt drehte Raen sich um und sah sich seiner Schwester gegenüber. Das namenlose Gefühl pochte los. Warum konnte sie ihn nicht einmal in Ruhe lassen?
Andra schien das gefährliche Glitzern in seinen Augen zu bemerken, denn sie blieb in sicherem Abstand stehen.
„Hast du mich etwa belauscht?“, giftete er sie an.
„Nein, natürlich nicht“, antwortete sie kühl.
„Was suchst du dann hier?“
„Ich habe gesehen, wie du hier heraufgerannt bist wie ein Irrer. Ich wollte ...“
„Du musst mir nicht ständig hinterherlaufen und besorgt um mich sein, du bist nicht meine Mutter! Lass mich einfach in Ruhe!“, schnitt Raen ihr das Wort ab und hob warnend die Hände vor sich.
„Manchmal möchte ich wissen, was in dich gefahren ist, wenn du dich so benimmst!“ Ihre Stimme klang immer noch beherrscht, aber er hatte sie verletzt, das sah er.
„Tu doch bloß nicht so, als ob du das nicht wüsstest! Aber das Fräulein wollte ja mit mir nie darüber reden!“, fauchte er sie an.
„Es gibt ja auch nichts zu reden.“ Immer noch diese scheinbare Gefühlskälte.
Raen schlug mit der Faust hart auf den Stein der Mauer. ‚Ich werde noch verrückt!’, dachte er und presste die Lippen aufeinander. ‚Ich muss hier weg!’
Ohne noch weiter etwas zu entgegnen, ging er mit steifen Beinen an seiner Schwester vorbei und lief die Stufen hinunter. Erneut hatte sie den Ausbruch seines namenlosen Gefühls heraufbeschworen, aber das war ihm jetzt egal. So lange, wie sie nicht mit ihm darüber reden wollte, würde er es auch nicht vor ihr zurückhalten.
Anstatt zurück zum Essen zu gehen, schlich er sich aus dem Chorten und wanderte hinunter zu Henendras Hof. Im Moment wollte er keinen Menschen um sich haben. Die einzige, die ihm jetzt noch Trost spenden konnte und nicht andauernd irgendwelche wohlmeinenden Ratschläge von sich gab, war Jakori. Er begab sich zur Weide, wo die Pferde ruhig im goldenen Sonnenschein standen und vor sich hin dösten. Um sie herum herrschte ein emsiges Schwärmen kleiner heller Punkte, und nur durch zischende Schweifschläge wurden die Fliegen am dauerhaften Niederlassen gehindert. Ab und zu schnaubte eines der Tiere oder stampfte mit einem Huf auf. Es war ein Anblick, der Raen etwas Ruhe schenkte. Er setzte sich an den Rand der Weide und wartete, ob Jakori zu ihm kommen würde. Sie stand neben dem Rotfuchs von Reni und zupfte gelangweilt hier und da ein paar Grashalme aus. Dann sah sie in seine Richtung, die Ohren gespitzt. Sie schnaubte freudig und begann auf ihn zu zu trotten. Ihr tiefschwarzes Fell glänzte in der Sonne. Raen hielt ihr eine Handvoll Kleeblätter hin, die er auf dem Weg gepflückt hatte, und Jakori fraß sie höflich, obwohl sie satt war. Danach beschnupperte die Stute Raens Hand, die er weiterhin, seinen Arm auf ein Knie gestützt, von sich ausgestreckt hielt. Sie leckte den salzigen Schweiß von seiner Handfläche. Das Pferd schien seine Niedergeschlagenheit zu spüren, denn es schnaubte erneut und stupste ihn an, zupfte sachte an seinem Ärmel, um ihn aufzumuntern.
„Ach, Jakori!“, stöhnte er und erhob sich. Zuerst legte er nur seine Arme um ihren Hals und schmuste mit ihr, doch dann schwang er sich auf ihren Rücken, legte sich zurück und ließ seinen Kopf auf ihrer Kruppe ruhen. Der Duft ihres Fells stieg ihm besänftigend in die Nase. Raen schloss die Augen und träumte von einem Leben, das so einfach war, wie das der Pferde hier auf der Weide.

Bis zum Abend blieb Raen verschwunden. Und während oben im Chorten der Feuerschein die Nacht erhellte, die Musik zum Tanz aufgespielt wurde und hin und wieder lautvergnügte Rufe über die Felder schallten, lag Raen immer noch auf der Weide und lauschte den Grillen, die für dieses Jahr ihr letztes Lied angestimmt hatten. Denn bald würden die Nächte kalt werden, und der Wind die Blätter von den Bäumen blasen. Und dann käme der Winter mit seinem Schnee und seinem Eis, und dann würde Kosam seit einem Jahr tot sein. Die Zeit verging so schnell, dass es fast beängstigend war. Aber Hereke hatte recht, das Leben ging weiter, und man durfte nicht verzagen. Er atmete tief die würzige Luft der Nacht ein und sah zum blassen Vollmond hin, der im Osten gerade über der schwarzen Silhouette der Hügel aufging.
Sein Herz hatte eine Wahl getroffen, ob er damit einverstanden war, oder nicht, das musste er akzeptieren. Warum es allerdings gerade diese Person auserkoren hatte, blieb ihm ein Rätsel. Suneka und Kosam hatten nichts miteinander gemein, sie waren sich ungefähr so ähnlich wie eine Ginsterkatze und eine Singdrossel. Wie konnte man sich nur zu zwei solch unterschiedlichen Menschen hingezogen fühlen? Raen schnalzte mit der Zunge. In Einem war er sich jedoch ganz sicher, egal, was auch passieren mochte, er würde nicht zulassen, dass etwas die Freundschaft zu Hereke gefährdete! Das hatte er sich in den vergangenen einsamen Stunden geschworen. Nichts konnte wichtiger sein als der beste Freund! Das widersinnige Verlangen seines verliebten Herzens würde er schon noch zum Ersticken bringen, dafür brauchte es nur eine gewisse Zeit.
„Ich bekomme das schon hin!“, flüsterte er zuversichtlich, und Jakori schnaubte leise aus den nächtlichen Schatten der Koppel.

29. Kapitel



Janita bog lustvoll ihren schlanken Körper unter seinen Händen, und ihre blinden Augen starrten verzückt in eine Dimension, die nur sie wahrnehmen konnte. Kanaimas Lippen wanderten hinunter zu ihrem Schoß. Sie durchwühlte sein Haar und stöhnte auf, als seine Zungenspitze auf die Stelle traf, die noch nie ein Mann bei ihr berührt hatte, und schon gar nicht mit der Zunge. Ein Schwall ekstatischer Wonne durchwogte ihren Unterleib, und sie krallte ihre Nägel in ihre eigenen Oberschenkel.
Kanaima bemerkte, dass sie sich auf dem Gipfel ihres Verlangens befand und löste sich langsam zu ihr hinauf küssend von ihrem glühenden Schoß. Er legte sich sanft auf sie, sein Gewicht mit den Armen abstützend, denn sie war zierlicher, als er sie unter ihrer Kleidung vermutet hätte. Ihre Hände wanderten erregt auf seinem Rücken hin und her und dann zu seinem straffen Gesäß. Jetzt seufzte auch er lustvoll auf. Kanaima senkte seine Lippen auf die ihren, die sogleich wieder hungrig zu saugen begannen. Als seine Zunge sich einen Weg in ihren Mund bahnte, drang auch sein Glied langsam in sie ein. Die Münder aufeinander gepresst, wurde ihr Aufstöhnen zu dem seinen, und er begann sich tief in ihr zu bewegen. Es war eine kurze und heftige Vereinigung, die schließlich durch ein Aufbäumen seinerseits und einen langgezogenen, fast klagenden Laut Janitas ihr Ende fand. Danach lagen sie erschöpft auf dem zerwühlten Haufen aus Laken. Janita tastete nach Kanaimas Gesicht und strich sanft darüber, spielte mit den Haaren seines Bartes.
„Ich sollte ihn wohl mal wieder stutzen lassen“, entgegnete er daraufhin. Er lag auf dem Rücken und fühlte sich wohl und lebendig.
Janita kicherte mädchenhaft. Aber sie war ja auch noch nicht lange aus diesem Alter heraus. Wenn man es genau nahm, war sie sogar gerade eben erst zur Frau geworden. Janita war zwanzig und sie hatte Kanaima erzählt, dass sie vorher noch nie einen Mann im Bett gehabt hatte.
‚Dafür ist ihr Instinkt aber verdammt gut ausgereift’, dachte er wollüstig an die erste Kostprobe, die er soeben erhalten hatte. Aber für ein weiteres Mal würde er noch einen Moment brauchen.
Das Licht der einzelnen Öllampe in dem Zimmer, das Kanaima als Schlafzimmer diente, flackerte. Draußen war es dunkel, aber man konnte meinen, das leise Schleichen des vom Meer heraufziehenden Herbstnebels spüren zu können. Die Feuchtigkeit drang durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden. Janita fröstelte und zog ein Laken über sich. Kanaima drehte sich zu ihr und legte einen Arm um sie. Er küsste ihre Schulter. Er selbst hätte nie gedacht, dass er so sanft hätte vorgehen können. Bisher hatte er sich immer genommen, wonach ihm verlangte und dabei herzlich wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse einer Frau gelegt. Doch bei Janita war das plötzlich anders gewesen. Er wusste auch nicht weshalb, aber er fühlte sich mit ihr seltsam verbunden. Bisher hatte er keinen Menschen so nah an sich herangelassen.
Des Öfteren hatte sie ihn schon vorher besucht - von sich aus -, und ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten hatte er es nicht erzwungen, sie ins Bett zu bekommen. Sie hatten sich unterhalten und gut gespeist, waren ein wenig durch die Stadt geschlendert. Normalerweise war er immer gegen solche Zeitverschwendung gewesen, lästiges Vorgeplänkel zum Geschlechtsakt, aber er hatte zugeben müssen, dass er die Konversation mit Janita genoss, und ihre beinahe gerissene Intelligenz ihn auf magische Weise anzog.
Solch einer Frau war er zuvor noch nicht begegnet. Sie war, obwohl sie noch jung - und blind - war, stark und selbstbewusst. Kanaima erinnerte sich, dass es in seinem Umfeld immer nur schwache Frauen gegeben hatte oder solche, die mit Absicht geschwächt worden waren. Für ihn waren Frauen passive Wesen, ohne einen eigenen Willen.
Janita hatte ihn eines Besseren belehrt, und nach einer gewissen Zeit hatte er festgestellt, dass er sich verliebt hatte - das erste Mal in seinem Leben. Kanaima war über diese erschütternde Erkenntnis zunächst entsetzt gewesen, aber da er sich bei all dem verdammt gut gefühlt hatte, hatte er sich entschieden, dass es auch gut war und er sich auf dem richtigen Weg befand. Der Weg, der ihn immer weiter von seinem Vater wegbrachte, der nie in der Lage gewesen war, Liebe oder Zuneigung zu zeigen. Er strich Janita über ihre rotbraunen Locken. Ihre Haut war in diesem Dämmerlicht weiß wie Milch.
Irgendwann, als sie ihm vorbehaltlos ihr ganzes Vertrauen geschenkt hatte - auch das war eine vollkommen neue Erfahrung für Kanaima gewesen -, hatte sie ihm von ihrem Schicksal erzählt, von ihrem gefühllosen und geldsüchtigen Vater, und wie sie sich wieder aufgerappelt hatte, nachdem der Patron sie unter seine Fittiche genommen hatte.
In Kanaima war Hass gegen den Kaufmann hochgestiegen, der seine damals zehnjährige Tochter einfach hilflos auf der Straße zurückgelassen hatte, und er hatte Janita gefragt, ob er noch lebe.
„Ja“, hatte sie gesagt und danach geschwiegen.
„Willst du ihm nicht einen Denkzettel verpassen?“, hatte er sie schließlich gefragt. Janita war unsicher geworden, denn sie hatte nie darüber nachgedacht, sich zu rächen, natürlich weil sie sich nicht dazu fähig gefühlt hatte.
„Aber jetzt kennst du dich in Borgossa besser aus als er, oder nicht? Er sollte sich vor dir in Acht nehmen!“
„Wirklich?“, hatte sie gefragt.
„Selbstverständlich! Deinem versteckten spitzen Messerchen möchte ich im Dunkeln nicht begegnen!“, hatte Kanaima ernst gemeint.
„Aber ich kann ihn doch nicht umbringen!“, hatte Janita entsetzt reagiert, obwohl sie wusste, dass ihr Vater es wahrscheinlich verdient gehabt hätte.
„Das sollst du ja auch nicht, aber ein bisschen Angst einjagen kann doch nicht Schaden. Du hast seinen Respekt verdient!“
Gemeinsam hatten sie einen kleinen Plan ausgeheckt und Janitas Vater eines Abends aufgelauert. Er war von einer Bühnenvorstellung im Vergnügungsviertel gekommen und hatte wohl noch in einer Weinschänke ein paar Becher trinken wollen. Arglos war er durch die dunklen Gassen gewankt. Janita war all die Jahre seit ihrer Verstoßung nicht mehr in seiner Nähe gewesen, aber sie hatte ihn sofort an seinem Gang und seinem Geruch erkannt. Sie hatte sich lautlos an ihn herangeschlichen, ihn mühelos zu Fall gebracht und sich auf seinen fülligen Leib gesetzt wie eine Katze auf einen Getreidesack. Er hatte sich kaum gewehrt, so betrunken war er gewesen. Ihr Gesicht unter einer Kapuze verborgen, hatte sie ihm mit dem kleinen Messerchen ein „J“ auf die Wange geritzt, damit er sich noch an ihr Zusammentreffen erinnern würde, wenn er später eitel in den Spiegel sah.
„So, liebes Väterchen, denkt stets daran, dass es mich noch gibt und auch daran, dass ich Euch jederzeit wieder einen Buchstaben in Euer Gesicht ritzen könnte. G wie Geizhals vielleicht!“ Als Drohung hatte sie die Spitze des Messers noch einmal angesetzt, doch da hatte ihr Vater begonnen ihren Namen gerufen und wimmernd um Gnade gebettelt.
„Denkt daran, Väterchen!“, hatte sie in die Nacht gelächelt und war dann wie eine Katze aufgesprungen und zusammen mit Kanaima in der Dunkelheit verschwunden.
Später hatte Janita ihm anvertraut, dass es ihr gut getan hatte, ihren Vater so verängstigt zu spüren, es hatte ihr grimmige Genugtuung verschafft und einen Teil der Verletzungen geheilt, die sie durch ihn erfahren hatte. Aber Kanaima war noch über etwas ganz anderes erstaunt gewesen, denn bis zu dieser Nacht hatte er nicht gewusst, dass Janita schreiben konnte!
„Ich war nicht von Geburt an blind. Ich kenne die Welt, ich habe sie gesehen, als ich ein Kind war. Erst mit acht hat mich eine Krankheit erblinden lassen. Vorher hatte ich noch Schreiben und Lesen gelernt. Als es nicht mehr zu verhindern war, dass ich mein Augenlicht für immer verlieren würde, hat mein Vater begonnen mich als unnütz zu betrachten“, hatte sie ihm offenbart. „Ich war immer sein Lieblingskind gewesen bis zu jenem Zeitpunkt, und dann ... dann war ich mit einem Mal nur noch das blinde Ding! Das Ding isst zuviel und tut nichts dafür, das Ding wird nie einen Mann bekommen, das Ding kostet zu viel! Und meine Mutter hat nie etwas gesagt, sie hat meinem Vater niemals widersprochen, und dafür verachte ich sie!“ Ihre Worte hatten traurig und verbittert geklungen, doch geweint hatte sie nicht, nicht ein einziges Mal.
Kanaimas Hand rutschte von ihrem Nacken hinunter über ihren Rücken und nach vorn zu ihren Brüsten. Sie drehte sich zu ihm und hielt ihm auffordernd ihre Lippen entgegen. Er küsste sie, während seine Hände sich auf die weiche Wölbung ihrer Brüste drückten. Janita presste sich an ihn, und er spürte, wie sein Glied sich wieder aufrichtete. Dieses Mal ließen sie sich mehr Zeit.

Nur wenige Tage später saß Kanaima mit dem Patron zusammen in dessen Hauptquartier, und sie brüteten gemeinsam über den Vorbereitungen zu Kanaimas Rückkehr nach Askhar.
Der Patron hatte zur Begrüßung breiter gelächelt als sonst, so als hätte er gewusst, was seine beiden Schützlinge getrieben hätten, aber Kanaima war nicht darauf eingegangen.
Mit gleichgültiger Miene hatte er sich auf dem Stuhl niedergelassen und darauf gewartet, dass der Patron begann.
„Gebt mir doch noch einmal die Liste mit den Personen, die Euer Vertrauen genießen“, sagte er jetzt, und Kanaima reichte ihm das gefaltete Stück Papier über den Tisch.
„Gehen wir sie noch einmal durch. Wir dürfen keine Ungewissheit zulassen!“
Kanaima nickte, und der Patron las den ersten Namen auf dieser Liste: „Eure Tante Sama-Karla aus dem Hause Buthwal-Renandi.“
„Bei ihr bin ich mir ganz sicher! Sama-Karla kann ich mein Leben anvertrauen!“, sagte Kanaima bedeutungsvoll. „Nur ist sie inzwischen schon über sechzig und immer noch eine Verbannte ohne jegliche Macht. Ihre Burg wird von den Männern des Königs überwacht. Aber vielleicht sind die etwas nachlässiger geworden, seit ich von dort fort bin.“
„Das gilt es herauszufinden. Würde sich die Burg als Stützpunkt oder Versteck eigenen?“, wollte der Patron wissen.
„Ja, ich denke schon. Sie liegt sehr abseits von allem, was in Askhar interessant ist. Es ist fast Niemandsland. Auch die Stadt Kalav dürfte mittlerweile komplett in der Bedeutungslosigkeit versunken sein!“
„Gut.“ Der Patron machte sich wie üblich Notizen. „Und nun zum Nächsten: Herzog Karlis-Renandi, auch aus dem Hause Buthwal-Renandi.“
„Bei ihm bin ich mir so sicher wie bei meiner Tante. Er hat mir selbst gesagt, dass er lieber mich auf dem Thron sähe als Katthike oder dessen Bastard Setna!“
„Das kann er aus vielen Gründen gesagt haben. Ihr erinnert Euch an das, was ich Euch beigebracht habe?“
„Ja, der Eigennutz eines Mannes ist ihm immer näher als die Wohltätigkeit, und der Mund spricht nicht immer das, was die Hand tut“, sagte Kanaima auf, „aber ich weiß, dass mein Onkel ein absoluter Mann seines Wortes ist, deshalb kann der König ihn ja auch nicht leiden!“ Er lächelte höhnisch.
„Was ist mit seinem Umfeld? Ist es auch verlässlich?“
„Ja, unbedingt. Gegen unloyales Verhalten geht er rigoros vor. Seine Männer genießen sein volles Vertrauen, und die Spitzel des Königs haben bei ihnen keine Chance! Sein Haus ist sauber.“
Das notierte der Patron.
„Die ganze Provinz steht unter seiner militärischen wie auch zivilen Verwaltung und der Statthalter von Boltha-Stadt ist sein engster Freund. Die Stadt hat noch einen weiteren Vorteil, sie liegt am Meer und hat einen kleinen Hafen, der wiederum auch nur von der Provinzverwaltung kontrolliert wird. Tintenkleckser aus Askhari-Kaise tauchen dort nur höchst selten auf, und auch die Steuereintreibung unternimmt Karlis selbst. Er hat bisher immer pünktlich seine Abgaben an den König geliefert und darüberhinaus noch ein bisschen mehr, deshalb lässt Katthike ihn auch in Ruhe.“
„Sehr gut! Er ist wirklich nicht dumm, Euer Onkel! Zu gerne würde ich ihn einmal treffen wollen, aber ich fürchte, das wird wohl nicht möglich sein. Doch ich denke, ich kann Euch ohne Bedenken nahelegen, getrost seinen Rat zu suchen, wenn es einmal von Nöten sein sollte, und ich nicht mehr zur Stelle sein kann.“ Beide wussten, was damit gemeint war, denn der Patron war bereits in einem Alter, in dem ein Mann durchaus das Kommen des unausweichlichen Endes spüren konnte.
„Prinzessin Laika Buthwal-Renandi!“, las der Patron weiter vor. Er blickte Kanaima an „Wenn man diese bedeutungsvollen Namen hört, könnte man meinen, Ihr bräuchtet Euch wahrlich keine Sorgen um ungenügende Unterstützung aus den höchsten Kreisen zu machen!“
„Leider steht hinter diesen Namen nicht das Maß an Macht, welches sie eigentlich innehaben müssten!“, schnaubte Kanaima. „Meine Schwester lebt im Osten von Neu-Askhar nahe der neugegründeten Stadt Ebida. Ihr Ehemann, Herzog Hana, ist dort Lehnsherr der Gemarkung. Das Lehen wurde Hana vom König für tapfere Dienste im Eroberungskrieg gegen die Hy verleihen. Und jetzt kommt das eigentlich Wichtige: Hana ist nicht gerade der treueste Anhänger Katthikes! Er ist, wie ich von meiner Schwester erfahren habe, ein eher gemäßigter Mensch, der sich nicht so schnell in Streitereien hineinziehen lässt. Er bleibt lieber außen vor und bevorzugt ein ruhiges Leben. Zur Armee war er damals nur gegangen, weil sein Vater darauf bestanden hatte. Aber eigentlich lehnt Hana alles Kriegerische ab. Das mit seiner tapferen Tat, so hat er meiner Schwester verraten, war eine eher zufällige Begebenheit gewesen, die ihm in den Schoß gefallen war“, erzählte Kanaima, der nur über Briefe mit seiner Schwester Kontakt hatte. Er sehnte sich danach, Laika wiederzusehen. Unglaubliche vierzehn Jahre waren vergangen, und keiner wusste, wie der andere mittlerweile eigentlich aussah. Aber das starke Gefühl füreinander war noch da, und Kanaima wusste, dass er sich ihrer Verbundenheit immer sicher sein konnte.
Für ihren Mann hatte Laika anfangs keine Zuneigung empfunden. Er war ja auch fast doppelt so alt und sie noch ein Mädchen, das noch gar nicht auf die Ehe vorbereitet gewesen war und noch eher lieber mit Gleichaltrigen gespielt hätte. Aber Hana war ein einfühlsamer Mensch und hatte sie gut behandelt. Er hatte ihr Zeit gelassen, sich an ihn zu gewöhnen, und schließlich war eine Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Aus dieser Freundschaft war dann schließlich doch noch Liebe geworden, und heute war Laika glücklich mit ihm und lebte beneidenswert behaglich auf ihrem kleinen Landsitz östlich von Ebida. Sie hatten drei Kinder: Zwei Mädchen und einen Jungen.
Kanaima freute sich sehr für sie, wenigstens einer von ihnen hatte seinen Frieden gefunden! Deshalb war er sich auch nicht sicher, ob er sie in seine Sache mit hineinziehen sollte, denn das würde ihren Frieden mit Sicherheit stören.
„Über Laikas Beteiligung muss ich erst noch nachdenken, denn sie hat es verdient, nicht mehr mit all diesem unerfreulichen Zeug belastet zu werden. Sie hat genug unter Katthike gelitten.“
Der Patron nickte zustimmend und las den nächsten Namen: „Königinmutter Posana!“
„Sie steht eigentlich nur darauf, weil sie Katthike abgrundtief hasst. Sie ist viel zu alt, um mir noch etwas zu nützen, zweiundachtzig!“ kommentierte Kanaima.
Der Patron nickte und fuhr fort: „Rebian, oberster Fechtmeister der Palastgarde. Er ist Euer einziger Mann, der sich im Palast aufhält?“
„Ja, und ich weiß auch nicht so genau, wie sich seine Einstellung zum König entwickelt hat. Er ist nur ein möglicher Kandidat.“
„Das muss gut ausgelotet werden!“
„Das ist mir bewusst.“
„Was ist mit der Patriotischen Liga Askhars? Könnt Ihr Euch ihrer Rückendeckung versichern?“ Der Patron faltete die Liste wieder zusammen, das waren alle Namen gewesen.
„Nein. Die können wir wohl streichen, die haben ihre Gesinnung grundlegend geändert. Aber die von meinem Onkel ins Leben gerufene Königsblutliga, allesamt Abtrünnige der Patrioten, verfechten weiterhin entschlossen die Ansicht, es könne nur einen einzigen wahren Nachfolger auf dem Thron Askhars geben: Mich!“
Die Augen des Patrons weiteten sich. „Das sind wirklich gute Nachrichten!“
„Nicht wahr!“, grinste Kanaima, der dem Patron bisher verschwiegen hatten, dass er erst kürzlich einen geheimen Brief von Karlis-Renandi erhalten hatte, in dem dieser ihm die Entstehung von Königsblut beschrieben hatte. „Auch wenn Prinz Setna durch die Legitimierung der Patrioten von seinem fremdblütigen Makel befreit wurde: Für Königsblut ist und bleibt er ein Bastard, und sie werden ihn niemals unterstützen!“
Der Patron teilte Kanaimas Freude und lächelte. „Nun, ich denke das sind ganz hervorragende Bedingungen. Dank Eurem Onkel. Auch er scheint Euch Euren Weg bereiten zu wollen. Jetzt muss er nur noch von Euren Plänen erfahren. Aber zuvor sollten wir weiterhin abwarten und sehen, wie sich die Fronten zwischen den Ligen und vor allem ihr Verhältnis zum König entwickelt. Erst dann sollten wir einen Schritt weitergehen.“
Kanaima nickte und strich sich über seinen frisch gestutzten Kinnbart. Das klang nach einem vernünftigen Plan.

*

Setna sah aus dem Fenster der Burg, die eine ehemalige Hy-Festung war, auf die beeindruckende graue Masse der Berge am Horizont. Sie war schroff und felsig und ihre Flanken abweisend steil. Sein Blick suchte die zwei markanten Bergspitzen im Nordwesten, welche den Doban-Pass kennzeichneten wie erstarrte, bullige Wachtposten. Dort, nur einen Tagesritt entfernt, lag die Grenze und dahinter Hy. In seinem Kopf malte sich Setna das Schlachtfeld aus, stellte sich vor, wie der Feind hinter seiner Mauer kauerte und entsetzt auf die Ungetüme aus Holz starrte, die Kasai eigens für bergiges Gelände hatte anfertigen lassen. Die Löcher, die sie in die Mauer reißen würden, würden verheerend sein. Setna lächelte in böser Vorfreude.
Dünne Rauchfäden stiegen senkrecht von den Kaminen der Häuser in den heute nicht ganz so klaren Himmel auf und wurden weiter oben vom Wind erfasst und weggefegt. Die Stadt wirkte noch verschlafen, nur wenige Menschen waren zusammen mit den Hühnern in den schlammigen Straßen unterwegs.
Setna hatte sich in Braud bereits gut eingelebt und die Stadt ausgiebig erkundet. Sie war ja auch nicht allzu groß. Sechstausend Köpfe etwa zählten ihre Einwohner. Und mindestens genauso groß wie ihre Fläche würde das Lager der Armee vor ihren Toren sein, das noch diesen Winter dort entstehen sollte, und doppelt so groß die Kopfzahl der Soldaten darin. Eine Zeltstadt war schon errichtet worden, und feste Holzbaracken waren bereits in Arbeit. Dafür rodete man den Wald auf dem Weg zur Grenze, so dass gleichzeitig eine breite Heerstraße dorthin entstand. Setna grinste wieder. Er sah bereits die stolze Armee Askhars auf dieser Straße gen Norden ziehen, die Banner des Königshauses siegesgewiss im Wind flatternd.
Ein Hahnenschrei ertönte, und das lenkte Setnas Blick wieder in die Gassen. Eines hatte diese Stadt allerdings, was sie von anderen Städten dieser schäbigen Größe unterschied. In Braud gab es den bedeutendsten Sklavenmarkt in ganz Askhar. Eine gut ausgebaute Handelsstraße führte direkt von hier nach Graçe, das lediglich zwei Tagesritte entfernt im Westen lag, und es gab sogar eine ganze Menge graçenische Händler, die sich hier niedergelassen hatten und regen Handel trieben. Alle möglichen Waren wurden hier angeboten oder nahmen von hier aus den Weg nach Neu-Askhar. Die wichtigste Ware aber waren die Sklaven!
Setna war mit seinem Vater, der dies als seinen zweitliebsten Zeitvertreib bezeichnete, schon mehrmals auf dem Sklavenmarkt gewesen und hatte begutachtet, was dort angeboten wurde. Setna war eigentlich nur neugierig gewesen, denn er selbst machte sich nichts aus der Leidenschaft seines Vaters, Menschen zu kaufen und sie zu sammeln, wie seltene Edelsteine - oder besser Zuchtpferde! Setna wollte diesen Menschen nur in ihre Gesichter schauen und sehen, wie es ihnen in ihrer Lage als Unfreie erging. Er wollte ihr Elend spüren, ihre Verzweiflung. Er wollte an diesen echten Gefühlen seine Sensationslust befriedigen. Er konnte es sich nämlich überhaupt nicht vorstellen, wie das war, unfrei geboren zu sein, oder seine Freiheit aufgrund eines Verbrechens verwirkt zu haben, ... oder noch abenteuerlicher sogar: Geraubt und verschleppt worden zu sein. Er hatte diese verschiedenen Schicksale von ihren Augen ablesen, sich daran weiden wollen. Doch er war enttäuscht worden, als ihn nur abgestumpfte und resignierte Mienen und teilnahmslos wirkende Blicke begegnet waren.
Wildes Gebaren und ungezähmte Manieren hatte er erwartet, Sklaven, die noch ursprünglich und unverfälscht waren und die die Kraft des eigenen Willens besaßen; Menschen, die erst noch gebrochen werden mussten. Setna gab zu, dass ihn dieser Aspekt des Sklavenhandels jedoch sehr interessierte. Vielleicht sollte er es selbst einmal ausprobieren? Er könnte sich einen Sklaven kaufen und ihn so bearbeiten, wie er es wollte. Was ließ ein Mensch alles über sich ergehen, wenn er gefangen war und keine Hoffnung auf ein Entkommen hatte? Es reizte Setna, dies herauszufinden.
Er stieß sich vom Fensterbrett ab und verließ den Raum. Er ging den dunklen Flur entlang und stieg ein Stockwerk nach oben. Vor der Tür, die mit zwei Leibwächtern besetzt war, blieb er stehen. Ohne dass er etwas sagen musste, ließen sie ihn ein.
„Ach, mein lieber Setna! Komm herein. Hast du schon etwas gegessen?“ König Katthike winkte ihn herbei. Er saß in dem großen, prächtigen Erker, den dieser Raum hatte und deutete auf ein üppiges Morgenmahl.
„Nein, mein König, ich habe schon gegessen.“ Setna setzte sich ihm gegenüber.
„Zugegeben, sehr gemütlich, diese hyaunischen Erkerplätze!“, scherzte Katthike, biss von einem Apfel ab und kaute lautstark. „Das ist aber auch das Einzige“, setzte er mit vollem Mund fort, „was diese verdammten Bauerntrottel hinbekommen haben. Ansonsten sind ihre Behausungen nicht gerade komfortabel. Viel zu eng!“ Er biss erneut ab, und nahezu der halbe Apfel verschwand zwischen seinen mahlenden Zähnen.
„Vater?“
„Ja, mein Sohn, was ist?“
„Ich möchte heute auf den Sklavenmarkt gehen und mir einen Sklaven aussuchen. Du weißt schon, wofür.“
Katthike lächelte, kleine weiße Apfelstücke hingen an seinen Zähnen. „Nur zu, tu, wozu es dich gelüstet!“, nuschelte er, und der letzte Rest des Apfels wurde seiner Bestimmung zugeführt.
„Ich wollte Euch eigentlich um Eure Hilfe bitten, denn ich kenne die Gepflogenheiten des Sklavenmarktes nicht. Ich weiß nicht, worauf ich achten muss“, erklärte Setna zögerlich.
„Hm, leider bin ich unabkömmlich. Der General hat mich darum gebeten, ihm heute im Lager einen Besuch abzustatten und mit ihm eine Begehung des Geländes zu unternehmen. Außerdem müssen noch einige wichtige Dinge besprochen werden. Aber ich habe eine Idee: Ich gebe dir Elmir mit, meinen Mundschenk hier, der weiß hervorragend über alles Bescheid, was mit Sklaven zu tun hat. Außerdem ist es für dich, glaube ich, nicht schwer, selbst die Auswahl zu treffen. Für das, was du vorhast, zählen sowieso andere Kategorien, nicht war?“
Katthike hängte ein wissendes Lächeln an diese Aussage.
Der Mundschenk, der in dessen Nähe stand, zeigte keine Rührung auf seinem runden, pockennarbigen Gesicht.
„Wenn deine Jagdgesellschaft Erfolg gehabt hätte, dann hättest du das beste Exemplar eines Sklaven besessen, das man sich nur wünschen kann“, fuhr Katthike fort.
„Ja, da habt Ihr recht, mein König.“ Setna ärgerte sich inzwischen selbst über das Versagen der ihm geschenkten Jagdgruppe.
Katthike verzog die Lippen. „Ich selbst wäre wahrscheinlich neidisch auf deinen Sklaven gewesen und ich hätte bestimmt versucht, ihn mir für meine kleinen Experimente von dir auszuleihen. Mein Spitzenexemplar ist ja damals viel zu schnell in den Tod entkommen.“ Katthike seufzte untröstlich. „Noch eine Jagdgesellschaft loszuschicken, wäre im Moment pure Geldverschwendung. Aber vielleicht haben wir schon im nächsten Jahr die beste Auswahl an Hy-Sklaven, die es je geben wird!“
Setna freute sich über diese Andeutung seines Vaters. Die bevorstehende Schlacht würde sie zu grandiosem Ruhm führen!
„Nichtsdestotrotz würden mich deine ‚Forschungsergebnisse’ doch sehr interessieren, die du bis dahin erbracht hast!“, sagte Katthike und wischte sich die Finger an einem Tuch ab.
„Ich danke Euch, Vater“, entgegnete Setna und stand auf. Dann verließ er den Raum, hinter sich wie ein Schatten, der Mundschenk.

Sie ritten das kurze Stück bis zum Sklavenmarkt, denn sie wollten sich nicht mit dem stinkenden Schlamm der Straßen besudeln. Dort angekommen stiegen sie ab und schauten sich um. Der Sklavenmarkt bestand aus einem Platz mit einem Brunnen, der umsäumt war mit Häusern, die im unteren Stockwerk eine Art Stall beherbergten, in denen die Sklaven gehalten wurden. Heute war der Platz aber aufgrund des feuchtkühlen Wetters leer, und kaum eine Menschseele war zu sehen. Sonst herrschte hier reger Betrieb; in dichtem Gedränge priesen Händler lautstark ihre Ware an und Käufer feilschten um den besten Preis.
Setna und der Mundschenk gingen zu dem Haus des ersten Händlers hinüber, der sie überrascht mit einem tiefen Diener empfing und sie gleich darauf einließ. Im Vorraum, in dem es nach Urin und Schweiß roch, begann er seinen Gast zu umschwänzeln wie ein auf ein Leckerbissen bedachter Hund. Natürlich hatte er den Prinzen sofort erkannt.
„Meine Hoheit, was verschafft mir die Ehre Eures Besuches? Womit kann ich Euch dienen?“, fragte er in holperigem Askhari. Er war offensichtlich ein Graçener. Ein überfreundliches Lächeln in seinem speckigen, glattrasierten Gesicht entblößte braune Zähne. Setna mochte den Mann auf Anhieb nicht.
‚Elende schleimige Kröte’, dachte er angewidert. Mit einer winzigen Handbewegung gab er Elmir zu verstehen, dass dies jetzt sein Part war.
„Der Prinz von Askhar sucht einen Sklaven!“, sagte der Mundschenk in hochmütigem Tonfall.
„Natürlich“, gab der Händler mit einer unsicheren Verneigung zurück. Schweiß sammelte sich auf seiner hohen Stirn, die nur spärlich von langen angegrauten Haarflusen umkränzt war. „Bitte folg mir, hoher Herr.“ Der Händler ging durch die grob gezimmerte Holztür des Vorraumes in das Innere des Stalls. Dort war der Gestank noch widerlicher und unwillkürlich hob Setna einen Ärmel vor den Mund. Noch nie war er in einem dieser Häuser gewesen, bisher hatte er die Sklaven nur draußen auf dem Platz gesehen. Zuerst konnte er nur wenig sehen. Nur hier und da brannte eine Öllampe. Bretterverschläge trennten verschiedene Bereiche ab. Nur gedämpftes Husten und ein kaum hörbares, dünnes Wimmern zeugte von der Gegenwart einiger Dutzend Menschen in diesem Raum. Doch Setna glaubte, in dem Dämmerlicht noch etwas anderes wahrnehmen zu können. Schwer wie nasse Wolle lag es in der stickigen Luft: Verzweiflung. Er unterdrückte ein zufriedenes Grinsen und folgte dem Händler weiter in den Stall hinein. Der Boden war mit dreckigem Stroh ausgelegt. Als er in etwas Undefinierbares trat, verzog er ärgerlich das Gesicht.
„Oh, verzeiht bitte, mein Prinz! Wenn ich von Eurem Besuch gewusst hätte, dann hätte ich neues Stroh ausstreuen lassen.“ Der Graçener knetete verlegen seine Hände. „Darf ich fragen, was für eine Art Sklaven der hohe Herr sucht? Wir hätten da hübsche Frauen - sogar eine aus Hy - gute Qualität! Und dann wären da noch unversehrte hübsche Knaben. Ich habe sogar noch einen mit blondem Haar aus Nordgraçe. Oder einen schwarzen Muskelmann aus Lavantina ...“
Setna hob die Hand und brachte den Mann zum Schweigen.
„Mein Herr will etwas Wildes“, sagte der Mundschenk schlicht.
„Etwas Wildes?“, fragte der Händler, als höre er schlecht. „Aber ...“ Ein eindringlicher Blick des Mundschenks brachte ihn erneut zum Schweigen.
„Hast du nicht verstanden? Wir wollen keinen fleißigen Haussklaven, kein Arbeitstier und auch keinen Lustknaben! Wir wollen etwas Ungezähmtes!“, knurrte Elmir und trat einen Schritt auf den Händler zu. Der blinzelte zuerst den Mundschenk an und dann Setna.
„Mein Prinz, es tut mir sehr leid, aber so etwas haben wir nicht, wir haben nur gute Ware!“
„Ihr habt nichts Aufsässiges dabei?“, erkundigte sich nun Setna persönlich.
„Nein, wie ich schon sagte. Damit würde ich mir doch bloß das Geschäft ruinieren!“
„Nun, dann kannst du uns vielleicht sagen, wer hier am Platz das haben könnte, was wir suchen?“, klinkte sich Elmir wieder ein.
„Äh, ich weiß nicht“, stammelte der Händler. Er schien ernsthaft zu überlegen.
Setna trommelte ungeduldig mit den Fingern auf seinen Schwertknauf.
„Ich glaube, der Askharer Bandor, schräg gegenüber, der könnte so etwas haben. Ich will es nicht beschwören, aber ich meine, er hätte erst kürzlich Schwierigkeiten mit einem Kunden gehabt, der angeblich einen wilden Sklaven bei ihm gekauft haben soll.“
„Gut, dann werden wir dort nachfragen.“ Der Mundschenk machte auf dem Absatz kehrt.
„Aber bitte, sagt ihm nicht, dass ich Euch zu ihm geschickt habe, ja?“, bettelte der Händler und wrang mit den Händen.
Setna verzog abfällig die Mundwinkel, und verließ gemeinsam mit Elmir den miefenden Stall und das Haus. Sie überquerten den Platz und klopften an der Tür des ihnen „empfohlenen“ Händlers. Ein muskelbepackter Hüne öffnete ihnen. Er war strohblond und mindestens einen Kopf größer als Setna. Mit seiner unförmig wirkenden Körpermasse füllte er lässig den Türrahmen.
Setna versuchte, nicht allzu sehr überrascht zu schauen, und gab Elmir ein Zeichen.
„Seine Hoheit, Prinz Setna von Askhar, möchte deinen Herren Bandor sprechen!“, befahl dieser dem Mann, der nur ein Gehilfe des Händlers sein konnte, so grob geschnitzt wie er war. Der Hüne nickte scheinbar unbeeindruckt und ohne ein Wort zu sagen, ging er wieder in das Haus zurück. Kurz darauf trat ein schmaler, vornehm wirkender Herr mit schwarzgrauem Haar, das er zu dem üblichen Zopf gebunden hatte, in die Tür. Er verneigte sich knapp, und Setna erkannte darin militärische Gewohnheit. Der Hüne stand immer noch hinter ihm.
„Was kann ich für Euch tun, mein Prinz?“, wollte der Händler höflich wissen und sah ihm in die Augen. Das war sehr ungewöhnlich, denn normalerweise wagte es kaum jemand, die Mitglieder der königlichen Familie direkt anzuschauen. Setna merkte, dass er diesen Mann bereits mehr mochte, als den davor.
„Ich suche einen Sklaven. Etwas ganz Bestimmtes. Sag, hast du im Heer gedient?“, fragte er. Der Händler lächelte fast wehmütig.
„Oh ja, mehr als zwei Jahrzehnte war ich ein treuer Soldat des Königs!“, antwortete er stolz. „Ich bin sogar dabei gewesen, als wir die Flagge unseres Vaterlandes hier in die eroberten Provinzen gepflanzt haben. Neu-Askhar, ein herrliches Stück Land, nicht wahr? Die Götter mögen es beschützen! Jetzt lebe ich sozusagen im Ruhestand und führe hier mein kleines bescheidenes Geschäft. Was genau sucht Ihr denn, mein Prinz?“ Er geleitete Setna und Elmir in den Vorraum, in dem es deutlich frischer roch als in dem vorherigen, und schloss die Tür.
„Dein Kollege von gegenüber, dieser fette Graçener, hat gesagt, dass wir hier eventuell etwas Wildes finden!“, gab Setna ungeniert bekannt.
Bandor der Händler strich sich nachdenklich über den sorgfältig gestutzten Bart.
„So so, hat er das?“ Er gab seinem Hünen ein Zeichen, und dieser verschwand im Stall.
„Setzt Euch bitte, ich denke, ich kann Euch helfen“, sagte er dann und wies auf eine Holzbank unter dem Fenster. „Mein Gehilfe muss ihn erst zurechtmachen. Die Ware ist, wie soll ich sagen, etwas beschädigt. Ich hatte Ärger mit ihm und da waren härtere Maßnahmen nötig. Ihr versteht sicher, was ich meine.“
Setna nickte. Während sie warteten, plauderte der Händler ein wenig von dem großen Krieg und wie es ihn hierher nach Braud verschlagen hatte. Setna hörte interessiert zu. Dann öffnete sich schließlich die Tür zum Stall, und der Hüne trat herein. An einer Kette, die um die Handgelenke des Mannes geschlossen war, zog er den Sklaven hinter sich her. Als Setna ihn sah, wusste er sofort, dass er genau das gefunden hatte, was er suchte.
Der junge Mann war relativ kräftig gebaut und so groß wie er selbst. Sein Körper trug unzählige Blessuren von Peitschenhieben und Stockschlägen, doch das war es nicht, was Setna Gewissheit schenkte. Er stand auf und ging langsam auf den Mann zu. Der Hüne zog die Kette straffer. Fasziniert sah Setna in das Gesicht des Sklaven. Es war der wilde und hasserfüllte Blick der dunkel blitzenden Augen unter dem verfilzten Haarschopf, der ihn zu zerteilen versuchte wie ein Fleischermesser.
„Ja, das ist es“, flüsterte Setna angetan und prüfte den festen Oberarm des Sklaven.
„Ein Kunde hat ihn zurückgegeben, weil er ihn angefallen hat!“, sagte Bandor warnend. „Er ist so gut wie wertlos in diesem Zustand, und ob man ihn jemals wieder hinbekommt, ist fraglich.“
„Genau, was ich suche! Ich nehme ihn, nennt mir den Preis!“
„Mein Prinz, seid Ihr sicher? Dieser Sklave ist gefährlich!“, schaltete sich Elmir unvermittelt ein.
Setna drehte sich zu ihm. „Sehe ich etwa so aus, als würde ich nicht mit ihm fertig werden?“, tadelte er den Mundschenk, der daraufhin schwieg.
„Euer Diener hat recht, der Mann ist wirklich unberechenbar, man darf ihn nicht einen Moment aus den Augen lassen!“
Setna hob ungeduldig die Hand. „Sagt mir den Preis.“
„Nun gut, da er nicht mehr in dem allerbesten Zustand ist, sagen wir sechs Dinhar.“
„In Ordnung, ich gebe dir sieben, und du hältst die Augen offen, ob du noch weitere ‚schlechte’ Ware bekommen kannst, denn das hier wird höchstwahrscheinlich nicht der einzige sein, den ich brauchen werde!“ Setna schlug mit dem nun doch überraschten Bandor ein.
„Ich sehe gerade, dass er noch gar nicht beschnitten ist“, bemerkte er nebenbei.
„Nein, das hatte der vorherige Käufer selbst machen wollen. Es kommt immer darauf an, wofür man die Ware braucht, deshalb lassen wir sie unversehrt“, erklärte Bandor, warum seine Sklaven noch intakte Fersensehnen besaßen.
„Aber ist das nicht ein Risiko, die Beschneidung selbst vorzunehmen? Der Sklave könnte hinterher an Wundbrand sterben“, erkundigte sich Setna mit wachsender Neugier.
„Nicht, wenn man eine glühende Klinge benutzt, aber wir bieten den Käufern auch an, es für sie durchzuführen, und übernehmen selbstverständlich Garantie. Unser Medicus ist sehr gut, bisher ist ihm noch keiner weggestorben.“
„Woher kommt dieser hier eigentlich?“ Setna zeigte auf den Sklaven, den er soeben gekauft hatte.
„Aus Tschabastan. Die sind erfahrungsgemäß immer etwas schwierig, dafür aber auch sehr zäh. Der hier wurde von seinem eigenen Stamm verkauft als Blutsühne. Was er getan hat, weiß ich allerdings nicht. War vielleicht etwas dumm von mir, ihn einfach so zu kaufen, ohne auf diese Angaben zu bestehen. Na ja, jetzt hat der doch noch einen Zweck.“
„Oh ja, den hat er.“
Bandor der Händler meinte bei diesem Kommentar ein grausames Aufleuchten von Vorfreude in Setnas Augen wahrzunehmen. Besser, er würde nicht danach fragen, wofür der Prinz ihn überhaupt brauchte.
Der Hüne hatte mittlerweile die Kette gegen ein Seil ausgetauscht, und Bandor bot das Ende dem Prinzen an, doch der ließ seinen Diener den Sklaven führen.
„Gedankt sei dir, Bandor. Ich komme mal wieder vorbei. Gute Geschäfte wünsche ich weiterhin“, sagte Prinz Setna zum Abschied, und verließ mit seinem Diener das Haus. Bandor sah ihnen hinterher, wie sie zu den Pferden gingen, und wettete mit sich selbst, wie viele Tage der Sklave wohl noch zu leben hatte.

Zuerst hatte Setna selbst Hand angelegt, die Peitsche selbst geschwungen und rohe Haut aufplatzen lassen. Doch er hatte nicht die Art Befriedigung darin gefunden, die er sich erhofft hatte. Er stelle fest, dass es doch eher das Zusehen war, das ihn bei den Misshandlungen das größte Maß an Vergnügen bereitete. So konnte er wenigstens auch in Ruhe alle Nuancen der empfundenen Schmerzen untersuchen. Penibel führte er darüber Buch.
„Du kannst anfangen“, befahl er dem Foltermeister, der gerade die eine Hand des Sklaven in der Foltermaschine befestigt hatte.
Das Rad wurde gedreht und die nagelbeschlagenen Platten senkten sich aufeinander. Der erste Kontakt mit der Hand verursachte lediglich verzerrte Gesichtszüge und eine schnellere Atmung. Der Druck wurde erhöht. Ein Stöhnen entrann der Kehle des Mannes, der aber mit aller Macht versuchte, die von Setnas gewünschten Regungen zurückzuhalten. Dieser notierte alles, was er beobachtete. Der Foltermeister drehte das Rad weiter. Es knackte, und der Sklave pustete vor Qualen, aber Setna ließ noch nicht von ihm ab. Es war ein Machtspiel, und er würde es gewinnen, es war nur eine Frage von sehr kurzer Zeit, bis ...
Der Sklave schrie Plötzlich. Ein langgezogener Laut, der einem die Gänsehaut über den Rücken trieb.
‚Na, also’, dachte Setna zufrieden, trat näher heran und zwang den Sklaven, ihm in die Augen zu sehen. Hass in seiner reinsten Form sprühte aus dessen Blick, die Tränen der Schmerzen rannen über das verschmutztes Gesicht wie perlendes Gift.
„Siehst du, es geht doch! Gib mir mehr davon und ich lasse dich für heute in Ruhe!“, bot er dem Mann an. Der aber schimpfte etwas Unverständliches auf Tschabani und spuckte Setna an. Mit nachdenklicher Miene betrachtete der Prinz den Speichel auf seinem Ärmel. Unbeeindruckt näherte er sich wieder dem Gesicht des Sklaven.
„Das war aber nicht die höfliche Art“, sagte er gelassen. In den Augen des Tschabanen konnte er förmlich den Wunsch nach Rache ablesen. „Du wünschst dir, mich auf der Stelle umbringen zu können, nicht wahr? Mal sehen, wann der Zeitpunkt kommt, an dem du dir deinen eigenen Tod wünschst!“ Er wandte sich ab und gab dem Foltermeister ein Zeichen. Es war so weit, mit Teil Zwei zu beginnen. Das Rad an der Spindel drehte sich, und markerschütternde Schreie hallten von den dunklen Wänden des Folterraumes wider. Das Rad machte eine weitere halbe Umdrehung, und Setna hörte, wie Knochen brachen, und sein lüstern diabolischer Gesichtsausdruck schwebte wie eine Spiegelung des Höllenfeuers im Dämmerlicht des Raumes. Die Schreie erstarben, der Sklave war ohnmächtig geworden.
„Soll ich fortfahren?“, fragte der Foltermeister. „Wenn er seine Hand noch einmal gebrauchen soll, dann wäre es besser, wenn ...“
„Er wird sie nicht mehr brauchen. Mach gefälligst weiter, ich werde dir schon sagen, wann es genug ist“, ordnete Setna an. Seine Stimme war nur noch ein unheimliches Flüstern, das zischende Züngeln eines Dämons. Nun lief es selbst dem hartgesottenen Foltermeister kalt den Rücken herunter, aber er führte den Befehl aus und drehte das Rad weiter. Mehr Knochen brachen. Blut sickerte zwischen den Platten der Spindel hervor und rann in dünnen Bindfäden zu Boden. Der Sklave hing regungslos auf seinem Stuhl, gehalten von den dicken Stricken um seinen Brustkorb. Noch eine halbe Drehung und das Quietschen des Holzes zeigte an, dass nicht mehr viel Spielraum vorhanden war.
Schließlich hob Setna die Hand. Erleichtert hielt der Foltermeister inne. Für die Hand des Sklaven war es eh zu spät, dachte er, doch wenn die Blutung gestoppt werden konnte, würde er wenigstens am Leben bleiben. Nicht, dass er als Foltermeister Mitleid mit dem Sklaven empfand, nein, er war sogar sehr froh, auf der anderen Seite stehen zu dürfen, doch es erschien ihm als Verschwendung, diesen kräftigen und arbeitsfähigen Menschen, der nichts weiter getan hatte, als unfrei zu sein, so zu verstümmeln.
„Das reicht für heute. Kümmert euch um ihn“, wies Setna an. Er klappte sein Buch zusammen und wollte den Raum verlassen.
„Verzeiht, mein Prinz, aber die Hand muss amputiert werden. Währet Ihr damit einverstanden, nach dem Wundarzt schicken zu lassen? Ich kann sonst nicht dafür garantieren, dass er durchkommt“, merkte der Foltermeister ungerührt an. Er drehte die Spindel auf. Stufe um Stufe hoben sich die Platten auseinander. Ein undefinierbarer roter Brei aus Sehnen und Knochen kam zum Vorschein.
„Tu, was du für richtig hältst“, näselte Setna scheinbar gleichgültig, wandte jedoch mit seltsamer Miene den Blick ab. Etwas zu schnell verließ er daraufhin den Raum.

Setna war mittelmäßig enttäuscht, als ihm am Morgen danach mitgeteilt wurde, dass der Sklave tot sei. Er hatte die Amputation nicht überstanden, da sie die Blutung nicht hatten stoppen können, nachdem er sich mit den Zähnen den Verband vom Stumpf gerissen, und die Wunde wieder aufgebissen hatte.
‚Er hat wirklich nicht lange durchgehalten, gerade einmal zwanzig Tage’, dachte Setna unzufrieden. Eigentlich hatte er mehr erwartet, aber wahrscheinlich hatte er es gestern auch ein wenig übertrieben. Die Sklavenmeister seines Vaters hatten ihm ja geraten, etwas schonender mit ihm umzugehen. Nun gut, da hatten sie wohl Recht gehabt, aber es war auch sein erster Versuch gewesen, und er musste schließlich auch erst Erfahrungen sammeln.
Setna ließ sein Pferd satteln und machte sich auf zu Bandor, der hoffentlich schon für Nachschub gesorgt hatte. Tatsächlich hatte der Händler getan, wonach Setna verlangt hatte. Sogar überaus eifrig. Drei weitere Männer „schlechtester“ Qualität hatte er von durchreisenden Händlern erstanden, zu Spottpreisen. Allerdings hatten sich alle anderen am Platz gefragt, ob er den Verstand verloren hätte und warum er überhaupt nur einen einzigen Dinhar in solch miese Ware investierte. Bis herauskam, dass der Prinz von Askhar persönlich diese Ware bestellt hatte und ausgesprochen gut dafür bezahlte. Von da an hielt mit einem Mal jeder ein schlechtes Stück in seinem Stall bereit, in der Hoffnung ein gutes Geschäft damit zu machen. Doch Setna blieb seinem neuen „Hoflieferanten“ Bandor treu, und so ging ihm das Material für seine grausamen Spielchen, mit denen er sich den Winter vertrieb, nicht aus.
König Katthike wurde es aber allmählich zu kalt in Braud und er wollte zurück ins angenehm warme Askhari-Kaise reisen, natürlich nicht ohne Setna. Der musste all seine Überredungskünste ausspielen, um seinen Vater davon zu überzeugen, hier bleiben zu dürfen. Auch der General setzte sich für ihn ein. Und schließlich hatte Katthike ein Einsehen, auch wenn er die Tatsache betonte, dass, wenn Setna etwas zustieße, der General dafür mit seinem Leben bezahlte. Aber Kasai versprach ihm mit ruhiger Gelassenheit, Setna, wenn es sein sollte, persönlich mit blankgezogener Klinge zu beschützen. Einigermaßen beruhigt reiste der König daraufhin aus Braud ab, den bereits schneeüberzuckerten Bergen in seinem Rücken keine Träne nachweinend.

30. Kapitel



Die letzten Wochen hatte es ganz gut funktioniert, sich mit unermüdlichen Übungen auch außerhalb des regulären Tagespensums zu betäuben. Raen hatte seinen Körper bis über den Rand der Erschöpfung getrieben und damit den Geist förmlich in die Knie gezwungen. Sein Herz war still geworden und pumpte nur noch im bloßen Rhythmus der zehrenden Bewegungen. Nur noch zum Schlafen und zum Essen hielt er sich im Chorten auf und aß seit dem Erntefest sogar im Tempel zusammen mit den Priestern. Es war ihm mittlerweile egal, dass es sehr früh morgens war und es dort nur Getreidegrütze in allen möglichen Varianten gab, lediglich an manchen Tagen gab es etwas Gemüse oder Obst dazu. Dafür genoss er die sich selbst auferlegte Abgeschiedenheit von allem, was ihn aus der Ruhe brachte. Seine Familie und seine Freunde wunderten sich zwar über dieses erneut stark in sich gekehrte Verhalten Raens, aber sie ließen ihn natürlich gewähren. Zurückgezogenheit konnte ja niemandem wirklich schaden.
Es war kalt geworden. Der Frost überzog nun jeden Morgen die auf den Winter wartende Landschaft mit pastellfarbenen Blautönen. Die Luft war klar und wirkte belebend. Raen sog sie tief in seine Lungen ein. Eingemummt in seine Winterjacke stand er auf der Mauer und hauchte sich Wärme in die Hände, sein Gesicht eingetaucht in das goldene Licht des Morgens. Er hatte nach dem Morgenmahl bei den Priestern von hier oben aus den Sonnenaufgang beobachtet - sein tägliches Ritual, wenn es nicht gerade regnete. In dem hintergründigen Glühen des Himmels, kurz bevor die Sonne sich selbst über die Dunststreifen am Horizont erhob, fand Raen einen Moment des absoluten Friedens, in dem sogar die Vögel kurz den Atem anhielten und der von nichts weiter erfüllt war, als von stiller Ehrfurcht vor dem Universum. Die Sonne - jeden Tag kehrte sie zu den Menschenwesen zurück, um ihnen Leben zu spenden und jeden Abend verschwand sie, als Mahnung, das Leben zu ehren. Die Kraft der Sonne war das größte Geschenk des Universums an die Menschenwesen. Raen blinzelte ein letztes Mal dem grellen Himmelskörper in einer kleinen dankbaren Verbeugung entgegen und stieg dann die Mauer hinab. Zusammen mit den anderen Kriegern wusch er sich im Tempel und ging mit ihnen anschließend zum Übungsgelände hinunter.
Heute war ein guter, trockener Tag für das Arbeiten mit den Pferden, und so wurden die jüngeren Krieger, zu denen auch Raen noch zählte, dafür eingeteilt. In freudiger Erwartung sattelte er Jakori. Sie war seine einzige Verbündete. Aber auch die Stute schien gute Laune zu haben und stieß ihn immer wieder mit der Nase an, als solle er sich beeilen.
„He, dich habe ich aber schon lange nicht mehr gesehen!“, rief Hereke und kam auf Raen zu.
„Ach, du bist es. Ja, ich hatte wenig Zeit.“
Hereke verpasste ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken.
„Ist wirklich alles in Ordnung? Ich vermisse irgendwie deine tollkühnen Launen! Du machst dich ganz schön rar.“
Raen zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Ich hatte wirklich kaum Muße für irgendetwas.“ Doch Hereke hatte ihn ertappt, er hatte tatsächlich ein schlechtes Gewissen, dass er seinem Freund in der letzten Zeit so wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte.
„Du trainierst dich noch zu Tode!“, meinte dieser halbwegs ernst.
‚Ach, du hast ja recht’, dachte Raen, ‚aber es geht im Moment wirklich nicht anders. Außerdem ist es auch zu deinem Besten!’ Er hob seinen Blick und sah Hereke an.
„Was ist?“, fragte der Reitmeister, als Raen zu grinsen begann.
„Du hast da ein Fleck auf deiner Jacke“, sagte der Jüngere und zeigte darauf.
Hereke schaute an sich herunter und bekam Raens Zeigefinger unter das Kinn. Augenrollend gab er sich geschlagen. Er war auf Raens billigsten Trick reingefallen.
„Du, pass bloß auf, dass du nicht gleich eine ordentliche Pferdemistkur abbekommst!“, stieß er lachend aus und tat so, als ob er sich nach frischen Pferdeäpfeln bücken würde.
„Lass das, ich weiß, dass du das sogar tun würdest, du Schlammfrosch!“, rief Raen vergnügt. „Du hast doch gerade gesagt, du vermisst meine Launen, oder etwa nicht? Bitte, da sind sie!“
Hereke erhob sich wieder.
„Nun gut, das lasse ich gelten. Was hältst du davon, heute Abend hier auf dem Hof zu bleiben? Wir könnten zusammen Essen und plaudern.“
„Ich muss ...“
„Musst du überhaupt nicht, das weiß ich ganz genau! Komm schon, keine falschen Ausreden.“
„Na gut, ich komme.“
Hereke strahlte vor Freude und ließ dann Raen mit Jakori allein. Doch den plagte schon jetzt die Sorge darüber, wie er den Abend mit seinem Freund überstehen sollte. Noch während er Jakori am Zügel zum Reitplatz führte, entschied er, dass Hereke es sehr wohl verdient hatte, dass er ihm Zeit schenkte.

Am Abend betrat Raen das Haus von Henendra, nachdem er Jakori in den Stall gebracht hatte. Am Eingang zog er sich die verschmutzten Stiefel aus und tauschte sie gegen lederne Hausschuhe, die dort für Gäste bereitstanden. Der Wohnbereich des Hofes befand sich im Erdgeschoss und es wurde immer wärmer, je tiefer er in das Haus vordrang. Ein breiter Flur führte längs durch das gesamte langgestreckte Gebäude. Von ihm aus gelangte man in die verschiedenen Räume. Die Küche und der Essraum waren rechterhand. Als Raen in der Tür zur Küche erschien, sah er lediglich Herekes Mutter mit einer Helferin dort das Essen zubereiten.
„Hallo, Raen, komm nur herein und setzt dich!“, begrüßte sie ihn. Er trat ein.
„Ich habe dich lange nicht gesehen. Geht es dir gut?“
„Ja, danke.“ Er zog sein Schwert aus dem Gürtel und ließ sich mit gekreuzten Beinen gegenüber dem großen steinernen Herd nieder. Er bemerkte, wie die Helferin ihm einen verstohlenen Blick zuwarf. Er tat so, als ob er es nicht gesehen hätte.
„Und wie geht es dir und Henendra?“, fragte er höflich zurück. Herekes Mutter drehte sich um, und ihre vom Herdfeuer geröteten Wangen bildeten kleine runde Äpfel, als sie ihn anlächelte. „Sehr gut, jetzt, da wir hier eine so tüchtige Hilfe haben!“ Sie deutete auf das Mädchen, das ungefähr in Raens Alter war. Aber er kannte sie nur flüchtig. Sie stammte von einem der abgelegenen Höfe am Fluss und war im Sommer auf Henendras Hof gekommen. Ihre Statur war sehr groß und schlank und ließ sie schlaksig wirken, aber ihr Gesicht hatte etwas Anmutiges. Sie war eine Eisan. So wurden die Leute genannt, die Helfer für alles waren. Sie waren vielseitig einsetzbar, fast genauso wie die Krieger. Sie hatten ihre Wahl getroffen, sich möglichst offen zu halten für alle nur erdenklichen Aufgaben, bei denen eine helfende Hand fehlte. Die Eisan-Kaste stellte ein Kompromiss der Clangemeinschaft an diejenigen dar, die sich nicht für einen bestimmten Berufsstand entscheiden konnten.
Das Mädchen lugte wieder zu Raen hinüber, aber er sah schnell weg.
„Heda, du bist schon hier?“, rief Hereke erfreut, als er zur Tür hereinkam. „Brrrr, ist das kalt draußen.“
Erleichtert über diese abrupte Ablenkung erhob sich Raen.
„Setzt euch in den Essraum, der Rest kommt bestimmt auch bald. Hier, nehmt schon einmal eine Tasse Tee mit“, sagte Herekes Mutter und schickte die beiden nach nebenan.
Hereke ließ sich mit einem Seufzer auf einer Matte nieder und Raen setzte sich neben ihn. Draußen vor dem Fenster zog die Dämmerung ihren grauen Mantel über das Land.
‚Ich glaube, ich mag den Winter nicht mehr’, sagte Raen zu sich selbst und schlürfte laut den heißen Tee.
„Wie war die Herbstjagd? Ihr hattet ganz gutes Wetter“, erkundigte sich Hereke.
„Ja, es war ganz gut. Wir waren sehr erfolgreich. Und ich hab’s genossen, draußen im Wald zu sein.“
Hereke nickte. „Und wie war es heute? Anstrengend?“
„Nein, es ging. Frag lieber Jakori, sie ist ganz schön ins Schwitzen geraten.“
„Hast du sie auch ordentlich abgerieben?“
„Natürlich, wo denkst du hin? Ich will ja schließlich nicht, dass sie wieder krank wird.“
„Ihr zwei“, lachte Hereke, „ihr seid mir vielleicht ein Paar. Jakori sollte übrigens bald einmal tragen.“
„Sie soll was?“
„Sie soll tragen, ein Fohlen bekommen“, erklärte Hereke.
„Ach so. Meinst du das wäre gut?“, wollte Raen wissen, der nicht viel davon verstand.
„Ja, sie ist ein sehr gutes Pferd und sollte das auch weitergeben. Ich hätte da auch schon einen Beschäler.“
„Einen was?“ Für Raen redete sein Freund in fremden Worten.
„Ach, du hast aber auch von Nichts eine Ahnung!“, stöhnte Hereke. „Ich meine einen möglichen Vater, einen Hengst. Kapiert?“
„Ja, ja, ich bin ja nicht vollkommen blöd. Und wen meinst du?“
„Einen Sohn von Kaisan.“
„Aha.“ Raen dachte an das Pferd seines Vaters, auf dem er reiten gelernt hatte. Es war im letzten Jahr gestorben, nachdem es zwei fette Jahre im Ruhestand auf der Weide verbracht hatte. Roman hatte sich ein neues Pferd ausgesucht und ausgebildet. Es war leider kein schwarzes Tier mehr frei gewesen und so hatte er sich für einen Schimmel entschieden. Raen fand es ungewohnt, seinen Vater auf einem leuchtendweißen Pferd sitzen zu sehen. Es war ein vollkommen anderer Eindruck als die schwarze verschworene Einheit, die Pferd und Reiter vorher gebildet hatten.
„Und wann wollen wir es machen?“
„Och, gleich morgen, wie wär’s?“
„Was?“
„Was?“, äffte Hereke ihn nach. „Das ist wohl heute Abend dein Lieblingswort. Nein, das war nur ein Scherz. Es hat noch ein wenig Zeit. Aber wenn du willst, dann nächsten Sommer.“
„Wieso: Wenn ich will?“
„Jakori gehört dir, du kannst es entscheiden - ob du Papa werden willst oder nicht, meine ich.“
„Ach, Mann, Hereke, hör doch endlich mal auf damit, du bist anstrengend“, nörgelte Raen müde.
„Ich bin anstrengend? Das ist ja lustig. Dass überhaupt weißt, was das bedeutet, Herr Höchstanstrengend!“, gab Hereke angriffslustig zurück.
„Ist ja gut, ich ergebe mich. Erzähl jetzt mal lieber, was du die letzten Wochen so getrieben hast.“
„Leider nicht das, was ich mir erhofft hatte.“
„Das bedeutet?“ Raen sah seinen Freund aufmerksam an.
Hereke wurde plötzlich verlegen. „Du weißt doch, dass ich Suneka auf dem Erntefest gefragt habe, ob sie mich heiraten will.“
Raen nickte, aber er hatte es in Wirklichkeit völlig verdrängt und wusste gar nicht, was daraus eigentlich geworden war. Es war ihm auch peinlich, dass er seinen besten Freund nicht ein einziges Mal danach gefragt hatte.
„Sie hat Ja gesagt?“, vermutete er ins Blaue hinein.
„Nein!“
„Wie, Nein?“ Raen glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
„Na ja, sie hat nicht direkt Nein gesagt, aber sie hat auch nicht Ja gesagt.“
„Was, in Hyauns Namen, hat sie dann gesagt?“ Raens Herz begann nun doch unaufgefordert Sprünge zu machen wie ein übermütiges Kaninchen.
„Sie hat gesagt, sie brauche noch mehr Zeit.“ Hereke seufzte deprimiert. „Raen, ich verstehe die Welt nicht mehr, wir sind jetzt seit beinahe zwei Jahren zusammen. Ich liebe sie über alles, und sie liebt mich. Wieso muss sie dann noch so lange überlegen?“
„Ich habe keine Ahnung“, entgegnete Raen und sah über Herekes Schulter hinweg zum Fenster. Es versetzte ihm einen Stich, seinen Freund über das reden zu hören, was für ihn so schmerzlich unerreichbar war. Und ohne es verhindern zu können, machte sich plötzlich ein Gefühl der anderen Art in ihm breit: Neid. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
Hereke hob die Schultern. „Ich dachte, du wüsstest vielleicht etwas. Du siehst sie ja regelmäßig und du bist wie ein Bruder für sie. Hat sie dir nicht etwas gesagt?“
„Ich habe sie nicht gesehen, die ganzen letzten Wochen nicht! Ich weiß nichts!“, entgegnete Raen darauf - vielleicht einen Hauch zu bestimmt, denn Hereke sah ihn kurz verwundert an. Er wollte offenbar etwas sagen, ließ es dann aber sein.
Sie schwiegen. Raen fühlte, dass sein Freund Hereke enttäuscht war. Er suchte nach etwas, das er ihm zur Aufmunterung sagen konnte. „Komm schon, du bist ein toller Kerl und das weiß sie. Sie lässt dich nur ein bisschen zappeln, als letzte Probe vielleicht. Aber am Ende wird sie einwilligen, dessen bin ich gewiss.“ Er stieß ihn mit dem Ellenbogen an.
Hereke biss sich auf die Lippe. „Ach Raen, wenn du wüsstest, wir haben ja noch nicht einmal ...“ Er brach ab, als sein Vater und die anderen Arbeiter den Raum betraten. „Später“, sagte er daraufhin nur noch und wirkte danach das ganze Essen über sehr still.

Später dann, als die anderen sich zurückgezogen hatten und sie wieder allein im Essraum waren, kam Raen höflich auf das unterbrochene Thema zurück, doch Hereke winkte ab.
„Es verdirbt mir nur die Laune“, sagte er missmutig, „Frauen sind eben manchmal nicht zu durchschauen, und ich bin nichts weiter als ein elendig verliebter Narr, der keine Geduld hat!“
Raen nickte verständnisvoll, dankte innerlich aber Hyaun dafür, dass ihm dieses prekäre Thema nun doch erspart blieb. Er schützte Müdigkeit vor und wollte sich verabschieden.
„Willst du nicht hier übernachten?“, bot ihm Hereke an, doch Raen wusste, dass er dessen traurigen Blick nicht länger würde ertragen können, und lehnte dankend ab.
Mit einer Laterne in der Hand ging er wenig später durch die gefrorene Dunkelheit zum Chorten hinauf. Nicht ein einziger Stern war am Himmel zu sehen.
Kurz darauf lag er in seinem warmen Bett und konnte nicht einschlafen. Das Gespräch mit Hereke hatte ihn zu sehr aufgewühlt.
„Das nächste Mal höre ich auf meine innere Stimme, und gehe ihm gleich von Vornherein aus dem Weg“, sagte er vorwurfsvoll zu sich selbst. „Auch wenn es ihn enttäuscht, aber so ist es erst einmal besser für uns beide.“ Er rollte sich auf die andere Seite und versuchte, an etwas anderes zu denken. An Jakori und an ihr mögliches Fohlen. Nein, das half nicht. Immer wieder schlug sein Herz flimmernd schneller, wenn er sich an Herekes Worte erinnerte: ‚Sie hat nicht Ja gesagt!’
Gab es etwa doch noch Hoffnung? Würde Suneka Hereke nicht zum Mann nehmen und sich womöglich von ihm trennen? Wenn ja, dann war der Weg frei. Oder war er es Hereke aus Freundschaft schuldig, sie auch dann nicht anzurühren? Er rollte sich wieder auf die andere Seite.
„Das hat doch alles kein Zweck, es ist Schwachsinn, über etwas nachzudenken, das nur mit würde, hätte, könnte beginnt!“, rief er sich zu recht. „Vergiss das bloß ganz schnell wieder!“
Aber, wenn es doch ein kleines winziges Fünkchen Hoffnung gibt! Sie hat schließlich nicht Ja gesagt!, meldete sich die andere Stimme im trotzigen Widerspruch aus seinem Herzen.
Raen wusste nicht, wie weit die Nacht schon fortgeschritten war, als er sich gequält dazu entschloss, aufzustehen und in den Tempel zu gehen. Er zog sich leise an und schlüpfte aus dem Zimmer. Auf der Treppe im unteren Stockwerk blieb er unvermittelt stehen. Da war doch jemand gewesen, er hatte deutlich einen Schatten am Fenster vorbeihuschen sehen. Er spähte in die Dunkelheit. Oder hatte er sich getäuscht?
Er hörte ein Knarren der Bohlen. Da war tatsächlich jemand.
‚Na warte!’, dachte er und schlich vorsichtig weiter. Der Schatten bewegte sich ebenfalls, viel lauter als er kam er die Stufen hochgestiegen. Dann war Raen nur noch eine Armeslänge von der Person im Dunkeln entfernt. Er wappnete sich und griff zu. Ein erschrockener Aufschrei ertönte. Ein weiblicher!
Jetzt war auch Raen überrascht, aber er ließ die Schulter seiner Gefangenen nicht los.
„Was treibst du dich hier herum?“, fragte er die vermeidliche Übeltäterin, obwohl es des Öfteren vorkam, dass ein Mädchen des Nachts heimlich durch die Wohnräume der unverheirateten Männer schlich.
„Raen, bist du es?“, hörte er sie flüstern.
„Suneka?“, stieß er erstaunt aus und er musste kurz überlegen, ob er nicht doch in seinem Bett lag, selig schlief und von ihr träumte, denn das verbotene Sehnen breitete sich angenehm in seinem Bauch aus. Ungewollt grob stieß er Suneka von sich, als sei sie giftig. „Was machst du hier? Hast du etwa noch einen anderen Freund?“, zischte er sie bemüht empört an.
„Ich? Nein! Ich wollte zu dir“, gab sie offen zu.
„Zu mir?“, fragte Raen ungläubig. Er ärgerte sich, dass er im Dunkeln nicht ihr Gesicht sehen konnte. „Warum das?“
„Lass uns irgendwo hingehen, wo wir ungestört reden können.“
„Wieso denn das?“
„Bitte!“
„Und wenn ich das nicht will?“, blieb Raen hart. Die ganze Sache war ihm mit einem Mal unheimlich. Das Ziehen in seinem Bauch verstärkte sich.
„Dann ...“, flüsterte sie, und er meinte ein leichtes Zittern in ihrer Stimme zu vernehmen, „... dann eben nicht.“ Sie wollte sich wegdrehen. Aber er griff noch einmal nach ihrem Arm.
„Warte.“ Er wagte es nicht, ihren Namen auszusprechen, so sehr hatte er es sich selbst verboten, und er wollte auch jetzt nicht davon abweichen. „Oben ist ein Zimmer leer.“
Er zögerte kurz, begann dann aber vor ihr die Treppe hinaufzusteigen. Sie folgte ihm still. Raen spürte, wie ihm seine Knie weich wurden, und seine Gedanken rasten schwindelerregend von einem Würde, Hätte und Könnte zum nächsten. Schließlich betrat er das leere Zimmer und schloss hinter Suneka sorgfältig die Tür. Sie setzten sich in den Erker. Draußen war nicht das Geringste zu erkennen in dieser Nacht ohne Sterne.
Sie schwieg immer noch und nestelte an ihrer Kleidung herum, das konnte er hören. Wann war er das letzte Mal mit ihr allein gewesen? Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, und seine ganze harterprobte Selbstbeherrschung war jetzt gefragt. Eigentlich war er ganz froh, nur ihre Umrisse erkennen zu können, denn er wusste nicht, was er getan hätte, wenn er in dieser vertrauten Zweisamkeit ihre Erscheinung im hellen Licht des Tages hätte wahrnehmen können.
Doch das, was seine Augen nicht sahen, registrierten dafür seine Ohren. Und das akustische Bild, welches dabei entstand, regte seine Vorstellungskraft nur umso mehr an. Er hörte ihren Atem, ein leises weiches Geräusch, und er sah sie im Schlaf neben sich liegen, die Augen geschlossen und das Gesicht entspannt, auf den Lippen ein leichtes Lächeln. Er hörte, wie sie ihren Kopf wand, und ihre Haare über ihre Kleidung strichen, diese wundervollen langen, braunen Strähnen. Er meinte mit einem Mal auch, sie riechen zu können. Ihr Duft schwebte durch das Dunkel zu ihm herüber. Das war zu viel für ihn. Ruckartig lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. ‚Lass dich nicht zum Narren halten! Und bleib besonnen!’, mahnte er sich und fragte dann laut: „Was ist nun?“ Es klang emotionslos. Aber seine eigene dunkle Stimme in die Stille hineingesprochen zu hören, brachte ihn ein Stück weit zurück in die Realität.
„Ich ...“ Suneka schien mit etwas zu hadern. „Ich glaube, ich gehe besser wieder. Es war nicht richtig ... vergiss es am Besten.“ Sie stand auf. Aber Raen wollte nicht, dass sie ging. Nicht jetzt! Er sprang auf und hielt sie an den Schultern fest. Ihr Duft hüllte ihn ein.
„Bitte, bleib. Was wolltest du sagen?“, fragte er jetzt etwas milder. Suneka seufzte vernehmlich und sie setzte sich wieder. Raen hatte keine Ahnung, weshalb er das tat, aber er ließ sich direkt neben ihr nieder. Warm spürte er die Nähe ihres Körpers.
„Ach, Raen, ich bin so unglücklich. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Es ist alles so ... schiefgelaufen!“, brach es aus ihr heraus, und er fühlte, dass ihre Verzweiflung echt war.
„Was ist schiefgelaufen?“ Unbewusst beugte er sich ein wenig mehr zu ihr hin.
Sie zögerte. Er hob eine Hand und wollte sie auf ihren Unterarm legen, der in ihrem Schoß lag, doch er zwang sie im letzten Moment zurück und setzte sich stattdessen darauf. Als Erinnerung an sein Versprechen an seine Freundschaft mit Hereke biss er sich schmerzhaft auf die Unterlippe. Da hörte er, wie sie leise zu weinen begann. Seine Anspannung wuchs ins Unerträgliche, aber er saß weiterhin unbeweglich da.
„Hereke“, brachte Suneka schließlich flüsternd hervor. Es war nur ein Name, nichts weiter als ein geflüsterter Name. Für Raen aber war damit alles klar, und plötzlich trat der seit Monaten angestaute Fluss seiner Gefühle über die Ufer, drückte unaufhaltsam gegen die um einen letzten Einhalt schreienden Dämme. Vor seinem inneren Auge tauchte das Gesicht seines Freundes auf. Es schwebte über den Fluten, doch diese stiegen und stiegen, und die Dämme bekamen Risse. Dann schwoll der Fluss plötzlich sprunghaft an, und das Gesicht tauchte ganz ins Wasser ein - ertrank still und leise im braunen Getöse der Flut.
„Raen, ich wollte es dir schon lange sagen. Verzeih mir, dass ich es nicht konnte. Aber … ich liebe dich!“
Brodelnd und schäumend riss der Fluss die Dämme nieder, spülte alle Widerstände einfach fort wie zarte Bauten aus Papier. Und in Raen löste sich etwas, das schon seit langer Zeit hinausgewollt hatte. Es wurde auf dem Fluss mit davongetragen, wogte kurz in der Ferne auf den braunen Wellen und war dann endgültig verschwunden.
„Ich habe dich schon immer geliebt!“, hörte er Suneka flüstern.
Alles wurde mit einem Mal bedeutungslos, wurde unwichtig gegen diese mächtigen Worte, und gnadenlos nahm der Fluss mit sich, was ihm nicht standhalten konnte: Sämtliche selbsterrichteten Mauern, Schutzwälle und die einsam mahnenden Stützpfeiler der Moral. Raens spürte, wie sein Inneres restlos freigespült wurde. Zweifel, Gewissen, Glaube, Treue, Vertrauen, Beherrschtheit, Wahrhaftigkeit, das alles waren nun mehr nichts als Wörter ohne jegliche Bedeutung; leere Gefäße aus Buchstaben ohne Sinn. Sie zerschellten eines nach dem anderen in den entfesselten Fluten des Flusses.
Aber die Freundschaft!, schrie jene kleine, dünne Stimme mit letzter Kraft auf, sich nur mühsam über Wasser haltend.
‚Auch das nur ein Wort!’, donnerte der Fluss, und gurgelnd fand die Stimme ein Ende.
„Ich wolle immer nur dich, wollte immer nur in deiner Nähe sein. Aber du ... du hast mich nie angesehen!“ Suneka schluchzte bereits heftig, so sehr brachen sich auch ihre verborgenen Empfindungen Bahn.
„Schhhht, du brauchst nichts mehr zu sagen.“ Raen hob die Hand und berührte ihre Wange. Seine Fingerspitzen strichen über die weiche Haut, spürten die Wärme darunter, die Tränen. „Ich war ein Narr, dass ich es nicht gesehen habe.“
Suneka sackte zusammen, als sei nun alles aus ihr heraus. Sie lehnte sich mit ihrem Kopf an seine Schulter, und er legte einen Arm um sie. Unwiderstehlich drang der Duft ihrer Haare in seine Nase. Das Feuer in seinem Innern loderte auf.
Da war nun das pure Leben, und er brauchte nur zuzugreifen.
‚Nimm es’, schrie die heiße Flamme. ‚Es ist dein Leben!’
Und Raen zögerte nicht mehr länger, er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Er spürte mit waschender Erregung, wie sie seinen Kuss erwiderte, als würde ihr innigster Wunsch endlich Erfüllung gehen.
Wild und heftig war die Umarmung, und beide rangen nach Atem, als sie sich wieder voneinander lösten.
„Ich habe versucht, mit Hereke zusammen zu sein. Ich hatte gedacht, ich könnte es. Da du dir Kosam als Gefährtin ausgesucht hattest, gab es für mich keine Hoffnung mehr. Aber seit ... seit sie nicht mehr da ist und du wieder frei ... da konnte ich nicht mehr. Ich mag Hereke sehr, aber ich liebe ihn nicht. Ich habe es wirklich versucht, Raen. Ich will nicht, dass du glaubst, er sei bloß nur ein Trost oder ein Zeitvertreib für mich gewesen.“ Sie versuchte, in der Dunkelheit seine Reaktion zu erspüren und nahm seine Hand. „Ich habe dich schon geliebt als wir noch Kinder waren ... und zusammen den Schulweg gegangen sind. In der mittleren Klasse, weißt du noch?“
„Ja, das ist lange her.“ Er hob ihre Hand und berührte ihre Finger mit seinen Lippen. „Du warst wie eine zweite Schwester für mich, besonders als Andra fort war.“
„Und seit wann bin ich das nicht mehr?“, wollte sie wissen.
Er hielt inne.
„Seit der Ernte. Du hast Äpfel eingesammelt - an dem Tag an dem ich den Hitzschlag hatte -, und da hat es mich erwischt. Später hast du noch an meinem Bett gesessen.“
Sie schwiegen, da sie beide der gleichen Erinnerung nachhingen.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Suneka ängstlich, ihre andere Hand knetete den Stoff ihrer Kleidung.
„Am Besten, wir sagen es ihm.“
„Nein, das kann ich nicht, Raen!“, rief sie mit wachsender Bestürzung in der Stimme. „Ich will eure Freundschaft nicht zerstören! Das wäre unverzeihlich. Wir müssen einen anderen Weg finden.“
„Es gibt aber keinen anderen Weg“, beschied Raen, „wenn wir zusammen sein wollen, dann müssen wir es tun.“
„Aber, er wird es nicht verstehen!“
„Das stimmt, das wird er nicht. Und er wird auch nicht mehr mein Freund sein wollen!“ Raen machte sich keine Illusionen machte, und bitter stieg die Angst in seiner Kehle hoch. Dabei drückte er Sunekas Hand ganz fest. Oh Hyaun, was waren sie da im Begriff zu tun?
„Dann werde ich es ihm sagen. Ich allein bin schuld, nicht du! Ich werde es ihm erklären, dann wird er nur auf mich böse sein“, entgegnete Suneka entschlossen.
„Suneka“, raunte Raen beschwörend, „das wird nichts helfen. Wenn er erfährt, dass ich mit dir zusammen bin, dann wird er in gleichen Maßen auch auf mich zornig sein und das zu Recht. Glaub mir, es gibt nur diese eine Lösung: Wir beide müssen zu ihm gehen und ihm reinen Wein einschenken, je eher, desto besser. Am besten, sofort!“
„Du willst also für mich deine Freundschaft zu Hereke aufgeben?“ Es klang traurig.
Hin- und hergerissen leckte Raen sich über die Lippen. Natürlich wollte er das nicht, aber es würde zwangsläufig so kommen. Er musste sich entscheiden. „Auch ich kann und will nicht mehr zurück!“, flüsterte er, obwohl er Angst vor seinen eigenen Worten hatte. „Ich will ... dich.“
Suneka wandte sich ihm im Dunkeln zu. „Aber wir können doch noch etwas abwarten. Ich teile Hereke mit, dass ich mich von ihm trenne, und wir halten unser Zusammensein so lange geheim, bis er darüber hinweg ist. Das wird bestimmt klappen. Lass es uns wenigstens versuchen!“
Raen lächelte über ihre unverbesserlichen Bemühungen, das Unheil abwenden zu wollen. Doch er wusste es besser. „Er ist mein bester Freund, und ich verrate ihn, so oder so! Suneka, weißt du überhaupt, wie sehr Hereke dich liebt? Er hat nie jemand anderen gewollt als dich. Du bist seine Zukunft. Er wird es mir nie verzeihen, wenn ich das zerstöre, egal, was passiert! Also hat es auch wenig Sinn, ihn täuschen zu wollen, das macht alles womöglich nur noch schlimmer.“
„Warum willst du diese Chance - so winzig sie auch ist - verspielen? Eine Freundschaft wie die eure, die schon so lange Bestand hat, könnte das vielleicht überstehen.“
Raen schüttelte den Kopf. „Ich verstehe, dass du dir das gerne einreden möchtest, doch wenn du dir gegenüber ehrlich wärest, dann wüsstest du, dass so etwas selbst Brüder auseinanderbringen kann.“
„Raen, ich bitte dich um diese eine Sache! Tu es, mir zu Liebe - und vielleicht auch Hereke zu Liebe!“, drängte sie ihn trotz allem weiter, und Raen gab schließlich nach. Er ließ die Schultern sinken.
„Nun gut, warum nicht. Versuchen wir es, aber ... ach, was soll’s, die Zeit spielt jetzt eh keine Rolle mehr“, murmelte er und drückte erneut ihre Hand an seinen Mund. Nur früher oder später mussten sie ehrlich sein, um diese Tatsache kamen sie nicht herum.
Draußen zeigte sich ein erster Schimmer am Horizont. Die sternenlose Nacht des Verrats war vergangen. Und der Morgen würde ihnen nur wenig verzeihen, was sie in dieser Nacht ausgeheckt hatten.
„Ich werde gleich zu ihm gehen und ihm sagen, dass ich mich von ihm trenne.“ Suneka klang bestimmt.
„Tu das“, antwortete er leise und sah wieder nach draußen. Sein Herz wurde mit jedem Detail, welches die zurückweichende Nacht enthüllte, schwerer. Der Horizont zeichnete sich nun schon deutlich ab. Ein schwarzes, hügeliges Band unter einem unruhig, stahlgrauen Himmel. Heute würde der Sonnenaufgang in den Wolken versteckt sein, dachte er, und es würde keinen still empfundenen Frieden geben.
Er küsste Suneka auf die Wange und schickte sie in ihren Turm zurück. Er selbst ging hinüber in den Tempel, um die letzte Stunde vor dem Sonnenaufgang allein zu sein, und vielleicht etwas Linderung für sein brennendes schlechtes Gewissen zu finden.

Nach dem Morgenmahl musste Raen all seinen Mut zusammen nehmen, um einer eventuellen Begegnung mit Hereke standhalten zu können, ohne sich dabei selbst zu verraten. Er ging getrennt von den anderen zum Übungsgelände, denn er wollte sich am heutigen Tag mit niemandem unterhalten müssen.
Bei den Übungen mit dem Schwert war er äußerst unkonzentriert, denn ständig malte er sich aus, dass Suneka gerade in diesem Moment vor Hereke stand und sich von ihm lossagte. Sein Herz verkrampfte sich bei dem Schmerz, den er für seinen Freund empfand.
‚Es tut mir leid, Hereke, bitte glaub mir, es war nicht meine Absicht!’
Ha, du elender Verräter, tu doch nicht so heuchlerisch! Er wird dich hassen, Raen, du wirst dich selbst hassen, und die anderen werden mit dem Finger auf dich zeigen. „Verräter“ werden sie rufen, „Elender Betrüger“! Du bist eine Schande im Angesicht Hyauns!, fuhr sofort die andere Stimme strafend auf ihn hernieder.
‚Ich bin kein Verräter! Ist die Liebe etwa ein Verräter?’, versuchte er, sich zu wehren.
Oh ja, der größte, den es gibt!
„Raen!“, hallte es durch den Raum.
„Ja!“, rief er gehorsam und hielt sofort in seinen Bewegungen inne.
„Was machst du da?“, fragte Kensa streng und kam auf ihn zu.
Raen sah verwirrt an sich herunter. Er stellte fest, dass sein Holzschwert zerbrochen war. Er blickte auf seinen Übungspartner, den älteren Laghat, der seine rechte Hand hielt und ihn böse anfunkelte.
„Was war denn?“, fragte er entgeistert und betrachtete die Bruchkante des Holzes.
„Du hast so heftig auf mein Schwert geschlagen, dass deines zerbrochen ist. Mann, willst du mich umbringen? Meine Hand ist geprellt.“ Laghat rieb sich den schmerzenden Handballen und bewegte probeweise den Daumen. Er verzog das Gesicht. „Wenn er nicht sogar gebrochen ist!“, ergänzte er vorwurfsvoll. „Du kannst doch nicht ohne Warnung so hart zuschlagen!“
„Geh dir den Daumen kühlen, Laghat, und dann hinauf zu den Medizi. Sie sollen ihn untersuchen“, ordnete Kensa an, und Laghat ging ohne ein weiteres Wort zur Tür. Sein Holzschwert knallte er wütend in die Ecke. Kensa schüttelte darüber den Kopf und wandte sich wieder Raen zu.
„Und du, reiß dich zusammen! Wir alle wissen, wie gut du bist, das musst du nicht ständig demonstrieren!“
„Aber, das wollte ich doch gar nicht!“, protestierte Raen gegen Kensas Behauptung.
„So, was wolltest du dann?“
„Ich weiß nicht. Ich ... ach, Laghat stellt sich aber auch immer an. Er mag mich sowieso nicht.“
„Hier geht es nicht darum, wer wen mag. Es geht darum, zusammen zu üben und sich gegenseitig zu verbessern. Ich glaube darüber haben wir bereits zu genüge diskutiert, mein Freund! Nachher wirst du dich bei ihm entschuldigen, und jetzt nimmst du dir ein neues Schwert, und damit du nicht wieder jemanden verletzt, arbeitest du bis zum Mittag allein die vierundachtzig Positionen durch!“
Raen senkte den Kopf. „Ja, Banskeid Kensa.“ Er nahm ein neues Schwert von der Wandhalterung, ging hinüber zu dem Schnittmann, stellte sich vor, es sei Laghat und legte los.
„Ich höre dich nicht!“, rief Kensa ihm mahnend zu und machte damit deutlich, dass er Raen genau beobachtete.
„Eins!“, schrie Raen die Puppe an. Er kochte innerlich. Das namenlose Gefühl tanzte einen Kriegstanz in seinem Bauch.
„Zwei!“ Dieser Treffer auf der Jutepuppe ließ sein eigenes Handgelenk schmerzhaft vibrieren. „Drei!“
Und so verging die Zeit bis zum Mittag wenigstens schnell und ohne, dass er weiter an Hereke oder Suneka denken musste.

In der Mittagspause saß Raen für sich allein auf der Veranda hinter der Halle und aß. Der Tag war, wie er vermutet hatte, nicht aufgeklart. Unbeweglich grau hing der Himmel über den Hügeln, und feucht kroch die Kälte in seine Glieder, aber das störte ihn nicht. Hauptsache, er war allein. Auf der fernen Weide konnte er ein paar der Pferde stehen sehen. Jakori war aber nicht dabei. Er steckte den Rest des frisch geräucherten Hirschschinkens in seinen Mund und kaute lange darauf herum, bevor er ihn hinunterschluckte. Den würzigen Geschmack nahm er dabei kaum wahr.
Ob Suneka jetzt schon bei ihm gewesen war?, fragte er sich und zog den Kragen seiner Jacke am Hals zu. Es ließ ihm einfach keine Ruhe!
‚Vielleicht sollte ich schnell zum Chorten hinauflaufen und Suneka fragen?’ Er erhob sich, blickte immer noch zu den Pferden hinüber. ‚Vielleicht sollte ich mich aber auch einfach in Geduld üben!’
„Raen, wo bist du? Hereke ist hier und will mit dir sprechen!“, rief einer der anderen Krieger aus der Halle.
Raen sackte das Herz in die Hose.
‚Er weiß es! Er weiß, was ich getan habe, und nun kommt er, um mich öffentlich anzuklagen!’ Er straffte sich, obwohl ihm der Schweiß ausbrach. ‚Jetzt gibt es kein Zurück mehr!’
Bemüht ruhig ging er um die Ecke und sah Hereke, dessen Gesichtsausdruck alles sagte.
„Was ist denn los?“, erkundigte er sich unschuldig.
„Kann er kurz mitkommen?“, fragte Hereke den Krieger, und dieser nickte.
Raen trat zu seinem Freund. Alles in ihm sträubte sich, in dessen Nähe zu kommen, aber er zwang sich, es zu überwinden.
Hereke packte ihn am Ärmel und zerrte ihn wieder zurück hinter die Halle.
„He, nicht so stürmisch! Was in Hyauns Namen, ist mit dir?“
Verräter!
„Raen, du musst mir helfen!“, sagte der junge Reitmeister völlig Aufgelöst. Raen vermutete, dass er bis zum Übungsgelände gerannt war.
„Wobei denn?“ - ‚Er weiß es nicht’, dachte ein Teil in ihm erleichtert, aber der andere war weiterhin angespannt.
„Suneka war bei mir. Sie hat unsere Verbindung gelöst!“
„Was? Das gibt es doch nicht! Wieso denn das?“, stutzte Raen gespielt fassungslos. Er begann sich immer miserabler zu fühlen. Er war von Anfang an dagegen gewesen, solch ein unehrliches Spiel zu spielen. Aber erst jetzt wurde ihm klar, was es für ihn bedeutete. Er würde Hereke zur Seite stehen müssen, denn er war sein bester Freund. Er würde ihn trösten und sich all seinen Liebesschmerz anhören müssen, und wie lange das gehen mochte, das stand in den Sternen.
‚Warum hast du dich nur darauf eingelassen! Du Dummkopf, schon wieder hast du nicht auf deine innere Stimme gehört, obwohl du es geahnt hast!’
Hereke stand das Elend ins Gesicht geschrieben. Seine geröteten Augen zeigten, dass er kurz zuvor geweint haben musste.
„Ich weiß es nicht. Sie hat mir nur gesagt, dass sie viel nachgedacht hätte und zu dem Schluss gekommen sei, nicht mit mir zusammen sein zu können. Sie würde mich nicht genug lieben und es wäre nur ehrlich, wenn sie mir das sagte. Ich hätte etwas Besseres verdient! Ob es mit meinem Heiratsantrag zu tun hat? Habe ich sie zu sehr bedrängt? Raen, ich will doch nur sie!“
Raen schloss kurz die Augen, was für Hereke so aussehen musste, als würde er sich maßlos über Sunekas Verhalten ärgern, doch innerlich rüstete er sich für die schwere Aufgabe, die ihm bevorstand. Er würde jetzt all seine Kraft zusammennehmen müssen, um das zu überstehen.
„Ist noch bei Verstand? Wie kommt sie denn darauf?“, stieß er verärgert aus, als er die Augen wieder öffnete, und hoffte, dabei überzeugend zu klingen.
Verräter!
Er begann sich selbst zu hassen. Raen zwang sich, einen Arm um seinen größeren Freund zu legen, und der fing an, zu schluchzen.
„Sie ... gestern war sie noch ganz normal. Was ist nur in sie gefahren?“ Er ließ sich auf die Veranda plumpsen und legte seinen Kopf auf die angewinkelten Knie.
„Das möchte ich auch gern mal wissen“, log Raen und stemmte empört die Hände in die Hüften. Er wünschte sich, weit weg zu sein.
„Sie liebt mich nicht genug - was bedeutet das? Ist es ein anderer, den sie mehr liebt?“
„Nein, wer sollte denn das sein? Das kann ich mir nicht vorstellen. Aber vielleicht hat sie dich nie ..., nun ja, wie soll ich das sagen, ... wirklich geliebt, sondern nur ... gemocht. Vielleicht hat sie es selbst nicht unterscheiden können. Und als du sie gefragt hast, ob sie dich heiraten will, hat sie begonnen darüber nachzudenken“, versuchte Raen die Lage zu deuten, ohne dabei rot zu werden.
„Ach, hätte ich sie doch bloß nicht gefragt!“, heulte Hereke herzzerreißend.
„Dann hätte sie es nicht heute, sondern später getan!“ Wenigstens das war keine Lüge.
„Raen, kannst du nicht zu ihr gehen und sie fragen, ob sie es sich nicht noch einmal anders überlegt? Bitte, ich weiß sonst nicht, was ich tun soll. Ich will sie nicht verlieren!“
‚Du hast sie aber leider schon verloren, wenn du sie überhaupt jemals wirklich ganz gehabt hast!’, dachte Raen bitter. „Kann ich tun, aber ich denke, es wird nicht viel helfen. Wir beide wissen doch, wie dickköpfig sie ist!“ Er hockte sich neben Hereke und strich ihm über den Rücken, während dessen Tränen heiß auf die Bretter der Veranda tropften.
Verräter! Verräter!
Raen ballte die andere Hand zur Faust, aber so, dass sein Freund es nicht sehen konnte.
„Danke, ich wusste, du bist ein echter Freund!“ Hereke hob den Kopf und sah Raen mit tränenüberströmten Wangen an.
„Mach ich doch gern.“ Am liebsten hätte Raen auch noch in die Faust hineingebissen. „Soll ich sofort gehen? Die lassen mich hier bestimmt weg“, bot er an und stand auf. Er wollte dieser Situation so schnell wie möglich, entfliehen, denn er hielt es kaum noch aus.
In Herekes braunen Augen keimte ein Hoffnungsschimmer, der Raens Herz durchbohrte.
„Ich komme dann gleich zu dir, wenn ich etwas herausbekommen habe.“ Er nickte Hereke aufmunternd zu. Der stand ebenfalls auf und umarmte Raen, der fast geschrien hätte.
„Danke!“
„Bis gleich.“ Er löste sich und rannte davon, natürlich, ohne zu fragen, ob er gehen durfte.
Hereke sah ihm hinterher, froh darüber, einen so guten Freund zu haben. Er strich sich die Tränen aus den Augenwinkeln und marschierte mit hängenden Schultern zum Hof zurück.

Raen wäre am liebsten mit dem Kopf gegen die Mauer gerannt, um seine quälende Schuld zu betäuben. Wie ein Besessener eilte er durch das Tor und wäre dabei beinahe über eine kleine Stufe im Pflaster gestolpert. Mit rudernden Armen behielt er seine Balance und stürmte weiter.
„Ist was passiert?“, fragten die zwei wachhabenden Krieger.
„Nein, nichts, ich hab’s nur eilig“, rief er zu ihnen zurück. Er erreichte die Stufen zum Südturm und nahm immer drei auf einmal. Er durchquerte die Eingangshalle und polterte in die Küche. Hektisch sah er sich um, konnte Suneka aber nicht finden.
„Wo ist Suneka?“, fragte er die Parta Al Tena, die ihm am nächsten stand.
„Sie ist oben in ihrem Zimmer. Ihr geht es nicht gut“, antwortete die Frau, und schon war Raen wieder verschwunden. Er fegte die Treppe hinauf und klopfte an die Tür.
Erst hörte er nichts, dann ein leises „Ja?“.
Er öffnete die Tür und sah Suneka auf ihrem Lager sitzen. Sie war allein und weinte.
„Du solltest nicht hier sein“, flüsterte sie beinahe vorwurfsvoll. „Jemand könnte uns sehen, und alles durchschauen.“
„Ich bin hier, weil ich Hereke versprochen habe, mit dir zu reden!“, entgegnete Raen außer Atem. Er zog sein Schwert aus dem Gürtel und setzte sich neben sie.
„Worüber?“
„Das kannst du dir ja wohl denken. Er will dich nicht verlieren.“
Suneka warf ihr Gesicht in beide Hände. „Es war so schlimm, ihm das anzutun, Raen. Es hat so weh getan!“
‚Was meinst du, wie schlimm es erst für ihn war!’, dachte er, aber es tat ihm auch leid, sie so weinen zu sehen. Er strich ihr über den Arm. Sein Verlangen nach ihr erwachte wieder, und seine Hand fuhr höher auf ihre Schulter und in ihr Haar. Einen Augenblick später besann er sich und nahm sie wieder fort. Das hatte hier jetzt keinen Platz!
„Du wirst ihm natürlich ausrichten, dass es keine Chance für ihn gibt!“, sagte Suneka schließlich. „Und dass ich erst einmal allein sein will.“
Raen nickte. Die Trennung der beiden würde sich schnell herumsprechen. So etwas machte immer rasch die Runde. Das bedeutete aber auch, dass sie äußerst vorsichtig sein mussten. Sie durften jetzt nicht allzu oft miteinander gesehen werden, wenn ihr Plan funktionieren sollte. Oh, wie sich das anhörte: Ihr Plan! Widerwärtig und schlecht. Aber das war es ja auch!
Raen lehnte sich vor und gab Suneka einen zaghaften Kuss. Bei der Berührung ihrer Lippen durchströmte es ihn heiß, und gern hätte er sie an sich gedrückt und sie mit Küssen überdeckt, wenn nicht sein Verstand ihn an seine Aufgabe erinnert hätte.
„Dann werde ich jetzt mal wieder zu ihm gehen. Ich bin schließlich sein Freund!“, sagte er sarkastisch und machte sich auf den schweren Weg zu Hereke.

Die Zeit nach dem Verrat, wie Raen das Kind unverblümt beim Namen nannte, war eine stille Qual. Er verzehrte sich nach Sunekas Nähe, musste aber den Abstand zu ihr wahren und mit ansehen, wie sein Freund hoffnungslos litt. Raen hatte es schließlich am ratsamsten gefunden, einfach das fortzusetzen, was er schon zuvor getan hatte: Er zog sich in den Tempel zurück. In langen schlaflosen Nächten versuchte er, ein Zeichen Hyauns dafür zu bekommen, dass Er ihn bei seiner schimpflichen Tat nicht ganz allein ließ, dass vielleicht doch etwas Gutes daran sein mochte. Doch, ganz wie er es befürchtet hatte, blieb Hyaun stumm.
‚Dann lass Dein Schwert auf mich herniederfahren und erschlage mich! Sofort! Bestrafe mich!’, dachte Raen provozierend und blickte in das goldene Gesicht hinauf. Aber auch das geschah nicht. Als Ratgeber ließ ihn sein Gott dieses Mal im Stich.

Der eisige Winter kam und deckte das Land mit seinem weißen Tuch zu, verbannte die Menschen in ihre warmen Häuser. Die Abende der Besinnung, aber auch der Geselligkeit riefen die Familien zusammen vor ihre Kamine, und es wurden die alten Geschichten erzählt, denen besonders die Kinder gerne gebannt zuhörten.
Es war aber auch eine Zeit, in der man sich gut unbemerkt davonschleichen konnte, da die eingeschränkten Arbeitsaufgaben die Leute weniger kontrollierte.
„Und wie lange wollen wir das jetzt noch machen? Ein halbes Jahr? Ein ganzes?“, drängte Raen Suneka. Sie saßen zwischen den Vorratssäcken in einem der Speicherhäuser, die es im Chorten gab. Suneka hatte herausgefunden, dass die Parta Al Tena diesen Raum nicht oft betraten. In der hintersten Ecke hinter den großen Säcken hatten sie sich ihren geheimen Treffpunkt eingerichtet und einige Decken schützten sie vor der Kälte. Sie verabredeten sich immer nur spät abends nach dem Nachtmahl. Suneka hatte eine kleine Öllampe angezündet und ihr Gesicht war vor dem dunklen Hintergrund wie ein schwebender Mond am Nachthimmel.
„Zumindest so lange, dass Hereke keinen Verdacht schöpft“, entgegnete sie. „Du willst ihn doch nicht verlieren, oder?“ Sie hielt ihre Hände zwischen ihren Oberschenkeln, um sie warm zu halten.
Raen knirschte mit den Zähnen. Er hasste diese Geheimnistuerei mittlerweile abgrundtief, sie war falsch.
„Aber ich kann das nicht mehr lange. Es macht mich fertig, Hereke derart zu belügen. Das kannst du dir gar nicht vorstellen. Er ist immer noch am Boden zerstört, und gar nicht mehr wiederzuerkennen.“
Suneka sagte nichts. Auch sie hatte offensichtlich ein schlechtes Gewissen, wenn sie an Hereke dachte, der nur noch ein Häufchen gebeugtes Elend war. Nichts war mehr zu sehen von dem aufrechten, lebensfrohen Mann, der er einst gewesen war. Raen rief sich Herekes Gesicht in Erinnerung. Es wirkte stumpf und immer müde und dessen Augen spiegelten niedergedrückte und verletzte Gefühle wider, wenn sie jemanden ansahen. Aber am Schlimmsten war, dass seine bei allen Leuten so berühmte Fröhlichkeit fort war. Sie war ausgezogen aus seinem Herzen, das verzweifelt versuchte, den Verlust zu verarbeiten, und niemand wusste, ob sie jemals wiederkommen würde.
„Außerdem, Suneka, will ich dich endlich berühren dürfen, ohne die Angst, entdeckt zu werden. Ich brauche dich, deine Nähe.“
Es machte sie glücklich, dass er das sagte, das sah er an ihrem Lächeln. Doch offenbar konnte er sie nicht überzeugen, denn sie fragte ihn: „Raen, hast du eine Ahnung, wie lange ich auf dich gewartet habe?“
„Ich vermute, sehr lange“, antwortete er kleinlaut.
„Da macht ein halbes Jahr nicht mehr viel aus, und du wirst es auch schaffen!“
Sie wollte ihm Kraft geben, indem sie so tat, als sei sie stark. Aber Raen spürte, dass auch sie um ihre eigene Standhaftigkeit fürchtete. Auch sie wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich ohne das ständige Versteckspiel mit ihm zusammen sein zu können. Er nickte, sah sie danach aber offenbar so gequält an, dass sie ihm eine Hand auf sein Knie legte und ihm tief in die Augen blickte. Kurz darauf lag sie in seiner Umarmung und schmiegten sich eng an ihn.
„Ich lass dich einfach nicht mehr los“, flüsterte er an ihre Wange.
„Dein Wort in Hyauns Ohr“, seufzte sie. „Warten wir auf den Frühling, dann wird alles besser.“
Raen versuchte daran zu glauben und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren.

31. Kapitel



In den Tagen, in denen der Schnee schmolz, erwachte in Raen tatsächlich die Hoffnung, dass mit dem Frühling auch eine Veränderung kommen würde. Der warme Wind auf seinem Gesicht und das rundum erwachende Leben ließen ihn in einem Hochgefühl schweben, das durch nichts getrübt werden konnte. Sie hatten bis jetzt durchgehalten, und wenn es sein musste, dann würde er auch noch ein paar Monate länger durchhalten. Bis jetzt hatte ihr Plan ja auch ganz gut funktioniert. Sogar Hereke schien das Schlimmste überstanden zu haben. Die urtümliche Kraft des Frühlings hatte auch ihm den Lebensmut wieder gegeben. Immer öfter zeigte sich auch auf seinem Gesicht ein lang vergessenes Lächeln. Raen entspannte sich ein wenig und war wieder häufiger bei seinem Freund.
Indes wurde Sunekas Ausbildung zur Küchenmeisterin als beendet erklärt und sie wurde in einer kleinen Zeremonie, an der zwar Raen aber nicht Hereke teilnahm, in den Dritten Grad erhoben. Auch sie wirkte viel gelassener und warf, wenn keiner es sah, Raen vielsagende Blicke zu. Sie gab sich ganz der Verliebtheit aus der Ferne hin und dem hochfliegendem Glücksgefühl. Sie hatte so lange auf ihn gewartet, da reichte ihr die Gewissheit, ihn eines Tages in den Armen halten zu können. In ihren geheimsten Gedanken malte sie sich diesen vollkommenen Moment mit allen nur erdenklichen Ausschmückungen aus und sie geriet jedes Mal ganz aus dem Häuschen bei der heftigen Leidenschaft, die sie dabei verspürte. Beseelt lächelte sie in den Tag. Nun wendete sich ihr Leben doch noch in die ersehnte Richtung! Ein paar Monate zuvor noch hätte sie nicht einmal im Traum daran gedacht, dass Zaizura sie überhaupt jemals noch beachten würde. Wie schnell die Dinge sich doch verändern konnten, wenn die hohen Mächte an dem großen Netz des Schicksals webten. Aber auch Hyaun bedachte sie im Stillen mit Dank, und da Raen oft in den Tempel ging, nahm sie sich daran ein Beispiel und stattete dem Heiligtum immer häufiger kleine Besuche ab. Und auch wenn sie lange nicht so inbrünstig gläubig war wie er, fand sie doch wieder mehr Zugang zum Glauben, der in der Zeit ihrer unerfüllten Sehnsüchte arge Risse bekommen hatte. In ihren stillen Gebeten vergaß sie bei all der Gunst, dir ihr zuteil geworden war, jedoch nicht, Ihn auch darum zu bitten, Herekes Seele, die sie so schmerzhaft versehrt hatte, möglichst schnell wieder gesunden zu lassen, und ihn sicher zu einem neuen Glück zu geleiten. In der behüteten Atmosphäre des Tempels gelang es ihr sogar, auch daran zu glauben, dass alles gut werden würde, und dass Raen und Hereke weiter Freunde bleiben würden. Ein frommer Wunsch, der ihre Schuld überspann mit einem milden Schleier der Gottgefälligkeit.

Wie jedes Jahr halfen auch die Krieger nach dem Pflügen der Felder wieder bei der Aussaat. Das war weit weniger beschwerlich als die Ernte und stets ein sehr fröhliches Ereignis. Lustige Späße machend und heitere Liedchen singend stapften sie nebeneinander her und besäten die frisch gezogenen Furchen des feuchten Ackers. Die Sonne schickte wärmende Strahlen vom frühlingsblauen Himmel herab, und die Feldlerchen zwitscherten, immer wieder senkrecht in die Lüfte stoßend, ihr helles Lied.
Am Feldrand saßen die Mädchen und sahen den Männern und Frauen zu, wie sie armschwenkend das Feld abschritten. Die Aufgabe der Zwölf- bis Fünfzehnjährigen war es, das Saatgut ein letztes Mal zu sortierten und die Schürzen der Arbeiter damit neu zu befüllen. Ansonsten erfreuten sie sich an der Sonne und der Geselligkeit.
Da Raens Schürze leer war kam er an den Rand, und eines der Mädchen schüttete eine Schale Gerstenkörner in das grüne Stofftuch, das Fruchtbarkeit symbolisierte.
„Ist gleich Pause?“, fragte er sie.
„Es dauert noch ein bisschen“, gab sie zurück und lächelte ihn scheu an. Er lächelte zurück und ging aufs Feld.
„Er ist wirklich hinreißend!“, schwärmte ein anderes Mädchen leise aus dem Hintergrund und alle kicherten mit der Hand vorm Mund. Sie beobachteten Raen, der wieder in seiner Reihe angekommen war und die Saat in die Furchen streute. Nur einmal schaute er kurz zu ihnen auf, weil er offenbar spürte, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. Unauffällig schauten die Mädchen schnell weg - natürlich nicht ohne dabei zu kichern. Sie sandten eine Welle der Fröhlichkeit aus.
„Ja, meine Lieben, da gebe ich euch Recht, er sieht tatsächlich ausgesprochen gut aus“, bestätigte eine der Älteren und ergänzte: „Wenn er nur nicht so komisch wäre.“
„Was meinst du mit komisch?“, fragte eine andere zurück.
„Tja, ich weiß auch nicht, wie ich das erklären soll. Neulich, da habe ich mit ihm gesprochen und da ...“
„Du hast mit ihm gesprochen?“, fragten einige bewundernd dazwischen.
„Ja, und ... ach, jetzt habt ihr mich völlig durcheinander gebracht!“, zögerte die Ältere ihre Erzählung hinaus. Sie genoss es, mit etwas aufwarten zu können, das die anderen brennend interessierte.
„Los, nun sag schon! Wie ist er?“
„Na, er ist irgendwie nicht wie die anderen Kerle. Er ist ernster und macht nicht so viele dämliche Sprüche wie sie. Aber sie behaupten, dass er manchmal merkwürdige Launen hat und dann ungenießbar wird. Vielleicht ist er auch deshalb noch zu haben. Na, los meine Lieben, worauf wartet ihr noch? Bei solch einem knackigen Hintern kann man doch nicht widerstehen!“ Sie stieß ihr Kinn in Raens Richtung und lächelte verschmitzt. Sofort platzte das Gekicher wieder los.
„Da habe ich aber was anderes gehört!“, unterbrach eine der jüngeren Mädchen im naseweißen Ton die ausgelassene Fröhlichkeit.
„Ach ja, und was?“
„Dass dieser Hintern jetzt Suneka gehört!“ Sie lächelte überlegen.
„Was? Niemals! Das glaube ich nicht“, widersprach die Ältere.
„Doch, es ist aber so.“
„Und wo hast du das gehört?“
„Soema, Sunekas Schwester, hat es mir erzählt. Sie weiß, dass sie sich heimlich treffen. Nachts! In einem Versteck im Vorratshaus im Chorten. Sie ist ihr einmal nachgeschlichen und hat sie beobachtet. Suneka und Raen sind ein Paar, das steht fest. Sie hat gesehen, wie sie sich geküsst haben!“
Alle Mädchen starrten die Jüngere an.
„Und das erzählst du hier so unbekümmert? Was denkst du dir dabei, du alte Tratschbase! Schämst du dich gar nicht?“, schalt die Ältere sie, doch die Jüngere lächelte nur.
„Wieso sollte ich?“, sagte sie eigensinnig.
„Weil es ein Geheimnis ist, und das plaudert man nicht einfach so aus! Außerdem, was geschieht, wenn Hereke der Reitmeister davon erfährt. Er ist Raens bester Freund!“ Die Ältere stemmte verärgert die Hände in die Hüften. „Wem hast du das schon alles erzählt?“, fragte sie streng.
„Nur euch, bis jetzt.“
„Dann bleibt das auch unter uns. Versprecht es mir! Alle!“, verlangte die Ältere, denn sie hatte ein Bewusstsein für moralischen Anstand. Geheimnisse über andere Menschen gab man nicht einfach so weiter, so sensationell sie auch sein mochten! Sie nahm sich vor, auch Soema noch einmal kräftig ins Gebet zu nehmen, wenn sie sie erwischte.
„Versprochen?“, mahnte sie ihre Forderung an.
„Ja, versprochen“, antworteten alle einmütig.
Nach dieser Zurechtweisung zog etwas Ruhe in die Gruppe ein. Jeder dachte etwas anderes vor sich hin. Nur die Ältere sah immer wieder zu Raen hinüber. Sie mochte ihn und deshalb wollte sie nicht, dass er Schwierigkeiten bekam.
Doch die unbedachte Soema hatte, auch wenn es bestimmt nicht ihre Absicht gewesen war, die Dinge längst ins Rollen gebracht, und trotz der Bemühungen des älteren Mädchens waren die Schwierigkeiten bereits im Anmarsch.
Vorerst aber sollte noch etwas anderes, viel Dunkleres, dazwischen kommen.

Unheilvoll lag es in der Luft und kündigte sich als stetig anschwellendes Summen in den Köpfen der Krieger an. Und dann, nur wenige Tage später, meldete sich der Prinz über das Aun, nachdem er elf Jahre lang geschwiegen hatte.
Kurz darauf war alles anders. Der Frohsinn der Aussaatzeit war verschwunden, und ängstliches Wehklagen vermischte sich mit dem schrillen Klang der Kriegsglocke, der drohend über dem Chor schwebte.
Shazura! Hyaun, steh uns bei. Shazura! Es gibt Krieg!, beherrschte es die alarmierten Gedanken aller. Und um zu verhindern, dass sich die Panik weiter ausbreiten konnte, rief Clanchef Lako sogleich eine Versammlung ein.
Im Rat der Krieger war die Stimmung ruhig aber ernst. Nur bei den Jüngeren, die nicht abschätzen konnten, was auf sie zukam, herrschte eine gewisse Anspannung. Selbst dem sonst eher unerschrockenen Raen war es mulmig zu Mute geworden, als der Kriegsruf des Setna ihn erreicht hatte. Das war jetzt der gefürchtete Ernstfall und keine der harmlosen Übungsstunden mehr, in denen er glänzen konnte; der Feind war real und die Bedrohung echt.
Sichtlich nervös lauschte er den Anweisungen Lakos. Nur Kaera, der gerade erst vor ein paar Tagen bei seinem Al Hyaun seine Schwerter überreicht bekommen hatte, war noch viel aufgeregter als sein Kamerad. Er zitterte am ganzen Leib, als sie in die Gefechtsgruppen eingeteilt und die Anführer ernannt wurden. Raen befand sich in der Gruppe, die von Kensa angeführt wurde, zusammen mit Kaera. Er würde dieses Nervenbündel wohl noch länger an seiner Seite haben, aber das lenkte ihn wenigstens von seiner eigenen wachsenden Angst ab.
Lako beriet sich mit den Gruppenführern und legte mit ihnen den Tag der Abreise fest. Sie hatten noch etwas Zeit, denn der Setna hatte schneefreie Gipfel in seiner Vision gesehen. Raen ertappte sich bei der Frage, ob der Setna wohl auch den Ausgang eines Krieges vorhersehen konnte und nicht nur den Beginn. Doch das würde er wahrscheinlich nie herausfinden und deshalb verwarf er es gleich wieder.
Es folgte für alle eine Zhangha-Zeremonie, welche die Gemüter wieder besänftigen sollte. Doch für Raen hatte sie leider die entgegengesetzte Wirkung. Er wurde in einen Strudel aus echten und eingebildeten Wahrnehmungen gesogen und zwischen ihnen hin und her geworfen wie ein hilfloser Schwimmer zwischen Gischt schäumenden Wellenkämmen. Tatsächliche Erinnerungen vermischten sich mit purer Phantasie, und bald war Raen verloren zwischen all diesen wirren Bildern.
Heilfroh war er, als die Wirkung endlich wieder nachließ, und der Dunst rund um sein Gesichtsfeld sich aufklarte. Erleichtert rieb er sich die Schläfen, um auch noch den letzten Rest des Zhangha-Rausches aus seinen Gedanken zu treiben.
Mit schwirrendem Kopf tastete er sich zusammen mit den anderen aus dem Tempel ins Tageslicht und musste am Eingang erst einmal innehalten, um frische Luft zu schnappen. Sein Vater klopfte ihm im Vorbeigehen ermutigend auf die Schulter, sagte aber nichts. Raen bemerkte, dass hunderte von erwartungsvollen Gesichtern zu ihnen hinaufsahen, und er konnte ihre Sorge regelrecht spüren.
Lako trat an ihm vorbei ins Freie und stellte sich auf den Absatz der obersten Stufe. Er verkündete den Wartenden, sie sollen alle wieder an ihre Arbeit gehen und sich beruhigen, denn der Abreisetag sei erst in zwei Wochen, dann stieg auch er die Stufen hinab. Zuerst zögerten die Leute, sie wollten gerne mehr wissen, und hofften auf etwaige Details, die besagten, dass es schon nicht so schlimm werden würde. Doch den Gefallen konnte Lako ihnen nicht tun. Die Lage war ernst, Askhar bereitete sich auf einen Krieg vor. Seine Gesicht war eine hölzerne Maske, als er durch die Menge schritt, und mit hängenden Köpfen zogen die Leute schließlich von dannen, das Gespenst des Krieges lachend und spottend in ihrem Nacken. Im allgemeinen Durcheinander kam Suneka wie zufällig auf Raen zu. Sie hatte eine sehr bekümmerte Miene.
„Heute Abend“, flüsterte sie kaum hörbar und streifte an ihm vorbei.
Raen nickte kaum merklich. Er hatte verstanden und schlug dann einen anderen Weg ein.
Suneka sah ihm kurz hinterher und begab sich wieder in die Küche, wo alle aufgeregt durcheinanderredeten, bis der oberste Küchenmeister sie zur Ordnung rief. Die Vorräte mussten geprüft und der Proviant, welchen die Krieger mit auf ihren Weg nehmen würden, daraus zusammengestellt werden. Suneka ließ sich von der Hektik anstecken, und bald gab es in ihrem Kopf nur noch eine einzige unaufhörliche Gedankenkette: Raen geht fort in den Krieg! Was, wenn ihm etwas passiert? Was, wenn er nicht wiederkommt?
Sie konnte es deshalb kaum erwarten, dass endlich die Sonne unterging und sich alle zum Nachtmahl trafen. Raen war nicht da. Das war er zwar öfter nicht, aber heute beunruhigte es sie. Hoffentlich kam er zu ihrem Treffpunkt. Sie musste dringend mit ihm reden.
Als sie nach dem Essen ihre verbliebenen Aufgaben erledigt hatte, ging sie zuerst ins Waschhaus, um sich den Dunst der Küche abzuwaschen. Danach begab sie sich in das Zimmer der unverheirateten Frauen und legte sich hin. Doch sie hielt es nicht lange aus, einfach nur still da zu liegen und zu warten, bis alle im Bett waren und schliefen. Sie gab vor, noch etwas trinken zu müssen, und verließ das Zimmer. Vielleicht wartete Raen ja schon auf sie.
Wohl darauf bedacht, von niemandem gesehen zu werden, schlich sie in das Versteck, in dem natürlich noch keiner war. Sie entzündete die Öllampe und breitete die Decken aus, die Raen und sie dort versteckt hatten. Vor Ungeduld mit dem Oberkörper wippend wartete sie. Doch Raen kam nicht. Vielleicht hatten die Krieger noch Wichtiges zu bereden, dachte sie. Was auch immer sie ständig zu besprechen hatten.
Da hörte Suneka ein Scharren und sah in die Richtung, aus der es kam. Doch anstatt des Geliebten sprang ein Maragi hinter einem der Säcke hervor. Suneka erschrak, beruhigte sich aber gleich wieder, als das Katzentier auf sie zugeschlichen kam. In allen Speicherhäusern wurden solch halbwilde Ginsterkatzen gehalten, um der Mäuse und anderer Schädlinge Herr zu werden. Sie waren an den Menschen gewöhnt und ließen sich manchmal sogar auch streicheln.
Der Maragi beäugte Suneka mit seinen großen, goldglänzenden Augen und kam neugierig zu ihr getappt. Er beschnupperte vorsichtig ihre Hand und ließ sich dann neben ihr nieder. Sein buschig geringelter Schwanz begann auffordernd hin und her zu schlagen. Suneka wagte es und berührte das katzenartige Tier. Sanft strich sie über das seidige, gefleckte Fell, und der Maragi streckte seinen langen Körper genüsslich aus. Still lächelte Suneka vor sich hin, während ihre Finger das weiche Fell kraulten.
Da ertönte ein lautes Poltern, und ein unterdrücktes Schimpfen kam hinterher. Geängstigt sprang der Maragi auf und war noch im selben Moment zwischen den Säcken verschwunden. Kurz drauf erschien Raen im Lichtschein der Öllampe.
„Au, ich hab mir ganz schön den Kopf gestoßen!“, sagte er weinerlich und hielt sich mit einer Hand die Stirn, in der anderen trug er seinen Helm. „Ich hoffe, mein Aun hat nichts abbekommen. Kannst du mal nachsehen?“ Er hockte sich neben Suneka und hielt ihr die Stirn vor die Nase. Sie untersuchte den goldenen Reif.
„Tut mir leid, dass ich nicht eher kommen konnte. Es gab noch etwas zu besprechen“, entschuldigte er sich nebenbei.
„Das habe ich mir gedacht. Da ist nichts“, sagte sie und ließ von ihm ab. Ihr Herz pochte immer heftiger. Hoffentlich würde sie sich nicht zu dumm anstellen.
„Gut. Aber eine Beule wird es geben.“ Raen rieb sich noch einmal über die Stelle.
„Der Balken ist schon immer da gewesen!“
„Ich weiß, aber heute bin ich wirklich nicht ganz bei der Sache.“
Suneka schwieg. Sie war schrecklich nervös und umschlang ihre angezogenen Knie. Raen legte seinen Helm beiseite und setzte sich neben sie. Eine Weile lang rührte sich keiner von ihnen, so als wüssten sie sich nicht, warum sie sich hier getroffen hatten.
Schließlich gab sich Suneka einen Ruck und durchbrach die Stille: „Raen.“
„Hm?“ Er lächelte sie sanft an und rückte näher. Suneka wurde ganz schwindelig von seiner Nähe. ‚Ich kann es nicht!’, dachte sie. ‚Oh, Hyaun, warum ist das so schwer!’
„Ich habe Angst um dich“, flüsterte sie.
Raen legte einen Arm um sie und zog sie an sich. „Ist schon gut. Ich will nicht sagen, dass du keine Angst zu haben brauchst, aber ich kann dir versprechen, dass ich gut auf mich aufpassen werde“, erklärte er und küsste ihre Haare, die ihr offen über die Schultern fielen. „Wir müssen Vertrauen haben.“
„Ich wünschte, ich könnte das. Ich wünschte, ich hätte deine Zuversicht“, klagte sie und schmiegte sich enger in seine warme Halsbeuge. Dabei sog sie bebend den Geruch seiner Haut sein. Er war frisch gewaschen und duftete nach Kiefernadeln und Melam. Suneka fühlte seine Hände in beruhigenden Kreisen über ihren Rücken fahren, doch sie fand darin keine Besänftigung für ihre aufgewühlten Gedanken. „Jetzt kann ich endlich bei dir sein, und nun nimmt Zaizura dich mir einfach wieder fort!“
„Das darfst du nicht sagen. Du darfst Zaizura nicht beleidigen!“ Er klang vorwurfsvoll, aber noch etwas anderes schwang in seiner Stimme mit. War es Unsicherheit?
„Die höheren Mächte bestimmen unseren Weg“, fuhr er fort, „und wir müssen uns ihnen beugen. So ist das nun einmal. Außerdem muss ich meine Pflicht erfüllen.“
„Ja, du hast recht“, seufzte Suneka. „Und eigentlich bin ich ja auch stolz auf dich, dass du uns beschützen wirst.“ Sie presste die Lippen aufeinander. ‚Rede nicht so viel, du dumme Gans, tu es jetzt lieber, sonst wird er dich verlassen, und du wirst dich wieder auf unbestimmte Zeit vertrösten müssen. Sei einmal in deinem Leben mutig!’ Entschlossen holte sie einmal tief Luft, löste sich von Raen und sah ihn an. „Wenn du weggehst, dann möchte ich, dass wir uns vorher noch ein Versprechen geben“, sagte sie mit fester Stimme.
„Was für ein Versprechen?“
„Ein Versprechen, dass sich Liebende geben.“
Raen schien noch immer nicht zu wissen, was sie meinte. Er öffnete den Mund: „Falls du einem Heiratsantrag möchtest ... ich ...“
Suneka vertiefte ihren Blick in seine Augen. „Nein, das ist es nicht, was ich will ...“, raunte sie verlangend. Mit einem mulmigen Gefühl erkannte sie, dass Raen beinahe verängstigt zurückschaute. Sie war sich bewusst, ihn damit zu überrumpeln, doch sie konnte nicht länger warten, wie musste diesen Schritt gehen.
„Ich will dich ... “, hauchte sie und stellte überrascht fest, wie sinnlich sie klingen konnte. Verlegen biss sie sich auf die Unterlippe, hielt aber mit ihrem Blick weiterhin den seinen fest.
„J-jetzt?“, brachte Raen sichtlich unwohl heraus und erstarrte förmlich.
„Ja, jetzt!“, wiederholte sie mit Nachdruck.
„Aber ...“, wollte der junge Mann einwenden, den sie so sehr liebte, dass ihr Herz in der Brust fast zu zerspringen drohte, doch sie ließ ihn nicht mehr entkommen. Anstatt zu antworten, begann sie einfach seine Jacke zu öffnen und seine nackte Brust zu streicheln. Sie spürte, wie er sich verkrampfte, doch sie ignorierte es.
Als Suneka bestimmend den Knoten seines Gürtels nach vorn zog und auch ihn öffnete, sog Raen lautstark Luft ein. Das erregte sie und sie beugte sich vor und küsste die kleine Hohlkehle über seinen Schlüsselbeinen. Absichtlich ließ sie dabei ihre Haare über seine Haut kitzeln. Sie gewahrte, wie Raen erschauerte, und sie verstärkte ihre Anstrengungen, fuhr mit der Zunge hinunter zu seiner empfindlichen Brustwarze.
Und endlich löste er sich aus seiner Starre, griff zielstrebig nach ihrem Gürtel, öffnete ihn und strich ihr die Jacke von den Schultern. Suneka legte sich zurück auf die Decke und wand ihren Körper verführerisch unter seinen suchenden Händen, die ihren Weg schon zu ihren Brüsten gefunden hatten und sich warm darauflegten. Sie stöhnte leise auf und presste Raen ihr Knie zwischen die Beine. Ihm schien das zu gefallen, denn er drängte sich noch enger an sie. Tief beugte er sich über ihren Oberkörper und bedeckte langsam und ausgiebig ihre Brüste und ihren Bauch mit Küssen. Sie seufzte im wohligen Rausch der Erregung und spürte an ihrem Oberschenkel, wie seine Begierde wuchs.
„Ich liebe dich!“, flüsterte sie ihm ins Ohr und zog ihn ganz auf sich herab.
Immer ungezügelter liebkosten sie sich, und bald nahm Suneka in ihrer schwindelerregenden Leidenschaft nichts mehr wahr, als den Geruch seiner Haut, seinen schnellgehenden Atem und die unendliche Sanftheit seiner Berührungen. Raens Hände glitten weiter nach unten und lösten ihr Lendentuch, und als er die feuchte Wärme zwischen ihren Schenkeln spürte, stöhnte er lustvoll auf. Er öffnete seine Hose, streifte sie ab und löste auch sein nun zu eng gewordenes Lendentuch. Schamlos umfasste Suneka seine Erektion und verhalf ihm beinahe ungeduldig auf den richtigen Weg. Und schließlich empfing sie ihn, überwältigt von einem Glücksgefühl, das sie noch nie zuvor verspürt hatte. Sie umschlang Raens Rücken mit ihren Armen, und beide ergaben sich wie von selbst in den köstlichen Rhythmus, der seit jeher ein Geheimnis des Universums war.
Der Höhepunkt kam schnell und heftig. Raen bäumte sich auf und verzog verzückt das Gesicht.
„Oh, Suneka, meine Liebste“, flüsterte er ihr zu, als er seinen schweißbedeckten Oberkörper wieder senkte.
Als Antwort packte sie seine Hüften fest mit beiden Händen und drückte ihn an sich. Sie wollte ihn noch in sich behalten, ihn spüren so lange es ging.
Einige Zeit lang lagen sie einfach so da und genossen die süße, glückselige Entspannung. Und nicht nur in Sunekas Kopf schwirrte es angenehm.
Auch Raen war noch immer ganz benommen von dem, was ihm da soeben widerfahren war. Nie hätte er auch nur geahnt, dass ein anderer Mensch dazu in der Lage sein konnte, solch überschäumende Gefühle in ihm zu erwecken.
‚Erstaunlich! Es war mir so schwierig erschienen, und nun war es doch so einfach’, philosophierte er im Stillen und strich geistesabwesend über Sunekas Rücken. ‚Die anderen haben Recht: Frauen und Männer sind dafür gemacht! Und wir sollten uns glücklich schätzen, ein solch wertvolles Geschenk von den Mächten des Universums erhalten zu haben.’ Er lächelte still und in seinen Augen spiegelte sich das Licht der matt schimmernden Öllampe wider.

„Wie war sie denn so?“, fragte Suneka wenig später, als sie sich wieder in ihre Kleidung gewickelt hatten und nebeneinander auf der Decke lagen.
„Wie war wer?“, fragte Raen zurück, sein Kopf war auf eine Hand gestützt und auf seinem sonst eher ernsten Gesicht lag ein entspannter Ausdruck.
„Na, Kosam.“
„Was meinst du?“ Nun kräuselte sich doch seine Stirn.
„Dass sie sehr hübsch war, weiß ich, aber wie war sie sonst so? Ich habe sie nie richtig kennengelernt.“
Raen erinnerte sich daran, wie Kosam einmal zu ihm gesagt hatte, sie habe das Gefühl, Suneka würde sie nicht mögen.
„Du warst sehr ablehnend zu ihr.“
„Ja, das stimmt. Aber du weißt jetzt ja auch warum.“
„Sie war … etwas Besonderes, sehr Zerbrechliches.“
Suneka spielte mit einer Haarsträhne, wandte aber sichtlich betroffen ihren Blick ab. Raen bemerkte, dass sie verletzt hatte.
„Ich glaube, sie war mir zu ähnlich. Es wäre so oder so nicht gut gegangen“, versuchte er sie zu besänftigen. Es war noch immer schwer, Worte für das zu finden, was zwischen ihn und Kosam vorgefallen war.
Suneka blickte ihn an und eine Frage schien ihr auf der Zunge zu brennen, aber sie wagte nicht, sie zu stellen. Stattdessen hob sie eine Hand vor die Brust und seufzte dabei.
Raen ahnte plötzlich, was es war.
„Wir haben es nicht getan“, sagte er mit gedämpfter Stimme und fuhr mit dem Finger das Muster auf der Decke nach. „Wir haben nicht miteinander geschlafen.“
„Nicht?“ Sie sah ihn überrascht an.
„Nein, sie hat es zwar gewollt, aber ich ... habe mich nicht getraut“, gab er verlegen zu.
Suneka strich ihm über die gerötete Wange.
„Ich habe es vorher auch noch nicht getan“, flüsterte sie, und nun blickte Raen sie verwundert an.
„Und woher hast du dann gewusst, wie man es macht?“
„Von meiner Mutter. Sie hat es mir erklärt.“
Jetzt wurde Raen tiefrot bei der Vorstellung, wie Suneka mit Shani darüber sprach.
„Ist doch nicht schlimm. Du hast doch auch ganz gut Bescheid gewusst, oder nicht?“
„Nun, ja, ... .“ Er wollte ihr eigentlich nicht erzählen, woher er die pikanten Details erfahren hatte. Denn, dass die Gruppe der jungen Krieger in manchen Nächten heimlich noch länger beisammen saß und einige von ihnen ausgiebig mit ihren Erfahrungen prahlten, würde ihr sicherlich nicht gefallen. Er betrachtete Suneka. Sie war so ganz anders als Kosam. Ihr energisches Auftreten und ihr viel kräftiger gebauter Körper standen scheinbar im totalen Gegensatz zu der zartgliedrigen, grüblerischen Kosam. Und doch fühlte er sich so sehr zu ihr hingezogen.
Welch seltsame Windungen das Schicksal doch nehmen konnte. Jetzt würde er mit einer anderen Frau glücklich werden, wenn es denn je dazu kommen sollte! Denn einige riesengroße Probleme hatte sie zuerst noch zu bewältigen.
„Was ist mit dir?“, fragte Suneka, die wohl bemerkt hatte, dass in Raens Stimmung eine Veränderung vorgegangen war.
„Nichts. Ich denke nur an unseren baldigen Aufbruch zur Grenze.“
Suneka schwieg beklommen.
„Sehen wir uns morgen Abend wieder?“, fragte sie schließlich in die dumpfe Atmosphäre hinein, die entstanden war.
„Am liebsten schon, aber wir müssen aufpassen!“, ermahnte Raen sie zur Vorsicht.
Danach gaben sie sich noch einen langen und innigen Kuss und schlichen jeder für sich in sein Schlafquartier zurück.

Raen und Suneka sahen sich in den darauffolgenden Tagen fast jede Nacht und fast jedes Mal liebten sie sich, als hielte Zaizura keinen nächsten Morgen für sie bereit. Es war, als versuchten sie, in der ihnen noch bleibenden Zeit all das aufzuholen, worauf sie vorher so lange hatten verzichten müssen. Ihre Umarmungen wurden immer heftiger und verzweifelter, mit jedem Tag und jeder Nacht, den die Abreise der Krieger näherrückte.
Die Anspannung stieg, und beinahe hätten sie darüber ihren Plan der Geheimhaltung vergessen. Denn auch tagsüber wuchs der Drang, sich einfach in die Arme zu fallen, jedes Mal, wenn sie sich sahen. Krampfhaft versuchten sie Abstand zu halten wie zwei umgekehrte Magnetsteine, doch ihre Vorsicht hatte bereits nachgelassen, ohne dass es ihnen bewusst war.
Und schließlich kam die letzte Nacht und der Tag der Abreise. Suneka hatte kein Auge zugetan und erschien verheult in der Küche.
Raen hatte den Rest der Nacht betend im Tempel verbracht, und war damit nicht der einzige gewesen. Viele der Krieger hatten dort gewacht, um sich von Hyaun Stärke zu erbitten.
Beim Morgenmahl war Suneka zu Raen getreten und hatte ihn flüsternd darum gebeten, ihm beim Anlegen der Rüstung helfen zu dürfen, wie es alle Frauen der Krieger taten. Er hatte gezögert, es ihr dann aber mit einem knappen Nicken gestattet, unter dem stirnrunzelnden Blick seiner Schwester, dem er aber keine Beachtung schenkte.
Die Stimmung im ganzen Chorten wurde immer gedrückter, und kaum jemand verlor ein Wort während der morgendlichen Verrichtungen. Der bevorstehende Abschied lähme ihre Zungen.
Dann war es schließlich soweit, die Pferde zu satteln, und Raen machte sich mit den anderen Kriegern auf den Weg hinunter zu den Ställen. In seinem Magen rumorte es, und die Nervosität ließ seine Eingeweide flüssig werden. Als sie auf dem Hof von Henendra ankamen, scherte er aus der Gruppe aus und verschwand hinter dem Stall auf den Misthaufen, um seinem Darm zu entleeren, der gegen die bevorstehende Reise ins Ungewisse rebellierte. Als er sich wieder gefangen hatte, wackelte er kreidebleich um den Stall herum. Wie aus heiterem Himmel stand plötzlich Hereke vor ihm und versperrte ihm den Weg.
„He, wo kommst du denn her? Ich habe dich gar nicht gesehen. Oh, Mann, ist mir vielleicht übel!“, presste Raen gequält hervor und blieb stehen. Doch Hereke lächelte nicht. Raen kam eine böse Ahnung.
„Was ist?“, wollte er seinen Freund dazu bewegen, etwas zu sagen.
Doch Hereke schwieg und schien innerlich mit sich zu kämpfen. Sein Blick flackerte.
„Ich habe gehört, du triffst dich mit Suneka.“ Er machte eine Pause. „Sag mir, dass das nicht stimmt.“ Raen sah ihn vernehmlich Schlucken, doch ansonsten erschien ihm sein Freund geradezu unheimlich ruhig.
„Wer behauptet das denn?“, fragte er empört zurück. Er konnte einfach nicht glauben, dass Hereke jetzt damit kam, ausgerechnet in genau jenem Moment, in dem er ihm Lebewohl sagen wollte. Vielleicht würde er nie wieder zurückkommen!
„Alle wissen es!“, sagte Hereke mit versteinerter Miene.
Raen war fassungslos. Das konnte nicht sein!
„Nur ich weiß nicht davon …“
„Hereke, das ist nicht so ...“ Er brach ab. Es hatte keinen Sinn, ihm noch länger etwas vorzumachen. Er musste ihm endlich die Wahrheit sagen, das war er ihm schuldig. Raen zwang sich, seinem Freund offen in die Augen zu sehen.
„Es tut mir leid, es stimmt!“
Jetzt ging eine Veränderung in Herekes Gesicht vor. Raen tat es weh, zu sehen, wie etwas, das wahrscheinlich ihre Freundschaft war, in dessen Blick zerbrach.
„Aber es war nie meine Absicht gewesen, dich zu hintergehen, das musst du mir glauben!“, versuchte er den Schaden noch zu begrenzen, doch Hereke baute sich mit geballten Fäusten vor ihm auf wie ein riesiger, dunkler Schatten des Zorns. Raen zog unwillkürlich den Kopf ein, als zöge ein drohendes Gewitter auf, und in gewisser Weise war es ja auch so. Er rechnete mit einem harten Schlag des Reitmeisters.
‚Nur zu!’, dachte er, denn nichts war ihm lieber, als die Situation so schnell wie möglich zu bereinigen und sei es auf diese Weise. Ihre Freundschaft war zerstört, daran war nun nichts mehr zu ändern, aber er wollte auch die endgültige Bestätigung dafür haben - einen strafenden Schlag für seinen Verrat sozusagen.
Aber der erwartete Hieb blieb aus, der Ausbruch des Gewitters.
Er sah Hereke wieder an, der plötzlich geschrumpft zu sein schien. Seine Schultern waren unter der Last des nächsten Universums, welches über ihm zusammengebrochen war, eingesunken, und sein Rücken beugte sich, als wäre er es, der einen Schlag in den Magen bekommen hätte.
„Das hätte ich nie von dir gedacht!“, sagte er, um seine Stimme ringend. Die Enttäuschung, die in diesen wenigen Worten mitschwang, war kaum zu ertragen.
„Ich weiß“, antwortete Raen hilflos.
Plötzlich begann Hereke in dem kleinen Beutel herumzukramen, den er an seinem Gürtel trug. Er fand, was seine zitternden Finger suchten, zog es heraus und warf es Raen vor die Füße. Es war der Fuchszahn, den er ihm einst geschenkt hatte. Das Zeichen ihrer Freundschaft, da lag es nun weiß schimmernd im Dreck. Ohne ein weiteres Wort drehte Hereke sich um und ließ Raen einfach stehen.
„Ich weiß! Ich weiß es doch!“, schrie der ihm hinterher und versuchte seine aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. „Ich habe es zerstört. Ich bin der Verräter!“ Seine Brust verkrampfte sich, und er musste Luft holen. „Und deshalb verlasse ich euch jetzt auch! Vielleicht seid ihr mich dann für immer los!“ Raen klaubte den Zahn aus dem Dreck, machte kehrt und lief um den Stall herum auf den Hof, wo die meisten Krieger bereits schon mit dem Aufsatteln fertig waren. Mit fahrigem Blick ging er zu Jakori, die einsam inmitten der Betriebsamkeit stand und sehnsüchtig auf ihren Herren wartete.
„Meine einzig wahre Freundin! Wenigstens du hältst noch zu mir“, flüsterte er ihr zu und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals. „Wir zwei werden das überstehen, und wenn alles vorbei ist, dann bringst du mich zurück nach Hause, ja?“
Der Geruch des Pferdefells erinnerte ihn schmerzlich an Hereke und an die viele schöne Zeit, die sie als Jungen miteinander verbracht hatten. Seine Hand in der Mähne ballte sich zur Faust, und der Kloß in seinem Hals schnürte ihm die Luft ab. Jakori stampfte unruhig mit dem Huf.
„Raen, was ist?“, fragte hinter ihm plötzlich die Stimme seines Vaters, der offenbar dachte, ihm ginge der Aufbruch in den Krieg an die Nieren. Einfühlsam legte sich eine Hand auf seine Schulter. Raen löste sich von Pferdehals und sah seinem Vater ins Gesicht.
„Nur die Aufregung“, sagte er dann abwinkend, „entschuldige, ich wollte nicht trödeln.“
Roman schaute ihm ernst in die Augen, und Raen erkannte die Sorge darin.
„Es wird schon gehen“, bekräftigte er noch einmal mit einem Nicken und überlegte, ob seinem Vater wohl auch schon die Neuigkeit von ihm und Suneka zu Ohren gekommen und ob er womöglich empört darüber war.
„Nun gut.“ Ohne etwas in seiner Miene zu offenbaren, nahm Roman seine Hand von Raens Schulter und ging wieder zu seinem Pferd.
Der Jüngere sah ihm hinterher und seufzte, das Letzte, was er jetzt noch brauchte, war den Zorn seines Vaters erregt zu haben. Dann nahm er den Sattel und die Decke, die bereitlagen, und warf beides auf Jakoris breiten Rücken. Unruhig rotierte die Stute mit den Ohren, weil sie nicht verstand, was um sie herum passierte.

In geordneter Formation und mit Lako an der Spitze ritten sie anschließend hinauf in den Chorten, wo sie von den Leuten bereits erwartet wurden. Sie stiegen ab und alle Krieger zogen sich mit ihren Familien zurück für das kleine Ritual des Rüstunganlegens. Roman verschwand mit Hanenka, ihren Kindern und Resa. Andra schien kurz zu überlegen und kam dann zu Raen, der einen sehr unglücklichen und verlorenen Eindruck machte, und sie fragte ihn, ob sie ihm behilflich sein sollte.
„Nein, danke, das macht Suneka“, antwortete er offen aber niedergeschlagen. Dann fügte er noch hinzu: „Wir sind zusammen - schon länger.“ Er biss sich auf die Unterlippe und drehte sich zum Gehen. Andra ließ ihn ziehen.
‚Also stimmt es doch’, dachte sie betrübt. ‚Und ich hatte gehofft, es sei alles bloß Gerede.’
Sie ging zu Osa, schwieg aber. Der Schmied legte einen Arm um sie, um sie zu trösten. Andra blickte auf ihre ohnehin schon kleine Familie, die sich heute noch halbieren würde.

Raen betrat mit Suneka das Zimmer der unverheirateten Krieger und begab sich zu seinem Lager, auf dem er bereits alles ausgebreitet hatte. Rings um sie herum halfen Freundinnen, Schwestern oder Brüder, in einem Fall sogar die Eltern den jungen Männern in ihre Rüstkleidung. Es wurde nur wenig gesprochen.
Suneka wollte sich gerade nach den eisenbesetzten Gamaschen bücken, als Raen sie festhielt und sie an sich zog. Sie wollte ihn daran hindern, denn er vergaß anscheinend gerade ihre Abmachung, aber er war stärker. Sie wollte etwas sagen, doch er beugte sich vor und küsste sie zärtlich.
„Was ist in dich gefahren?“, zischte sie ihm erschrocken zu und wand sich aus seinem Griff.
„Beruhige dich, wir können jetzt offen sein. Hereke weiß es.“
Die zuvor noch aufgeregte Suneka erstarrte entsetzt.
„Es ist vorbei. Wir sind keine Freunde mehr. Er hat sich nicht von mir verabschiedet.“
„Oh, nein“, hauchte sie betroffen und umfing Raens Hals. „Es tut mir so leid.“
„Dafür habe ich jetzt dich.“ Er drückte sie an sich. „Warte auf mich, meine Liebste. Ich komme ganz bestimmt zurück, und dann können wir endlich zusammen sein, ohne uns verstecken zu müssen“, sagte er leise. „Sei stark!“ Er drückte seine Lippen auf ihre Stirn und ließ sie dann los.
Suneka wischte sich die Tränen fort und griff nach den Gamaschen, die Raen sich daraufhin anlegte. Dabei kam eine lang verblasste Erinnerung in ihm hoch. Er sah seine Mutter, die seinem Vater beim Anlegen der Rüstung half, und wie er als kleiner Junge zusammen mit seiner Schwester im Erker gesessen und beide mit Spannung beobachtet hatte - voll Bewunderung für seinen Vater und beseelt von dem einzigen Wunsch, an dessen aufregenden Abenteuern teilhaben zu dürfen. Und nun steckte er selbst mittendrin. Doch mit einem Mal war er sich nicht mehr ganz so sicher, ob er das überhaupt wollte. Denn hier zu Hause wartete seine Liebste, und sie versprach ihm ein Leben in Glück und Frieden, und das ferne Abenteuer war kein kindlich ausgeschmücktes Erlebnis mehr, sondern blutiger Ernst. Der Zeitpunkt war gekommen, an dem sie alle beweisen mussten, dass Hyaun sie zu Recht zu den Beschützern seines Volkes erwählt hat. Aus den jungen Kriegern würden echte Kämpfer werden und aus den Mädchen tapfer ausharrende Ehefrauen.
Als Raen schließlich in seiner Schutzkleidung steckte, die ihm schwer auf den Schultern lastete, band Suneka ihm den Gürtel auf dem Rücken zu. An ihm hing der frischgefüllte Zhangha-Beutel. Darin befand sich aber nicht nur das Kraut der Krieger sondern auch noch ein kleiner Gegenstand aus Gold, von dem niemand wusste. Raen überprüfte noch einmal den Sitz der gesteppten Lederweste, die noch sehr steif war, und legte sich dann den Gurt mit dem Breitschwert über die Schulter. Danach griff er sich das Leichtschwert, den Bogen und den Köcher. Als letztes reichte Suneka ihm noch das in Öltuch eingewickelte Bündel mit seiner Decke und weiteren Kleidungsstücken. Sie trat einige Schritte zurück und betrachtete den vollbepackten und aufbruchsbereiten Krieger, den sie nun vor sich sah. Aber er fühlte sich unwohl in seinem starren Rüstzeug, als hätte er sich in eine Art gefühlloses Insekt verwandelt - so wie diese großen schwarzen Laufkäfer, die andere Krabbeltiere mit ihren überdimensionalen Kieferzangen grausam zerteilten und dann fraßen. Eine kalte Hand fuhr ihm über das Herz, und ein leise schleichendes Grauen packte ihn, als er an das dachte, was er vielleicht würde tun müssen. Sein Blick verfinsterte sich.
„Komm, wir müssen“, sagte er zu Suneka, und im gleichen Moment begannen die großen Trommeln zu dröhnen. Der erhabene Ton drang durch das dicke Mauerwerk und ging durch Mark und Bein.
Suneka erschrak und wollte sich an Raen festklammern, doch wich sie sofort wieder von ihm ab, als sie das feste, knarrende Leder und nicht seinen warmen Körper spürte. Auch für sie war er kein Menschenwesen mehr, wie sie und all die anderen Nichtkrieger. In seiner unnahbaren, leblosen Hülle war er jetzt zu etwas anderem geworden, das keinen Namen hatte und das ihr deshalb Angst einjagte. Steif und auf Abstand bedacht, stieg sie neben ihm die Stufen hinab.
Draußen verstaute Raen alles am Sattel Jakoris, und nach einem letzten Kuss für Suneka und einem, den er von seiner Schwester bekam, die deutlich den Tränen nahe war, trennten sich die Krieger von ihren Familien und erhielten von den Priestern den Segen Hyauns. Loenka selbst drückte Raen die Oberarme.
„Banskeid Raen, sieh auf zu dem Erhabenen, und Er wird dir einen starken Geist und starke Arme schenken!“
„Danke, Loenka.“ Er verneigte sich und sah den Priester an. Gern hätte er ihm jetzt sein gepeinigtes Herz ausgeschüttet, doch dafür war keine Zeit mehr.
„Du wirst das schon schaffen, hab Vertrauen in dich!“, sagte Loenka schließlich noch ganz leise. Raen nickte dem Priester zu, der sein einziger verbliebener Freund war. Dann stieg er auf und nahm die Zügel. Er spürte deutlich Jakoris Unruhe in ihren bebenden Flanken. Noch einmal sah er sich um, sah seine Schwester winken und Osa, mit Resa an der Hand. Das zauberte ein kurzes Lächeln auf sein Gesicht. Er blickte hinüber zu seinem Vater, der ganz damit beschäftigt war, sich von Hanenka zu verabschieden. In der gelbgewandeten Menge der Priester dahinter erkannte er plötzlich Hereke, und sein Magen verkrampfte sich. Der Reitmeister sah in seine Richtung, aber sein Blick war nicht zu deuten. Raen hob zögernd die Hand zum Gruß, ließ sie dann aber wieder sinken, als Hereke sich einfach wegdrehte. Schweren Herzens blickte er auf Suneka hinab, die nun völlig in Tränen aufgelöst war.
„Mein Liebster, Hyaun möge dich beschützen!“, rief sie in das Stimmengewirr und lächelte. „Und ich liebe dich, Raen“, fügte sie leise hinzu.
„Lebewohl, Suneka!“, rief er zurück, und dann gab Lako endlich das Signal zum Aufbruch.
Unter schallenden Abschiedsrufen ritten die achtzig Krieger des Shari Clans durch das Tor und hinunter in die Felder, wo die Vorratswagen sich holpernd ihrem Zug anschlossen.
Mit dem unbestimmten Gefühl, sie vielleicht nicht wiederzusehen, kehrte Raen seiner Heimat den Rücken.

In den nächsten Tagen, die sie auf ihrer Reise nach Süden im Schritttempo durch den Wald ritten, prasselten immer wieder Erinnerungen wirr durcheinander auf Raen ein. Es war als ob sein Herz verzweifelt versuchte, ihn zum Umkehren zu zwingen. Doch mit jeder Ka-Stunde entfernten sie sich weiter von dem, was ihnen lieb und teuer war. Raen dachte an all die kleinen Reisen, die er zuvor unternommen hatte. Verglichen mit diesem Zug ins Ungewisse waren sie lediglich ein Spaziergang gewesen.
Nachdem sie den Rinpal Clan hinter sich gelassen und sich ihnen weitere zweihundert Krieger angeschlossen hatten, begann für Raen vollkommen unbekanntes Gebiet. Der Wald war zunehmend mit hochgewachsenen Nadelbäumen durchsetzt, die eine Stammdicke aufwiesen, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte, und ab und an konnte er durch ihr undurchdringliches, verfilztes Grün einen Blick auf das näherrückende Gebirge erhaschen. Es war ihm, als warte es lauernd wie eine gigantische, gezackte Echse auf die vielen kleinen Menschenwesen, die seinen Rücken zu überqueren gedachten.
Er drehte seinen Kopf und sah zu Kaera hinüber, der merkwürdig verkrampft auf seinem Pferd saß, als würde ihn sein Rüstzeug kneifen. Raen hatte sich bereits nach einem Tag an seine Schutzkleidung gewöhnt und konnte sich gut in ihr bewegen. Natürlich wog sie einiges, aber um das Gewicht nicht als Belastung zu empfinden, hatten sie ja oft mit dem Zeug am Leib trainiert und ganze Waldläufe in voller Montur absolvieren müssen. Raen erinnerte sich daran, wie Kaera bei einem der ersten Male zusammengebrochen, und er selbst kurz davor gewesen war. Er hatte dem jammernden Kameraden damals nur widerwillig geholfen, einerseits weil er ihm ständig helfen musste und andererseits, weil er selbst am Ende seiner Kräfte gewesen war. Aber sie hatten es geschafft, bis zum Sonnenuntergang wieder im Chorten zu sein. Raen trieb Jakori ein wenig an und holte zu Kaera auf. Er beobachtete ihn von der Seite, doch sein Kamerad schien ihn nicht zu bemerken. Gedankenverloren stierte er geradeaus auf den Rücken seines Vordermannes.
„He, Kaera!“, weckte Raen ihn aus seiner Starre.
„Hm?“ Nur langsam löste Kaera den Blick von seinem unsichtbaren Fixpunkt und wandte sich zur Seite.
Raen grinste ihn an - sein erster warmer Gefühlsausbruch seit Tagen.
„Was ist?“, fragte Kaera irritiert.
„Ach, ich dachte, ich leiste dir mal ein wenig Gesellschaft.“ Raen wusste selbst nicht, warum er das tat, aber er sehnte sich nach irgendeinem Gesprächspartner in diesem wenig zum Reden aufgelegten Strom von mürrisch dreinblickenden Begleitern.
„Wenn du meinst“, entgegnete Kaera trübe und wollte gerade wieder in seine Lethargie zurücksinken, aber Raen hielt ihn davon ab, in dem er ihn mit einer Frage um sein Befinden piesackte. Seinem Kameraden eine Information nach der anderen aus der Nase ziehend, hielt er das Gespräch mühselig im Gang. Doch es vertrieb beiden schließlich die eintönige Reiterei durch die ewigen Säulenhallen des Waldes, der im vollen Saft des Frühlings stand und gar nicht recht zu der gedrückten Stimmung in ihren Reihen passen wollte.

Nach weiteren endlos gleich erscheinenden Tagen öffnete sich schließlich mit einem Mal der Wald, und vor ihnen ragten die majestätischen Gipfel des Junghal auf. Raen blieb der Mund offen stehen, als er das, was er bisher nur aus weiter, unwirklicher Ferne kannte, jetzt so nah und drohend vor sich liegen sah. Kolosse aus grauem, schroffem Gestein türmten sich auf, als wollten sie den Himmel erobern. Einige hatten sogar schon die Wolken erreicht und stießen mutig durch sie hindurch, um oben siegreich wieder zu erscheinen. Die unbezwingbare Schönheit des Massivs hielt ihn gefangen, und immer wieder ließ er seinen Blick über die atemberaubende Kulisse schweifen. In den Falten der Bergflanken lag noch Schnee, Nebelfahnen hingen in den blauschwarzen Tannenwäldern fest und über allem lag ein übernatürliches, diffuses Sonnenlicht.
Am Fuße des Gebirges änderte das Heer, inzwischen aus gut siebenhundert Mann bestehend, seine Richtung und zog nach Westen weiter.
Später bei einer Rast, zeigte Kensa auf die Spitze eines vorgerückt stehenden Berges in der Ferne und sagte: „Das ist der nördliche Chortam - der nördliche Wächter. Dort müssen wir hin, dort ist der Einstieg zum Doban-Pass.“
„Wie lange ist es bis dahin noch?“, fragte Raen zurück. Er fand, dass der Berg tatsächlich aussah, wie ein gigantischer, in den Himmel emporragender Wächter aus Fels.
„In unserem Tempo, das sich sehr verlangsamt hat, seit wir so viele geworden sind, noch mindestens zwei Tage. Bei diesem Gipfel dort“, Kensa wies auf einen Berg mit drei Spitzen links vom Chortam, „liegt übrigens der Ein-Mann-Pass: Ein schmaler Weg, der direkt nach Askhar führt. Wir haben ihn verfallen lassen und an manchen Stellen absichtlich zerstört, damit er unbegehbar wird. Trotzallem kommen über ihn immer wieder kleinere Truppen der Feinde, um hier Unruhe zu stiften.“
„Liegt dort oben eigentlich noch viel Schnee?“
„Da auf den Gipfeln ringsherum noch welcher ist, ist anzunehmen, dass am Ein-Mann-Pass noch einiges liegen dürfte. Der Doban-Pass liegt viel tiefer, deshalb schätze ich, dort bis auf ein paar Schneewehen und fortgespülte Wege nichts vorfinden, was unsere Überquerung behindern wird. Auf jeden Fall aber kann es dort oben noch sehr kalt sein.“
„Sind Schneewehen gefährlich?“, interessierte sich Raen für die Begebenheiten der Berge.
„Ja, wenn man nicht weiß, wie tief sie sind, können darin die Pferde und die Wagen versinken, aber sie können auch tückische Felsspalten überdecken. Zum Glück ist vielen von uns der Weg mit allen seinen windigen Kehren sehr gut bekannt. Und du solltest ihn dir für die Zukunft auch gut einprägen.“
„War schon einmal jemand auf dem hohen Gipfel dort drüben?“, fragte Kaera, mit einem mal auch wissbegierig geworden und wies auf eine besonders markant herausragende Bergspitze, die noch viel weiter östlich des Wächters lag. Das neue Gelände des Gebirges schien auch ihn zu faszinieren.
„Das ist der Sonnenkopf. Er heißt deshalb so, weil sich die Sonne auf ihrem Weg über das Himmelszelt dort oben ausruht. Es ist gut, dass du danach fragst, dann kann ich euch gleich etwas darüber erzählen. Dieses Gebirge ist so alt wie die Entstehung unseres Universums und es ist ein Urahn Hraunas. Junghal bedeutet ‚Universum aus Stein’ in Alt-Hy“, erläuterte Kensa den gebannt lauschenden jungen Männern, die dankbar für eine Abwechslung waren, „und es hat seine ganz eigenen Gesetze. Man kann sich gefahrlos in den Bergen fortbewegen, wenn man sie beachtet. Es gibt ein Sprichwort, das ihr bestimmt schon einmal gehört habt: Das Kind tritt niemals auf das Haupt des Großvaters. Das solltet ihr immer respektieren. Es gibt Orte, die allein den höheren Mächten vorbehalten sind, und ein Menschenwesen hat dort absolut nichts verloren. Das Junghal ist heute nicht nur ein heiliger Ort, sondern auch unser mächtigster Verbündeter im Schutz gegen den Feind. Und es gibt noch etwas darüber zu wissen: Nicht alle Berge haben Namen, nur einige wenige, die uns als Orientierung dienen, so auch zum Beispiel der Noghan, der Feuerberg, der noch weiter im Osten liegt. Das Junghal aber ist das Junghal, auch wenn es aus unzähligen Gipfeln besteht. Es ist ein Wesen, so wie ihr ein Wesen seid und nur einen Namen tragt. Das Wichtigste aber ist, dass ihr das Junghal immer achtet, dann geschieht euch nichts.“
„Und worauf muss man genau achten?“, erkundigte sich Raen.
„Das werde ich euch erklären, wenn wir dort sind.“
Raen und Kaera gaben sich damit zufrieden, und wenig später setzten sie ihren Weg fort, den nördlichen Wächter immer im Blick.

32. Kapitel



Auf der anderen Seite der Berge wurde König Katthike erneut in Braud willkommen geheißen. Mit ihm waren tausend berittene Soldaten aus den Provinzen rund um Askhari-Kaise gereist, und noch einmal so viele sollten im Laufe des Monats im Lager eintreffen. Bald wäre das Heer vollständig.
Auch wenn hier auf der Südseite des Junghal der Schnee bereits verschwunden war, kündeten die nun zu reißenden Wildwasserflüssen angeschwollenen Bergbäche davon, dass die Schneeschmelze oben in den Bergen noch lange nicht vorbei war. Aber wenigstens war die von Katthike so gefürchtete Lawinengefahr vorüber, und bis jetzt hielt sich das Wetter an des Königs Zeitplan. In wenigen Wochen könnte der Marsch auf die Grenze beginnen.
Er machte ein hocherfreutes Gesicht, als er bei einer Besichtigung des Heerlagers feststellte, dass Kasai den Winter über gute Arbeit geleistet hatte. Das Lager war fertig ausgebaut und wartete auf seine vollständige Besetzung.
„Ich muss schon sagen, alter Freund. Ihr seid sehr fleißig gewesen!“, lobte Katthike beinahe euphorisch.
General Kasai, der zur Linken des Königs ritt, nahm die Anerkennung mit einer leichten Verbeugung im Sattel an. Aber er lächelte nicht, denn seine gute Laune war ihm schlagartig vergangen, als er gesehen hatte, dass Katthike Lata mitgebracht hatte. Nun war wieder größte Wachsamkeit angesagt. Der Hundsfott würde keine Gelegenheit außer Acht lassen, sich in seine Geschäfte einzumischen! Kasai seufzte innerlich. Die gute Zeit würde erst wieder beginnen, wenn er auf seinem Schlachtross saß und das Kriegsgebrüll ausstieß. Denn zumindest in Einem konnte er sich sicher sein: Lata würde sich hüten, auch nur einen seiner zarten Hofschranzenfüße auf das Schlachtfeld zu setzen. Und da Kasai sein Quartier schon längst in der Kommandohütte des Lagers bei seinen Leuten bezogen hatte, konnte er auch davon ausgehen, in dieser „liederlichen, völlig inakzeptablen“ Behausung für sich zu sein.
„Und wie hat sich mein Sohn während meiner Abwesenheit betragen?“, wurde er von Katthike gefragt.
„Er hat gut trainiert und hat sich noch verbessert. Ich bin sehr zufrieden mit seiner Leistung“, antwortete Kasai und versuchte, nicht auf Lata zu achten, der von seinem Pferd aus abschätzig das Lager, die Soldaten und zuletzt ihn musterte.
„Dann kann ich das wohl gleichfalls sein!“, erwiderte Katthike vertrauensvoll großzügig und klopfte sich gut aufgelegt auf den Oberschenkel.
„Nur muss ich leider anmerken, Majestät“, raunte Kasai mit gedämpfter Stimme, damit Lata es nicht hören konnte, „dass Setna für meinen Geschmack zu viel mit diesen Sklaven herumhantiert und dabei viel wertvolle Zeit verschwendet, die er besser noch mit weiteren Übungen in Kriegstaktik verbringen sollte.“
„Ach, mein Freund, es mag vielleicht ein wenig zu viel jugendliches Amüsement darin liegen, aber verschwendet ist es nicht. Ich sehe das eher als gute Vorbereitung für die Zukunft an. Außerdem wird der Krieg demnächst die beste Übung für ihn sein. Meine Frage ist jetzt: Ist Setna dafür bereit?“
„Ja, Majestät, das ist er.“
Im Hintergrund schnalzte Lata gelangweilt mit der Zunge, und Kasai warf ihm einen missbilligenden Blick zu.
„Gut, das wollte ich hören. So, und jetzt werden wir es uns in unserer Residenz gemütlich machen“, gab Katthike ironisch und halb an Lata gewandt von sich und wendete sein Pferd. „Ach, und General, ich würde es sehr begrüßen, wenn Ihr uns heute Abend bei einem ausgiebigen Essen Gesellschaft leistetet!“
„Vielen Dank, Majestät, ich werde da sein!“, nahm Kasai die Einladung an - aber nur höchst unwillig, denn er verspürte wenig Lust, in der Nähe Latas zu verweilen.
Katthike hob seine Hand zum Gruß, und Kasai neigte ergeben sein Haupt. Missgestimmt schaute er seinem König anschließend hinterher, der an seiner rechten Seite ein bösartiges Geschwür in Form eines Menschen hatte. Verächtlich spuckte er in den Schlamm zu Füßen seines Pferdes, sandte einen stillen Fluch gen Himmel und trabte dann in Richtung Kommandohütte davon.

Spät in der Nacht saß Katthike bei Kerzenschein in seinem Schlafzimmer und sinnierte über den Abend. Es war eine kleine illustre Runde gewesen, die sich um die Essenstafel versammelt hatte. Lediglich Setna war neben dem General und Lata noch mit von der Partie gewesen. Doch Katthike hatte gewusst, dass es nicht unbedingt einer übermäßig großen Zahl an Leuten bedurfte, um eine unterhaltsame Spannung zu erzeugen. Allein die besondere Mischung machte es. Und die war mit dem General und Lata bereits gegeben. Katthike dachte an Kasai. Ihm war sehr wohl aufgefallen, wie sehr der General versucht hatte, seinen Hass gegen Lata im Zaum zu halten. Er war geradezu bemüht gewesen, seine wahren Gefühle über seinen werten Kollegen nicht offen zu äußern. Aber auch Latas unverschämtes Verhalten gegenüber dem General war ihm nicht entgangen. Und nur Setna hatte sich sichtlich unwohl gefühlt inmitten des Spannungsfeldes zwischen diesen beiden gegensätzlichen Polen. Doch anstatt regulierend einzugreifen, hatte Katthike das Spiel laufen lassen. Es war ein Erfolgsrezept, welches schon sein verstorbener Vater derart vorbildlich angewandt hatte. Denn der alte König Buthwal hatte sich wie kein anderer darauf verstanden, stets die richtigen Leute gegeneinander auszuspielen, um sie dadurch zu Höchstleistungen anzuspornen.
‚Heute wärest du stolz auf mich, du verdammter Hurenbock!’, dachte Katthike hasserfüllt, denn auch jetzt noch wünschte er seinem Vater von ganzem Herzen, selbst im Land der Götter keinen Frieden finden zu mögen. Er schüttete den letzten Rest des Würzweines herunter, den er extra aus Askhari-Kaise hatte mitbringen lassen, um seinen Aufenthalt hier so angenehm wie möglich gestaltet zu wissen, und wischte sich mit dem Handrücken über den Bart. Dabei musste er schmunzeln, weil ihm der General mit seiner unverbesserlichen Art einfiel. Kasai zog das einfache soldatische Leben und einen schlechten Eintopf den eitlen und träge machenden Bequemlichkeiten des Hofes vor, daraus machte der alte Haudegen keinen Hehl. Er war ein genügsamer aber zuverlässiger Jagdhund. Er lebte für die Hatz, für den Krieg und gab keine Ruhe, bis das Wild zur Strecke gebracht war. Und Lata war ein Fuchs; zu schlau, um sich von Kasai provozieren zu lassen, aber nicht schlau genug, um Katthikes Spielchen zu durchschauen. Er hatte den Konsultas im Sommer absichtlich im Palast zurückgelassen, damit dieser sich so sehr über die scheinbare Bevorzugung des Generals ärgerte, dass er später alles daran setzen würde, um zumindest wieder auf gleiche Höhe zu kommen. In Wahrheit - und das wusste nur Katthike - konnte keiner den anderen ausstechen, denn jeder für sich hatte ein Wissen, das unbezahlbar war.
Seine Gedanken wanderten zu seinem Sohn. Setna hatte es tatsächlich etwas übertrieben mit seinen Sklavenversuchen. Er hatte sie unnötig hart verschlissen, ein übler Verschwendungsrausch. Doch offenbar hatte er seiner unterdrückten Ungeduld auf den Krieg Luft machen müssen, und war dabei überraschend gewalttätig vorgegangen. Katthike verstand das und es freute ihn sogar, dass sein Sohn keiner von diesen mitleidigen und verweichlichten Sklavenfreunden werden würde, die ständig dafür plädierten, die Menschenware gut zu behandeln. Katthike stieß verächtlich Luft aus.
„So ein Quatsch, ich sollte die Verbreitung einer derart idiotischen Meinung verbieten lassen!“, sagte er laut vor sich hin und schenkte sich einen neuen Becher von dem schmackhaften Wein ein.
„Nach dem Feldzug wird sowieso Einiges anders werden!“, versprach sich Katthike, denn einige seiner Gesetzesgebungen gedachte er sich noch einmal vorzunehmen. Aber bis dahin würde noch viel Wasser den - wie hieß dieser verdammte Fluss hier doch gleich? - ach ja, den Sendi herunterfließen.
Katthike gähnte. Er trank den zweiten Becher aus, löschte das Licht und legte sich in sein Bett. Kurz dankte er den Göttern für ihre Gunst und sich selbst für seine Genialität und schlief seelenruhig ein.

Der nächste Morgen war grau, und das trübe Wetter reizte die Gemüter der gelangweilten Soldaten. Und es war nicht verwunderlich, dass jeder kleine Streit zum Anlass genommen wurde, sich Abwechslung zu verschaffen. Noch während der morgendlichen Essensausgabe entstand an einer Stelle des Heerlagers plötzlich heller Trubel. Beinahe sofort bildete sich eine Ansammlung, und laute Anfeuerungsrufe schwangen sich zwischen den Zelten und Holzhütten auf. Immer mehr Soldaten kamen herbei gelaufen und wollten dabei zusehen, wie zwei schlammbesudelte Männer sich prügelten. Unter beifälligem Gejohle schlug der eine gerade dem anderen den Kopf auf den Boden, und Blut schoss aus einer Wunde an dessen Nase und Stirn.
„Los, mach ihn kalt!“, schrie einer.
„Ja, er hat es nicht anders verdient, der Bastard!“, stimmte ein anderer dem Vorherigen zu. Inzwischen war der Unterlegene bewusstlos, nachdem er zwei seiner Schneidezähne an einem Stein eingebüßt hatte, doch der Sieger hämmerte weiter wie besessen auf ihn ein.
Plötzlich knallten laute Schläge, und in das Gebrüll der Soldaten mischten sich Schmerzensschreie. Kasai und zehn seiner Gardesoldaten waren auf ihren Pferden herbeigekommen und schlugen mit langen, schweren Peitschen auf den Mob ein.
„Nichtsnutziges Pack! Auseinander mit Euch! Ich werde euch Beine machen!“, brüllte der General und ließ seine Peitsche in das Gesicht des Nächststehenden krachen. Der jaulte auf, als die Haut auf seiner Wange aufplatzte, und floh so schnell er konnte.
„Ihr seid Soldaten des Königs und habt auf euren Plätzen zu sein. Verdammte Raufbolde!“ Wieder erwischte er einen mit seiner Peitsche.
Nachdem die Menge sich aufgelöst hatte, ordnete Kasai an, den Bewusstlosen mit einem Eimer Wasser zu wecken, und verhaftete dann beide Ruhestörer.
Vorfälle dieser Art hatten in den letzten Wochen zugenommen. Es waren zu viele kampfesdurstige Männer auf einem Haufen eingepfercht und die öde Warterei auf den Beginn des Feldzuges brachte sie ständig auf dumme Gedanken. Sie würden bald etwas zu tun bekommen müssen, damit sie unter Kontrolle blieben. Nicht, dass Kasai mit solchen Schwierigkeiten nicht umgehen konnte, aber in den nächsten Tagen würde noch einmal ein mehrere Tausend hier eintreffen, und dann würde es wirklich eng werden. Dazu kamen noch die vielen verschiedenen Stammeszugehörigkeiten mit den entsprechenden Fehden der Soldaten. Kasai beschloss, zusätzliche Drilleinheiten stattfinden zu lassen, um die Disziplin zu wahren.
Zischend stieß er Luft durch seine Zahnlücke und bedeutete den Gardisten, die Verhafteten in die Zellen zu bringen. An ihnen würde er ein Exempel statuieren, das die ganze Drecksbande ein wenig abschrecken würde. Der König würde es zwar nicht gerne sehen, dass er dafür zwei seiner Soldaten verbrauchte, aber so etwas war nun einmal nötig, um die Ordnung aufrechtzuerhalten.
Kasai trennte sich von den Gardesoldaten und ritt aus dem Lager hinaus auf den Abstellplatz, wo in ordentlichen Reihen das schwere Kriegsgerät lagerte: Ballisten, Katapulte und andere Wurfgeschütze. Mit dem Katapultmeister, den er bei der Begutachtung der einzelnen Teile vorfand, beriet er den Abtransport der Maschinen, der in zwei Tagen beginnen sollte. Der große Platz wirkte gespenstig, nur vereinzelt bewegten sich Menschen durch die stumme Armee der hölzernen Ungetüme. Kasai ging zu den Katapulten hinüber. Die Konstruktionen wirkten wie übergroße Heuschrecken, die hungrig auf ihren Befehl zum Einsatz warteten. Aber noch schwiegen ihre Winden und ruhten ihre langen Arme mit den schweren Gewichten. Kasai klopfte an einen Holm und rüttelte an einem der Flaschenzüge, welche die Arme nach unten zogen. Ein Dutzend von diesen komplizierten Maschinen hatte er bauen lassen, und sie waren einzig und allein dafür geschaffen, um zu zerstören. Kasai erfasste ein ehrfürchtiger Schauer bei dem Gedanken daran, wie furchterregend ihre Kraft war.
Doch das hier waren nicht die großen, schwer manövrierbaren Wurfmaschinen, wie sie üblicherweise im flachen Gelände eingesetzt wurden. Kasai hatte zusammen mit dem fähigsten Gefechtskonstrukteur, den der König in seinen Reihen beschäftigte, die Funktionsweise der Maschine etwas abgeändert und sie dann stark verkleinert, so dass man sie in einem Stück gut hinauf in die Berge und später in Einzelteilen über den Pass würde transportieren können. Sie hatten viele Jahre gebraucht, um ein zufriedenstellendes Muster zu erschaffen, das so zielgenau war wie seine großen Brüder. Doch jetzt war Kasai mächtig stolz auf diese hübschen Meisterstückchen, die, wenn man die geringere Reichweite ausglich, ausgesprochen effektiv waren. Er hatte alles genau berechnet und erprobt. Die Entfernung zur Mauer würde ideal sein: außerhalb der Reichweite der Brandpfeile der Hy und innerhalb des Wirkungsradius der größtmöglichen Zerstörungskraft. Sie waren kleine widerspenstige Miststücke! Störrisch wie ein Bock, aber mit der Durchschlagskraft eines Stieres, deshalb hatte Kasai sie auch „Die Faust des Stieres“ getauft.
Erst in der letzten Nacht vor dem Angriff sollten die Katapulte an die Grenzmauer gebracht und bis dahin in dem Wald im Vorbergland versteckt bleiben. Es sollte ja schließlich eine Überraschung werden!

Die Hinrichtung war gerade vorüber, als dem General die Ankunft des letzten Soldatentrupps aus dem Süden Askhars angekündigt wurde. Kasai verzog mürrisch das Gesicht.
‚Keinen Augenblick zu früh, der alte Hurensohn!’, dachte Kasai grimmig und rief dann: „Bringt Herzog Karlis-Renandi sofort zu mir in die Kommandohütte!“ Er verließ den blutbesudelten Platz der Hinrichtung, wo die enthaupteten Leichen der beiden Soldaten lagen wie gekrümmte Engerlinge, und schickte einen Boten zum König.
Kurz darauf betrat der Herzog aus Bolthaischan den großen Raum, in dem später der Kriegsrat zusammentreffen sollte. Kasai saß auf seinem Stuhl an der Stirnseite des Raumes und ließ Karlis zu sich kommen, erst dann stand er auf und begrüßte ihn. Das Willkommen der beiden Männer fiel eher eisig aus, da sie nach der Trennung Königsblutes von den Patrioten keinen Hehl aus ihrer Rivalität machten.
„Herzog Karlis-Renandi, dass Ihr nun auch endlich hier aufkreuzt, wird den König sehr freuen. Er ist bereits unterwegs hierher. So nehmt doch Platz. Ich hoffe, Ihr hattet eine gute Reise?“ Kasai wies auf einen Stuhl links von ihm in dem sonst leeren Raum.
Karlis ließ nicht erkennen, ob er an seinem sarkastischen Unterton Anstoß nahm und setzte sich. Betont übertrieben klopfte er sich den Staub von den Schößen seiner Reisekleidung, um damit deutlich zu machen, dass er eher darüber ungehalten war, zu einer Beratungssitzung geladen zu werden, ohne sich vorher von der Reise erfrischen zu können.
„Ich werde Euer Banner sogleich hier im Hause des Kriegsrates aufhängen lassen.“ Mit einem Wink Kasais verschwand eine der Ordonnanzen aus der Tür.
„Habt Dank der Nachfrage, General Herzog Kasai. Wir sind gut vorangekommen. Den größten Teil der Strecke haben wir bequem auf dem Schiff verbracht“, berichtete Karlis, und Kasai musste sich ein schadenfrohes Grinsen verkneifen, denn ihm war bekannt, wie sehr der Cousin des Königs diese plumpen Schiffe, welche sie damals auch bei der Eroberung Hys eingesetzt hatten, verabscheute.
„Bis zur Mündung des Sendi sind wir mit vier Galeeren, bis an die Reling vollgeladen mit Männern und Pferden, gefahren und dann an Land gegangen“, fuhr Karlis fort. „Und der Rest des Weges entlang des Flusses hier hinauf nach Braud war ja lediglich ein Katzensprung. Sagt, General, wie lange ist es her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. Das muss beim Großjährigkeitsfest von Prinz Setna gewesen sein, nicht wahr?“ Kasai hörte, wie Karlis Setnas Titel mit Absicht ironisch betonte. Damit machte er gleich klar, dass er den Prinzen noch immer nicht akzeptierte.
„Ihr habt Euch kein Stück verändert. Immer noch der alte mürrische Dachs ohne Land?“
Kasai schmunzelte darüber, dass Karlis mal wieder mit der Tatsache spöttelte, dass er ein Herzog ohne Land war, und strich sich über den Kinnbart.
„Ja, ganz recht“, sagte er. „Aber besser ohne Land, als ohne Zukunft! Prinz Hokhan Setna ist ein ausgezeichneter Schüler, und die Zukunft liegt in seinen vielversprechenden Händen.“
Karlis verstand offenbar Kasais Anspielung, dass Königsblut sich hinter den hoffnungslosen Außenseiter Kanaima gestellt hatte, denn er lächelte recht sparsam.
„Die Händen, die Euch füttern! General, da wo ich herkomme, nennt man das Herrendienst“, spielte Karlis mit süßlicher Miene zurück, ließ sich aber nicht dazu hinreißen, abfällig zu grinsen. „Doch macht Euch keine Sorgen um Euren Ruf, der hat ja bereits schon gelitten. Wie ich sehe, bekommt Ihr jetzt eine zweite Chance am Ort Eurer Niederlage. Viel Glück dabei!“
General Kasai knirschte mit den Zähnen und wollte gerade eine weitere Liebenswürdigkeit mit seinem Widersacher austauschen, als der König den Raum betrat. Die beiden Männer erhoben sich sofort.
„Majestät, hiermit melde ich, dass die Streitmacht von Herzog Karlis-Renandi komplett eingetroffen ist“, entgegnete Kasai mit einer zackigen Verbeugung.
„Seid gegrüßt, Cousin Karlis. Wie geht es der werten Familie daheim?“, erkundigte sich Katthike mit falscher Freundlichkeit.
„Gut, Majestät.“ Auch Karlis verneigte sich vor seinem König.
„Nun denn, es freut mich, auch auf Eure Unterstützung zählen zu können. Wie viele Männer habt Ihr mitgebracht, Cousin?“
„Die geforderten Vierhundert und keinen Mann weniger!“, antwortete Karlis aufrecht und scheinbar bereitwillig.
Kasai aber wusste es besser. Karlis hatte zuvor offen geäußert, von der Idee Hy anzugreifen, nicht viel zu halten, doch sein Lehnseid band ihn. Und deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dem seit jeher geltenden Gesetz zu beugen, das ausnahmslos alle Herzöge und Lehnsherren dazu verpflichtete, Soldaten bereitzustellen, wenn der König von Askhar zum Krieg rief. Aber nicht immer waren die Herzöge auch damit einverstanden, denn die Gründe für einen Krieg waren natürlich nicht für alle gleich von Vorteil. Doch wer sich weigerte, den drohte der König mit Enteignung und Verbannung aus Askhar. Und wie jeder Ehrenmann, fühlte sich auch Karlis-Renandi gegenüber seiner Familie verantwortlich, welche die ersten Leidtragenden wären, wenn Katthike es erst einmal auf sie abgesehen hätte.
Der König nickte. „Da nun alle hier in Braud eingetroffen sind, können wir ja jetzt endlich den ersten Kriegsrat einberufen. Ich hoffe, man hat Euch mitgeteilt, dass er gleich stattfinden wird.“ Er sah Karlis noch einen Moment durchdringend an und sagte dann wie beiläufig: „Oh, ich sehe, Euch wurde noch keine Erfrischung angeboten. Also wirklich, General, das nenne ich unhöflich!“
Katthike winkte, und wie aus dem Nichts trat plötzlich ein Diener herbei und schenkte Karlis einen Becher Wasser ein. Die Unterhaltung war beendet.

Wenig später fanden sich sämtliche Herzöge und obersten Kommandanten des Heeres zum Kriegsrat zusammen. Der große Raum in dem Kommandohaus war voll mit den gewichtigsten Männern Askhars, deren bunte Wimpel hinter ihnen an den Wänden hingen. Ein angespanntes Stimmengewirr lag über der diskutierenden Menge wie das Summen eines Hornissennestes. General Kasai saß zurückgelehnt ihn seinem Stuhl und betrachtete die Szene stumm. Sein Blick schweifte von Karlis-Renandi, der sich mit Herzog Hana „Dem Friedlichen“ unterhielt und wahrscheinlich mit ihm über die Notwendigkeit dieses Krieges lamentierte, zu den raubeinigen Herzögen der viehzüchtenden Gebirgsstämme im entfernten Norden Askhars, bis hin zu seinem eigenen zweiten Protegé nach Prinz Setna: Dem frisch zum Untergeneral ernannten Herzog Bhuras. Sein Blick verweilte bei Bhuras, auf den er mächtig stolz war. Der beinahe zwanzig Jahre jüngere Herzog war sehr tüchtig und talentiert, und der perfekte Nachfolger. Und er, Kasai, hatte ihn entdeckt und ausgebildet! Und wenn er, der schon immer ein Einzelgänger gewesen war, jemals väterliche Gefühle für irgendjemanden hegte, dann für diesen jungen Mann. Bhuras unterhielt sich mit seinem Sitznachbarn und wirkte dabei sehr bedacht. Seine schmalen Hände, die recht untypisch für jemanden waren, der auch das Schwert sehr wohl zu führen wusste, schwebten dabei durch die Luft, als spiele er ein unsichtbares Instrument. Kasai bewunderte diese Eigenschaft, als Kriegsmann derart elegant Debattieren zu können, und es würde Bhuras später durchweg zum Vorteil gereichen, nicht bloß als harter und ungehobelter Kämpfer angesehen zu werden. Die Hände des Untergenerals waren aber auch schon das Eleganteste an ihm, ansonsten war sein Körperbau eher gedrungen und grob, was gleich noch viel weniger zu den zarten Händen passen wollte. Bhuras’ dunkelbraunes Haar war gelockt, und er hatte schon jetzt einen recht fliehenden Haaransatz, was ihn etwas älter erschein ließ, als er tatsächlich war. Auch sein Gesicht war alles andere als vornehm geschnitten. Die plattgedrückte Nase und die eng zusammenstehenden Augen gaben ihm einen eher verschlagenen Ausdruck. Aber diese Hände machten einfach alles wieder wett!
Das Summen der Stimmen verstummte abrupt, als die Tür sich öffnete, und der König zusammen mit Setna und Lata den Raum betrat. Alle erhoben sich und verneigten sich tief. Katthike wandelte erhaben durch die Mitte und ließ sich auf seinem Thronstuhl an der Stirnseite des Raumes nieder, zu seiner Rechten Lata und zu seiner Linken Setna, gleich neben Kasai. Auf ein Zeichen Katthikes hin nahmen alle wieder Platz, und die Tür öffnete sich ein weiteres Mal, um dem Modell der Grenze Einlass zu gewähren, welches Katthike aus Askhari-Kaise hatte mitbringen lassen. Ein erstauntes Raunen drang aus den Kehlen der Männer, denn dergleichen hatten sie noch nicht gesehen, selbst die Berge im Hintergrund waren naturgetreu nachgeformt. Kasai schob zufrieden das Kinn vor.
„Nun, meine Herren Kommandanten“, eröffnete der König schließlich die Sitzung und hob eine Hand in Richtung Kasais, „General Kasai wird Euch jetzt erläutern, wie ich vorzugehen gedenke. Bitte General.“
Kasai erhob sich trat an das Modell und nahm einen Zeigestock zur Hand. Nach einem kurzen Blick in die Runde ergriff er schließlich das Wort und begann mit der Aufzählung ihrer Kampfstärken und verglich sie mit den geschätzten Zahlen der Hy-Streitmacht. Anschließend ging er auf das geplante Vorrücken ein, erklärte die Brennpunkte und Lokalitäten, auf die sie sich konzentrieren wollten.

Unterdessen saß Lata gelangweilt in seinem Stuhl und blickte wie zuvor der General in die aufmerksam lauschenden Gesichter der großen Kriegshelden. Dieses Schlachtengefasel war wirklich ermüdend, dachte er. Seit Monaten ging es um nichts anderes mehr, und er hatte wohl oder übel daran teilnehmen müssen, um seinen Vorteil zu wahren. Lieber hätte er es gesehen, sie würden endlich zur Tat schreiten, denn er selbst hatte für sein eigenes Vorhaben am Rande des Kriegsgeschehens viel Kraft investieren müssen. Eines aber befriedigte ihn schon jetzt: Endlich bekam sein seit vielen Jahren hasserfülltes Herz, in dem er sein dunkelstes Geheimnis verborgen hielt, eine zweite Chance auf Rache. Und die galt nicht dem General, sondern dem verabscheuungswürdigsten Volk auf dem Antlitz dieser Erde: Den Hy! Denn sie hatten ihm etwas angetan, was sie niemals hätten tun dürfen! Lata strich sich über die feuchte Stirn, es war sehr warm hier in dem Raum mit den vielen Menschen. Wie zufällig traf sein wandernder Blick den von Herzog Bhuras, und nur der Konsultas konnte erkennen, dass der Lidschlag des anderen mehr bedeutete als nur ein bloßes Blinzeln. Lata blinzelte selbst und sah wieder auf den Rücken des Generals, der noch immer lang und breit anhand des Modells über das kommende Ereignis dozierte. In seiner Vorstellung malte Lata sich aus, wie bald ein tödlicher Pfeil aus diesem Rücken ragen würde, und er musste sich ein unwillkürliches Lächeln untersagen. Es war wirklich zu einfach gewesen, den richtigen Mann für diese Sache zu finden, beinahe schon erschreckend einfach. Was die Aussicht auf Macht doch alles bewegen konnte! Selbst die engsten und vertrautesten Verbindungen konnte man damit aufbrechen, als seien sie aus porösem Lehm. Lata begann belustigt über die Ironie seiner gelungenen Anheuerung mit dem Fuß zu wippen. Doch das lenkte Setnas Aufmerksamkeit auf ihn, und er erntete einen finsteren Blick des Prinzen. Beschwichtigend lächelnd stellte er das Wippen ein.
‚Deinem Freund Kasai wird es bald an den Kragen gehen, mein Prinzchen, und dann bist du wieder ganz allein. Mal sehen, wie du mich dann ansiehst!’, versprühte er in Gedanken weiter sein Gift. Manchmal wünschte er sich, Prinz Kanaima hätte diesen kleinen Wichtigtuer Setna damals tatsächlich umgebracht. Mit ihm hätte er sich bestimmt besser verständigen können. Obwohl Lata nur Vermutungen darüber anstellen konnte, was für ein Mensch aus Kanaima inzwischen geworden war, war er sich dennoch sicher, dass der echte Sohn des Königs nicht zu solch einem lächerlichen Schoßhündchen geworden wäre, wie es Setna war; eine kleine miese Halbblutmischung, weiter nichts, nur leider der nächste König von Askhar.
Doch Lata wollte sich nicht die Stimmung verderben lassen, sein Plan würde funktionieren. Und dann würden die Karten neu gemischt! Aus sicherer und bequemer Ferne konnte er alles beobachten und sich täglich von seinen Boten Bericht erstatten lassen. Welch brillante Unterhaltung, ein gigantisches Lustspiel, über dem sich bald der Vorhang heben, und am Ende Tragödie und Triumph in meisterlicher Inszenierung vereinen würden. Lata fläzte sich tiefer in seinen Stuhl, einen sehr zufriedenen Zug um seine Mundwinkel nicht verbergend.

*

„Ich muss sofort zurück nach Askhar gehen!“, sagte Kanaima aufgeregt.
„Und was wollt Ihr dann dort ausrichten? Es ist Krieg, keiner der Herzöge befindet sich im Moment dort, wo er normalerweise sein sollte. Alle sind in dieser Stadt Braud. Ich nehme mal an, auch Euer Onkel Karlis-Renandi. Zu ihm Kontakt herzustellen, dürfte im Moment äußerst schwer sein. Und auch der König wird mit seiner Führungsriege auf dem Schlachtfeld höchst beschäftigt sein“, entgegnete der Patron ruhig.
„Aber ich kann doch nicht einfach hier bleiben, während mein Volk Krieg führt“, empörte sich Kanaima.
„Der König hat Euch nicht gerufen, also könnt Ihr sehr wohl hier bleiben. Seht das doch einmal so: Ihr habt das Privileg, Beobachter zu sein. Etwas Besseres kann Euch nicht passieren. Lasst doch den König sein Heer führen und kämpfen. Ihr könnt ganz beruhigt hier sitzen und bequem alles abwarten.“
„Was ist, wenn er den Krieg gewinnt?“
„Was soll dann sein?“
„Wird Katthike dann nicht immer mächtiger, und würde das nicht auch all die anderen Länder gegen ihn aufbringen? Für mich wird es dann schwerer sein, an ihn heranzukommen.“
„Hm, das kann schon sein, aber es kann alles Mögliche passieren. Keiner weiß es. Aber darin habt Ihr Recht: Es ist schon eine merkwürdige Situation. Selbst der Großkönig von Graçe weiß nicht so recht, wie er sich verhalten soll. Falls Askhar Hy einnimmt, dann wird Katthike seine Position hier im Freien Osten stärken, aber er wird keine großen Schätze gewinnen. Für das geeinte Reich Graçe wird es dann hier etwas ungemütlich werden, wenn der aufstrebende Nachbar immer weiter anwächst. Irgendwann könnte Askhar ja auch auf die Idee kommen, Graçe zu überfallen.“
„Deshalb hat der Großkönig ja auch ein Abkommen mit Katthike geschlossen. Und deshalb sind auch schon jetzt askharische Soldaten in Graçe stationiert.“
„Wenn Ihr mich fragt, ist das alles nur Taktik. Früher oder später wird Katthike auch gegen Graçe ziehen und dann wird er schon Soldaten im Land haben. Es ist wirklich schlau von ihm, sich zuerst auf Hy zu konzentrieren. Das ist der Schlüssel zu allen anderen Ländern. Wenn er die Hy erst einmal einkassiert hat, dann steht ihm das Tor zu
„Den Hy helfen kann Graçe aber auch nicht, denn dann würden sie sofort den Zorn Askhars auf sich ziehen. Und außerdem hat noch nie jemand den Hy geholfen.“
„Richtig, der Großkönig von Graçe befindet sich in einer schönen Zwickmühle.“
„Er könnte sich noch mit uns Askharern verbünden und gemeinsam mit uns gegen Hy ziehen. Hinterher würde dann geteilt werden und auch die Brüderschaft besiegelt, so würde ich es vielleicht an seiner Stelle machen“, überlegte Kanaima.
„Nein, der Großkönig von Graçe ist viel zu ängstlich. Er ist nie ein Mann von Eroberungsfeldzügen gewesen, kein Kriegsfürst, was man ihm auch zu Gute halten kann. Er ist ein sehr diplomatischer Staatsmann und eher darauf bedacht, seine Handelsbeziehungen zu anderen Ländern auszubauen, aber nicht gerissen genug, einen schmutzigen Krieg zu führen. Und genau das ist in diesem Falle sein Problem. Aber sein Zaudern ist auch kein guter Ratgeber. Tja, so ergeht es wohl momentan auch den anderen Herrschern ringsum Hy. Der König von Tan, die Stammesfürsten von Tschabastan und im weiteren Sinne sogar auch Sesa Noviè und das Ost- und Westjugitenreich, sie alle haben das große Zähneklappern! Für sie ist das wehrhafte Hy auch so etwas wie ein Schutzgürtel gegen Euer Volk.“
„Aber auch wenn niemand Hy zu Hilfe eilen wird, gegen Askhar werden die anderen sich trotzdem nicht zusammenschließen aufgrund ihrer unverbesserlichen Fehden. Das ist wirklich dumm und kurzsichtig gedacht. Von allen Seiten!“
„Ha ha ha, das ist gut“, lachte der Patron, „zehn Jahrhunderte kurzsichtig zu nennen. So lange sind die Völker des Freien Ostens nämlich schon verfeindet, oder etwa nicht? Deshalb heißt es ja auch ‚Freier Osten’ - frei von Frieden, ha ha ha! Aber da wir hier in Borgossa vorerst sehr sicher sein dürften, bleibt es spannend zu beobachten, was geschehen wird in unserem tausendjährigen Konflikt!“ Er zwirbelte sich vergnügt die Schnurrbartspitze. Kanaima lehnte sich vor, nahm einen runzeligen Apfel aus der Obstschale, die auf dem kleinen Tisch stand und schälte ihn mit einem kleinen Messer. Sie saßen auf dem Dach des Hauptquartiers und genossen die Sonne und den Ausblick. Es war windstill und angenehm ruhig. Der Lärm der Stadt war weit weg. Lediglich auf dem Sims gurrten balzende Tauben, und in der Ferne glitzerte die vergoldete Spitze des Ratspalastes zusammen mit den schlank aufragenden Spitzen der Gottesheime um den Vorrang des Betrachters.
„Lasst Euch damit bloß nicht erwischen“, meinte der Patron scherzhaft und zeigte auf das Messerchen.
Kanaima hielt es hoch. Die Klinge war gerade mal so lang wie sein erstes Daumenglied.
„Es ist niedlich, nicht wahr? Janita hat es mir geschenkt.“
Der Patron lächelte. „Ja, sie nennt es Wolfszahn, dabei weiß sie nicht einmal, wie ein richtiger Wolf aussieht. Aber ich habe ihr früher, als sie noch klein war, viele Geschichten über diese Tiere erzählt. Das hat sie immer sehr fasziniert. Sie ist wirklich wie eine Tochter für mich alten Mann, der es nie geschafft hat, sich zusammen mit einer Frau niederzulassen und eine Familie zu gründen.“ Er seufzte wehmütig.
Kanaima steckte derweil das Messer zurück in seine Scheide und ließ es in seinem Ärmel verschwinden. Er nahm eine Apfelspalte und biss hinein. Er wusste, was der Patron hatte sagen wollen. Aber er hatte auch nicht vor, nur ein Spielchen mit Janita zu treiben. Er liebte sie aufrichtig und von ganzem Herzen.
„Janita ist ein außergewöhnliches Mädchen“, sagte er, und der Patron sah ihn mit traurigen Augen an.
„Ja, das ist sie. Seid gut zu ihr, ich bitte Euch.“
„Ich verspreche Euch, das werde ich.“
Ein leichtes Lächeln huschte über die melancholischen Züge des alten Mannes und dann sah er in die flimmernde Ferne zu den goldenen Spitzen.

33. Kapitel



Die Mauer war beeindruckend. Als Raen mit seiner Gruppe vom Pass herunter geritten kam, lag sie wie ein breites, dunkles Band vor ihnen, das irgendwie nicht dahin zu gehören schien. Hufeisenförmig umschloss sie, in regelmäßigen Abständen durch einen Turm verstärkt, die Provinz; ihre Enden verloren sich in der dunstigen Ferne. Es hatte nur siebzehn Jahre gedauert, bis sie endlich fertiggestellt worden war. Die Flanke eines halben Berghügels war dafür abgetragen worden, und Tausende von helfenden Händen hatten in dieser Zeit mit angepackt. Raen erinnerte sich an alles, was er über dieses spezielle Stück der Grenze gelernt hatte: Doban war eine kleine Provinz, die gerade mal die Größe von fünf Clangebieten besaß. Sie lag auf einer großen, dem Gebirge vorgelagerten Terrasse, die ein ganzes Stück höher lag als das, was jetzt Neu-Askhar hieß. Eine steile Schotterschulter, auf deren Kamm die Mauer stand, trennte die kleine Provinz vom Feindesland. Während sie mit ihren Pferden den abschüssigen Weg hinabstiegen, stellte Raen fest, dass es hier kaum alten Waldbestand gab. Der war damals für den Palisadenzaun abgeholzt worden. Doch an vielen Stellen wurde wieder aufgeforstet, und man sah hier und dort bereits junge Bäume nachwachsen.
Die Landschaft war gewellt wie eingefrorene Stromschnellen, und jeder Fleck, an dem nicht Felsen an die Oberfläche stießen, war mit frischbesäten Feldern und frühlingsgrünen Weiden belegt.
Die drei Chorten von Doban erhoben sich westlich des Passes. Sie standen sich, drei untereinander beratenden Schwestern gleich, in einem Dreieck gegenüber, in das wohl gut der ganze Shari Chor hinein gepasst hätte. Ihre Türme leuchteten weiß im spärlichen Licht der trüben Nachmittagssonne, und nach dem unwirtlichen Meer aus kalten Felsen und tückischen Schneefeldern, in denen die Wagen und Pferde nur schwer vorangekommen waren, waren sie ein versöhnlicher Anblick, der an ihre Heimat erinnerte. Aufsteigende Rauchfahnen zeigten an, dass es dort warme Kamine gab. Raen blinzelte erleichtert. Die Nächte, die sie auf dem Pass verbracht hatten, waren eiskalt gewesen und einen Tag lang hatte es sogar geschneit. Er war durchgefroren bis auf die Knochen und freute sich jetzt auf eine wärmende Mahlzeit und ein richtiges Bett. Jakori, die sich in Schnee und Geröll als sehr trittsicher erwiesen hatte, trottete in freudiger Erwartung auf ihrer Trense herum kauend in der Kolonne mit. Alle hatten den einladenden Duft des Frühlings in der Nase und richteten mit geschlossenen Augen ihre Gesichter nach der Sonne aus wie die Blumen auf einer Wiese, von der gerade der Schatten des Morgens gewichen war. Allmählich wurde die Straße breiter und flacher und verwandelte sich wieder in den gut ausgebauten Fahrweg, der sich als alte Handelsstraße direkt auf Askhar zu schlängelte. Schon an der ersten Abzweigung erwartete sie eine Empfangsdelegation Krieger, die sie lächelnd begrüßte. Raen konnte ihren lustig klingenden, gutturalen Dialekt hören. Es waren die letzten Hy, die nach dem Verlust der beiden großen Süd-Provinzen im Großen Krieg noch die südliche Mundart sprachen. Die Kolonne der Ankömmlinge unterteilte sich wieder in die Clangruppen und folgten jeweils einem Krieger aus Doban. Ihre Ankunft schien gut vorbereitet zu sein.
„Das ist hier immer so“, sagte Kensa, der die stirnrunzelnden Gesichter der Jüngeren bemerkt hatte. „Jeder muss schließlich gut untergebracht werden. Das kennen alle, die schon einmal hier gewesen sind.“ Kensa sah bedeutend zu Roman hinüber.
„Oh ja, hier in Doban wird einem der Aufenthalt so angenehm und freundlich wie möglich gestaltet!“, lachte Raens Vater zurück.
„Werden wir denn in einem der Chorten wohnen?“, fragte Raen.
„Nein, da ist nicht ausreichend Platz für all die vielen Krieger. Wir bekommen unsere eigenen Höfe. Du wirst schon sehen“, erklärte Kensa.
Sie folgten dem Doban-Krieger zu dem nächstliegenden Chorten und da sah Raen, was Kensa gemeint hatte.
Neben der Heimstatt für sich selbst hatten die Bewohner hier auch noch viel zusätzlichen Platz schaffen müssen. Dafür waren rings um die Chorten spezielle Höfe gebaut worden, die wie normale ringförmige Bauernhöfe aussahen, nur wesentlich größer und hauptsächlich aus Schlafplätzen und Stallungen bestehend. In den Nachbarländern hätte man ein solches Gebäude üblicherweise als Kaserne bezeichnet, doch die Hy nannten es Dortena ino Banskeid -Äußeres Haus der Krieger.
Und solch ein Dortena sollte in der nächsten Zeit Raens Zuhause sein. Zusammen mit den Kriegern seines Clans und denen des Rinzai und Rotenas Clans teilten sich etwa dreihundert Leute und Pferde den Platz hinter den Mauern eines solchen Hofes mit der Nummer Neun.
Noch am Abend des Eintreffens wurden über dem Tor die drei Clanbanner aufgehängt, so dass jeder gleich wusste, wer dort zu finden war.
Raen bezog sein Lager auf der Nordseite des oberen Ringstockwerks neben Kaera und einem anderen der jüngeren Krieger. Er breitete seine Decke auf dem frisch aufgeschütteten Stroh aus und verstaute seine Utensilien am Kopfende an der Wand. Über ihm war ein Wetterspalt, durch den ein Streifen grauen Lichts in den Raum fiel. Raen erhob sich, steckte seinen Kopf hindurch und sah nach draußen. Ihm stockte der Atem bei dem Anblick, der sich ihm bot. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Die Sonne war schon hinter dem Horizont versunken und die Wellen der Landschaft zu dunklen Rücken erstarrt, aber die Spitzen der schneebestäubten Berge überzog ein rotgleißend glühendes Feuer. Doch kaum, dass sich Raen dem Zauber dieses Schauspieles richtig gewahr werden konnte, war er auch schon vergangen, und vor dem immer dunkler werdenden Blau des Abendhimmels standen die Gipfel nach einem plötzlichen Farbwechsel in ein überirdisches Purpur getaucht.
„Hast du das auch gesehen?“, fragte er Kaera, der am Nachbarfenster gestanden hatte. „Was war das nur?“
„Ich weiß es nicht, aber es war unglaublich schön!“, erwiderte Kaera immer noch ganz hingerissen.
„Das nennt man Bergglühen!“, kam es aus dem Hintergrund, und Roman trat zu ihnen heran.
„Das gibt es nur hier auf dieser Seite des Junghal. Es sind die letzten Strahlen der Sonne, welche die Berge streifen, sozusagen als Versprechen, am nächsten Tage wiederzukommen.“
„Ist es ein gutes Zeichen?“, wollte Kaera wissen.
„Ich denke schon“, entgegnete Raens Vater.
Raen schloss das Fenster mit dem dafür vorgesehenen Brett und damit die heraufziehende Kälte aus. „Gibt es jetzt etwas zu essen? Ich komme um vor Hunger“, fragte er.
Raens Vater nickte und bedeutete den beiden, ihm zu folgen.
Als Raen nach dem Nachtmahl im Bett lag, konnte er trotz seiner zuvor empfundenen Müdigkeit nicht einschlafen.
‚Vielleicht bin ich zu erschöpft und es ist viel zu bequem hier’, dachte er halbamüsiert und tastete das Stroh ab, auf dem er ruhte. Die Tage vorher, als sie in den Bergen gewesen waren, hatten sie entweder auf hartem Schotter oder an kalte Steine gelehnt schlafen müssen oder, wenn es möglich gewesen war, in den Zelten mit dem Sattel als Kopfkissen. Dagegen war das hier der reinste Himmel. Leise seufzend schloss Raen die Augen.
Doch seine Gedanken trafen nicht etwa auf den ersehnten Schlaf, sie fanden stattdessen eine kleine scharrende Bewegung in einer dunklen Ecke in seinem Hinterkopf. Und er wusste sofort, was es war, konnte seine Aufmerksamkeit aber nicht davon ablenken. Denn dort in dem Winkel, in dem ganz im Gegensatz zu anderen abgelegenen Kammern in seinem Gedächtnis nichts vergessen wurde, nagte wie ein kleines unermüdliches Schattenwiesel die Erinnerung an das, was er in Shari zurückgelassen hatte. Und es war dabei nicht die Geborgenheit im Schoße der Familie, an die er denken musste, vielmehr war es der bittere Verrat, der aus dem spitzen spöttischen Gesichtchen des wühlenden Wiesels lachte. Er hatte seinen Freund verloren, hatte ihn auf hinterhältige Weise betrogen und auf der anderen Seite hatte er Suneka im Stich gelassen; zwar unfreiwillig, aber dennoch war sie jetzt ganz auf sich gestellt und musste der Kritik und dem Unmut des Clans standhalten. Nicht selten gesellte sich zu dem ersten Wiesel dann noch unweigerlich ein zweites hinzu, welches nicht minder lebhaft in seinen Gedanken herumstöberte. Es war das seiner eigenen Gewissensqual, denn eigentlich war er geradezu heilfroh darüber, jetzt in dieser verzwickten Situation, die er selbst heraufbeschworen hatte, von zu Hause fort zu sein.
‚So oder so’, dachte er, ‚es wird einiges anders sein, wenn ich wieder nach Shari zurückkomme.’

Die Wartezeit bis zum Beginn des Krieges war für Raen angefüllt mit vielen neuen Dingen, aber auch mit bekannten Routinegängen. So hatten sie zum Beispiel Wachdienst auf der Mauer und den Türmen wie auch weiteres Waffentraining und Ausdauerläufe, oder sie beseitigten in ständig wechselnden Arbeitsgruppen am Pass die Schäden des Winters, damit die Versorgungswagen ein leichteres Durchkommen hatten. Als erfreuliche Abwechslung empfand Raen die Erkundungsritte in die Umgebung, die ihnen die Besonderheiten des Terrains vertraut machen sollten. Sie begutachteten den gesamten Verlauf der Mauer und ihre in den Fels der Bergflanken mündenden Enden. Der westliche Teil, so erfuhr Raen, war noch ein Stück der Alten Grenze und war erst nach dem Großen Krieg noch verstärkt worden. Dahinter lag Graçe, das, wie Raen fand, nicht besonders anders aussah als ihre Provinz. Das neue Stück Mauer begann dort, wo ein gigantischer Felsblock kahl und schroff wie der Rest eines zerborstenen Berges mehrere Hundertschritte hoch aufragte. Seine den drei Chorten zugewandte Seite war mit den glatten, senkrechten Wänden eines riesigen Steinbruchs unbesteigbar, doch zu beiden Seiten führte je ein schmaler steiler Pfad hinauf bis auf die Kuppe. Die Mauer führte um diesen Berg herum, der „Das Auge“ genannt wurde, weil er als Ausguck diente. Bei gutem Wetter konnte man vom Auge aus weit blicken und über die Waldflächen im Süden hinweg sogar etwas von der Stadt erahnen, die, so wusste Raen, von den Askharern jetzt Braud genannt wurde. Auf der graçenischen Seite war gerade noch mit knappem Auge ebenfalls eine Stadt auf der mit Weideland und Feldern bedeckten Ebene zu erkennen. Sie hieß Sakkara und war für die Hy ein früherer Handelspunkt in Graçe gewesen. Von dort hatten sie damals einige Waren wie Tee und Gewürze bezogen im Tausch gegen Öl und Getreide. Jetzt fand der Handel wohl eher mit den Askharern statt, dachte Raen, und es hieß, dass dort inzwischen auch ein großer Sklavenmarkt florierte, auf dem die Hy als das höchstbegehrteste Handelsgut galten. Aber das hielt er eher für ein Gerücht.
Die hervorragenden Aussichten vom Auge aus waren nicht das Einzige, das Raen und seinen Kameraden Ablenkung von der angespannten Warterei auf den bitteren Ernst verschaffte. Doban hatte noch etwas Anderes zu bieten, das es bei ihnen zu Hause so nicht gab und das bei den Älteren unter dem Begriff der außerordentlichen Gastlichkeit Dobans bekannt war. Nicht jeden Abend, aber fast jeden zweiten oder dritten, gab es in den Dortenas zur Unterhaltung aller großartige kleine Feste, bei denen allein das gesellige Zusammensein zum Anlass genommen wurde. Zum Nachtmahl gab es dann gemeinsam mit den Leuten des Doban Clans, die sich sehr herzlich und offen gaben und den Zugereisten mit viel Wärme das Gefühl vermittelten, sich hier in der Fremde heimisch fühlen zu können, Musik, Gesang und jede Menge Frohsinn.
Auch Raen ließ sich von der ausgelassenen Laune mitreißen und schwelgte ungezwungen in der Atmosphäre dieser besonderen Abende. Und schon nach kurzer Zeit spürte er fast euphorische Dankbarkeit in sich, das Privileg inne zu haben, ein Banskeid zu sein. Natürlich verdrängte er damit wie all die anderen erfolgreich den Grund ihrer Anwesenheit in Doban.

Doch so angenehm ihnen das Warten auch gestaltet wurde, geriet es alsbald doch zur stillen Qual. Weder der Setna noch die Askharer gaben ein Zeichen von sich. Die Tage kamen und gingen und blieben nervenaufreibend ereignislos. Die Spannung wuchs mit jedem neuen Sonnenaufgang, und man konnte deutlich die aufkeimende Unruhe unter den hyaunischen Kriegern spüren. Aufmerksam wurde das Gelände vor der Grenzmauer von ihnen beobachtet, aber die Askharer ließen sich nicht blicken. Ja, sie waren scheinbar nicht einmal in der Nähe der Grenze, denn man konnte weder am Tag noch in der Nacht Feuerschein oder Rauchfahnen ausmachen, die angezeigt hätten, dass der Feind dort lagerte und sich auf dem Vormarsch befand.
„Wann sie wohl kommen?“, fragte Raen leise in die Dunkelheit des Schlafraumes, als er in einer der stillen Nächte wieder einmal nicht einschlafen konnte.
„Vielleicht haben sie es sich ja anders überlegt und kommen gar nicht, und unser Setna weiß nur noch nichts davon“, antwortete Kaera neben ihm. In seiner Stimme schwang leise, fast kindische Hoffnung mit.
„Die Askharer werden angreifen und zwar bald. Irgendwie habe ich da so ein Gefühl. Außerdem irrt sich der Setna nie!“, gab Raen tadelnd zurück.
Daraufhin schwieg Kaera, und Raen starrte die dunklen Dachbalken an. Er hatte Kaera nie davon erzählt, dass er manchmal hellsichtige Träume hatte, so wie letzte Nacht vom Aufmarsch der Askharer.
„Was wird uns wohl erwarten?“, murmelte Kaera mit banger Stimme.
Raen drehte sich zu ihm, konnte ihn aber nicht sehen. Stroh raschelte.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte er zurück.
„Ja, aber was glaubst du, wird hier passieren?“
Raen dachte darüber nach. „Ich bin überzeugt, es wird schlimmer, als wir uns alle vorstellen können“, sagte er schließlich.
„Hm, meinst du etwa, noch schlimmer, als das, was die Alten uns erzählt haben?“
Wieder folgte ein kurzes Schweigen und dann antwortete Raen: „Ja, viel schlimmer!“ Er meinte ein scharfes Einatmen aus Kaeras Richtung zu hören. „Hast du etwa Angst?“
„Ja, natürlich“, hauchte der Jüngere tonlos.
„Ich auch“, gab Raen für sich selbst ganz unerwartet offen zu.
„Du? Wovor hast du denn Angst? Das ist ja ganz etwas Neues.“
„Ich habe Angst, Suneka nicht wiederzusehen. Wir sind doch gerade erst zusammengekommen.“
Stille auf der anderen Seite.
„Sie ist der einzige Grund, warum ich nach Hause zurück will.“
„Du meinst, du vermisst alles andere nicht? Nicht einmal deine Familie?“ Kaera klang einigermaßen entsetzt.
„Na ja, das hört jetzt vielleicht merkwürdig an, aber ich glaube, ... es ist tatsächlich so.“
Kaera pfiff leise durch die Zähne.
„Ich bin ganz glücklich, von dort mal weg zu sein. Außer die Trennung von Suneka, darüber bin ich natürlich nicht froh. Ich vermisse sie sehr, alles andere aber kann mir im Moment gestohlen bleiben! Es ist doch auch ganz nett hier.“
„Ganz nett? Raen, du bist schon komisch - “
Raen grinste in die Dunkelheit.
„- aber daran hab ich mich ja bereits gewöhnt.“
Raens Grinsen wurde noch breiter, denn er empfand das als Kompliment.
„Auf jeden Fall hoffe ich für uns beide, dass wir zurückkehren werden.“
„Das werden wir bestimmt, Kaera!“
„Ich wünsche mir manchmal nur einen Bruchteil von deiner Zuversicht, Raen Ra Roman. Gute Nacht!“
„Gute Nacht.“ Raen drehte sich immer noch mit einem Lächeln im Gesicht auf die andere Seite.
„Danke“, hörte er Kaera noch flüstern.
Er drehte sich wieder zurück. „Wofür?“
„Dafür, dass du wieder normal mit mir redest.“
„Keine Ursache“, nickte Raen und es war eine ernstgemeinte Entschuldigung. Zufrieden schloss er die Augen, aber das, was er bald darauf in seinem Traum sah, war wie schon zuvor nicht im Geringsten beruhigend.

34. Kapitel



Es war wie ein Wachalptraum, jener taumelnde Moment zwischen dem Aufwachen und dem tatsächlichen Bewusstsein, dass er wieder in der hellen Realität eines neuen Tages angekommen war; jene Grauzone, in der sich die nächtlichen Traumbilder so bedrohlich echt anfühlten.
Alle Krieger Hys waren auf der Mauer versammelt, und Raen konnte beinahe körperlich spüren, wie alle um ihn herum für einen Augenblick ins Wanken gerieten, als sie das sahen, was der sommerliche Sonnenaufgang auf so ungeschönte Weise vor ihnen enthüllt hatte. Zwar war in der vergangenen Nacht einiges an feindlicher Aktivität vor der Mauer beobachtet worden, aber das, was sich ihnen jetzt offenbarte, war etwas, womit sie niemals gerechnet hatten. Langsam stieg die Sonne am heiteren Himmel höher, aber Raen erschien es, als seien ihre Strahlen nicht warm, sondern unbarmherzig gleißend und kalt. Er konnte, wie alle anderen nicht glauben, was er da sah. Sie hatten doch gesagt, es sei unmöglich! Und nun standen sie da im Dunst des Morgens, gespenstig wie Rieseninsekten: Kriegsmaschinen!
Die Kriegsglocken auf den Türmen begannen erneut schrill zu läuten, und Raen fuhr bei ihrem Ton zusammen. Auch Kaera an seiner Seite blickte in erschrocken an. In seinen Augen spiegelte sich nackte Panik wieder.
„Und was jetzt?“, flüsterte er.
Raen zuckte mit den Schultern. Er sah, wie Bewegung in ihre Reihen kam und jede zweite Gruppe schleunigst ihren Posten auf der Mauer verließ.
„Was machen wir?“, erkundigte sich Raen an Kensa gewandt, der auch ihnen das Signal zum Abrücken gab.
„Wir gehören ab jetzt zur Reiterei. Los, runter zu den Pferden!“
Raen und die anderen taten, wie ihnen geheißen, und sie begaben sich zu ihren Pferden, die hinter der Mauer unter einem Holzdach angebunden warteten.
„Soll das heißen, dass sie die Mauer … überwinden?“, fragte Kaera atemlos an seiner Seite.
„Sieht ganz so aus“, gab Raen zurück.
„Aber die Mauer. Sie haben doch gesagt, die Mauer hält alles auf!“
„Hast du die Maschinen gesehen Kaera? Das sind Katapulte. Damit werden sie Löcher in die Mauer schießen.“
„Löcher ... in die ... Mauer?“, wiederholte Kaera entsetzt.
„Ja! Aber wir werden sie aufhalten. Sieh nur, wie viele Krieger wir sind.“ Raen machte eine ausholende Geste über die rund viertausend Köpfe zählende Reiterei. „Und auf der Seite unserer Feinde haben wir bisher nicht viel mehr geschätzt, auch wenn wir davon ausgehen, dass sie noch einen Teil im Wald versteckt halten. Wir aber sind die besseren Kämpfer!“, versuchte er seinem Kameraden und sich selbst Mut zuzusprechen.
Sie rückten mit ihren Pferden von der Mauer ab und nahmen in einiger Entfernung mit dem Gesicht zur Grenzbefestigung wieder Aufstellung.
„Aber warum hat der Setna das mit den Katapulten nicht gesehen?“, fragte Kaera weiter, als sie geduldig in ihren Reihen warteten.
„Ich weiß es nicht. Ich ...“ Raen brach ab, weil aus den Tiefen seiner Erinnerungen plötzlich etwas in sein Bewusstsein trat. ‚Der Setna hat es nicht gesehen, aber ich!’, dachte er und wurde bleich. ‚Nicht direkt die Katapulte, aber etwas, das mit ihnen zu tun hat: Fliegende Steine nämlich! Bei Hyaun, ich habe es gewusst und der Setna nicht! Wie kann das sein?’
Raen war tief in seine erschütternden Gedanken gehüllt, als die Glocken zu schlagen aufhörten, und eine unheimliche Ruhe sich wie ein schwerer Mantel über sie legte. Raen hob seinen nach innen gekehrten Blick in den heiteren Himmel. Ein schwarzer Punkt fesselte seine Aufmerksamkeit. Er flog zu einer Turmspitze und ließ sich darauf nieder. Es war ein Rabe. Raen hörte seine kollernden Rufe in der Bewegungslosigkeit dieses Augenblicks klar und deutlich.
‚Bist du einer von Hyauns Wächtern, der ausgeschickt wurde, um zu beobachten und zu berichten?’, fragte er und ließ den Vogel nicht aus den Augen. ‚Oder bist du hier, um mir ein Zeichen zu sein?’ Der Rabe breitete seine Flügel aus und erhob sich in die Luft. In einem großen Kreis flog er einmal über ihre Köpfe und verschwand dann über die Mauer hinweg auf die andere Seite.
‚Auf jeden Fall bist du ein günstiges Zeichen, guter Wächter!’ Raen schlug das Zeichen der drei Säulen vor der lederbewehrten Brust.
Da ertönte ein lauter Warnschrei, und alle Augen richteten sich auf die Mauer, auf der plötzlich alles in Bewegung geraten war. Ein lautes Krachen splitterte in die Stille, und an mehreren Stellen flogen Geschosse so groß wie Vorratsfässer über die Mauerkrone und landeten mit dumpfer Wucht zwischen den Reitern und der Wehr im feuchten Gras. Ein paar Pferde scheuten, und die Reiter hatten Mühe, sie wieder zu beruhigen. Raen fasste Jakoris Zügel fester.
‚Du meine Güte. Hyaun steh uns bei!’, dachte er und starrte auf die Größe der Steingeschosse, die mit der Kraft von drei Männern nicht zu bewegen waren.
Ein erneuter Warnruf erschallte und kurz darauf wieder das fürchterliche Krachen. Die großen Schatten kamen aus dem Blau des Himmels hernieder und Raen zog den Kopf ein. Diesmal war der Abstand zwischen ihnen und den Einschlägen größer, aber auch die Mauer wurde wieder getroffen.
„Sie schießen sich ein!“, rief Kensa. „Sie proben die Entfernungen und werden dann alles auf eine Stelle der Mauer konzentrieren.“
Raen dachte, dass er gerne die Funktionsweise dieser Maschinen gesehen hätte, die solch mächtige Steinbrocken schleudern konnten, aber direkt auf der Mauer wollte er gerade in diesem Moment ganz bestimmt nicht stehen.
‚Aber mein Vater ist dort!‘, schoss es ihm durch den Kopf. ‚Auge in Auge mit der tödlichen Gefahr!‘
Ein weiteres Krachen ließ ihn zusammenzucken. Jetzt waren es schon weniger Brocken, die hinter der Grenzbefestigung landeten. Ein Flaggensignal von der Mauer zeigte an, dass das Fußvolk der Askharer sich noch zurückhielt, sie arbeiteten bisher nur mit den Katapulten. Im nächsten Augenblick fegten ein paar der Geschosse ein großes Stück der Brustwehr auf der Mauerkrone weg und mit ihnen auch die Männer, die dort gestanden hatten. Ein überraschter Aufschrei ging durch die Reihen, und alle starrten auf die Stelle, die so aussah, als hätte dort ein hungriger Riese abgebissen.
„Können wir denn gar nichts tun, außer warten?“, rief Raen Kensa aufgeregt zu. Er fand es unerträglich, wie eine Maus in der Falle zu sitzen und auf die Ginsterkatze zu warten.
„Nein. Die Katapulte sind zu weit entfernt für unsere Brandpfeile und wir haben sonst nichts, um sie zu bekämpfen.“
„Und warum haben wir keine von diesen Maschinen? Mit ihnen könnten wir die der Askharer beschießen.“
„Wir haben sie nicht, weil wir sie nie gebraucht haben.“
„Aber jetzt bräuchten wir sie!“
„Das weißt du doch gar nicht.“
„Aber sie werden Löcher in die Mauer reißen, und wir können nichts dagegen tun. Sie werden hindurch kommen und uns ...“
„Wir werden sie zurückschlagen. Sie haben keine großen Möglichkeiten mit ihrer Reiterei bis zu uns durchzudringen, auch wenn sie noch so viele Löcher in die Mauer schießen. Und jetzt schweig endlich, Junge. Dies ist nicht die Zeit, zum Diskutieren!“, wies Kensa Raen zurecht und unterstrich das Ganze mit einem finsteren Blick.
‚Das kann doch nicht wahr sein!’, dachte Raen erbost. Er blickte zu Kaera auf seiner rechten Seite. Der hatte die kurze Unterhaltung mitbekommen und sah unsicher zurück.
Der nächste Warnruf wurde inmitten des Tones abgerissen, da ein Geschoss den Rufer getroffen hatte. Sein zerschmetterter Körper fiel mitsamt dem Gesteinsbrocken zur Erde. Raen schloss kurz die Augen. Wie lange sollte das noch so gehen? Wie lange wollten sie untätig dabei zusehen, wie die Askharer alles in Stücke schossen?
‚Hab Vertrauen, junger Krieger!’, antwortete eine andere Stimme unvermittelt in seinem Kopf, und er sah ruckartig auf, um festzustellen, woher die Stimme gekommen war. Er betrachtete kurz die angespannten Gesichter zu seiner Rechten und dann die zu seiner Linken, und gerade, als er seinen Blick wieder auf die Mauer richten wollte, wandte sich ihm eines der Gesichter zu. Er kannte den Mann nicht. Er sah aus wie alle anderen Krieger, aber trotzdem ahnte Raen im Bruchteil eines Herzschlages, wer es war.
‚Nur Mut, Hyaun ist bei uns!’, sagte die leise Stimme wieder und Raen war sich sicher, dass dieser Mann die Worte gesprochen hatte. Aber nicht mit seinen Lippen, sondern im Geiste! Er war der Setna! Überrascht über diese Erkenntnis weiteten sich seine Augen. ‚Er ist direkt unter uns! Er kämpft mit uns! Aber kann noch jemand ihn erkennen? Er trägt seine Inkognitorobe nicht. Sonderbar.’ Raen blickte sich um, und offenbar schien tatsächlich niemand den Setna unter ihnen zu bemerken. Er suchte wieder das Gesicht, doch es war plötzlich aus der Reihe verschwunden. Einen kurzen Moment stutzte er. Hatte er sich das alles nur eingebildet? Es wäre ja nicht das erste Mal, dachte er verdrossen.
‚Hab Vertrauen in unsere Stärke!’
Nein. Dankbar hüpfte sein Herz. Er hatte es sich nicht eingebildet. Zuversicht und Liebe durchströmte ihn mit einem Mal, und er straffte bewusst seine Haltung in seinem Rüstzeug. ‚Ja, ich werde hier mit all den anderen auf den Feind warten. Gemeinsam werden wir das Schlechte von diesem Erdboden fegen, der schon seit tausend Jahren unser eigen ist und für den schon unsere Vorväter ihr Blut gegeben haben!’ Sein feuriger Appell an sich selbst endete mit einem erneuten Krachen an der Mauer.

Der Beschuss dauerte bis zum Sonnenuntergang und wurde dann eingestellt. Die Mauer hatte gehalten und die Verluste waren zwar bedauerlich aber klein. Heute waren sie noch einmal davongekommen. Mit steifen Beinen stieg Raen vom Pferd und begab sich zusammen mit seiner Abteilung zum nächsten Lagerplatz, wo für die Nacht bereits ein knisterndes Feuer entzündet und von den Versorgungswagen Essen ausgeteilt wurde. Raen hatte großen Hunger, zuvor entledigte er sich jedoch noch seiner schweren Kampfkleidung und gönnte seinem verschwitzten Körper Luft. Neben Kaera im Gras sitzend verspeiste er dann das Mahl aus Fleischeintopf und weißem Fladenbrot. Kaum jemand sagte etwas, alle spürten noch den Schreck des Morgens und das Donnern der Geschosse in sich. Später wurden die Namen der Toten und Verletzten verlesen, und Raen war heimlich froh, zu hören, dass der Name Roman Shari nicht unter ihnen war. Wo sein Vater sich momentan allerdings befand, wusste er nicht, und es hatte auch keinen Zweck, ihn zu suchen, denn er konnte überall sein. Die Mauer war lang und es gab heute Nacht unzählige kleine Zeltlager.
‚Wer weiß, wann ich ihn wiedersehe?’ Raen bettete sich etwas abseits des Feuers auf den Sattel und wickelte sich in die Decke ein. Schlaf konnte man das, was ihn schließlich heimsuchte, hingegen nicht nennen, doch immerhin gelang es ihm, etwas zu dösen.

Am Morgen erwachte er einigermaßen erholt. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und alles lag in dichtem, blaugrauem Dunst. Die Feuer waren niedergebrannt und hier und da erhoben sich schon vereinzelte Schatten von ihren Nachtlagern. Zwischen den Silhouetten der Zelte standen die Pferde angepflockt und grasten. Raen drehte sich zu Jakori um, die ihn unternehmungslustig anschnaubte. Er strich ihr über die Nase, die sie ihm entgegenhielt.
„Du willst auch kämpfen, was?“, flüsterte er ihr zu. Er sah zu Kaera hinüber, der noch beneidenswert tief schlief. ‚Der hat’s gut’, dachte er, erhob sich und spürte, dass sein ganzer Körper schmerzte. ‚Aber ich habe doch gestern nichts anderes getan, als bewegungslos auf dem Pferd zu sitzen. Warum fühle ich mich dann so, als ob ich gegen eine ganze Armee gekämpft hätte?’ Er streckte sich vorsichtig und nahm ein paar Schlucke aus seinem Wasserschlauch, um sich den Mund auszuspülen. ‚War wahrscheinlich die Anspannung.’ Er nahm noch einen Schluck. Eigentlich hatte die morgendliche Szenerie etwas Friedliches, wenn man davon absah, dass er sich in einem Kriegslager befand. Aber wenigstens hatte das Warten jetzt ein Ende, dachte er weiter. Es würde eine Entscheidung zwischen ihnen und den Askharern geben. Heute, morgen, in einer Woche. Raen begann sich danach zu sehnen, dem Feind endlich ins Gesicht zu sehen; denjenigen Menschen entgegenzutreten, die sein Land bedrohten.
‚Wir müssten sie angreifen!’, sinnierte er spontan über die für seine Landsleute so undenkbare Möglichkeit, selbst die Initiative selbst zu ergreifen. ‚Die Askharer würden auf jeden Fall nicht damit rechnen. Das Überraschungsmoment wäre absolut auf unserer Seite, und wir könnten in einem direkten Kampf ihre Maschinen zerstören. Verdammt, das wär’s!’ Raen hob und senkte die Schultern, prüfte ihre Beweglichkeit. Er legte seinen Kopf in den Nacken, und es knackte leise in der Wirbelsäule. ‚Stattdessen werden wir hier hinter der Mauer tatenlos auf sie warten. Wie viele Löcher braucht es wohl, um sie endgültig zu überrennen? Zehn? Zwanzig? Und wenn es stimmt, dass sie mit ihren Pferden nicht hindurch kommen, dann haben die Askharer bestimmt noch andere Möglichkeiten geplant. Ob jemand wohl auch das bedacht hat? Mit den Maschinen hat ja auch keiner gerechnet. Ach, dieses Nichtangriffsprinzip ist doch vollkommen idiotisch!’
Aber unsere Vorfahren haben schon immer nach diesem Prinzip gehandelt und sie haben es bis jetzt auch immer geschafft, das Land damit zu verteidigen! Du solltest darauf vertrauen, Raen!
‚Das will ich ja, aber beim Großen Krieg hat diese unsere großartige Philosophie schlussendlich auch nicht gewirkt, und unsere Feinde entwickeln sich weiter, während wir im Stillstand leben! Das macht mir Sorgen.’
Hab Vertrauen!
‚Ich werde es versuchen. Was bleibt mir anderes übrig?’
„He, guten Morgen Raen, hörst du mich denn gar nicht?“
Raen fühlte eine Hand auf seiner Schulter und gewahrte Kaera neben sich. Der hatte sein Rüstzeug bereits an und hielt ihm eine Schüssel mit Hafergrütze unter die Nase.
„Willst du nichts essen? Es wurde schon dreimal ausgerufen.“
„Doch, danke. Ich hab es gar nicht mitbekommen.“ Raen nahm die Schüssel und löffelte die Grütze mit mäßigem Appetit in sich hinein.
„Wir werden heute auf der Mauer sein!“, eröffnete Kaera ihm, und Raen sah wie vom Donner gerührt auf. Ein Tropfen Grütze landete auf seinem Kinn.
„Es ist immer abwechselnd, hat Kensa gesagt.“ Kaera deutete auf die Grütze am Kinn.
Raen wischte sie sich weg und flüsterte: „Dann möge Hyaun uns beistehen.“ Matt stellte er die Schale ins Gras.
„Ja, Hyaun möge uns Kraft geben.“ Kaera schlug das Zeichen der Säulen.
„Hilfst du mir mit dem Rüstzeug?“, fragte Raen, und sein jüngerer Kamerad nickte.

Bereits eine Usui-Stunde später standen sie auf der Mauerkrone und betrachteten das zu ihren Füßen liegende Feld der Askharer, das allerdings im dichten Nebel verborgen lag. Die Sonne war noch immer hinter den Wolken versteckt, und so hielt sich auch der Dunst noch hartnäckig über dem Gelände. Alles was sie sehen konnten, waren die dunklen Schatten der Felsen und Büsche am Fuß des Schotterhanges, und wenn man genau hinsah, immer wieder aufglimmenden Fackelschein weiter hinten in der trüben Suppe. Dort standen vermutlich auch die Katapulte.
Ob sie auch im Nebel schießen konnten? Kaum hatte Raen das gedacht, da drang mehrmals hintereinander ein seltsam hohl klappendes Geräusch an sein Ohr. Ein scharfer Warnruf erklang vom Turm zu seiner Linken, und da fiel die erste Salve Geschosse beinahe lautlos aus dem milchig trüben Himmel - dunkle widernatürliche Schatten wie plumpe, bereits tote Vögel. Krachend schmetterten sie gegen die Wand keine fünfzig Schritt von Raens Standpunkt entfernt. Mit wachsendem Entsetzen stellte er fest, dass er die Erschütterung unter den Sohlen spüren konnte und duckte sich hastig gegen die Brustwehr.
‚Du Narr, als ob das etwas hilft!’, erinnerte er sich voller Grauen an die Unglücklichen, die am Tag zuvor mitsamt der Wehr hinunter gefegt worden waren.
„Sie befeuern die Stelle von gestern. Sie wollen es noch einmal versuchen! Wird ihnen aber nicht viel bringen, dazu müssten sie näher herankommen, und dann erwischen wir sie mit unseren Brandpfeilen. Diese Stelle hier ist stark!“, rief Kensa und schlug mit der Faust auf die Mauer.
Raen richtete sich wieder auf, so konnte er die Steine wenigstens mehr oder weniger kommen sehen. Ob er dann auch würde ausweichen können, war noch eine ganz andere Frage. In dem Dunst war es schwer, die heransausenden Schatten rechtzeitig auszumachen. ‚Vielleicht befeuern sie auch nur diese eine Stelle, weil sie sie in dem Dunst nicht wechseln können’, ging es ihm durch den Kopf. Er lehnte sich auf die Brustwehr und spähte in den Nebel, der wirklich kein gutes Omen war und schwer auf ihren abergläubischen Gemütern lastete. So viel Wermutkraut hatte der Doban Clan bestimmt nicht auf Vorrat, um sie alle vor dem Odem der Unterwelt zu schützen. Hoffentlich blieben die seelenhungrigen Dämonen in ihren Löchern! Abermals hörte Raen das hohle Klappen und zwang sich, in das Weiß zu starren. Die Schatten kamen herangeflogen und zerschellten an der Mauer in tausend Splitter, die auf das Geröll davor prasselten. Es mussten Geschosse aus viel weicherem Gestein sein, ging Raen auf, denn sie hatten noch nicht viel Schaden angerichtet. Es würde jedoch bestimmt nicht allzu lange dauern, bis auch die Askharer das erkannten und ihre Munition wechselten. Er untersuchte die Mauer vom Einschlagsbereich entlang bis hin zu dem Stück, auf dem er stand. Dort unten am Grundstein mündeten die Reste der ehemaligen Handelsstraße in die Mauer. Der breite Fahrweg war stark beschädigt und schlängelte sich in zwei ausladenden Spitzkehren den Schotterhang hinab. Mit Wagen kam man dort nicht mehr hinauf, aber zu Fuß und mit Pferden war es wohl noch möglich.
Eine Alarmglocke läutete in Raens Kopf. Die Askharer würden bestimmt versuchen, diesen Weg zu benutzen, um ihre Reiterei hier hinauf zu bringen. Das war ihre einzige Möglichkeit, es sei denn, sie bauten sich noch einen anderen Aufstieg. Raen blickte von der Straße auf die Mauersteine unter seinen Füßen. Dann würden sie das Feuer bald direkt auf diese Stelle hier richten! Ihm wurde eiskalt bei diesem Gedanken. Der Nebel hatte doch etwas Gutes, dachte er. Hoffentlich hielt er sich noch.
Plötzlich nahm er eine Bewegung im Dunst war: Mehrere Gestalten huschten unterhalb des Schotterhanges entlang.
„Da sind welche! Sie greifen an!“, rief er Kensa zu. Aber der erfahrene Krieger selbst schien sie bereits gesehen zu haben und erklärte: „Es sind nur ein paar Wenige als Ablenkung, denke ich. Aber schickt ihnen trotzdem ein paar Pfeile zur Begrüßung hinunter, wenn ihr sie sehen könnt.“
Raen ließ sich das nicht zweimal sagen und nahm seinen Bogen zur Hand. Er legte einen Pfeil aus seinem Köcher auf, den er an der Hüfte trug und wartete geduldig. Nicht weit entfernt donnerten wieder Geschosse gegen die Mauer. Sie zerstoben zu weißem Steinpulver, das wie eine Atemwolke in der Luft hing, und es erschien Raen allmählich, als ob auch das bloß nur noch Ablenkungstaktik war. Er versuchte, sich weiter auf den Nebel zu konzentrieren, der eindeutig dichter geworden war, denn jetzt konnte er gerade eben noch die Schürze des Schotterhanges erkennen. Er hörte ein paar Rufe in fremder Sprache aus dem Dunst zu ihm hinauf hallen; so deutlich, als stünden diejenigen, die sie von sich gaben, direkt unter ihm. Ein Schatten huschte über das Geröll des Hanges, und Raen schoss auf ihn. Der Pfeil prallte mit einem hellen Klappern von den Steinen ab. Sofort legte er einen neuen auf. Wieder ein Schatten und wieder ein Schuss. Doch erneut daneben.
‚Verdammt!’, dachte Raen und hatte schon den nächsten Pfeil auf der Sehne. Da sah er einen großen, schlangenartig langgestreckten Körper aus dem dichten Weiß des Nebels auftauchen, und schlagartig sank ihm der Mut. Hatten sich die Dämonen der Unterwelt etwa mit dem Feind verbündet und kamen jetzt aus ihrer unheimlichen Welt zu ihnen hinauf? Das dunkle Gebilde, oder das Wesen, schlängelte sich zuckend, aber lautlos parallel zur Grenzmauer auf sie zu. Die wehenden Nebelfetzen verbargen das wahre Ausmaß der Gestalt, aber sie schien unendlich lang zu sein.
Ein Schaudern ging durch die Reihen, und am liebsten hätten die Beobachter von der Mauer aus mit vereinten Kräften den Nebel fortgeblasen, so wie man den Rauch eines Feuers in eine andere Richtung blies. Hälse reckten sich vorsichtig über die Wehr, um das merkwürdige Etwas zu begutachten, das abrupt zum Stehen kam und in absoluter Regungslosigkeit verharrte, so als ob es schon immer da gewesen wäre. Es war die lauernde Starre einer Schlange, kurz bevor sie zubiss!
„Was ist das?“, fragte Raen seine Nachbarn, und in seinem Nacken sträubten sich instinktiv die Haare.
„Keine Ahnung“, flüsterte Kaera verängstigt, den halbgespannten Bogen fest umklammert.
Wieder drangen Rufe in der fremden Sprache zu ihnen hinauf - scharf gebellte Befehle.
„Alle in Deckung!“, schrie Kensa plötzlich und gleich darauf erklang ein fürchterliches Schwirren, das auch Raen sehr wohl bekannt war. Es war das Geräusch von Hunderten von abgeschossenen Pfeilen!
Schnell warf er sich direkt hinter der Brustwehr auf den Stein, und beinahe im selben Moment sausten die Pfeile über seinen Kopf hinweg. Einer davon traf einen seiner Nachbarn, der sich nicht rechtzeitig genug geduckt hatte, in den Hals. Er fiel mit einem überrascht erstickten Laut um und blieb, die Augen in Todesangst geweitet, liegen. Seine Hände versuchten vergebens, den Gegenstand in seinem Hals zu fassen zu bekommen, und flehende Laute drangen würgend aus seiner Kehle, während das Blut wie ein Sturzbach aus der Wunde strömte und in einer großen Pfütze auf Raen zufloss. Der jedoch war unfähig, sich zu bewegen, und konnte den Jungen, aus dem gerade das Leben wich, nur anstarren. Als etwas Warmes seine Hand berührte, bemerkte er entsetzt, dass sie bereits in Blut badete, und er zog sie schnell zurück. Doch anstatt dem Jungen zu Hilfe zu eilen, presste er sich nun noch enger gegen die Brustwehr und kämpfte heftig schluckend gegen die Übelkeit, die in seiner Kehle aufstieg und sich mit einem sauren Geschmack auf seine Zunge legte. Ein anderer Krieger kam geduckt zu dem Verwundeten gelaufen und prüfte die Verletzung. Pfeile schlugen rechts und links von ihm ein, doch er zuckte nicht ein einziges Mal zusammen. Dann schüttelte er den Kopf und sah Raen vorwurfsvoll an.
‚Was hätte ich denn tun können?’, dachte dieser blinzelnd. Unaufhörlich zischte der todbringende Pfeilhagel über ihnen durch die Luft. ‚Bestimmt wäre ich auch getroffen worden. Und dann würde ich da neben ihm liegen.’ Doch die Rechtfertigung vor sich selbst brachte ihm nichts ein. Er fühlte sich weiterhin entsetzlich feige, und das bittere Gefühl ließ seine Unterlippe beben. Er war wohl doch nicht so mutig, wie er immer gedacht hatte.
Derweil ließ der andere Krieger den Toten, wo er war, und kroch zurück in seine Deckung.
„Wir brauchen Feuer!“, rief Kensa. „Sie haben eine Art Schutzdach für ihre Schützen aus Holz und Tierhäuten. Es sieht aus, wie eine riesige Schlange. Nehmt die Brandpfeile, und wir schicken ihnen eine kleine Antwort!“
Einige Krieger brachten Fackeln herbei und verteilten diese. Mit aller Macht zwang sich Raen dazu, seine Angststarre zu überwinden. Er wischte sich das Blut des gefallenen Kriegers von der Hand, nahm einen Pfeil aus dem Köcher und wartete mit dem Entzünden auf Kensas Befehl.
„Jetzt!“
Raen steckte den Pfeil in die Fackel und legte ihn auf die Sehne.
„FEUER!“
Er stemmte sich mit wackeligen Beinen in die Höhe, zog den Bogen so weit aus wie er konnte und ließ die Sehne los. Hunderte kleiner Leuchtpunkte sausten zusammen mit dem seinen hinab auf die hinter ihrem gigantischen Schild verborgenen Askharer. Aber leider konnte Raen nicht verfolgen, wie sie ihr Ziel fanden, denn er der nächste feindliche Pfeilhagel schwirrte heran wie wütende Wespen. Hinter die Brustwehr geduckt versuchte er einen Rhythmus in den Salven auszumachen und schließlich hatte er ihn auch gefunden. Er erhob sich und schoss. Dabei nahm er wahr, dass erst wenige Ecken des nun mit Pfeilen gespickten Schutzdaches Feuer gefangen hatten.
‚Dämonen?’, dachte er über seine vorangegangene Befürchtung spottend. ‚Lächerlich! Es ist nichts weiter als ein großes Schutzschild.’
Im nächsten Augenblick veränderte sich ganz unerwartet der Schusswinkel der Askharer, und ihre Pfeile kamen fast senkrecht von oben. Damit büßten sie zwar einen Großteil ihrer Durchschlagskraft ein, konnten aber besser die Menschen treffen, die sich hinter der Brustwehr versteckt hielten. Einige der Hy-Krieger wurden getroffen und schrien auf. Raen drückte sich so nah er konnte an das Mauergestein. Die Pfeile schlugen direkt neben ihm ein.
„Alle nacheinander von der Mauer runter! Aber gebt weiter Feuerschutz!“, schrie Kensa durch den Lärm der sich ausbreitenden Panik unter den Verteidigern.
Raen sah sich um, ein Teil der Krieger rannte los, während andere aus dem geschützten Turm schossen. Sein Herz hämmerte bis zum Hals, und er spürte, wie seine Beine noch weicher wurden. Die nächste Salve der Askharer folgte und wieder prasselten die Pfeile auf sie ein. Raen hob die Arme über seinen Kopf, dabei wurde sein Unterarm von einem Pfeil gestreift, der aber von dem eisenverstärkten Schützer abprallte.
„Nächste Gruppe!“, rief Kensa. Die Unversehrten halfen den verletzten Kriegern von der Mauer herunterzukommen. Raen spähte durch seine Arme, er war als nächstes dran mit Laufen. Die Anspannung schoss in heißen Strömen durch seine Glieder, und er musste sich zusammenreißen, nicht zu zittern. Seine Hand verkrampfte sich um seinen Bogen, genau wie sein Magen sich im Inneren seiner Eingeweide verkrampfte. Hoffentlich gehorchten ihm gleich seine Beine, dachte er angsterfüllt, und da kam auch schon das Signal von Kensa.
„Die Nächsten!“
Raen hielt die Luft an und sprang los. Pfeile sausten an seinem Kopf vorbei und trafen um ihn herum auf den Stein. Förmlich um sein Leben rennend spurtete er auf die Treppe zu, die ledergeschützten Rücken der anderen vor ihm. Plötzlich wurde der Krieger direkt vor ihm von einem Pfeil in die Seite getroffen und stolperte zu Boden. Raen konnte nicht rechtzeitig bremsen und stürzte über ihn. Mit den Händen konnte er seinen Fall abfangen, ließ dabei aber seinen Bogen fahren. Ein Pfeil verfehlte bedrohlich knapp sein Gesicht, als er sich wieder aufrichtete, er spürte, wie die Befiederung seine Stirn streifte. In Panik rappelte er sich so schnell er konnte aus der Verhedderung mit dem anderen wieder hoch und wollte weiterrennen, da erinnerte ihn ein kleiner Restfunken seines Pflichtbewusstseins daran, dass er den Getroffenen nicht einfach so zurücklassen konnte. Er packte dessen Arme und schleifte den vor Schmerz aufschreienden Krieger die Mauer entlang. Bis zum überdachten Treppengang waren es nur noch ein paar Schritte. Doch der Mann war schwer, und Raen zerrte aus Leibeskräften. Da kam ihm ein Kamerad zu Hilfe, hob den Verletzen mit an, und mit dem nächsten Pfeilhagel verschwanden sie im rettenden Turm. Stöhnend hievten sie den Verletzten die Stufen hinunter. Unten im Schatten des Turmes wurden sie von den Medizi in Empfang genommen, und Raen wunderte sich, wo diese plötzlich so zahlreich herkamen. Sie verfrachteten den Verwundeten auf eine Trage, die schnell aus der Reichweite der Pfeile abtransportiert wurde. Mit dem letzten Schwung Krieger kam schließlich auch Kensa von der Mauer. Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus dem Wissen, dass etwas schief gelaufen war und wildem Trotz, den Raen so bei ihm noch nie gesehen hatte
„Dieser verdammte Nebel!“, zischte der sonst so zurückhaltende Lehrmeister und griff sich dabei an eine Streifwunde am Oberarm. „Meine Gruppe zu mir!“, brüllte er ungehalten und scheuchte den Medizi fort, der sich die Wunde ansehen wollte. „Es ist nichts!“, fuhr er ihn an. „Geh zu den anderen, die es nötiger haben!“ Als Kensa sah, dass sich seine Gruppe um ihn versammelt hatte, wurden seine Züge wieder etwas milder, und er fand zu seiner alten, ruhigen Haltung zurück, die seine unverkennbare Stärke war.
Raen hätte zu gern gewusst, was in jenem Moment in Kensa vorgegangen war. Ob in ihm wohl auch dieses namenlose Gefühl kochte, dieser heiße Druck, der das Innere fast zum Bersten brachte?
„Wir werden jetzt hier warten, bis sie den Beschuss einstellen. Entweder aus Mangel an Pfeilen, oder wegen der einbrechenden Dunkelheit. Nur die Türme bleiben besetzt.“ Kensa wischte sich über die Stirn und blickte prüfend in den Nebel.
Auch Raen wollte sich gerade ein wenig Erleichterung gönnen, da ließ ein Warnruf der anderen Art sie wieder aufhorchen.
„Feuer! Es brennt! Die Mauer brennt.“ Der Posten auf dem Turm wedelte heftig mit den Armen, und noch im gleichen Moment entflammte an mehreren Stellen das Dach des Turmes und das des Unterstandes.
„Sie schießen mit den Katapulten brennende Pechgeschosse auf die Mauer. Wir müssen löschen!“, rief ein anderer, der atemlos angelaufen kam. Kensa fackelte nicht lange. „Los, bringt die Pferde in Sicherheit! Wasser muss her!“, befahl er und warf Bogen und Köcher zur Seite, um sogleich selbst zur Tat zu schreiten.
Alle aus seiner Gruppe folgten seinem Beispiel, ohne zu überlegen. Alle, bis auf Raen, der erneut am Boden festgewachsen zu sein schien.
‚Das ist doch der pure Wahnsinn’, dachte er, ‚wir werden entweder verbrennen, oder von Pfeilen durchbohrt, wenn wir versuchen das Feuer zu löschen!’
Mittlerweile brannte das Schutzdach an der Mauer lichterloh und seine Kameraden waren vollauf bemüht, die wie verrückt umher tänzelnden Pferde aus der Gefahrenzone zu bringen.
„Komm, hilf in der Eimerkette mit!“, forderte ihn einer der anderen Anführer an seiner Seite auf und zog ihn bestimmt am Arm. Raen fügte sich und eilte zu der Kette aus Menschen hinüber, die bereits das Wasser aus den Fässern schöpfte, die auf Wagen bereitgestanden hatten. Andere Wagen waren schon unterwegs, um Nachschub zu holen.
Raen stand bald sehr nah am Brand des Daches und fühlte die sengende Hitze auf seinem schweißfeuchten Gesicht prickeln als hätte jeder einzelne Schweißtropfen seinen Siedepunkt erreicht. Der beißende Qualm drohte, seine überhitzten Lungen zu verätzen. Aber irgendwann führte der ewig pendelnde Rhythmus des Eimerweiterreichens dazu, dass sein Denken ganz aussetzte. Und von da an war allein nur noch sein Körper damit beschäftigt, das Feuer zu bekämpfen, nicht aber sein Geist, der sich völlig aus dem Hier und Jetzt zurückgezogen hatte. Selbst die Pfeilsalven, die wieder einsetzten, schockierten ihn wenig, und wie durch ein Wunder blieb er in dem ganzen Chaos unversehrt.
Grau brach schließlich die Abenddämmerung herein, und der Rauch der gelöschten Brandherde vermischte sich mit dem klammen Dunst des Nebels. Nach einer zeitlosen Ewigkeit erwachte Raen aus seiner teilnahmslosen Betäubung fand sich zusammen mit einigen anderen mehrere Hundertschritte weit von der Mauer entfernt im Gras sitzend wieder. Ungewohnte Ruhe lag über allem, und Raen bemühte sich, seinen Blick auf die Mauer zu konzentrieren, doch es wollte seinen brennenden und tränenden Augen nicht gelingen, das schwarze Band scharfzustellen.
„W-was ist mit dem F-feuer?“, lallte er, seine Zunge war ein angeschwollener Fremdkörper in seinem Mund.
„Wir konnten alles löschen, bis auf den Brand der Pechgeschosse am Mauerwerk auf der abgewandten Seite, aber die Askharer haben den Beschuss eingestellt, so dass wir jetzt an die Stelle herankommen“, antwortete einer neben ihm, doch Raen erkannte weder dessen Stimme, noch dessen Gesicht, welches er nur als geschwärztes Oval mit hellen Augäpfeln ausmachen konnte.
„Hier, trink etwas.“ Die Stimme mit dem Rußgesicht reichte ihm einen Wasserschlauch, und er löschte gierig seinen Durst.
„Danke.“ Er gab den Schlauch zurück.
Der trübe Tag mündete ohne viel Aufsehen in die Nacht, und im Dunkeln wankte Raen mit den anderen zu seinem Lager, wo er nicht einmal mehr Kraft dafür fand, sich sein verrußtes Gesicht zu waschen. Ohne etwas zu essen, legte er sich hin und fiel sofort in einen bleiernen, traumlosen Schlaf.

Am nächsten Morgen rüttelte ihn eine Hand wach und nur mühsam öffnete Raen seine verklebten Augen.
„W-was ist?“, fragte er benommen.
„Aufstehen, es dämmert bereits. Hier, damit kannst du dein Gesicht waschen und hier ist dein Essen von gestern“, sagte Kaera fürsorglich und stellte ihm eine Schüssel mit Wasser und sein Essen hin. Der jüngere Kamerad sah sauber aus, wie frisch aus dem Ei gepellt, als hätte gestern nicht das Geringste stattgefunden. Lediglich sein Rüstzeug, das er bereits trug, wies einige schwarze Spuren von Ruß auf und deuteten auf das hin, was tatsächlich geschehen war.
„Oh, vielen Dank, Kaera.“ Raen richtete sich auf. Sein Kopf dröhnte wie von einem Schwarm stählerner Hornissen.
„Du hast zu viel Rauch eingeatmet“, erklärte Kaera, als er sah, dass sich Raen den Kopf hielt. „Einigen anderen geht es noch schlechter.“
„Es geht schon.“ Raen wusch sich das Gesicht. Es war eine Wohltat, das kalte Wasser auf der trockenen, verschmutzten Haut zu spüren, und nachdem er einige Happen von dem Essen zu sich genommen hatte, erwachten seine Lebensgeister allmählich.
‚Und das war gestern erst der zweite Tag!’, dachte er gequält. Was würden die folgenden dann wohl noch alles bringen?
„Brennt die Mauer noch?“, wollte er wissen.
„Nein, wir haben sie in der Nacht löschen können. Aber sie hat sehr gelitten. Der Basalt ist unversehrt geblieben, aber der Mörtel ist brüchig geworden. Die Älteren meinen, dass die Außenwand nicht mehr viel aushält. Sie hoffen aber, dass dafür die Innenwand noch etwas länger stehen wird.“
„Dann werden die Askharer heute wohl die erste Bresche hineinschießen“, entgegnete Raen nüchtern und stand mühsam auf. Wie am Morgen zuvor und half Kaera ihm in das Rüstzeug, das heute viel schwerer auf seinen Schultern zu lasten schien. Raen verzog erschöpft das Gesicht und begann Jakori zu satteln.
„Und heute wieder Reiterei!“, konstatierte er trocken.
Kaera nickte und lächelte dabei. „Das ist doch viel besser, als dort oben die Pfeile um die Ohren zu bekommen, oder nicht?“
„Keine Ahnung“, entgegnete Raen matt. „Ich will lieber nicht darüber nachdenken.“

Der Tag brachte nichts, was sie nicht schon befürchtet hatten. Tatsächlich gab die Außenmauer an der verbrannten Stelle gegen Mittag, als sich der Nebel endlich verzogen hatte, nach und stürzte mächtig polternd ein. Aber die Innenmauer hielt wie gehofft weiterhin stand. Natürlich justierten die Askharer daraufhin ihre Katapulte neu, um die Schwachstelle kontinuierlich unter Beschuss zu behalten. Aber dank des aufgeklarten Wetters war es ihnen nicht mehr möglich, eine ähnliche Attacke wie am Vortag zu unternehmen und so beschränkte sich ihre Aktivität wieder einmal nur auf die Katapulte. Am Abend wurde das Geschützfeuer eingestellt, da nichts erreicht worden oder aber der Munitionsnachschub ins Stocken geraten war. Inzwischen waren auf der hyaunischen Seite schwere Palisadenstämme herbeigeschafft worden, um damit die Innenmauer zusätzlich abzustützen.
Der trotzige Siegesruf, den die Krieger am Abend von der Mauer hinüber zu den Askharern schallen ließen, strotzte vor Selbstbewusstsein, und ihren Spott zur Schau stellend, schwenkten sie ihre Signalwimpel hin und her.
Raen aber konnte beim allerbesten Willen nichts mehr zur Schau stellen, lediglich sein katastrophaler Erschöpfungszustand trat offen zu Tage. Er hatte den ganzen Tag über in seinem Lederwams in der prallen Sonne fürchterlich gelitten, hatte förmlich in seinem Schweiß gebadet, und auch der schwarzen Jakori schien es ein wenig elend zu gehen. An dem kleinen Flüsschen, wo die Pferde getränkt wurden, war sie gar nicht mehr vom Wasser fortzubekommen. Raen musste sie zwingen, einzuhalten, damit sie sich nicht den Magen verdarb. Morgen würde sie sich ausruhen können, ganz im Gegensatz zu ihm, dachte er mitgenommen.
Als sie ins Lager kamen, waren dort die Feuer schon entzündet, und das Essen stand bereit. Mit der Dunkelheit kam endlich auch die milde Kühle von den Bergen zurück, und Raen zog sich bis auf sein Untergewand aus, um sie an seinen Körper zu lassen. Schläfrig lag er auf seiner Decke und studierte abwesend den dunkelblauen Himmel, an dem bereits die ersten Sterne hingen.
Doch plötzlich meinte er, seinen Namen zu hören. Er setzte sich auf und blickte sich um. Gegen den Feuerschein sah er eine schattenschwarze Gestalt auf sich zu kommen. Er erkannte sie am Gang. Es war sein Vater.
„Hier bin ich!“, rief er und stemmte sich freudig auf die Beine.
Roman erreichte ihn, und Raen umarmte ihn ungewollt heftig.
„Geht es dir gut?“, fragte er.
„Ja, alles in Ordnung. Bei uns war heute nicht viel los. Ich bin ein ganzes Stück von hier entfernt auf der Mauer gewesen. Und wie ist es dir ergangen?“, wollte sein Vater wissen.
„Dem Umständen entsprechend gut.“ Raen wischte sich schnell über das Gesicht, damit sein Vater nicht sehen konnte, wie erleichtert er war, ihn wohlauf zu sehen. Die auffallend dunklen Ringe unter seinen Augen aber blieben.
„Und morgen musst du wieder hinauf?“ Sein Vater sah aus, als ob er noch etwas hinzufügen wollte, sagte aber nichts weiter.
Raen drängte es nicht, zu erfahren, wie sehr sein Vater sich um ihn sorgte, denn das würde ihn nur unnötig belasten. Aber wie Roman hatte er jeden Abend besorgt der Namensliste der Getöteten und Verletzen gelauscht und war jedes Mal heilfroh gewesen, keinen bekannten Namen zu hören - natürlich mit brennenden Gewissensbissen gegenüber denen, die tatsächlich ihr Leben gelassen hatten. Denn eigentlich gehörte es sich nicht, bevorzugt an eine Person zu denken, schließlich waren sie alle am Kampf beteiligt und riskierten zu gleichen Teilen ihr Leben.
„Hyaun möge uns allen beistehen, wenn sie die Mauer knacken! Sei stark, Raen!“, sagte sein Vater und klopfte ihm auf die Schulter.
„Es wird schon nicht so schlimm“, log der Jüngere und sah hinüber in die züngelnden Flammen des Lagerfeuers. In Wirklichkeit fürchtete er sich erbärmlich davor, morgen wieder auf der Mauer zu stehen. Die Erinnerung an das erste Mal flackerte kurz auf, aber er schob sie mit Gewalt beiseite und blickte dann seinen Vater wieder an. „Du bist morgen meine Rückendeckung, Vater! Lasst keinen Askharer lebend einen Fuß auf dieses Land setzen!“
Sein Vater nickte ernst und hielt ihm seine Hand hin. Raen reichte ihm die seine und sie verbanden ihre Seelen. Danach ging sein Vater zurück in sein Lager, und Raen legte sich schlafen.
In der fernen Dunkelheit leuchteten matte Feuerflecken bei den drei Chorten.
Die ersten Totenfeuer waren entfacht.

Der nächste Tag begann wie die vorherigen auch, nur dass sie an diesem Morgen von der anhaltenden Klarheit der Luft geweckt wurden, die in kühlen Wellen noch immer von den Bergen herabgeströmt kam. Der wolkenlose Himmel über den grauen Gipfeln leuchtete bereits in überirdischen Goldtönen, als Raen in seinem bloßen Untergewand fröstelnd schnell in sein Rüstzeug schlüpfte.
‚Heute wird es bestimmt ein besonders schöner Tag werden’, dachte er wehmütig bei dem Gedanken daran, wie man solch einen Tag zu Hause hätte verbringen können, ‚und ein besonders heißer dazu.’
Zusammen mit Kaera holte er sich sein Morgenmahl ab, und nachdem sie gegessen hatten, machten sie sich mit ihrer Gruppe auf den Weg zur Mauer.
Kaum waren sie hinter der Brustwehr versammelt, da ging es auch schon reichlich hitzig zur Sache, denn die Katapulte begannen bereits ihre Ladungen zu schleudern, Schnell stellte Raen fest, dass über Nacht der Winkel der Maschinen geändert worden war. Sie nahmen jetzt die Wand links von dem bereits vorhandenen Loch ins Ziel und feuerten dieses Mal abwechselnd mit Stein- und Brandgeschossen. Es war unmöglich, etwas gegen das Feuer zu tun, das sich wenig später erneut an der Außenwand ausbreitete. Und es sah ganz so aus, als ob sich die Askharer nicht damit zufrieden geben würden, bloß einen kleinen Durchbruch zu schaffen, sie waren auf dem besten Wege, das Loch für ihre Zwecke erheblich zu vergrößern.
Raen und seine Mitstreiter konnten abermals nichts weiter tun, als zuzusehen, wie die Flammen an der Mauer hochleckten und sie allmählich marode machten. Aus vermeintlich sicherer Entfernung beobachtete er, dass die Steinbrocken, die jetzt geflogen kamen, aus viel härterem Material zu bestehen schienen als vorher, denn sie hatten bereits die gesamte Mauerkrone über der neuen Stelle zerstört, und immer wieder flogen scharfe Splitter von den Mauersteinen durch die Luft.
Als nur einen Augenblick später die Mauer direkt unter seinen Füßen erbebte, dache er, es sei nur ein verirrter Querschläger, der dort zerschellt war. Schnell registrierte er, dass weitere Einschläge folgten, und er duckte sich hastig - jedoch nicht schnell genug: Ein aufspritzender Schwarm Splitter von der Brustwehr wenige Schritte vor ihm verfehlte nur knapp sein Auge und schlitzte ihm jäh die Wange auf. Verdutzt hob Raen die Hand an die Wunde. Er fühlte keinen Schmerz, dafür aber jede Menge Blut, das feucht seine linke Gesichtshälfte herunter rann. Als sein Denken kurz darauf wieder einsetzte, war das Stück Mauer, auf dem er hockte, bereits heftig unter Beschuss, und jemand zerrte eindringlich an seinem Arm. Er ließ sich fortziehen und hastete schließlich mit großen Sätzen davon, das Donnern der Einschläge und die Steinsplitter im Nacken. In sicherer Entfernung ließ er sich im Schutz der Brustwehr niedersinken, da seine Beine nun doch dem verzögerten Schrecken nachgaben. Wieso haben sie den Winkel so plötzlich geändert? Immer wieder wischte Raen sich mit dem Ärmel über den Schnitt auf seiner Wange, aber das Blut quoll weiter daraus hervor. Er spürte es unaufhörlich seinen Hals hinab rinnen und warm in seinen Ausschnitt sickern.
Einer der Anführer kam und zeigte mit Zeige- und Mittelfinger auseinandergespreizt auf seine Augen und dann über die Mauer. Raen nickte, er hatte die Geste verstanden. Man musste die Geschosse immer im Blick behalten! Er wollte sich wieder erheben und zurück auf seinen Posten gehen, doch der Anführer, der seine Wunde kurz untersucht hatte, bedeutete ihm, er müsse sich hinunter zu den Medizi begeben. Raen protestierte, fand aber kein Gehör. Streng deutete der Anführer auf die Treppe, und ihm blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen.
Mit hängendem Kopf trottete er hinunter zu den Medizi, denen es nach einer Weile gelang, die Blutung mit einer Kompresse zu stoppen. Gegen die Schmerzen gaben sie dem jungen Krieger etwas Veda und hielten ihn bis zum Ende des Tages gegen seinen Willen im Turm fest. Raen fand das Warten und das stetige Dröhnen der Einschläge unerträglich, aber erst als Kensa kam und ihn auslöste, durfte er die Obhut der Medizi verlassen.
„Was soll das, ich hätte noch gut kämpfen können! Es ist doch bloß ein kleiner Kratzer“, beschwerte er sich bei Kensa über die Behandlung, die im zuteil geworden war. Die Medizi hatten ihn behandelt, als sei er eine wehleidige Memme! Und er wollte nicht, dass irgendwer dachte, er hätte sich drücken wollen, denn das war ganz und gar nicht der Fall gewesen.
„Schon gut, ich weiß das. Aber wir konnten dich sozusagen entbehren. Es gab ja kein Gefecht. Die Mauer steht noch, wenn es auch nicht mehr lange dauern wird, bis sie endgültig fällt“, sagte Kensa ernst. Sein Gesicht war gerötet und von Rußstreifen geziert. Er musste in der Nähe der Brandstelle gewesen sein.
„Wurde noch jemand aus unserer Gruppe verletzt?“, erkundigte sich Raen.
„Nein, zum Glück nicht, und jetzt komm mit ins Lager. Morgen wirst du sicher wieder reiten können.“
‚Ich bin doch kein kleines Kind mehr! Sicher werde ich morgen wieder dabei sein!’, dachte Raen beleidigt. Er würde nicht der Verlierer seiner Gruppe sein. Mit trotziger Miene trottete er Kensa hinterher ins Freie, wo Kaera auf ihn wartete.
Raen sah ihn nicht an. Er schämte sich für den dicken Verband um seinen Kopf, der sogar sein linkes Auge verdeckte.
„Ist es schlimm?“, horchte sein Kamerad.
„Nein, schon gut“, brummte Raen als Antwort und wanderte stumm mit den anderen zum Lager, wo er sich den neugierigen Blicken entzog und sich allein weit abseits setzte, um zu essen. Kaera ließ ihn rücksichtsvoll in Ruhe, und so hatte Raen auch die Nacht Ruhe.

Er erwachte mit einem pochenden Schmerz in der linken Gesichtshälfte. Auch an diesem Morgen war die Luft klar und kühl. Raen setzte sich auf und betastete den Verband. Die Wunde musste in der Nacht wieder geblutet haben, denn er fühlte eine getrocknete Kruste auf der äußersten Schicht des weichen Leinens. Er stand auf und sofort ließ der Schmerz etwas nach.
‚Ob ich den Verband wohl abnehmen kann?’ Er zuckte mit den Schultern und sah sich um. Dann setzte er sich auf einen aus dem zertretenen Gras ragenden Fels und begann vorsichtig das Leinen abzuwickeln, Schicht um Schicht. Die letzte Lage klebte an der Wunde, und es kostete ihn einiges an Überwindung, sie abzuziehen. Er biss die Zähne zusammen und riss den Rest des Verbandes mit einem Ruck herunter. Jäher Schmerz durchzuckte ihn, und sofort quoll frisches Blut aus dem Schnitt. Es tropfte vor ihm ins Gras und färbte die grünen Halme rot. Schnell drückte Raen das Verbandsknäuel wieder auf die Wunde.
„Mist!“, fluchte er leise. Es war wohl doch zu früh dafür gewesen, den Verband abzunehmen. Aber es war doch nur ein harmloser Schnitt, wie konnte der so stark bluten? Eine Zeit lang saß Raen so da, das Leinen fest an seine Wange gepresst. Hinter ihm begann der Himmel sich über den Bergen immer mehr ins Rot zu verfärben - ein unbeachtetes Versprechen für einen grandiosen Sonnenaufgang.

Kaera sah den mit seinem Oberkörper vor- und zurückwiegenden Raen auf dem Stein sitzen und ging zu ihm hinüber. Er fühlte Mitleid, denn er hatte gespürt, wie sehr Raen sich dafür geschämt hatte, einen Verband tragen zu müssen. Gerne hätte er ihm sagen wollen, dass es nicht so schlimm war, und niemand ihn dafür als Drückeberger bezeichnete. Doch aus Furcht, seinen Kameraden zu verärgern, ließ er es sein.
Als er näher kam, hörte er, wie Raen leise summte, so als wolle er den Schmerz in den Schlaf singen. Er hielt seinen Kopf schief und hatte die Augen geschlossen.
„He, Raen. Tut es noch sehr weh? Lass mal sehen“, kündigte Kaera sich an und ging neben dem Älteren in die Hocke.
Raen öffnete die Augen, und zuerst meinte Kaera, darin Ablehnung zu erkennen, doch im nächsten Augenblick hatte der Ausdruck sich in dankbare Zustimmung verwandelt. Vorsichtig nahm Raen den Verband von der Wange, und Kaera betrachtete den Schnitt. Er war sauber, aber so lang wie sein kleiner Finger und sehr tief. Das Gewebe rund herum war derart stark angeschwollen, dass Raen sein linkes Auge kaum aufbekam.
„Es hört nicht auf zu bluten“, beschrieb der Ältere das, was Kaera längst bemerkt hatte. Ein roter Faden floss unaufhörlich die Wange hinab. Kaera bedeutete ihm, den Verband besser wieder darauf zu drücken.
„Du solltest zu einem Medizi gehen. Komm, ich bringe dich hin.“ Er erhob sich und bot Raen seinen Arm an.
Der ignorierte ihn zunächst und versuchte, selbst auf wackeligen Beinen zu gehen. Doch mit jedem Schritt wurde er immer blasser und nach kurzer Zeit nahm er schließlich doch verlegen Kaeras Arm. Gefügig ließ er sich von ihm in Richtung des großen Zeltes führen, in dem sich die Medizi eingerichtet hatten. Dort angekommen gab Kaera ihn ab und wartete draußen.
Mit frischer, leuchtend weißer Kopfbinde trat Raen anschließend wieder ins Freie, und gemeinsam gingen sie wieder zurück zum Lager.
„Er hat gesagt, ich soll heute und morgen ruhen. Erst übermorgen kann ich vielleicht wieder auf die Mauer“, gab Raen mit hängendem Schultern das wieder, was der Medizi ihm verordnet hatte.
„Du hast es gut“, klopfte Kaera seinem Kameraden mitfühlend auf den Rücken, „dann kannst du den ganzen Tag im Fluss plantschen und dir endlich den üblen Geruch vom Leibe waschen!“ Er zwinkerte vergnügt und stellte erfreut fest, dass Raen lachte.
„Au, das tut weh“, entgegnete der Ältere darauf mit schmerzhaft verzogenem Gesicht. „Hab Dank für deine Hilfe. Wir sehen uns dann heute Abend. Hyaun sei mit dir.“
„Ja, bis heute Abend“, verabschiedete sich Kaera. Erfüllt von gewissem Neid sah er seinem Kameraden nach, der durch die aufbrechende Schar Krieger davon schlenderte. Zu gerne hätte er sich vor dem heutigen Tage gedrückt, zu sehr fürchtete er sich vor dem was da vor der Grenzmauer lauerte. Aber es half nichts, dachte er schließlich und machte sich daran, seine Waffen zu schultern. Die Pflicht wartete und das ohne Rücksicht auf seine eigenen Wünsche.

Raen folgte indes Kaeras Rat und begab sich, nachdem alle das Lager verlassen hatten, mit Jakori zum Flüsschen, welches auch ihr hilfreicher Löschwasserspender gewesen war. Dort schrubbte er sich ausgiebig den Schmutz der letzten Tage vom Leib und tauchte immer wieder unter. Das kalte Wasser prickelte belebend auf seiner Haut und drang schließlich auch bis zu seinem Geist vor, der sich regelrecht verfangen hatte in einem zähen Sumpf aus Selbstmitleid und Zorn. Zornig war er hauptsächlich auf die Umstände, die ihn zum Nichtstun verdammten, während seine Kameraden ohne ihn loszogen. Aber eigentlich hätte sein Unmut die Feinde treffen müssen, denn sie waren der eigentliche Grund dafür, dass sie alle hier sein mussten, sie waren Schuld daran, dass einige von ihnen niemals nach Hause zurückkehren würden.
Für Raen aber waren die Askharer bisher nichts mehr als eine namenlose Masse: Eine Bedrohung ohne Gesicht. Sie waren Der Feind! Aber wie sollte man auf etwas, das kein Gesicht hatte, wütend sein? Wie sollte man etwas verdammen, das man nicht kannte? Das Volk der Askharer war für ihn genauso mysteriös wie der Lauf des Schicksals, und es fiel ihm schwer, seinen Zorn auf etwas so Diffuses zu konzentrieren. Da war es doch wesentlich einfacher, die augenblickliche und greifbare Tatsache zu beklagen, dass er hier festsaß!
Die Energie seiner negativen Gefühle entlud sich schließlich beim Waschen seiner Kleidung. Wie besessen klopfte und walkte er darauf herum, bis ihm seine Arme lahm wurden. Sein weißes Untergewand musste dabei besonders leiden, aber der unheilvolle, zu einem verwaschenen Rosa ausgeblichene Fleck auf dem Kragen hielt sich immer noch genauso hartnäckig wie die Rußflecken, die überall darauf verteilt waren. Er zog es aus dem Wasser und hielt es gegen das Licht der Sonne, die warm und den Tatbestand des Krieges einfach ignorierend freundlich vom Himmel lächelte.
Das würde wohl nie wieder richtig sauber werden, dachte er und tauchte es noch ein paar Mal ein. Danach breitete er die Kleidungsstücke im Gras zum Trocknen aus und setzte sich dazu. Den Blick hielt er allerdings gebannt auf die Mauer geheftet, von der fernes Donnern zu ihm herüber hallte. Ein durchsichtig flimmernder Feuerschein hing über der am schwersten unter Beschuss stehenden Stelle und ließ das schützende Bauwerk lebendig erscheinen wie der langgezogene Rücken eines Tieres, das sich unter den Qualen wand, welche die Geschosse ihm zufügten.
„Bitte, Hyaun, lass sie durchhalten, zumindest so lange, bis ich wieder dabei sein kann!“, bat er laut. „Ich bin zwar nur einer von Tausend, aber ich würde es mir nie verzeihen, wenn sie ohne mich kämpfen müssten!“
Jakori graste derweil unbeeindruckt vor sich hin, nur ab und zu einen Blick zu ihrem Herren hinüberwerfend, um sich zu vergewissern, dass er noch genauso unbeweglich dasaß.
Lange hielt es Raen aber nicht aus, nur einfach so herumzuhängen und das Geschehen lediglich beobachten zu können. Er erhob sich, neugierig beäugt von der geschäftig kauenden, schwarzen Stute, und prüfte, ob seine Kleidung schon trocken war. Da sie sich aber noch feucht anfühlte, überlegte Raen, was er tun könnte. Splitternackt ging er zu dem Stein hinüber, an dem sein Schwert in der Scheide lehnte. Den Verband um seinen Kopf hatte er bereits ganz vergessen. Er zog das Schwert, betrachtete die polierte, im Sonnenlicht blitzende Klinge, und ein erneuter Schub seines Zorns packte ihn.
„Ja, gut so!“, feuerte er sich an. „Lass es raus!“ Er umfasste den Schwertgriff fester und atmete schneller, als brauche der Zorn viel Luft zum Wachsen. Aber nach einiger Zeit beruhigte er sich wieder. Leider war es immer noch nicht das, worauf er eigentlich wartete. Dafür brauchte er endlich ein Gesicht, auf das er all seine schlechten Gedanken richten konnte!
„Hyaun sei mein Zeuge“, sagte er mit beharrlichem Ingrimm, „ich schwöre bei dieser Klinge, meinem unsterblichen Begleiter, dass ich durch sie den Feind mit allergrößtem Vergnügen in den wohlverdienten Tod schicken werde - jeden einzelnen von ihnen, der mein Volk bedroht und es wagt, sich mir in den Weg zu stellen! Morgen werde ich wieder kämpfen!“ Als Bekräftigung seines Schwurs ließ der das Schwert mehrmals blitzschnell durch die Luft des trügerisch fröhlichen Sommertages zischen und steckte es mit einer elegant fließenden Bewegung wieder zurück.

Gegen Mittag war seine Kleidung endlich trocken und Raen ritt zum Lager zurück, wo er etwas zu essen bekam. Er fühlte sich gut. Die Wunde schmerzte kaum noch, aber er musste sich dazu zwingen, wenigstens noch den Rest des Tages Geduld zu haben. Um diesen aber nicht weiter mit Untätigkeit zu verbringen, begab er sich hinüber zu dem Turm, in dem Medizi die Verwundeten behandelten und fragte dort, ob sie vielleicht seine Hilfe benötigten. Dankend wurde er sogleich mit eingebunden, denn bei der Behandlung der Verletzten gab es immer viel zu tun.
Ein Mann hatte schwere Verbrennungen erlitten, als ein Brandgeschoß genau das Stück Brustwehr getroffen hatte, hinter dem er Deckung gesucht hatte. Er lag mit entblößtem Oberkörper bäuchlings auf einem Behandlungstisch und stöhnte mit schmerzverzerrter, bleicher Miene. Sein Rücken war regelrecht verkohlt und an den Rändern des aufgesprungenen Fleisches, das übelkeiterregend roch, mit Brandblasen übersät. Unwillkürlich hielt sich Raen eine Hand vor den Mund, schämte sich aber sogleich für diese Reaktion, da er sah, dass keiner der Medizi sich davor scheute, diese schrecklichen Wunden zu versorgen.
‚Ich bin dafür ausgebildet worden, einem Menschen Wunden zuzufügen’, dachte er, ‚und die Medizi dafür, sie wieder zu heilen! Was ist eigentlich die vor Hyaun gerechtere Tat von beidem?’
„Er hat seine Weste und Jacke nicht schnell genug ausbekommen. Das Feuer hat sich durch das Leder in seine Haut gefressen. Wir müssen ihn so schnell wie möglich zum nächsten Chorten hinauf bringen, wo wir bessere Möglichkeiten haben, ihn zu behandeln“, erklärte einer der Medizi besorgt und der verletzte Krieger ächzte als Bestätigung dieser Dringlichkeit erneut gequält. „Wir können hier nicht weg. Wie du siehst, haben wir hier alle Hände voll zu tun.“ Der Heilkundige machte eine Kopfbewegung in Richtung einer großen Anzahl weiterer Banskeid, die darauf warteten, behandelt zu werden. Die meisten hatten Schnittwunden und kleinere Brandverletzungen.
„Wie soll ich ihn dorthin transportieren?“, fragte Raen, bereit diese Aufgabe zu übernehmen.
„Draußen steht ein Wagen dafür bereit, aber du musst ganz behutsam sein. Schwere Erschütterungen würden seinen Zustand nur noch verschlechtern. Hilf mir jetzt, ihn zum Wagen zu bringen.“ Raen nickte und hob den Verletzten so an, wie der Medizi es ihm zeigte.
Sie schleppen ihn vorsichtig hinaus und legten ihn sachte mit dem Bauch nach unten auf die mit Decken gepolsterte Rückfläche des Leiterwagens, der sonst wohl dafür gedacht war, Heu vom Feld in die Scheunen zu bringen. Der Medizi deckte ein sauberes Leinentuch über den schwärenden Rücken und vergewisserte sich noch einmal, dass der Mann, der jetzt kaum noch bei Bewusstsein war, gut lag.
„Oben im Chorten werden sie ihn versorgen können. Und jetzt beeil dich - aber vorsichtig!“
Raen nickte eifrig, kletterte auf den Kutschbock und gab dem Pferd, das vom Kriegslärm, der von der Wehr herunter drang, ganz verängstigt war, den Befehl zum Loslaufen. Schreckhaft tat es einen viel zu stürmischen Satz nach vorne, und Raen hatte Mühe, es wieder zu bremsen.
„Ho, bleib stehen!“, rief er und zog mit aller Kraft an den Leinen. ‚Es ist wohl besser, wenn ich es zunächst führe’, dachte er und sprang wieder vom Kutschbock herunter. Er bekam das Pferd an einer Führungsleine zu fassen und beruhigte es, indem er es von dem Geschehen auf der Mauer abwendete und behutsam mit ihm sprach. Fast wäre es ihm dabei auch noch auf den Fuß getreten, was ihm sicherlich eine weitere schmerzhafte Blessur zugefügt hätte. Erst in sicherer Entfernung wagte er es, wieder auf den Kutschbock zu steigen, und zu seiner Erleichterung legte sich das Pferd daraufhin folgsam in sein Geschirr und zog den Wagen voran. Während der Fahrt wandte Raen sich immer wieder dem Verletzten zu, um zu sehen, ob es ihm schlechter ging. Doch der Mann rührte sich nicht, schaukelte nur leicht mit den Unebenheiten der Straße hin und her. Es war der alte Handelsweg, der auf hyaunischer Seite noch gut zu befahren war. Besorgt blickte Raen auf den Chorten, den er, wenn er nur im Schritttempo fuhr, erst in mindestens zwei Usui-Stunden erreichen würde. Hoffentlich hielt der Verletzte so lange durch.
Etwa nach der Hälfte des Weges hörte Raen mit einem Mal leises Wimmern hinter sich und er drehte sich zu dem Passagier um. Dessen Arme waren nun vorgestreckt und die Hände in die Decken gekrallt. Raen hielt den Wagen an und stieg auf die Ladefläche. Als er neben dem Mann ankam, sah er, dass dieser bei Bewusstsein war und weinte.
„Hast du große Schmerzen?“, fragte er und ohrfeigte sich kurz darauf in Gedanken für diese dämliche Frage. Natürlich hatte der Mann fürchterliche Schmerzen!
„Kann ich dir irgendwie helfen?“ Auf dem Leinentuch, das den verbrannten Rücken schützte, waren gelbe und hellrote Flecken erblüht, und ein Schwarm silbriggrün schillernder Aasfliegen begann ein aufdringliches Interesse daran zu entwickeln. Raen scheuchte sie fort.
„W-wasser“, stieß der Mann leise aus, der gar nicht so alt war, wie er zuerst angenommen hatte - vielleicht nur ein paar Jahre älter als er. „Ich habe ... schrecklichen Durst und ... es ... mein Rücken b-brennt ... es ist so heiß.“
„Beweg dich nicht, ich werde dir Wasser bringen.“ Raen holte den Wasserschlauch vom Kutschbock und tropfte dem jungen Krieger die Flüssigkeit in den Mund. Seine fiebrig glänzenden Augen sahen ihn dankbar an
„Wie ist dein Name?“, wollte er von dem Verletzten wissen, nachdem dieser ihm signalisiert hatte, dass er genug hatte.
„Ich ... heiße ...“ Ein schmerzerfülltes Stöhnen drang unwillentlich aus seiner Kehle, als ein Schauer in schüttelte. „Es tut so weh ... brennt!“
Raen verschloss den Wasserschlauch und wollte sich erheben, um die Fahrt fortzusetzen.
„I-ich bin ... Anin aus Rotenas.“
Raen fiel es wie Schuppen von den Augen. Er kannte diesen Namen, denn er war diesem jungen Krieger damals in Rotenas begegnet, als er dort bei Kosam zu Besuch gewesen war. Er war sogar ein entfernter Verwandter von ihr! Der Sohn eines Cousins ihres Vaters, oder so etwas. Raen wusste auch, dass Anin verheiratet war und bereits einen kleinen Sohn hatte. Ein Kloß wuchs in seinem Hals.
„Es wird alles gut, Anin! Jetzt beweg’ dich nicht mehr, wir fahren weiter“, er gab sich Mühe, zuversichtlich zu klingen, was bei der Schwere der Verletzung nicht leicht war. Er wollte mitfühlend eine Hand auf den Arm von Anin legen, zog sie aber schnell wieder zurück, weil er fürchtete, selbst diese Berührung könnte ihm Schmerzen zufügen. Stattdessen suchte er aus dem Stapel Decken, der sich am Kopfende der Ladefläche befand, eine passende heraus und spannte sie zwischen die Leitern, sodass der Verletzte im Schatten lag. Für einen Tag im Blütenmonat brannte die Sonne ungewöhnlich heiß, und Raen lief bereits schon wieder in Strömen der Schweiß. Doch auch für eine Brandverletzung konnte es nicht gut sein, wenn sie auch noch von oben bestrahlt wurde, dachte er bei sich und setzte wenig später sein Gefährt wieder in Gang.
Als er endlich das Tor des Chorten durchfuhr, brauchte er gar nicht erst zu rufen, dass er einen dringenden Notfall brachte. Mehrere Medizi kamen ihm sofort entgegengeeilt, und Raen fielen die verschiedenen Clanfarben auf, die sie trugen. Sie stammten also nicht alle aus Doban und wurden offenbar wie die Banskeid aus dem ganzen Land zum Kriegsdienst zusammengerufen. Er fragte sich, ob auch seine Schwester irgendwann diesen Dienst würde leisten müssen.
„Es sind schwere Brandwunden am Rücken!“, erklärte er dem nächstbesten Medizi und sprang vom Kutschbock.
„Ist mit dir alles in Ordnung, Junge?“, erkundigte sich einer anderer und deutete auf seinen Kopfverband.
„Ja, mit mir ist alles gut, aber bitte helft ihm, es geht ihm sehr schlecht!“
„Wir bringen ihn hinein, fasst alle mit an!“
Sie verfrachteten Anin auf eine Trage und trugen ihn in das Waschhaus des Chorten, das sehr groß war und viel mehr Räume hatte, als das in Shari. Es musste absichtlich für den Zweck eines Krankenlagers in Kriegszeiten so groß gebaut worden sein, vermutete Raen und versuchte, an der Trage dranzubleiben. Sie wurde rasch in einen Raum gebracht, und Anin auf einen Tisch gehoben. Ein Medizi wollte Raen nicht mit in den Raum lassen und versperrte ihm den Weg.
„Bitte, lasst mich zu ihm, ich ... kenne ihn.“
Der Medizi schien kurz zu überlegen.
„Gut“, sagte er schließlich mit reservierter Miene und gewährte ihm Zutritt. „Aber steh uns nicht im Weg, verstanden! Wir müssen unsere Arbeit tun!“
Raen wurde an das Kopfende des Tisches verwiesen, von wo aus er einen unangenehm nahen Blick auf die Verletzungen Anins werfen konnte, als das Tuch gelüftet wurde. Um seine Übelkeit im Zaum zu halten, sah er der Reihe nach in die Gesichter der Heiler und versuchte, an ihnen abzulesen, was sie dachten. Er konnte fühlen, dass es nichts Gutes war. Der Kloß in seinem Hals wurde steinhart.
‚Bitte, Hyaun hilf ihm! Lass ihn überleben!’
Die Medizi brachten eine Tinktur herbei, mit der sie den Rücken behutsam betupften. Anin schrie sich die Seele aus dem Leib und versuchte, sich mit seinen schwindenden Kräften aus dem Griff der Heiler zu winden.
„Halte ihn!“, befahl ihm einer der Medizi, und Raen übernahm einen Arm. Anins Leid schmerzte ihn, und er senkte seinen Blick.
Geschäftig wirkten die Medizi auf den Rücken des verletzten Kriegers ein und verständigten sich währenddessen in ihrer knappen Fachsprache, von der Raen kein Wort verstand. Redete Andra etwa auch so? Eine dicke weißliche Salbe wurde aufgetragen und ein frischer Verband angelegt. Dafür musste der schwere Oberkörper von Anin, der endlich sein Bewusstsein verloren hatte und nun ruhig lag, angehoben werden. Raen half mit, ihn hochzustemmen, wofür er einen dankenden Blick einer jungen Medizi erntete, doch zum Zurücklächeln war ihm nicht zumute und er wandte seinen Blick gleich wieder dem Gesicht des Ohnmächtigen zu, das jetzt auf unbestimmte Art erleichtert wirkte. Dann wurde Anin auf die Trage zurückgehoben und aus dem Raum transportiert.
„Wo bringt ihr ihn hin?“, fragte er die junge Frau.
„In eines der Zimmer über uns, dort werden alle Verletzen versorgt, dort können sie sich ausruhen.“
Raen wollte der Trage folgen, doch er wurde von der Medizi zurückgehalten: „Warte. Zuerst sag mir bitte, wie der Verletzte heißt, ich muss es aufschreiben für seine Angehörigen. Oder bist du selbst ein Verwandter?“
„Nein, bin ich nicht -“, wäre ich aber vielleicht beinahe geworden, dachte er bitter und sprach dann weiter: „Er heißt Anin und stammt aus Rotenas. Er hat dort Frau und Kind. Sein Vater heißt An ... Anchol.“
Die Medizi notierte sich den Namen auf einer Holztafel, und Raen jagte es einen eiskalten Schauer über den Rücken, als er sah, dass es genau eine von jenen Täfelchen war, auf denen die Namen der Toten zurück in die Heimat geschickt wurden.
„Wird er es schaffen?“, fragte er furchtsam.
„Nein“, bestätigte die Medizi mit betrübter Miene Raens Ahnungen. „Er ist zu schwer verletzt. Wir haben ihn nur versorgt, damit seine Qualen etwas gelindert werden. An der Tatsache, dass er sterben wird, können wir aber nichts ändern. Wir können ihm nur dabei helfen.“
Raen fiel bei dieser Bemerkung aus allen Wolken. Das meinte sie doch wohl nicht ernst?
„Woher wollt ihr denn wissen, dass er stirbt? Ihr habt doch nicht einmal versucht, ihn zu retten! Vielleicht schafft er es ja doch noch. Ihr müsst es weiter versuchen! Warum lasst ihr ihn einfach im Stich?“, rief er aufgebracht. Die Erinnerung an seine Mutter stand erschreckend deutlich vor seinen Augen. Hatten damals die Medizi auch tatsächlich alles getan? Oder hatten sie ihr auch bloß die Qualen beim Sterben erleichtert?
„Wir lassen ihn nicht im Stich! Und wir wissen sehr genau, dass er es nicht schafft - wir sind schließlich die Medizi! Deine Vorwürfe sind eine Beleidigung gegen unsere Kaste, Banskeid!“, empörte sich die junge Heilkundige.
„Aber - “
„Zaizura ist es, die das Schicksal dieses Mannes nun in den Händen hält! Und ihrem Willen müssen wir uns beugen“, fuhr ein anderer älterer Medizi ungehalten dazwischen.
Zaizura, pah! Raens Inneres heulte bei diesem Namen wutentbrannt auf, und er drehte sich abrupt und mit funkelndem Blick zu dem Mann um.
Offensichtlich erschrocken von Raens Reaktion hob der Medizi abwehrend beide Arme, um ihn von sich fern zu halten. „Beruhige dich, junger Banskeid! Bete lieber zu Hyaun, Er möge uns allen Kraft geben. Das ist das Einzige, was wir tun können! Zaizura aber hat die uneingeschränkte Macht über uns, und was das bedeutet, weißt du so gut wie ich.“
Raen verzog verächtlich das Gesicht bei dieser weiteren überflüssigen Belehrung. Sie erregte nur noch mehr seinen Unwillen, und in diesem Moment verabscheute er zum ersten Mal diese universelle und so wundervoll einfache Entschuldigung für alles, was nicht erklärbar war! Egal was auch immer passierte, es wurde immer auf die alles maßgebende und himmelsgewaltige Zaizura geschoben. Großzügig nahm Sie - gelobt sei ihr den Menschen gewogenes Wesen - stets die Schuld auf sich und damit allen Sterblichen die schwere Last des Gewissens von den Schultern. Bitter drang das namenlose Gefühl aus all seinen Poren, und ohne darüber nachzudenken, schwang Raen sich zu der höchsten Verwünschung auf, die ihm je in den Sinn gekommen war: „Verdammt sei Zaizura und mit ihr alle ihre Brüder und Schwestern der höheren Mächte! Verdammt sollt ihr sein und euer Spiel, dass ihr mit uns treibt!“ Mit seinem freien Auge fixierte er hart den entsetzt dreinschauenden Medizi: „Vielleicht könnt ihr nichts andres tun als beten. Ich aber habe mein Schwert und werde es gebrauchen, so wahr ich hier stehe! Und davon wird mich selbst Zaizura nicht abhalten können!“ Bedeutsam klopfte er auf seinen Schwertgriff, und lebendig brannte dabei sein Schwur vom Vormittag in seinem Herzen. Er war zu allem entschlossen. Sollte Zaizura ihn doch bestrafen, weil er sich über ihre Gesetze hinwegsetzte, das war ihm völlig egal. Hauptsache, er verkroch sich nicht hinter ihr, wie all die anderen schmachvollen Gestalten hier!
Doch auch der Medizi gab noch nicht auf. Er hatte sich von Raens ungehöriger Verwünschung scheinbar erholt. „Sei besonnen, junger Krieger. Es sterben so viele unverschuldet in der Schlacht. Das liegt nun einmal in der Natur des Krieges. Er nimmt sich die Opfer, wie es ihm gerade gefällt, und seine Willkür ist nichts, was ein unbedeutendes Menschenwesen beeinflussen könnte.“ Er legte beschwichtigend eine Hand auf Raens bebende Unterarme, die er vor der Brust verschränkt hatte, während die junge Frau an seiner Seite die Szene interessiert betrachtete. „Lass dich nicht von Gefühlen leiten, die schlecht sind, das macht die Gefallenen auch nicht wieder lebendig. Kämpfe lieber mit klarem Geist und reinem Herzen!“
„Bist du ein Medizi oder ein Priester?“, gab Raen böse zurück und schüttelte die Hand ab. Er sah nicht ein, warum man den Krieg überhaupt als unabwendbares Übel betrachten und als das Schicksal aller hinnehmen musste. War er wirklich bloß ein Phänomen, ein übernatürliches Vorkommnis, das kam und ging, bar jeder vom Menschen gewollter Absicht, oder konnte man als Mensch vielleicht doch etwas tun‚ um es aufzuhalten?
Da der Medizi nicht antwortete, machte er eine wegwerfende Handbewegung und sagte absichtlich leichtfertig: „Ich für meinen Teil will mich nicht darauf verlassen, dass Zaizura sich gütig zeigt. Ihre Gnade kann mir gestohlen bleiben!“ Zufrieden registrierte er den durch seine Worte erneut verursachten Schrecken in den Augen beider Medizi, machte daraufhin, ohne noch etwas hinzuzufügen, kehrt und verließ den Raum.
Noch während er durch die Gänge des Waschhauses schritt, spürte er, wie die Klarheit, die ihn erfasst hatte, beständig mächtiger wurde. Es schien, als hätte der Ausbruch des namenlosen Gefühls sein Inneres aufgeräumt und gereinigt, und mache nun Platz für eine lang verborgene Idee, die sich endlich aus den verworrenen Strängen seiner Gedanken löste und aufstieg wie eine Luftblase vom gärenden Grund eines algendurchsetzten Teiches. Es war etwas, das ihn all die Prinzipien, mit denen er aufgewachsen war, vergessen ließ, etwas, das gegen jegliche Regeln verstieß. Aber es stellte in seinen Augen die einzige Lösung für diese verzwickte Situation dar.
Hart schlug er sich mit der Faust auf die Handfläche, als wolle er damit auch den Rest seiner Zweifel zerstören, und dachte grimmig:
‚Ich werde es tun, um diesen ganzen Wahnsinn zu beenden! Und niemand wird mich aufhalten können!’
Ein unheimliches Grinsen breitete sich auf seinem halb verdeckten Gesicht aus, und zu gleichen Teilen erregt wie entschlossen stapfte er über den Hof zum Wohnturm.

Wenig später saß er am Lager von Anin. Er war wieder zur Ruhe gekommen und in eine leichte Meditation versunken. Er versuchte damit, Anins Seele zu besänftigen und sie zu überreden, weiter in dem nun auch von innen her verbrennenden Körper auszuharren. Anin hatte sehr hohes Fieber bekommen und sein Bewusstsein nicht mehr wiedererlangt, seit er verbunden worden war. Er lag auf dem Bauch, und sein Kopf war zur Seite gedreht. Sein Atem ging schwach und unregelmäßig. Aber so sehr Raen sich auch bemühte, er bekam die fliehende Seele nicht zu fassen und schließlich musste er ohnmächtig mit ansehen, wie das Leben aus dem jungen Krieger rann, ja, wie es geradezu aus ihm verdampfte! Einen winzigen Moment sah es fast so aus, als käme Anin noch einmal zur Besinnung, denn seine Lider flackerten und sein rasselnder Atem ging schneller, doch alles, was dann noch folgte, war ein tiefes Aufseufzen und dann ein Zusammensinken des Brustkorbes in eine unbewegliche Ruhe. Raen schloss die Augen und legte die Hände aneinander.
„Nehmt ihn gnädig auf, ihr Ahnen, er hat sein Leben für uns gegeben. Möge er frei im Wind fliegen, frei von Schmerz und Pein, frei von Sorgen. Tonan lo Nani, Anin - frei sei deine gesegnete Seele!“ Gerne hätte er die Tränen vergossen, die sich in ihm anstauten, aber er hielt sie zurück für den Krieg, der für ihn gerade erst begonnen hatte und noch vielen weiteren Unglücklich das Leben kosten würde. Sein Blick umschattete sich finster, als er sich erhob und das Waschhaus und den Chorten verließ. Er hatte sich eine Aufgabe gesetzt, und die galt es nun zu erfüllen, sobald sich die Möglichkeit bot.

35. Kapitel



„Raen, warte! Du kannst doch nicht ohne Helm auf die Mauer!“
„Doch, das kann ich sehr wohl!“ Er drehte sich zu Kaera um, der ihn aufzuhalten versuchte.
„Warte doch besser bis morgen, wenn du den Verband abnehmen kannst, dann passt der Helm auch wieder.“
„Nein!“
„Aber das ist doch total hirnverbrannt! Was willst du damit bezwecken? Außerdem widersetzt du dich Kensas Anordnung.“
„Ist mir egal, ich will kämpfen!“
„Vielleicht fällt die Mauer schon heute! Du hast doch nur ein Auge zum Gucken.“
„Zum Bogenschießen braucht man auch nur ein Auge.“
„Verdammt, Raen, hör auf mit dem Unsinn. Warum willst du immer allen etwas beweisen?“ Kaera klang jetzt beinahe zornig. Furchtlos packte er Raen am Arm, als dieser sich einfach wegdrehen wollte.
Drohend starrte der Ältere von der Hand auf seinem Arm in das erregt gerötete Gesicht seines Kameraden. Aber Kaera schien sich nicht wie sonst davon einschüchtern zu lassen. Mit gewisser Anerkennung registrierte Raen dies in seinem Hinterkopf, aber er wollte und konnte sich den besorgten Argumenten des Jüngeren nicht fügen. Er hatte schließlich einen Schwur abgelegt, und an den gedachte er sich auch zu halten.
„Ich muss dort hinauf, Kaera. Ich bin es Anin schuldig!“, sagte er ruhig und löste sich aus dem Griff.
„Dann geh doch, du Verrückter! Aber du wirst nicht verhindern können, dass ich stets in deiner Nähe sein werde!“ Trotzig schob Kaera das Kinn vor und wich absichtlich bei keinem seiner nächsten Schritte auch nur eine Handbreit aus seinem Schatten.
Raen seufzte. ‚Wie du willst, Kaera, ich kann dich ebenso wenig von dem abhalten, was du zu tun gedenkst, wie du mich abhalten kannst!’, dachte er, schulterte seinen Köcher und begab sich zum Aufstieg.
Oben auf dem Wehrgang angekommen, konnte er schließlich die Zerstörung begutachten, die am gestrigen Tage stattgefunden hatte. Ein weiteres Stück der Außenmauer war eingestürzt, und Kaera hatte womöglich recht damit, wenn er befürchtete, dass heute der Tag sein würde, an dem auch die Innenmauer nachgab. Sie hatte die ganze Nacht über gebrannt, und es wäre doch höchst verwunderlich, wenn sie dem weiteren Beschuss noch wesentlich länger standhalten sollte. Raen betrachtete die labil wirkende, pechschwarz mit Ruß überzogene Steinwand, die nun auf einer Länge von über zwanzig Schritten gefährlich ungeschützt dalag, und ließ anschließend seinen Blick über das Feld der Askharer schweifen. Im goldenen Morgenlicht konnte man die Einzelheiten der Maschinen gut erkennen. Vielleicht sollte er sich ihre Bauweise einprägen, damit sie beim nächsten Mal auch solche Zerstörungsinstrumente würden bauen können. Das wäre doch sicher nützlich. Noch während er die Katapulte genau betrachtete, wurden ihre hölzernen Riesenarme mit Winden gespannt und von mehreren Männern mit Hilfe einer Art Rampe oder Rutsche beladen. Das nahm einige Zeit in Anspruch, und als alle mit ihrer tödlichen Fracht versehen worden waren, herrschte ein kurzer Moment der Bewegungslosigkeit. Alles wartete auf den ersten Feuerbefehl dieses Morgens. Auf beiden Seiten wurden Hände zu Fäusten gespannt und Augen zu Schlitzen verengt. Und schon im nächsten Augenblick ertönte das hohle Klappen, und die schwarzen Schatten waren auf ihrem Weg. Raen beobachtete ihre Flugbahn und trat dann etwas zurück. Ungerührt sah er zu, wie die Felsbrocken keine dreißig Schritt von ihm entfernt am Grundstein der inneren Mauer einschlugen. Dicht hinter ihm zuckte Kaera bei dem Getöse zusammen, aber er wich um keine Handbreite von ihm ab. Raen blickte erneut hinüber zu den Askharern, sein eines Auge mit der linken Hand vor dem Licht der Sonne abschirmend. Waren es etwa mehr von denen geworden?
„Das Fußvolk da, das sind doch mehr als in den letzen Tagen, oder nicht?“, fragte er Kaera und zeigte auf den fast lückenlosen Teppich aus Gestalten, der hinter den Katapulten das flache Gelände überzog.
„Ja, die Askharer denken auch, sie schaffen heute den Durchbruch. Es sind ziemlich viele Fußsoldaten. An die sechstausend haben wir geschätzt!“
Raen rührte sich nicht, trotz dieser enormen Zahl der Feinde. „Jeden einzelnen von ihnen werde ich umbringen, wenn sie versuchen, dieses Land zu betreten!“, presste er zwischen seinen Zähnen hervor, sein namenloses Gefühl noch auf geringer Flamme haltend.
„Was hast du gesagt?“
„Nichts.“
Weitere Geschosse kamen angeflogen und zersplitterten an der Innenmauer. Raen und die anderen Krieger drehten den spritzenden Splittern den Rücken zu.

Der Todesstoß für die Innenmauer kam früher als gedacht. Schon am Mittag und in einem Moment, in dem gar nicht geschossen wurde, schien sie kurz zu schwanken und ein Stöhnen durch ihr Gemäuer zu gehen. Es klang so, als knirschten Kiesel unter einem gigantischen Fuß. Dann gab sie sich der Schwerkraft hin und krachte in sich zusammen. Die Fugen endgültig aus dem Gleichgewicht geraten, polterten die Steine kreuz und quer durcheinander. Eine Staubwolke türmte sich auf und verwehrte den Verteidigern die Sicht auf das entstandene Loch. Wenig später, als der Staub sich wieder gelegt hatte, konnte von beiden Seiten aus das Ausmaß des Durchbruchs betrachtet werden. Er war an die fünfzehn Schritt breit und hatte einen Wall aus großen Geröllbrocken zwischen seinen ausgefransten Rändern.
„Darüber kommt kein Pferd, ohne sich sämtliche Haxen zu brechen!“, rief Kensa unbeabsichtigt laut in die angespannte Stille.
„Sie werden es aber trotzdem versuchen“, entgegnete ein anderer, und griff zu seinem Zhangha-Beutelchen. Nach und nach taten es ihm alle Krieger gleich. Es war wie eine Welle, die durch die Kette der Verteidiger ging und sie endete unten in den Reihen der Reiterei, die sich inzwischen in Form eines großen umgekehrten Hufeisens hinter dem Loch postiert hatte.
„Sie kommen!“, sagte einer schließlich ruhig, noch auf seinem Zhangha herum kauend, und alle Augen richteten sich auf das in Bewegung geratene Fußvolk der Askharer. Immer schneller kam der Menschenteppich auf sie zugeschwappt, riss an manchen Stellen, an denen die Soldaten nicht schnell genug mitkamen, auseinander, um sich dann an anderen Stellen wieder zusammenzufügen. Wildes Kriegsgeheul hallte zu ihnen herauf. Tausende von rauen Kehlen dürstete es nach Kampf.
„Nun gilt es, Banskeid, möge Hyaun eure Arme nicht müde werden lassen!“ Beinahe feierlich legte Kensa einen Pfeil auf die Sehne. „Jeder feuert, wie er will!“
Was nun folgte, nahm Raen durch den Zhangha-Rausch zunächst wahr als brüllende Brandung von rotberüsteten Körpern, die sich den Schotterhang hinauf wälzte. Die Massen der Angreifer zogen eine Staubwolke hinter sich her wie eine riesige Herde wildgewordener Moschusochsen. Ihr Ende verschwand in der trüben Wolke, und es sah so aus, als entsprängen dort im aufwirbelnden Schmutz aus einer geheimnisvollen Quelle unbegrenzt neue Soldaten.
Doch dann änderte sich etwas in seiner Wahrnehmung. Die Geräusche, die in seine Ohren drangen, wurden zu glasklaren Tönen und das Licht in seinem Auge zu einem stechend scharfen Instrument. Jedes noch so haarfeine Detail trat deutlich hervor, und auf wundersame Weise verlangsamte sich der Fluss der Zeit zu einem gemächlich dahingleitenden Strom. Raen hatte regelrecht Muße, alles genau zu betrachten. Er konnte jede einzelne Schuppe des eigentümlichen Wappentiers auf den roten Wimpeln der Askharer erkennen, die aufwendig ziselierten Muster auf den Rüstungen der Anführer, die Schnüre, mit denen die Rüstteile an ihren Körpern gehalten wurden, bartstoppelige Wangen und Zahnlücken in weit aufgerissenen Mündern.
Ohne ein Signal begann er zu schießen und seine Mitstreiter schlossen sich ihm an. Ein Pfeilhagel senkte sich auf die Angreifer hinab, doch die Pfeile prallten fast wirkungslos an dessen Rüstungen ab, und sogleich begann auch die vorgerückte askharische Bogenabteilung zurück zu feuern. Raen musste in Deckung gehen, aber von seiner geschützten Stellung aus konnte er sehen, wie das Loch in der Mauer wenig später im Chaos versank. Von außen drängten sich die Eindringlinge über das Geröll durch die Öffnung, innen erwartet von der Reiterei der schwarzberockten Verteidiger in ebensolch unüberwindlicher Anzahl. Doch der feindliche rote Wurm kam an der Wand aus Pferdeleibern und Reitern ins Stocken, und Waffengeklirr mischte sich in das Geschrei. Jeder einzelne nachwachsende Fühler, den der rote Wurm aus Menschen neu ausschickte, wurde unter den auf- und niederfahrenden Klingen der Hy-Krieger zerhackt.
Ein Warnruf brachte Raens Aufmerksamkeit plötzlich ab von dem faszinierenden Geschehen zu seinen Füßen, und er wandte sich um, dabei hob er sich leicht aus der Deckung der Brustwehr. Sein Auge folgte dem ausgestreckten Arm des Kriegers, der gerufen hatte, und weitete sich überrascht. Zahlreiche große Leitern waren mittlerweile im Feuerschutz herbeigetragen und mühsam die Schotterschulter hinauf geschleppt worden. Als Ablenkung vom Hauptsturm auf den Mauerdurchbruch wurden sie an mindestens vierzig Stellen an die Mauer gewuchtet, und sofort kletterten die ersten Askharer an ihnen hinauf. Die meisten von ihnen fielen gezielten Pfeilschüssen zum Opfer, doch einigen gelang es in der unerschöpflichen Masse der herauf drängenden Feinde, die Brustwehr zu erstürmen. Triumphierendes Gebrüll ausstoßend stürzten sie sich mit gezückten Kurzschwertern auf die nächstbesten Hy. Und noch ehe Raen sich versah, befanden er und Kaera sich zwischen dem Abgrund des Mauereinsturzes und den Askharern, die gerade ihre Füße auf die Mauerkrone gesetzt hatten. Raen warf seinen Bogen von sich und zog sein Breitschwert, bereit diesen Versuch der Besitzergreifung zu bekämpfen. Bedrohlich leuchtete die scharfe Klinge mit seinem sichtbaren Auge im Wettstreit. In seinem Rücken tat es ihm Kaera in perfekter Abstimmung gleich.
Mit einem kurzen Blick auf sein Schwert dachte Raen: ‚Heute wird es zum ersten Mal in Blut getaucht!’ Und schon im nächsten Augenblick bewegte er sich mit unglaublicher Schnelligkeit. Noch ehe die Askharer ein zweites Mal blinzeln konnten, fielen sie unter Raens und Kaeras Schwertstreichen wie Äste von einem sturmgepeitschten Baum. Viel zu erstaunt, um auch nur einen Schrei zu tun, stürzten sie anschließend mit stumm aufgerissenen Augen von der Rückseite der Mauer oder direkt wieder zurück zu ihren Kameraden vor der Grenzbefestigung, wo sie mit ihren Körpern gleich noch einige erschlugen.
Einen um den anderen feindlichen Soldaten beseitigten die beiden jungen Krieger so mühelos und mit solch kalter Präzision, dass es so aussah als bräuchten sie ihre Opfer bloß sanft mit der Schwertspitze zu streicheln und schon fielen sie tot um. Beängstigend virtuos wurde Raen dabei zum ersten Mal in seinem Leben zum Sinnbild der geheimen Stärke der Krieger Hyauns. Nicht ein einziges Mal gerieten er oder Kaera in Bedrängnis. Der Zustand „Atemgetragen“ wurde für sie zu einem tänzerischen Spiel mit dem Fluss der Zeit, von dem sie selbst unabhängig geworden waren, während die von dieser Gabe nicht begünstigten askharischen Soldaten durch einen zähen Strom aus verdichtetem Licht wateten und nicht den leisesten Hauch einer Chance hatten.
Irgendwann in diesem Spektakel, das, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, vollkommen unglaubhaft gewesen wäre, erschienen einige weitere Hy-Krieger bewaffnet mit stabilen Stangen, die an einem Ende eine Astgabel besaßen. Mit ihnen gelang es den Verteidigern schließlich die Leitern allesamt umzustürzen. Die langen Steighilfen kippten mitsamt ihren Erkletterern, die sich verzweifelt an sie klammerten, hinten über und schlugen hart auf die Schotterschulter. Einige zerbarsten dabei und wurden unbrauchbar.
Die nächsten Versuche der askharischen Schar, die restlichen Leitern wieder an die Mauer zu stellen, scheiterten zumeist an dem Pfeilhagel, den die Hy zu ihnen hinunter sandten. Auch die Bogengilde der Angreifer war vom Chaos längst angesteckt und schoss völlig uneins ohne Sinn und Verstand mal auf die Mauer, mal auf die Lücke.
Mit einer Miene, die nicht das Geringste verriet, wischte Raen sein Schwert an der Kleidung eines toten Askhari-Soldaten ab und steckte es zurück. Mechanisch griff er nach seinem Bogen und beteiligte sich am Beschuss der Leitergruppen, die einiges an Angriffskraft eingebüßt hatten. Und nur wenig später schallte der durchdringende Ton eines mächtigen Kriegshorns über das Schlachtengewimmel hinweg. Raen und die anderen beobachteten, wie die Askharer unvermittelt innehielten und sich gleich darauf mit derselben Geschwindigkeit zurückzogen, mit der sie auch gekommen waren.
Als die Erkenntnis und die damit verbundene Erleichterung einsetzte, dass der heutige Tag überstanden war, ging ein hörbar lauter Seufzer durch die Menge der hyaunischen Verteidiger. Einige der Krieger fielen erschöpft auf ihre Knie, während andere bereits das Ausmaß der Zerstörung begutachteten.

Als sie bei Einbruch der Nacht das Lager erreichten und sich müde zusammensetzten, um zu essen, herrschte ein fast unheimliches Schweigen. Jeder war verstrickt in seine eigene durch den Zhangha-Rausch lückenhafte Rückschau auf die Erlebnisse dieses Tages. Auch Raens Kopf war seltsam leer, genau wie nach den Zhangha-Zeremonien, und er konnte sich kaum an etwas erinnern, nicht einmal an das Gefühl ohne Namen. Hatte er überhaupt gekämpft? Und wie viele Feinde hatte er getötet? Wie hatte er sie getötet? Er bewegte langsam seine Hand vor seinem Auge, öffnete und schloss sie zu einer Faust. Er war sich nicht sicher, ob er die Bewegung tatsächlich spürte, oder ob er sie nur sah, so seltsam leer fühlte er sich. Er ließ die Hand wieder sinken und betrachtete den Rest seines Körpers und gewahrte er die Blutflecken auf seinen Stiefeln. Es war nicht sein Blut! Das hieß, er hatte er das Stück Mauer, auf dem er gewesen war, erfolgreich verteidigt. Das beruhigte ihn, und er begann sich aus seinem Rüstzeug zu pellen. Doch alles was er an Verletzungen finden konnte, waren lediglich bläuliche Druckstellen von den Schützern auf seinen Unterarmen. Er blickte sich um. Auch Kaera war scheinbar ohne Blessuren geblieben, er saß ein paar Schritt von ihm entfernt an einen Stein gelehnt und lächelte matt zu ihm herüber. Raen lächelte mit einem Nicken zurück. Sie hatten sich gut geschlagen!
Ein Medizi kam und wechselte Raen den ebenfalls mit fremdem Blut bespritzten Verband. Der Schnitt sah gut aus, hatte sich nicht entzündet, und seine Ränder schlossen sich bereits. Nur noch ein paar Tage, dann würde er ohne Verband auskommen.
Eine Stimme hob an und gab laut die Zahl der gefallenen Askharer an dem Mauerdurchbruch bekannt, die sie anhand der Leichen hatten überschlagen können: Fünfhundertsiebenundsiebzig. Nicht gerade übermäßig viele, aber dennoch ein Verlust für die Armee des askharischen Königs. Ein grimmig zufriedener Siegesruf mit in die Luft gereckten Armen ging einstimmig durch die erschöpften Gruppen der Krieger, die gleich darauf wieder zu feierlicher Stille verstummten, um den nun folgenden Namen der Gefallenen und Verletzten auf hyaunischer Seite den gebührenden Respekt zu erweisen. Gebannt lauschte Raen der Bekanntgabe, doch der Name seines Vaters fiel nicht. Erleichtert holte er heimlich die goldene Pfeilspitze aus seinem Zhangha-Beutel - er hatte sich zufällig an sie erinnert, als er den Beutel heute Morgen vor dem Kampf geöffnet hatte, um das Zhangha herauszunehmen. In der Hoffnung, sie würde ihm verraten, dass er sie in diesem Krieg einzusetzen hatte, um seine Prophezeiung zu erfüllen, rieb er sie zwischen seinen Fingern. Das glatte Metall wurde schnell warm, so wie auch das Aun schnell die Körperwärme annahm, doch mehr geschah nicht. Nach einer Weile tat er sie enttäuscht zurück in den Beutel. Er würde wohl noch Geduld haben müssen. Müde legte er die Arme auf die Knie und sah erneut in die Runde. Als sein Blick schließlich wieder bei Kaera angelangt war, bemerkte er, dass dieser etwas auf seinen Oberschenkeln hielt und darauf zu schreiben schien. Neugierig erhob Raen sich und ging zu seinem Waffengefährten hinüber. Er ließ sich neben ihm nieder und sah im Schein des Feuers, dass Kaera ein kleines Buch vor sich hatte, in das er Zahlen schrieb. Staunend weitete sich sein Auge, als er auf der anderen Seite des Büchleins eine Zeichnung erkannte.
„Das ist doch ein Katapult!“, stellte er fest und zeigte auf die erstaunlich detailliert abgebildete Maschine.
Kaera grinste ihn verschwörerisch an. „Ja, ich habe sie mir genau angesehen - soweit das von der Mauer aus möglich war - und sie dann gezeichnet. Ich weiß auch ungefähr, wie sie funktionieren, das habe ich hier beschrieben.“ Er blätterte eine Seite zurück. Die Verblüffung wich nicht aus Raens halb verdecktem Gesicht, als er das Geschriebene las.
„Ich dachte, wir könnten das vielleicht noch mal brauchen. Auf jeden Fall schadet es nicht, sich damit auszukennen“, meinte Kaera und tippte mit dem anderen Ende des Schreibrohres auf die Seiten.
Raen nickte, vollkommen perplex darüber, dass sich noch jemand außer ihm Gedanken darüber gemacht hatte, und dass ausgerechnet das der ewig zaudernde Kaera war.
„Und was hast du auf den anderen Seiten notiert? Woher hast du überhaupt das Buch?“, fragte er.
„Ich habe es mir aus Pergamentresten selbstgemacht. Hyaunset Loenka war so freundlich, sie mir zu geben. Er fertigt doch mit einigen anderen Priestern das Pergament für die Bücher und Chroniken an, die ...“
„Loenka?“
„Ja. Er ist sehr nett. Na, ich habe mir jedenfalls ein Buch gemacht, weil ich darin gerne mit Zahlen spiele. Es macht mir Spaß. Es ist übrigens schon mein viertes Buch.“
„Dein viertes!“
„Ja, aber in den ersten dreien steht nicht viel Besonderes, erst in diesem hier habe ich alles notiert, was mit unserer Streitmacht und dem Krieg zu tun hat. Hauptsächlich natürlich Zahlen. Ach ja, und ein paar Zeichnungen“, erzählte Kaera begeistert. Er schien sich sehr zu freuen, dass Raen Interesse an seinen Aufzeichnungen hatte.
Der überlegte unterdessen, warum er noch nichts davon bemerkt hatte, dass Kaera diese Bücher schrieb, hatten sie doch immerhin seit Jahren im Zimmer der jungen Krieger nebeneinander ihr Lager. ‚Ich war wohl zu sehr mit seinen Schwächen beschäftigt, als dass ich dahinter seine Stärken erkennen konnte’, bekannte er und wandte sich wieder an seinen Kameraden: „Sag, Kaera, was für Zahlen schreibst du denn auf?“
„Ach, alles Mögliche. Zum Beispiel, wie hoch und lang die Grenzmauer ist, wie groß die Fläche der Doban-Provinz, oder - “
„Aber woher hast du diese Zahlen?“
Kaera blickte Raen etwas verständnislos an.
„Na, ich habe sie errechnet“, sagte er dann, als sei es die natürlichste und einfachste Sache der Welt.
„Berechnet, hm“, wiederholte Raen nachdenklich. Er hatte sich nie viel mit Zahlen beschäftigt und erst recht nicht mit dem, was man alles mit ihnen anstellen konnte. Der Rechenunterricht in der Schule war für ihn eher öde gewesen. Zahlen waren nichts Greifbares, nichts Reales, lediglich Nummern, die man auf bestimmte Weise aufschreiben konnte. Aber langsam begann ihm zu dämmern, was alles hinter einer Zahl stecken und was sie alles aussagen konnte.
„Ich habe ermittelt, wie viele Soldaten die Askharer je Maschine benötigen, um sie zu betreiben, und wie oft sie mit den zwölf Katapulten am Tag auf die Mauer schießen können. Daraus ergab sich unter anderem der Bedarf ihrer Munition und wie viel Zeit es jeweils in Anspruch nimmt, einen Tagesbedarf davon im Steinbruch herzustellen“, erläuterte Kaera weiter seine scheinbar spielerische Beschäftigung und klang dabei wie ein Gelehrter, der über sein Steckenpferd spricht. „Ich habe auch die ungefähre Gesamtzahl unserer Feinde berechnet mitsamt ihren Tieren, und daraus wiederum, wie viele Wagen Verpflegung sie jeden Tag benötigen. Und anhand der Verlustzahlen von heute könnte ich, wenn es die nächsten Tage ähnlich verläuft, sagen, wann der Krieg zu Ende wäre, weil keine Soldaten und Krieger mehr da sind!“
Raen schwirrte der Kopf, er betrachtete das Büchlein in Kaeras Händen. Ihm kam das unbestimmte Gefühl, dass es sehr wertvoll war, obwohl nur unscheinbare Zahlen darin standen.
„Hüte es gut! Vielleicht ist es eines Tages tatsächlich mal wichtig“, sagte er und legte eine Hand auf den Einband, dabei sah er Kaera direkt in die Augen. Der Ernst, mit dem Raen gesprochen hatte, ließ den Jüngeren plötzlich in Ehrfurcht vor seinem eigenen Tun aufmerken. Ein wenig stolz nickte er. Und wie, um Raen zu zeigen, dass es bereits seine Gewohnheit war, gut darauf aufzupassen, wickelte er das Buch sorgfältig in ein Öltuch und verstaute das Bündel in seiner Satteltasche.
Raen lächelte und stand auf. „Gute Nacht, Kaera“, sagte er und ließ kurz eine Hand auf der Schulter seines Kameraden ruhen, bevor er sich ganz verabschiedete.
„Gute Nacht, Raen.“ Kaera sah seinem Kameraden nach, glücklich darüber, dessen Vertrauen auf so wundersame Weise gewonnen zu haben. Endlich schien er nun doch jemanden gefunden zu haben, dem er sich anvertrauen konnte. Er senkte den Blick auf seine eher schmalen Hände, an denen schwarze Tintenflecken hafteten. Eigentlich, so fand er, waren es noch immer eher die Hände eines Gelehrten als die eines Kriegers. Und er dachte daran, Raen eines nicht verraten zu haben. Es war der weitaus bedeutendere Grund, weshalb er diese Bücher überhaupt führte als nur des Spaßes wegen. Zum Glück hatte Raen nicht weiter danach gefragt, denn sonst hätte er etwas zugeben müssen, das niemand - bis vielleicht auf sein Vater - wusste: Die Zahlen waren sein ein und alles, seine Zuflucht. Sie waren seine logisch verlässlichen Freunde, ohne die er sich hoffnungslos verloren fühlen würde in dieser von Zaizuras Willkür regierten Welt! Nicht, dass er Zaizura nicht fürchtete. Es war bloß, er war ihr gegenüber unsicher. Denn auch wenn es hieß es sei unmöglich und sogar unheilig, so war es ihm doch möglich gewesen, einige Dinge und Geschehnisse ganz einfach durch Berechnungen vorauszubestimmen - nichts daran war Zauberei gewesen oder eine neue Verknüpfung von Zaizuras Webfäden. Es war bloß Mathematik und nicht Schicksal! Und Kaera glaubte fest an die Mathematik und an die Liebe Hyauns!
Beinahe zärtlich strich er über die Satteltasche mit dem geheiligten Inhalt, führte seine Hände dann an die Stirn und dankte seinem Gott dafür, das Er ihm das Wissen von der magischen Kraft der Zahlen vergönnte.

Am nächsten Morgen waren die Leichen der gefallenen Askharer, welche die Hy vor die Mauer auf die Schotterschulter geworfen hatten, verschwunden, und die Katapulte auf dem Feld versetzt worden. Sie befanden sich jetzt eine halbe Meile weiter westlich, und ihr Beschuss auf eine neue Stelle begann pünktlich mit dem ersten Hahnenschrei. Doch offensichtlich war das an diesem Tag alles, was die Askharer an Anstrengung zu unternehmen gedachten, denn ein erneuter Angriff auf das bereits vorhandene Loch in der Mauer blieb aus. Nichts bis auf die knarrenden Wurfmaschinen rührte sich in Licht der gleißenden Sonne, und am Abend begaben sich die Hy-Krieger gut gelaunt in ihre Lager zurück, ohne auch nur einen Pfeil verschossen zu haben.

*

Auf der askharischen Seite hingegen war man von guter Laune sehr weit entfernt. Und während sich die verhassten Feinde hinter ihrer Mauer zur Ruhe begaben, tüftelte der Oberste General der Königlichen Armee in seinem Zelt, das als Kommandostand diente und nicht weit hinter den Katapulten gegen das aufkommende feuchte Wetter aufgestellt worden war, an einer neuen Taktik.
Nach dem ersten Ansturm hatte Kasai schnell erkannt, dass ein einziger Durchbruch in der Mauer nicht genügte, um irgendetwas ausrichten zu können. Die Reiterei der Hy, deren Größe sie erst jetzt richtig einschätzen konnten, war zu stark für die wenigen Fußsoldaten, die es bis auf die andere Seite schafften. Sie brauchten folglich mehrere Breschen, um die Verteidigung der Hy auseinander zu zwingen. Er hob den Becher und trank durstig den Rest des kühlen Bieres. Von der Ordonnanz ließ er sich neu einschenken und richtete dann seinen Blick wieder auf das Modell der Grenze, das mitten in seinem Zelt aufgebockt stand. Er war froh, dass der König momentan nicht da war, denn die Anwesenheit Katthikes brachte stets mehr Wirrnis als Ordnung in die Reihen. Genau wie am gestrigen Tage. Kasai ballte die Fäuste bei dem Gedanken daran.
Obwohl er sich vehement dagegen ausgesprochen hatte, hatte Katthike sich von dem Fall der Grenzbefestigung mitreißen lassen und vollkommen überstürzt den Befehl zum Angriff gegeben. Lediglich ein Testvorstoß hätte zu diesem Zeitpunkt genüg, um die Stärke des Feindes auszuloten, doch der König, der bis jetzt erstaunlich viel Zeit auf dem Gefechtsfeld verbracht hatte, hatte das gesamte Fußvolk aus der Lethargie des Wartens gerissen und ohne Sinn und Verstand auf die Mauer losgehetzt. Die Soldaten, natürlich begierig aufs Kämpfen, waren nicht zu halten gewesen und wie die jungen Pferde bei einem Startruf zu einem Wettrennen vorangestürmt.
„Sieh nur, wie sie rennen können!“, hatte Katthike amüsiert gesagt und bequem aus der Ferne von seinem Pferd aus das Geschehen beobachtet. Im Geiste hatte Kasai die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und hernach nichts anderes tun können, als den Schaden zu begrenzen. Doch all seine Bemühungen, Ordnung in den kopflosen Angriff zu bringen, waren fehl geschlagen, und erst der vernichtende Gegenschlag der Hy hatte die Soldaten schließlich den Vorstoß abbrechen lassen.
Verärgert trommelte Kasai mit den Fingern auf die Stuhllehne. Über fünfhundert Mann hatten sie bei dieser unbedachten Tollheit verloren. Im Prinzip hatte Katthike ja recht gehabt, die Soldaten brauchten etwas zu tun, aber solch eine massive Attacke barg zu große Risiken, um sie derart unbedacht zu befehlen. Die Belagerung einer Mauer wie dieser war etwas ganz anderes als die einer Burgbefestigung oder eine Schlacht auf offenem Felde, und sie folgte vollkommen anderen Gesetzmäßigkeiten. Beim Anrennen gegen eine solche Grenzwehr war es möglich, dass schon durch einen ersten Misserfolg die Kampfmoral der Männer einen argen Dämpfer bekommen konnte. Obendrein unterschätzten viele unerfahrene und unwissende Kriegsführer die Eigendynamik einer solch großen Masse an einfach denkenden Soldaten, denn tatsächlich war es eine Kunst, sie stets bei voller Leistungsbereitschaft und guter Laune zu halten, was so manches Mal die Ausgabe von Sonderrationen an Branntwein und gutem Speck erforderlich machte.
Natürlich wog der Verlust des gestrigen Angriffs bei ihren insgesamt elftausend Mann geradezu lächerlich gering, aber es wurmte Kasai trotzdem. Es war ein überflüssiger Verlust in der generell ohnehin schon knapp bemessenen Ausstattung der Königlichen Armee. Das hatte schließlich auch der König verstanden, und man hatte sich später im Kriegsrat zusammen mit den Herzögen darauf geeinigt, die Belagerung der Mauer wieder nach den ursprünglichen Plänen des Generals weiterzuführen.
Kasai erhob sich und trat vor das Zelt in die kühle Nachtluft. Gerade ertönte wieder einmal das charakteristische Klappen und Schaben der auslösenden Katapulte, die ihre Ladung freigaben. Er hatte den Befehl ausgegeben, den Beschuss jetzt auch nachts fortzusetzen. Wie kleine böse Sonnen erhellten die Brandgeschosse auf ihrem bogenförmigen Flug gegen die Mauer die Dunkelheit und brachten, so hoffte der General mit einem bösen Lächeln auf den Lippen, die Verteidiger um ihren erholsamen Schlaf.

Mehrere Tage hielt die Mauer an der neu unter Beschuss genommenen Stelle, doch dann gab sich auch hier nach und fiel mit lauten Getöse in sich zusammen. Gleich darauf ließ der General die Katapulte, die für diesen Zweck mit Rädern versehen werden konnten, mit Hilfe von schweren Ochsengespannen erneut ein Stück weiter nach Westen bewegen, wo bereits flache Standmulden in dem nach Süden abfallenden Feld ausgehoben worden waren. Und noch während die Wurfmaschinen versetzt wurden, fand ein von Kasai gesteuerter Kleinangriff auf das zweite Loch in der Mauer statt, um die Stärke der Reiterei der Hy noch genauer auszukundschaften. Er brachte wenig Verluste und die gewünschten Ergebnisse und zufrieden ließ der General einen Tag später die dritte Stelle unter Beschuss nehmen.

Nachdenklich betrachtete Herzog Bhuras die nächste vom General festgelegte Angriffsabfolge auf dem Stück Pergament, das an der Rückwand des Kommandozeltes hing, während Kasai neben ihm seine Bedenken über die Stabilität des Wetters kundtat. Wenn es sich noch weiter verschlechtern sollte, würde es die Katapulte und auch die Bogenschützen erheblich beeinträchtigen, von der Moral der Soldaten ganz zu schweigen, wenn sie erst einmal knietief im Schlamm versanken.
„Greifen wir an, wenn der dritte Durchbruch erreicht ist, General?“, erkundigte sich Herzog Bhuras. Mit manierlich vor dem Körper verschränkten Händen wartete er dessen Antwort ab. Der General war wirklich ein begnadetes Talent in allen Belangen der Kriegstaktik, und das schätzte Bhuras an seinem Mentor, aber was noch viel wichtiger war, er hatte all das von ihm gelernt. An sich war Kasai kein schlechter Mensch, und Bhuras mochte ihn sogar. Aber der General stand mit diesem seinem so unvergleichlichen Wissen und seiner in den höchsten Kreisen beinahe für heilig erklärten Erfahrung wie ein unüberwindliches Hindernis auf Bhuras’ Weg in den obersten Rang der militärischen Würden. Und auch wenn er Kasais erklärter Liebling und deklarierter Nachfolger war, konnte er mit allergrößter Sicherheit damit rechnen, dass der alte General - ob in ein paar Jahren abgetreten und von der Verantwortung entbunden, oder nicht - sich immer wieder einmischen würde, und dass der König auch weiterhin dessen Rat suchen würde wie ein Pilger, der eine heilige Stätte aufsucht. Er würde immer im Schatten Kasais stehen, so lange dieser lebte.
„Ich habe das noch nicht entschieden, Bhuras. Ich bin mir nicht sicher, ob drei Durchbrüche wirklich ausreichen. Besser wären vier, wenn nicht sogar fünf, das steigert unsere Chancen.“
„Es verschlechtert aber auch die Laune der Soldaten. Sie haben die Warterei satt. Sie haben keine Lust mehr, jeden Tag hier aufzumarschieren und sich die Beine in den Bauch zu stehen, ohne dass etwas passiert. Mittlerweile behaupten sie schon, es wäre besser gewesen, im Heerlager in Braud zu bleiben, denn da hätte es wenigstens Unterhaltung gegeben!“
„Dieses zurückgebliebene Söldnerpack!“, platzte es unbeherrscht aus Kasai heraus. „Das hier ist eine Belagerung und keine Zirkusvorstellung. Elende Hohlköpfe, sie werden bald viel bessere Unterhaltung bekommen, als den dreckigen Schoß einer Hure!“
„Es sind dabei hauptsächlich die Soldaten aus den friedlichen Provinzen Bolthaischan und Daneschan, welche versuchen, die Stimmung zu beeinträchtigen“, klärte Bhuras den General auf und betonte dabei das friedlich abfällig.
Kasai schnaubte: „Karlis’ Leute! Es würde mich nicht wundern, wenn sie es auf Geheiß ihres Herren tun. Aber das wird er noch bereuen!“ Ein böses Zucken umspielte seine Mundwinkel. Er hob einen Arm, strich eine der vordersten Gruppen auf dem Pergament durch und schrieb stattdessen ‚Bolthaischan’ darunter. „Ich werde dem lieben Herzog Karlis-Renandi schon zeigen, wie man die Motivation schlagartig verbessert!“, kommentierte er zynisch und hätte wahrscheinlich auch gerne Karlis selbst dort vorne postiert.
Bhuras deutete ein Nicken an und zwirbelte sich mit einer seiner zartgliedrigen Hände den Schnurrbart unter seiner plattgedrückten Nase.
„Wie ich sehe, teilt Ihr meine Meinung!“, bemerkte Kasai erfreut.
„Herzog Karlis-Renandi ist ein halsstarriger, alter Mann. Nichts, was wir nicht schon wüssten!“, entgegnete Bhuras gelassen.
„Ja, seine Hochwohlgeborenheit bildet sich ein, etwas Besseres zu sein, nur weil er ein Cousin des Königs ist. Wenn Ihr mich fragt, lässt Katthike ihm viel zu viele Freiheiten! Aber die bekommt er bei mir nicht. Nicht, so lange ich hier das Sagen habe!“, rötete sich der General noch mehr, aber Bhuras war mit seinen Gedanken schon mehrere Schritte vorausgeeilt und sann bereits darüber nach, wie es wohl sein würde, wenn er bald der Oberste General der Armee wäre, und alle hohen Herren des Kriegsrates nach seiner Pfeife tanzten. Leider nur hing das Fortkommen seines eigenen Unternehmens stark von dem Fortkommen hier auf dem Felde ab, und das war arg ins Stoppen geraten. Je eher sie diese verdammte Mauer endgültig zum Fallen brachten und nach Hy hinein konnten, desto eher konnte er auch das Hindernis Kasai aus dem Weg räumen. Aber das konnte den Angaben des Generals nach noch dauern. Er würde wohl noch einiges an Geduld aufbringen müssen - und mit ihm auch sein allzu aufmerksam lauernder Auftraggeber, der ihn fein aus dem Hintergrund ständig mit geheimen Nachrichten belästigte, in denen er ihn in höchst unverfänglicher Weise an die vereinbarte Tat gemahnte.
„Ist der König noch auf dem Feld, oder ist er schon vor dem schlechten Wetter geflüchtet?“, fragte Bhuras abfällig, um seine eigenen verräterischen Gedanken zu überdecken.
„Seine Majestät ist noch im Lager im Wald. Aber er denkt darüber nach, ob er sich nicht vorerst ganz nach Braud zurückzieht.“
Bhuras verzog das Gesicht aus Verachtung über diese ehrlose Haltung des Königs, aber geäußert hätte er diese Meinung selbstverständlich niemals laut.
„Das hat auch sein Gutes, dann pfuscht er uns wenigstens nicht dazwischen!“, zwinkerte Kasai seinem Protegé belustigt zu und seine Zahnlücke blitzte auf. „Wir haben freie Hand. Etwas Besseres kann sich ein General nicht wünschen! Merkt Euch das für die Zukunft!“
„Und was ist mit dem Prinzen?“, wollte Bhuras wissen. Er würde an seiner Einstellung zum König noch hart arbeiten müssen, wenn er demnächst mit ihm zusammenarbeiten sollte. Für Kasai war das etwas anderes, er hatte eine freundschaftliche Beziehung zu Katthike. Sie kannten sich schon sehr lange, und der General war dem König bis in den Tod treu ergeben. Diese Loyalität bewunderte Bhuras an Kasai, hatte er selbst doch große Probleme, einem Mann zu folgen, der ein schlechtes Beispiel für seine Soldaten war. Sicher waren diese primitiven Dummköpfe von Söldnern - denn unter ihnen waren viele Askharer mit minderer Blutqualität, die mit dem neuen Gesetz der „Musterung“ entmündigt und zum Dienst gezwungen worden und mit anderen Worten die geistig und körperlich Versehrten des askharischen Volkes waren - nicht gerade die angenehmsten Zeitgenossen und sie waren auch nur begrenzt fähig, etwas von dem zu begreifen, was auch nur im entferntesten mit höherer Taktik zu tun hatte. Aber ein Soldat war ein Soldat, und dieser brauchte seinen König. Ein Soldat hatte es verdient, dass sein König mit ihm auf dem Schlachtfeld stand. Das hatten sie alle verdient, die sie im Namen des Königs zu Felde zogen!
„Prinz Senta wird an meiner Seite sein. Er soll lernen, wie man einen Feldzug führt. Aber er wird uns nicht stören, er hat keinerlei Befugnisse“, antwortete Kasai auf die Frage Bhuras’, der seine Gedanken sogleich wieder in eine andere Richtung gelenkt sah.
‚Nein, General, Euch wird er ganz sicher nicht stören, aber er stört mich!’ Verdrießlich verschränkte er seine Finger fester ineinander. Im entscheidenden Moment würde er den Prinzen auch noch loswerden müssen.

36. Kapitel



Heute Nacht würde er es tun! Er konnte nicht noch länger aushalten. Das nervenzehrende Warten auf den unausweichlichen Fall der Mauer hielt er nicht länger aus und obendrein auch für besonders schwachsinnig! Die Askharer waren kurz davor, die vierte Bresche in die Befestigung zu schießen. Jemand musste etwas tun, etwas Sinnvolles, und dieser Jemand würde er sein! Sie würden ihm bestimmt noch einmal dankbar dafür sein. Raen hielt inne und wischte diesen Gedanken vorerst wieder zur Seite. So weit war es ja noch nicht, zuerst müsste er es vollbracht haben und heil zurückgekehrt sein. Obwohl das mit der Wiederkehr der unwichtigere Part seines geplanten Heldenstückes war. Unauffällig überprüfte er sein Gepäck, das er sich heimlich zusammengestellt hatte: Eine Umhängetasche mit Verpflegung und einer Decke gegen das kaltfeuchte Wetter und für den Fall, dass er länger unterwegs sein sollte, seinen Bogen mit den im Köcher zusammengebundenen Pfeilen und auf dem Rücken sein Leichtschwert. Sein Rüstzeug würde er hierlassen, denn er hatte vor, sich schnell und unauffällig fortzubewegen. Aus diesem Grund musste auch Jakori im Lager bleiben, obwohl er sie gerne mitgenommen hätte, nur um auf seiner Mission nicht ganz allein zu sein. Ein klammes Gefühl im Magen ließ seine Körpermitte erkalten. Raen versuchte es zu ignorieren, denn er hatte sich diese Aufgabe nun einmal unter Schwur auferlegt und würde sie auch erfüllen zum Nutzen und Wohlergehen der anderen - für sein Volk!
Er wartete, bis im Lager alles ruhig schlief, schlich dann zu Kaeras Sattelzeug, zog ganz vorsichtig dessen Buch aus der Tasche und schlug es an der Stelle auf, wo seine Notizen aufhörten. Er nahm das Schreibrohr und die Tinte, und im letzten Rest der Feuersglut schrieb er eine Nachricht hinein, denn er wollte nicht einfach so gehen. Vielleicht kam er ja wirklich nicht wieder, und dann wüssten sie wenigstens, wo er war und warum er es getan hatte. Leise steckte er das Buch wieder zurück. Morgen Abend würde Kaera mit Sicherheit seine Botschaft darin entdecken und sie hoffentlich auch erst einmal für sich behalten. In einem Bogen schlich er sich in vom Lager fort und auf die mit Fackeln markierte Mauer zu. An manchen Stellen, an denen das Gras nicht plattgetreten war, raschelte es leise um seine Stiefel. Dichte Wolken bedeckten den Nachthimmel, und es war nicht viel zu erkennen, aber Raen fand einen Weg durch die Dunkelheit, ohne dabei aufzufallen. An der Mauer duckte er sich tief in die Schatten und beobachtete die Wachen rund um das Loch, das, Schwarz vor Schwarz, kaum zu erkennen war. Das Geröll bei dieser Dunkelheit lautlos, und ohne sich den Fuß dabei zu verdrehen, zu überqueren, würde das Schwerste sein und die Schotterschulter das nächste Hindernis. Unten auf dem flachen Feld würde es dann einfacher werden, und es gab dort auch genügend Büsche und Steine, die sein Fortkommen decken würden. Doch vorerst musste er überhaupt einmal bis dahin kommen.
Die Wachtposten auf der Mauer bewegten sich nicht, nur der Fackelschein ließ ihre Schatten tanzen. Raen schlich auf das Loch zu, und sein Fuß stieß hart gegen den ersten gefallenen Mauerstein. Er war sehr groß, und Raen begann langsam mit den Händen daran entlang nach vorne tastend auf allen vieren den Geröllwall zu erklimmen. Es war harte Arbeit. Mehrere Male sackten seine Hand oder sein Fuß ins Nichts, wenn sie auf eine große Lücke zwischen den Trümmern stießen, oder ein Stein kippelte. Beinahe hätte er sich an einem dornenbewehrten Gegenstand verletzt, den er als verlorengegangenen Helm identifizierte, und er war heilfroh, dass die dazugehörige Leiche längst fortgebracht worden war. Dennoch erschauerte er bei der Vorstellung, sich den Weg über tote Körper und Gesichter ertasten zu müssen. Endlich überkletterte er den Kamm des Walls, nahm erleichtert die Füße voran und hievte sich wie ein großer Käfer die Geröllbrocken hinab. Die Tasche und der Köcher schleiften dabei gefährlich laut über die Steine, und der sperrige Bogen, der um seinen Oberkörper klemmte, stieß ständig an den vielen Kanten und Ecken an.
‚Vielleicht hätte ich ihn besser nicht mitnehmen sollen‘, dachte Raen, und es war pures Glück, dass sich keiner der Steine löste und ihn durch das Gepolter verriet. Immer weiter setzte er sachte einen Fuß vor den anderen und stemmte sein Körpergewicht mit den Armen hinterher - ein unvermutet anstrengender Balanceakt, der ihm all seine Geschicklichkeit abforderte, aber schließlich erreichten seine nach Halt suchenden Füßen festen Boden.
Nach einer kleinen Verschnaufpause begab er sich an den nächsten rutschigen Abstieg der Schotterschulter. Jetzt waren die wachsamen Augen der Posten genau auf seinen Rücken gerichtet, das konnte er deutlich spüren. Sie durchforschten das Dunkel des Abhanges vor der Mauer auf die leisesten Bewegungen, und mit bangem Entsetzen wurde Raen bewusst, dass sie ohne zu zögern auch auf ihn schießen würden, wenn sie ihn ausmachten. Aber er durfte jetzt nicht verkrampfen, sonst würde ihm das Klettern nur noch schwerer fallen. Mühsam robbte er die Schotterschulter Mannslänge um Mannslänge hinab, still wie ein Geist, aber mit dem irdischen Schweiß von Angst und Anstrengung auf seiner Stirn. Seinen Verband hatte er schon vor knapp zwei Wochen abnehmen können. Der wäre selbst in dieser Nacht ein leuchtender Signalpunkt gewesen.
Endlich unten angekommen, verschnaufte er erneut für einen Moment, sehr wohl wissend, sich noch nicht vollkommen in sicherer Entfernung von den eigenen Bogenschützen zu befinden. Kurz schloss er die Augen und brachte sein klopfendes Herz unter Kontrolle. Dann raffte er sich auf, zwang seine Füße, sich weiter in der bösen Absicht einer Straftat zu bewegen, und drang weiter ins Feld vor.
‚Hyaun, du weißt, dass es eigentlich richtig ist, du weißt es! Du selbst hast mir doch diesen Boten des Orakels geschickt. Bitte, verlass mich jetzt nicht, auch wenn ich fremdes Land betrete!’, betete Raen still und glitt lautlos durch die Dunkelheit des Feldes. Matter Feuerschein, der in einiger Entfernung in der trüben Nacht schimmerte, zeigt ihm an, dass dort die Katapulte stehen mussten. Er bewegte sich darauf zu. Zwölf Stück waren es, und er vermutete, dass bei ihnen wahrscheinlich nicht mehr als zwei oder drei Mann als Bewachung zurückgelassen worden waren. Sie saßen bestimmt völlig arglos an einem kleinen Lagerfeuer zusammen und rechneten nicht damit, von jemandem angegriffen zu werden. Raen schlich voran, scherte etwas nach links aus, um zu der ersten Maschine in der Reihe zu gelangen. Je näher er kam, desto bedachter setzte er seine Füße und desto tiefer duckte er sich hinter die Büsche. Als er nur noch wenige Schritte von dem ersten Katapult entfernt war, konnte er die im Feuerschein erhellten Konturen des gespenstig wirkenden Ungetüms gut erkennen. Es hockte da wie ein gezähmtes Rieseninsekt, wartend auf den nächsten Einsatz der Zerstörung. Raen war überrascht von der Größe der Konstruktion, jetzt da er direkt neben ihr stand. Ihre Holme waren massiv und ragten mindestens drei Mannslängen auf, der ausladende Arm stach weit nach oben ins Dunkel, so dass sein Ende kaum sichtbar war. Aus der Ferne hatten sie alle viel kleiner gewirkt! Raen riss seinen ehrfürchtigen Blick von der Maschine los und richtete ihn auf das kleine Lagerfeuer, an dem er zwei Gestalten sitzen sah. Doch auch nachdem er sie länger beobachtet hatte, gesellte sich kein Dritter zu ihnen hinzu.
‚Nur zwei also, das macht die ganze Sache einfacher!’, frohlockte er und wechselte seine Position, bis er direkt im Rücken der beiden Männer kauerte. Sie unterhielten sich leise, und einer von ihnen lachte schmutzig, wie er fand. Ihre Sprache klang abgehackt und hatte viele Zischlaute, aber er verstand kein einziges Wort. Über was sie wohl sprachen? Er blickte erneut zu der Maschine. ‚Ich kann sie nicht außer Gefecht setzen, wenn die Wächter daneben sitzen, sie würden es bemerken und sofort Alarm schlagen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als sie zu beseitigen. Oh Hyaun, steh mir bei.’ Raen überlegte, wie er es am Besten anstellen sollte. Mit dem Bogen war es zu unsicher. Nicht, dass er sie aus dieser kurzen Distanz nicht getroffen hätte, aber es würde zu lange dauern, bis er den zweiten Pfeil aufgelegt hatte, und in der Zeit könnte der zweite Mann in die Dunkelheit fliehen und schreien. Er nahm den Bogen von der Schulter, den Köcher und die Tasche und ließ alles hinter dem Busch im Gras liegen. Er musste sich frei bewegen können.
Mit abschätzendem Blick musterte Raen seine ahnungslosen Opfer. Kurz überlegte er noch, ob er zuvor etwas Zhangha zu sich nehmen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Es würde ihn zwar schneller machen, ihn womöglich aber auch benebeln, und dann könnte er sich hier in der Dunkelheit verirren und seine Aufgabe verfehlen.
Er zog sein Messer, das an seinem Gürtel hing, und spannte seine Muskeln an. Dann sprang er geräuschlos wie eine Raubkatze aus der Dunkelheit auf die zwei Männer los. Er packte den ersten von hinten unter dem fetten Kinn, riss es hoch und schnitt ihm in einer zügigen Bewegung die Kehle durch, während der andere vollkommen ungläubig auf die Erscheinung starrte, die es hier nicht geben sollte. Dann kam der Schatten auch über ihn und verpasste ihm ein neues, rotes und sehr breites Lächeln. Blut sprudelte hervor und tränkte schnell den Kragen seines aus grobem Stoff bestehenden Wamses, über dem er normalerweise seine Rüstung trug. Röchelnd brach er zusammen.
Der Schatten des schwarzen Kriegers verharrte einen letzten Herzschlag über den glubschäugigen Sterbenden und huschte dann auf die Maschine zu.
In ungestörter Ruhe konnte Raen nun die Konstruktion umschreiten und rief sich dabei die Aufzeichnungen Kaeras ins Gedächtnis. Er hatte sie so oft studiert, dass er sie jetzt mit der realen Wurfmaschine vergleichen konnte. Und Kaera hatte kein schlechtes Auge bewiesen. Raen legte den Kopf in den Nacken und sah zu dem langen Holzarm hinauf, und mit einem Mal glaubte er zu wissen, wo die Schwachstelle dieses Ungetüms war.
‚Ach, Kaera, du hättest deine wahre Freude daran, diese Maschine aus der Nähe untersuchen zu können!’, dachte er, und seine Hände strichen dabei ehrfürchtig über das massive Holz des Unterbaus. ‚Ich werde es dir berichten.’ Er inspizierte den Flaschenzug und die Winden, die am hinteren Ende in den Unterbau des Katapults eingelassen waren und zu dem Arm hinaufführten. ‚Diese Seile spannen also den Wurfarm nach unten, der seine Ladung in einem eisernen Netz trägt. Und das Gewicht da in dem hölzernen Kasten an seinem Ende schleudert ihn dann nach vorn, wenn ein Bolzen aus der Verbindung des Seilzuges geschlagen wird’, rekapitulierte er in Gedanken. ‚Wenn ich nun all diese vielen Seile anritze, werden sie früher oder später zerreißen, und das Katapult wird nicht mehr arbeiten können, solange bis sie ausgetauscht werden. Eigentlich wäre Anzünden die sicherste Methode, sie zu vernichten, aber damit würde ich alle anderen warnen. Ach, wären wir doch ein paar mehr, dann hätten wir hier heute Nacht ein wahres Freudenfeuer veranstalten können!’ Raen seufzte, nahm dann kurzerhand sein Messer und begann zu schneiden. Als er fertig war, entfernte er noch die Hebelstäbe, mit denen die Winden bedient wurden und warf sie ins Feuer. Dann holte er sein abgelegtes Gepäck aus dem Gebüsch und erspähte das zweite Feuer. Leise schlich er zu seinem nächsten Einsatzort.
Ungefähr nach der Hälfte sabotierter Katapulte hielt er inne und lauschte in die ferne Dunkelheit. Ein paar Nachtvögel ließen ihre Rufe erklingen. Er hatte sie vorher nicht wahrgenommen, weil er viel zu angespannt gewesen war. Jetzt aber fühlte er sich locker und geradezu gut aufgelegt. Seine Mission verlief einfacher als gedacht, und niemand hatte ihn bis jetzt entdeckt. Erst am Morgen würden sie die toten Wächter finden und sich darüber den Kopf zerbrechen. Raen drängte sich ein Grinsen auf. Diese Askharer waren doch wirklich dumme Schafe, glaubten tatsächlich an das hyaunische Nichtangriffsprinzip, als wäre es eines von den unumstößlichen Gesetzen des Universums. In Raen wuchs der Stolz auf seine heldenhafte Tat und es verlieh ihm Triebkraft für die weiteren sechs Katapulte und ihre Wachtmannschaften.

Noch ehe die Dämmerung als grauer Streifen am östlichen Horizont sichtbar wurde, hatte der heimliche Grenzgänger sein Zerstörungswerk unbemerkt beendet. Keiner der Wächter hatte ihm gefährlich werden können, denn alle hatten buchstäblich in ihrer Unterbekleidung an den wärmenden Feuerchen gesessen und sich in absoluter Sicherheit gewähnt, ihre Waffen weit von sich entfernt an die Maschinen gelehnt. Ein paar von ihnen hatten sogar seelenruhig geschlafen, und es hatte Raen nicht das Geringste ausgemacht, sie zu töten. Es war eine klare und gerechte Sache: Die Askharer wollten in sein Land eindringen, und er war es, der sie daran hinderte. Sein Zorn hatte endlich ein Gesicht bekommen, auf das er ihn richten konnte.
Jetzt saß er auf einen Stein um sich auszuruhen, ein Bein übergeschlagen und die Augen auf die langsam voranschreitende Dämmerung im Osten gerichtet. Feuchtigkeit stieg vom Boden auf, und er fröstelte. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie er überhaupt zurückkommen sollte. Für heute war es jedenfalls zu spät. Auf der Schotterschulter würde man ihn sofort entdecken und gnadenlos über den Haufen schießen. Aber auch hier auf dem offenen Feld war er keineswegs sicher. Alarmiert wandte Raen seinen Kopf auf der Suche nach einer geeigneten Deckung, in der er den Tag verstreichen lassen konnte. Denn er würde frühestens in der nächsten Nacht versuchen können, wieder auf heimischen Boden zu gelangen. Im Süden des Grenzfeldes erhoben sich im Anschluss an das flache Gelände und wie zum Trotz gegen das mächtige Gebirge, das sie wie Stiefkinder in die niederen Regionen abgeschoben hatte, hohe Felsen und Wald. Darin war ein Einschnitt, eine breite Schlucht, durch welche die alte Handelsstraße nach Süden führte, und auf der jeden Tag das askharische Heer neu aufmarschierte. Raen kam ein Geistesblitz. Es wäre bestimmt eine gute Gelegenheit, von einer der dort umgebenden Felswände aus nächster Nähe beobachten zu können, wie die Soldaten unter ihm durchzogen. Er würde den Feind in aller Ruhe auskundschaften können. Rasch erhob er sich und lief geduckt im Zwielicht der weichenden Nacht das Feld hinab, bis ihn der vorgelagerte Wald empfing. Zielsicher bewegte er sich zwischen den Stämmen der hochgewachsenen Tannen, die noch jegliches Licht des hereinbrechenden Tages verschluckten, und fand einen kleinen, vom Tau glitschigen Aufstieg zu den steilen Klippen, welche die Schlucht flankierten.
Oben angekommen, suchte er sich eine geeignete Stelle, von der aus er hinab in den breiten Engpass sehen konnte. Dann wickelte er sich in die Decke, ließ sich an einen dicken Stein gelehnt nieder und wartete darauf, dass die Schatten der Nacht sich endgültig verzogen. Er wurde schläfrig und nickte trotz des feuchten Nieselregens, der einsetzte, auf der Stelle ein.

Ein lautes Wiehern ertönte und ein schneller Hufschlag auf steinigem Boden. Er hallte die Felswände hinauf und eilte dem galoppierenden Pferd voraus. Es war rot, tiefrot, und mit wehender Mähne kam es angeprescht, durchmaß mit kraftvollen Sprüngen die Schlucht und kam mit schlitternden Hinterhufen schließlich zum Stehen. Dann bäumte das Blutpferd sich auf, schüttelte den Kopf und schrie - die roten Tropfen aus seinem Fell fielen ins Gras. Es vollführte einen beinahe wahnsinnigen Tanz, als versuche es den Betrachter auf etwas aufmerksam zu machen. Aber was war das? Hinter ihm in den hohen Tannen bewegte sich etwas. Nein, anders herum. Etwas bewegte die Tannen. Etwas Großes ... Schwarzes ... Spinnenförmiges? Es knackte laut, und nun fuhr auch das Blutpferd herum. Es rollte mit den Augen und bleckte sein Gebiss. Erneut stieg es und schlug mit den Vorderhufen in die Richtung des Getöses aus. Berstend fielen einige Tannen um. Das Pferd senkte die Vorderhand wieder, krümmte erbost den Hals und stürmte dann in vollem Galopp auf das wankende und krachende Dickicht zu. Mit einem schrillen Wiehern wurde es von ihm verschluckt.

Mit einem Ruck erwachte Raen wieder und sah sich verwirrt um. Hatte ihn nicht gerade jemand gerufen? Er richtete seinen Oberkörper auf und spähte in seine Umgebung. Doch da war natürlich niemand außer den Bäumen und Felsen im trüben Morgenlicht. Er fröstelte, etwas Unheimliches lag über der Schlucht, an deren Boden dünner Nebel hing.
„Ach, du hast bloß geträumt!“, sagte er zu sich selbst und blickte kurz hoch in den drohend wolkenverhangenen Himmel. Dann rückte er sich an seiner harten Lehne zurecht und schloss erneut die Augen, seinen behelmten Kopf unter der Decke an den Stein gelegt.
Raen! Er schreckte wieder auf. Etwas stach ihn in den Hintern. Er kramte unter der Decke nach dem spitzen Stein, der ihn piesackte, fand aber nur seinen Zhangha-Beutel, auf den er sich gesetzt hatte.
‚Da ist die Pfeilspitze drin’, drang es träge in sein Bewusstsein und plötzlich wurde er hellwach. Er warf die Decke zurück. ‚Ja, natürlich! Die Pfeilspitze.’ Er holte sie hervor und drehte sie in den Händen. Sie glühte seltsam warm, und ihr goldenes Licht war der einzige Farbklecks im fahlen Grau des frühen Morgens.
„Was willst du? Sag es mir!“, flüsterte er beschwörend auf den kleinen Gegenstand ein, als ob dieser auf seine Frage antworten könnte. Natürlich blieb die Spitze stumm, und Raen ließ sie sinken. Über die Tannenspitzen hinweg betrachtete er das Gelände zu seinen Füßen, das allmählich seine Einzelheiten offenbarte. Er selbst befand sich auf der westlichen Felskante der Schlucht und zu seiner Linken lag das Feld, das sich über knapp zwei Meilen erstreckte und an der Schotterschulter endete, auf der obenauf die Mauer thronte, schwarz und imposant. Aus dieser Blickrichtung machte sie sogar einen noch mächtigeren Eindruck, welcher eindeutig von der Steigung der Schulter und an guten Tagen bestimmt noch von dem dahinter aufragenden Junghal unterstützt wurde. Leider war das Massiv heute nebelverhangen und die Löcher, die an drei Stellen in der Mauer klafften, weniger ein Anblick, der auf ihre Mächtigkeit vertrauen ließ.
‚Damit ist jetzt endgültig Schluss!’, dachte Raen, der beinahe liebevolle Gefühle für das schützende Bauwerk hegte, so als sei es ein Teil seiner Familie. ‚Keiner wird dir mehr Schaden zufügen, dafür habe ich gesorgt.’ Sein Blick streifte die außer Gefecht gesetzten Katapulte und blieben an einem bunten Stück Stoff hängen, das er ganz und gar aus dem Sinn verloren hatte: Das Kommandozelt des Königs von Askhar!
„Verflixt! Ist es das, was du mir zeigen wolltest?“ Er schimpfte auf seine eigene Gedankenlosigkeit. In dem Zelt dort hätte er sich verstecken und warten können, und zwar auf den König der Feinde selbst! Wenn er schon einmal hier war, dann konnte es doch auch seine Aufgabe sein, zu versuchen, das Oberhaupt der Askharer zu töten. Dann wäre der Krieg mit Sicherheit zu Ende, genau wie er zu Ende wäre, wenn der Prinz von Hy in die Gefangenschaft Askhars fiele. Raen überlegte fieberhaft. Dem König in dem Zelt aufzulauern, war riskant, es konnte zuerst ein anderer eintreten und dann würde er auffliegen, noch ehe der König in seine Nähe käme. Außerdem wusste er nicht, wie der König überhaupt aussah. Raen verwarf diese Idee. Aber was konnte er stattdessen tun? Unbewusst knetete er in der Rechten die Spitze. Seine Finger öffneten und schlossen sich und mit einem Mal hielten sie inne. Raen hob die Hand und starrte auf die Spitze.
„Du wirst es für mich tun! Das ist es, was die Prophezeiung will, nicht wahr? Du wirst diesem ganzen Unsinn hier ein Ende bereiten, und ich werde das anstelle von Zaizura entscheiden! Oh, ehrenwertes Orakel, verzeih mir, dass ich so begriffsstutzig war! Aber noch ist es ja nicht zu spät.“ Er warf die Spitze gut gelaunt in die Luft, fing sie wieder auf und ging zu seinem Köcher. Er holte mehrere Pfeile daraus hervor, die er kritisch begutachtete. Der Pfeil, den er brauchte, musste einen schönen, geraden Schaft haben. Er durchsuchte den Köcher und legte die in Frage kommenden zur Seite. Alle hatten die bewährte, weiße oder graubraune Befiederung aus Gänsefedern, welche einen besonders schnellen und stabilen Flug gestatteten.
Mit größter Sorgfalt wählte Raen schließlich einen Pfeil aus. Er betrachtete dessen Spitze: Ein schmales Blatt mit Wiederhaken aus legiertem Eisen. Diese Spitzen waren nur für den Krieg. Raen nahm sein Messer und löste den mit Birkenpech verklebten dünnen Hanfzwirn, welcher die Spitze im Schaft hielt. Danach klopfte er mit dem Messerrücken das Pech an dem längs aufgeschlitzten Schaftende weich, und die Pfeilspitze fiel aus ihrer Halterung. Wenn er doch nur Feuer hätte, um das Pech zu erwärmen, dann könnte er die neue Spitze ordentlich am Schaft verkitten. Doch es war zu gefährlich bei diesem feuchten Wetter ein Feuerchen zu entzünden. Die Rauchfahne wäre sofort meilenweit zu sehen. Es musste also so gehen. Er passte den Dorn der neuen, goldenen Spitze in die Einschnitte des Schaftes, wickelte den Zwirn so fest er konnte wieder darum herum und verknotete ihn. Probeweise wackelte er an seiner Konstruktion und war damit zufrieden. Sie musste ja auch nur einem einzigen Schuss standhalten. Anschließend rückte Raen bis an die Felskante vor und begutachtete auf dem Bauch liegend das Gelände in der Schlucht.
Wenn das Askhari-Heer aufmarschierte und wie gewöhnlich hinter den Katapulten Stellung bezog, würde er sich im Rücken des Königs befinden. Den würde er wahrscheinlich daran erkennen, dass er die prächtigste Rüstung von allen trug, davon ging er zumindest aus, und von Erzählungen her wusste er, dass er immer am Ende seines Heeres unter den Bannern des Königshauses ritt. Alles worauf er also zu achten hatte, war viel schimmerndes Gold und die gekrönte Schlage. Raen versuchte, sich den Mann in seiner schmuckvollen Rüstung im Schoß seiner Eskorte vorzustellen, umweht mit flatternden, roten Flaggen. Vor seinem inneren Auge sah er ihn unter sich in der Schlucht vorbeireiten und schätzte, wie weit er dabei wohl von ihm entfernt sein würde. Nicht weiter als sechzig bis siebzig Schritt vermutete er, aber es war nicht einfach, die Entfernung von einem solch erhöhten Punkt aus genau zu bestimmen. Er konnte sich auch täuschen, und dann würde er sein Ziel verfehlen. Er musste warten, bis dort unten Menschen waren, die ihm einen Anhaltspunkt geben würden. Er blickte in den Himmel, der heller wurde, aber noch nicht aufklarte. Weißer Dunst hing über der Landschaft, ein gutes Zeichen dafür, dass kaum Wind ging. Wie bei einer Jagd hielt Raen einen angefeuchteten Finger in die Luft.
‚Im gewissen Sinne befinde ich mich hier ja auch auf einer Jagd’, dachte er, ‚auf einer Menschenjagd!’ Und nachdem er sich diese Tatsache bewusst gemacht hatte, erkannte er den entscheidenden Vorteil daran: Menschen verfügten bekanntlich über weit schwächere Sinne als die Tiere, deshalb waren sie zumeist vollkommen arglos und gar unvorsichtig. Sie mussten also wesentlich leichter zu jagen sein als ein Tier.
Er kroch vom Rand weg und stand auf. Aus seiner Tasche holte er sich etwas von der Verpflegung und aß hungrig das Brot und den Schinken. Seinen Durst stillte er mit ein paar Zügen aus dem Wasserschlauch und anschließend ließ er seine Arme kreisen, um die Schultern beweglich zu machen. Er nahm seinen Bogen, stellte sich an die Felskante und spähte die Schlucht entlang nach Süden, wo sie sehr breit wurde, und die alte Handelsstraße sich wie ein schlammiges Band durch das Gras wand. Aber dort tat sich bisher nichts, bis auf die recht große Anzahl von Rauchfahnen, die viel weiter hinten aus dem Wald aufstiegen: Dünne, graue Fäden, die sich in den Dunst des Morgens mischten. Dort musste das Heerlager der Askharer sein, und gerade wurden die Feuer der Nacht gelöscht. Raen stellte sich stabil hin und zog seinen Bogen ein paar Mal probeweise aus, damit sich seine Muskeln daran gewöhnten. Er hatte nur diese eine Gelegenheit, wenn er sein Ziel verfehlte oder gesehen wurde, war sein Versuch gescheitert und er würde um sein Leben rennen müssen.
‚Das werde ich so oder so tun, auch wenn ich mein Ziel treffe’, berichtigte er sich selbst. Aber dann hast du wenigstens deine Aufgabe, deine Prophezeiung, erfüllt! Es wäre nicht so schlimm, wenn du dabei ... Er horchte auf. War da etwas gewesen? Er wich von der Kante zurück und fiel in die Hocke. ‚Doch, es wäre schlimm, wenn ich dabei draufginge, dann würde ich Suneka nie wiedersehen!’, vollendete er schnell noch seinen Gedanken und lugte danach wieder vorsichtig in die Schlucht. Aber dort unten war immer noch nichts zu sehen. Raen konnte lediglich spüren, dass sich etwas verändert hatte. Das morgendliche Zwitschern der Vögel hatte innegehalten. Er blinzelte. Statt ihrer fröhlichen kleinen Stimmchen tönte jetzt etwas anderes die Schlucht herauf: Ein dumpfes, rhythmisches Schlagen - nur ganz schwach wahrnehmbar, bloß ein leichtes Vibrieren der Luft. Doch dann wurde es deutlicher und kurz darauf hörte es sich an, als hielte ein Riese seinen Morgenspaziergang. Es waren Kriegstrommeln, die den Schritt des Heeres vorgaben; ein drängender, zügiger Takt. Dazu gesellten sich bald das Klappern und Scheppern von Metall und das Peitschenknallen und Rufen der Fuhrleute. Und als schließlich die ersten Soldaten der Vorhut am unteren Ende der Schlucht aus dem Wald traten, tauchte auch die Sonne aus dem Dunst auf und stieg als geisterhafte, blasse Scheibe über der gegenüberliegenden Felskante empor.
Schnell wurde aus der Vorhut eine Kompanie, der eine zweite folgte und danach eine dritte. Raen duckte sich jetzt so flach auf den Fels wie er konnte, um gleichzeitig aber noch einen Blick über die Kante wagen zu können. Er war überrascht, wie schnell und diszipliniert die Soldaten marschierten, denn schon kurz darauf zog die Vorhut in regelmäßigem Gleichschritt unter ihm dahin. Berittene Krieger zu ihren Flanken sicherten das Gelände. Eine größere Lücke in der scheinbar endlosen Schlange des Fußvolkes kam erst, als die schweren Ochsenkarren heran rollten, die mit der Munition für die Katapulte beladen waren. Felsklötze und Fässer, die vermutlich mit dem Öl und Pech für die Brandgeschosse gefüllt waren. Die Tiere, vier je Wagen, arbeiteten hart in ihren Gespannen, um mit den Soldaten Schritt zu halten. Raen zählte zwölf Wagen, für jedes Katapult einen. Ihre Räder knarrten und ächzten den Weg hinan, und die Schreie der Ochsentreiber drangen die Wände der Schlucht hinauf, genau wie der Geruch nach schweißfeuchtem Leder, ungewaschenen Männern, Pferden und Metall.
Durch seinen Schlafmangel waren Raens Sinne kristallklar und angesichts eines so zahlreichen Feindes fühlte er sein Herz erstaunlich ruhig schlagen. Im Moment wähnte er sich in Sicherheit, genau wie die Askharer unter ihm. Sie sahen weder nach links noch nach rechts, marschierten einfach stur geradeaus. Einmal mehr bestaunte er ihre Rüstungen, die entweder aus unzähligen kleinen Metallschuppen bestanden, oder aus ganzen, dem Körper angepassten Platten. Es musste verdammt anstrengend sein, sie zu tragen, mutmaßte er, nicht ohne dabei etwas Achtung vor den Soldaten zu verspüren, aber andererseits machte es sie auch langsam und träge. Indessen ritt eine weitere Reihe Befehlshaber unter ihm hindurch. Ihre Rüstungen und Helme waren von frischerem Rot und wiesen die ein oder andere goldene Verzierung auf, aber immer noch zu wenig, um den König darin zu beherbergen.
Die Vorhut erreichte das Feld und schwärmte nach links und rechts auseinander, um den Nachkommenden Durchlass und Platz zu gewähren. Die berittenen Befehlshaber verteilten sich nach und nach auf ihre Einheiten. Es würde nicht mehr lange dauern, und die Freveltat an den Katapulten würde entdeckt werden, dachte Raen. Danach würden sie bestimmt das Gelände absuchen. Sein Herz begann nun doch schneller zu schlagen. Wo blieb der König?
Aus den Augenwinkeln gewahrte er plötzlich eine kleine Farbänderung im stumpfroten Körper der Armee. Er wandte seinen Kopf nach rechts, und was da vor der vielköpfigen Reiterei, inmitten einer grauuniformierte Garde und wehenden Bannern angeritten kam, waren mehrere prächtig geschmückte Rüstungen. Unwillkürlich krallten sich Raens Finger in den Fels. Nur welcher von denen war jetzt der König?
Die Gruppe kam näher. Die Visiere der Helme waren hochgeklappt, was Raen aber nicht viel half. Dennoch versuchte er, ihre Züge zu erkennen. Es waren drei bärtige Männer, einer von ihnen - der in der Mitte - war grauhaarig. Hinter dem Dreigespann ritt eine Reihe grauberockter, schmuckloser Soldaten, welche die Fahnen mit der sich ringelnden Schlange trugen und hinter ihnen noch mehr Reihen von Männern in auffälligen Rüstungen. Ihre Pferde und Umhänge waren alle mit unterschiedlichen Farben und Wappen geschmückt, ganz im Gegensatz zu den ersten drei, die alle in königlichem Rot gehalten waren. Raen konzentrierte sich also wieder auf die erste Gruppe und er brauchte nicht lange, um zu entscheiden, dass der ältere Mann in der Mitte der König sein musste, denn dessen Rüstung war mit Abstand die schönste. Sie war mit denen der anderen um ihn herum nicht zu vergleichen und zweifellos ein Meisterstück der königlichen Waffenschmiede von Askhar. Die vielen kleinen Stahlplatten, von einem klugen Kopf wohldurchdacht zu einem perfekten und erstaunlich beweglichen Schutzpanzer zusammengefügt, erinnerten Raen an eine glänzende Reptilienhaut. Aber sie hatte ein paar kleine, verletzliche Punkte, das wusste er. Nur war es fast unmöglich einen von diesen zu treffen - es sei denn, man war sehr gut und hatte obendrein noch Glück!
‚Der Versuch ist es wert!’, sagte er sich und suchte den richtigen Griff um das Handstück seines Bogens. ‚Ich habe immerhin eine Prophezeiung, die hinter mir steht, und das ist doch fast gleichbedeutend mit Glück!’ Er legte den Pfeil auf, und dachte nicht weiter über sein Können nach, denn wenn es stimmte, was seine Lehrmeister sagten, so war er ein guter Schütze. Die Gruppe um den König kam langsam näher. Er kalkulierte die Entfernung zum günstigsten Punkt und kam zum selben Schluss wie schon zuvor: Es waren sechzig Schritt mit steilem Gefälle.
Raen machte sich bereit und wollte sich gerade aus seiner Hockstellung erheben, als ein Reiter in wildem Galopp vom Feld her in die Schlucht geprescht kam und erst vor dem Dreigespann sein Pferd zügelte. Der König hob den linken Arm und der Tross kam zum Stehen. Aufgeregt debattierte der Reiter mit dem König. Raen schoss die Erkenntnis bis in seine Haarspitzen, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Sie hatten die toten Wächter bei den Katapulten entdeckt, und nun warnte der Bote den König! Gleichzeitig kam ihm aber noch ein anderer Gedanke: Der König hatte soeben etwas getan, dass jene Stelle freigab, die es bei einer askharischen Rüstung um jeden Preis zu schützen galt. Das war die Chance! Raen bewegte sich so langsam er konnte und hob den Bogenarm. Der König palaverte unterdessen weiter mit dem Boten. Laute Flüche schallten herauf. Natürlich verstand Raen sie nicht, aber Flüche erkannte man in jeder Sprache an ihrem Tonfall.
‚Jetzt komm schon, heb endlich deinen Arm’, dachte er ungeduldig, denn er war sich dessen gewahr, dass er weithin sichtbar dastand. Es war eine Frage der Zeit, bis eines von den Abertausenden Augenpaaren dort unten hinaufsah und ihn erspähen würde!
Lange, riskante Atemzüge vergingen. Der König schien zu zögern. Er wirkte nervös und unentschlossen, was sich auf sein Pferd übertrug, denn es begann zu tänzeln. Das machte es natürlich nicht leichter, einen sauberen Treffer zu landen. Raens Atem ging immer schneller. Da wies der König plötzlich nach vorn, und der Bote wendete sein Pferd und galoppierte wieder aus der Schlucht heraus.
„Gleich wird er den Befehl zum Weitermarsch geben, ... und dann ist er fällig!“, sprach sich Raen selbst zuversichtlich Mut zu. „Aber vorher musst du ruhiger werden, deine Hand zittert ja wie Espenlaub.“ Er ließ den König jetzt keinen Wimperschlag mehr aus den Augen. Ein paarmal atmete er tief durch, und langsam konzentrierte sein Innerstes sich auf seinem Blick, und sein Blick wurde zum Pfeil. Sein Denken schaltete sich aus. Unter ihm blinkten die Rüstungen der Feinde in der morgendlichen Sonne; ein Moment des Stillstands, in dem Raen sogar die kleinen Fliegen summen hörte, die um ihn herum schwirrten. Dann ein scharfer Ruf.
Danach war alles, was noch geschah, allein die selbsttätige Gewohnheit eines gut trainierten Bewegungsablaufes. Raen zog die Sehne aus, der König hob seinen linken Arm, und im selben Moment öffneten sich Raens Finger - ungewollt ruckartig, wie er bestürzt feststellte. Aber der Pfeil war längst auf seinem Weg! Fast lautlos sauste er hinab. Raen schloss die Augen. Der Schuss war miserabel. Er würde versagen!
Aber ein Schrei ließ ihn seine Augen wieder öffnen und er konnte gerade noch sehen, wie der König sich krümmte und tödlich getroffen vom Pferd fiel. Der Pfeil war tief in seine Achsel gedrungen.
Mehr brauchte Raen nicht zu sehen, er schleuderte alles von sich, was ihn beim Laufen behindern konnte und nahm seine Beine in die Hand. Mit halsbrecherischen Sprüngen hechtete er die Klippen hinab, wobei er auf dem feuchten Moos ein paar Mal gefährlich ausglitt, sich mit wild rudernden Armen aber wieder fing und weiter sprang. Im Wald verschluckte ihn wieder die Dunkelheit. Er warf einen hektischen Blick in alle Richtungen. Hier war niemand, aber da von rechts kamen mehrere Reiter den Waldrand entlang galoppiert, und vor ihm auf dem Feld würde ihm das aufmarschierte Fußvolk den direkten Weg zur Mauer abschneiden. Zu Fuß war es vollkommen unmöglich, dorthin zu gelangen, ohne vorher von den Soldaten erwischt zu werden. Er schlug einen Haken nach Westen, aber im Wald kam er nur schlecht voran, und die Reiter verfolgten ihn immer noch vom Waldrand her.
‚Ich habe keine andere Möglichkeit’, dachte er und blieb kurz stehen, um die Situation zu überdenken. ‚Ich muss dort hinaus aufs Feld, hier sitze ich früher oder später in der Falle wie das Wild bei einer Treibjagd!’ Er setzte sich wieder in Bewegung, um kurz vorm Waldrand noch einmal Halt zu machen. Hinter einen Strauch geduckt betrachtete er das Feld. Vor ihm in etwa hundert Schritt Entfernung standen die Kompanien in ordentlichen Reihen und nur ungefähr fünfzig Schritt von ihm entfernt die dazugehörigen Befehlshaber, ein jeder hinter seiner Kompanie. Sie schienen noch nichts von dem zu wissen, was soeben in der Schlucht geschehen war, aber sie wandten ihre Köpfe in die Richtung der Reiter, die brüllend den Waldrand entlang geprescht kamen. Aber ihre Rufe waren wohl noch zu unverständlich, denn die Befehlshaber auf ihren Pferden blieben bewegungslos an ihrem Fleck. Raen betrachtete den Befehlshaber, der ihm am nächsten war, und dann wieder die herannahenden Reiter. Der erste von ihnen hatte einigen Abstand zu den anderen und war nicht mehr weit von seinem Versteck entfernt. Kurzentschlossen zog er sein Schwert aus dem Schultergurt und spurtete los, aus der Deckung des Waldes hinaus.

Die Eskorte glotzte ungläubig auf den gefallenen Körper. Prinz Setna öffnete das Visier des Helmes seiner grauen Leibwächterrüstung, und auch Bhuras sah überrascht auf den General, der zu Füßen seines Pferdes lag. Kasais Gesicht blickte nach oben, aber seine Augen waren geschlossen, so als hätte er sich nur zu einem kleinen Nickerchen niedergelegt. Ein Pfeil steckte unter seinem Arm.
‚Er hat den Tod nicht kommen sehen. Glücklicher alter Mann!’, dachte Bhuras. Es war kein besonderer Pfeil, bloß ein gewöhnlicher Kriegspfeil wie alle anderen, doch welch ein unglaublicher Schuss! Bhuras riss seinen Kopf nach oben und suchte die hohen Klippen um sie herum ab, aber da war niemand mehr. Er betrachtete wieder den General. Er war nach rechts von seinem Pferd gefallen und der Pfeil steckte in seiner linken Achselhöhle. Demnach musste der Schuss mit aller Wahrscheinlichkeit von dort oben gekommen sein. Bhuras sah auf die Klippe zu seiner Linken. Aber von wem zum Teufel?
Die Leibwächter versuchten, hektisch das Gelände abzusichern, eine Hälfte schwärmte aus, und die andere stellte sich schützend um Setna auf. Noch war kein einziges Wort gesprochen worden, es herrschte nur sprachloses Durcheinander. Der Prinz ignorierte die Sicherheitsmaßnahmen um seine Person. Er warf sein Lanzenbanner von sich, stieg ab und trat zu dem gefallenen General. Er kniete sich hin und nahm Kasai den Helm ab. Der Kopf wollte kraftlos nach hinten fallen, aber Setna hielt ihn behutsam, ja fast liebevoll fest. Kasai wirkte friedlich - und sehr alt. Bhuras sah die tiefen Furchen in seinem Gesicht nun zum ersten Mal als Indiz seines Alters an und nicht als die seiner kriegerischen Verwegenheit. Der Prinz zog einen Panzerhandschuh aus und hielt zwei Finger unter die Nase des Generals. Dann schüttelte er den Kopf; sein Gesicht war dabei eine ausdruckslose , sein Mund ein schmaler Strich. Eine ungesunde Blässe kroch über seine Wangen.
„Er ist tot“, waren dann die ersten nüchtern klingenden Worte, welche die erschrockene Stille durchbrachen. „Er ist, verdammt noch mal, tot!“ Setna sah hinauf zu dem Felsen, die Brauen ein finsterer Balken über seinen Augen. Seine glatte Gesichtshaut wurde noch bleicher, und allein das unheimliche Glitzern in seinen kohlschwarzen Augen und die leicht geblähten Nasenflügel verrieten etwas über die Feuersbrunst, die sich in seinem Innern zu einem Sturm zusammenbraute. Bhuras behielt den Prinzen im Auge, er kannte dessen spezielle Eigenheit, bei zunehmender Rage immer ruhiger zu werden. Schon vor einiger Zeit hatte das Setna bei Hofe den Spitznamen „Holzgesicht“ eingebracht. Natürlich nannten sie ihn nur hinter seinem Rücken so, aber auch jetzt stellte Bhuras wieder fest, dass es ein sehr zutreffender Name war.
Setna blinzelte vogelartig und erhob sich steif. Einen Moment stand er unschlüssig da, unentwegt auf die Klippe starrend.
Einer der Herzöge kam angaloppiert und zügelte bei ihnen sein Pferd. Er erkundigte sich bei Bhuras nach dem General, lenkte ihn für einen Moment ab. Wie von der Sehne geschnellt sprang der Prinz plötzlich los, und noch ehe Bhuras oder ein anderer ihn aufhalten konnte, war er auf sein Pferd gehechtet und stob davon.
„Prinz! Bleibt hier, es ist zu gefährlich. Der Schütze könnte hier noch irgendwo sein! Prinz Setna, so hört doch!“ Bhuras hielt in seinem Ruf inne. „Verdammt!“, verfluchte er sich selbst. ‚Du hast den Prinzen verraten, du Esel!’ Bhuras fackelte nicht lange, er brüllte der reaktionsträgen Leibgarde den Verfolgungsbefehl zu, ließ den verblüfften Herzog stehen und gab seinem Pferd ebenfalls die Sporen. Sie mussten den Prinzen einholen und zur Vernunft bringen.

Die Fußsoldaten der letzten, sich noch im Aufmarsch befindenden Kompanie verdrehten neugierig ihre Hälse nach dem unplanmäßigen Reiter und der Gruppe der Verfolger, die sich rücksichtslos an ihnen vorbeidrängten.
Setna galoppierte aus der Schlucht hinaus. Er bebte vor Wut und das erste Mal in seinem Leben war er aus der Fassung geraten. Aber dass es jemand wagte, den General direkt vor seinen Augen zu erschießen, war zu viel von dem gewesen, was er und sein Überraschungen verabscheuendes Gemüt verkrafteten! Er hatte die Augen zu Schlitzen verengt, damit der Wind des Galopps ihm nicht zu viele Tränen heraus trieb. Er wusste nicht genau, ob seine Wut mehr der verabscheuungswürdigen Tatsache des Hinterhaltes galt, oder dem Mord an seinem verehrten Mentor. Eigentlich war es aber auch egal, denn derjenige, der dem General ein solch erniedrigendes Ende gebracht und ihm, Setna, einen derart heimtückisch bösen Schrecken versetzt hatte, war ein und dieselbe Person. Auf sie konzentrierte er nun all seine Gedanken.
Wer es auch war, er würde bitter dafür büßen! Ob nun ein verräterischer Askharer, der keine Ehre besaß und für eine finstere Sache seine eigenen Landsleute meuchelte, oder ein Graçener, der, angeheuert von irgendeinem arglistigen Drahtzieher, unbefugt nach Askhar eingedrungen war und die Gelegenheit des Kriegszustandes ausgenutzt hatte, war egal. Er würde ihn noch an Ort und Stelle hinrichten!
Setna trieb sein schnaubendes Ross an. Es war ein schwer gepanzertes Kriegspferd, zu behäbig, um es so schnell zu reiten, und auch der unbequeme, hölzerne Gefechtssattel war nicht gerade das Richtige für ein Rennen, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Immer wieder rammte er dem Pferd die Sporen in den Bauch, bis es blutete.
„Wenn ich dich in die Finger bekomme, du Verräter, dann werde ich dich abstechen wie ein Schwein!“, presste er hervor und in blinder Wut lenkte er sein Pferd weiter am Waldrand entlang. Hinter ihm schrien Bhuras und die restlichen Verfolger, er solle stehen bleiben.
Dann geschah etwas, das er niemals für möglich gehalten hätte.
Wie aus dem Nichts stand plötzlich eine schwarzgekleidete Gestalt vor ihm und riss die Arme hoch. Das nächste, was Setna wahrnahm, war der grelle Himmel über ihm und der harte Aufschlag seines Körpers auf dem Boden. Sein Pferd war vor Schreck gestiegen und hatte ihn abgeworfen. Mit der Last seiner Rüstung fiel es ihm schwer, sich wieder aufzurichten. Hastig griff er nach seinem Schwertgriff. Doch sein Angreifer war offenbar nicht an ihm interessiert, er schwang sich behände auf das Pferd, das er am Zügel eingefangen hatte und machte Anstalten, seine Flucht fortzusetzen.
„Halt! Bleib hier, du Dreckskerl! Hyaunischer Teufel!“ Setna schwang seine Waffe, aber die Rüstung zog ihn erneut zu Boden. „Verflucht, haltet ihn doch auf!“, brüllte er den berittenen Befehlshabern, die nicht weit von ihm bei ihren Kompanien standen, zu und versuchte, ungeschickt wieder auf die Beine zu kommen, wobei er sein Schwert als Stütze benutzte. Die Offiziere setzten sich gehorsam in Bewegung. Viel zu langsam, wie Setna wutschnaubend fand.
Schließlich holten ihn Bhuras und die Leibwache ein. Der Untergenerla sprang von seinem Pferd und eilte auf ihn zu.
„Seid Ihr verletzt?“, stieß er besorgt hervor.
Setna, seine Haltung zurückerlangend, zog sich den Helm vom Kopf und schleuderte ihn auf die Erde. Sein Gesicht war die gewohnte starre Maske, aber in seiner Stimme bebte der Zorn. „Ihr verdammten Trottel! Lasst ihn nicht entkommen!“, schrie er den Soldaten hinterher, die jetzt die Verfolgung des Attentäters aufgenommen hatten. An Bhuras gewandt sagte er nur abweisend: „Nein, ich habe nichts.“ Und nach einer kurzen Atempause: „Es war ein Hy!“
„Ein Hy?!“, entfuhr es mehreren Männern gleichzeitig.
„Ja, doch! Spreche ich etwa so undeutlich? Es war einer von diesen Hundesöhnen.“
„Aber ...?“ Bhuras schien verwirrt. „Aber, wie kommt der hierher?“, vollendete er schließlich doch noch seinen Satz.
„Richtig. Wie kommt der hierher?“, fragte Setna giftig in die Runde. Sein Atem ging noch schnell von der Verfolgungsjagd.
„Gebt mir Euer Pferd, ich will hinterher und sehen, ob sie ihn kriegen!“, forderte er mit ausgestrecktem Arm Bhuras auf, der seine Hände hob.
„Ho, mein Prinz …, ich meine, mein Herr, ach was, das ist doch jetzt eh zum Teufel! So wahr ich hier stehe, werdet Ihr Euch nicht in Gefahr bringen! Der König wünscht nicht, dass ...“
„Ist der König in diesem Augenblick etwa hier? Seht Ihr ihn hier irgendwo? Nein. Und der General ist tot. Wer also, frage ich Euch, ist unter all diesen hirnlosen Idioten hier nun folglich derjenige, der hier die Befehle gibt? Das bin ich, richtig! Und jetzt her mit Eurem Pferd, Untergeneral!“ Setna griff nach den Zügeln, und Bhuras ließ ihn mit zerknirschter Miene gewähren.
„Mein Prinz, seid doch bitte vernünftig“, versuchte er lediglich noch einmal ruhig, ihn von seiner Torheit abzubringen, aber Setna hörte nicht und machte sich davon.
Ihm hinterher schauend verfluchte Bhuras den Jungen: ‚Dieser hitzköpfige Welpe! Wenn ihm etwas passiert, dann bin ich gleich mit dran! Aber andererseits’, dachte er, einer Eingebung folgend, ‚wenn ich ihn davor bewahre, dann stellt mich das beim König gleich noch viel besser. Das wäre ein vorzüglicher Einstand für meinen neuen Posten!’ Kurzentschlossen ließ er sich das Pferd eines der Leibwächter aushändigen und nahm erneut die Verfolgung auf.

Raen hatte großes Glück gehabt, dass er die Zügel des erschrockenen Pferdes zu fassen bekommen hatte. Der Soldat am Boden hatte ihm nicht weiter gefährlich werden können, so sehr war er auf ulkige Weise damit beschäftigt gewesen, sich in seiner schweren Rüstung aufzurichten. In einer anderen Situation hätte Raen sich darüber köstlich amüsiert, doch die Lage war im Augenblick alles andere als spaßverheißend. Nachdem er sich auf das schon reichlich erschöpfte Tier geschwungen hatte, schlug er nun einen Bogen um das linke Ende des Gefechtsfeldes. Wenn er es bis hinter die Katapulte schaffte, dann wäre er schon so gut wie in Sicherheit, dachte er, zumindest konnten ihm dann seine Leute von der Mauer aus Deckung mit ihren Pfeilen geben, sofern sie ihn nicht selbst gleich vom Pferd schossen, weil sie ihn nicht als einen der Ihren erkannten.
Die langgestreckte Flanke der Soldaten flog in etwa vierzig Schritt Entfernung an ihm vorbei; eine rötlichbraune Masse, aus der Standarten und Speere emporragten wie die Borsten eines Wildschweinrückens. Raen hielt seinen Blick fest auf die Mauer geheftet. Er wollte nicht sehen, welch Übermacht zu seiner Rechten lauerte.
Er hörte, wie scharfe Befehle bis in die vordersten Reihen der Soldaten gebellt wurden, wo schließlich Unruhe entstand. Pfeile wurden aus Köchern gezogen und Bögen auf den Flüchtenden ausgerichtet.
‚Es ist nicht mehr weit, dort sind schon die Katapulte, und ...’ Weiter kam Raen mit seinem Gedanken nicht, denn sein Pferd geriet ins Straucheln. Er verlagerte sein Gewicht und half dem Tier dabei, die Balance wiederzugewinnen ... und dann sah er, was der Grund dafür gewesen war. Ein Pfeil steckte in der Panzerung am Hals des Tieres, und Blut troff darunter hervor. Die Bögen der Soldaten spannten sich ein zweites Mal, und erst jetzt nahm Raen mit all seinen entsetzten Sinnen wahr, wie winzig seine Chance war, den Pfeilen zu entkommen.
Obwohl die Katapulte nur noch wenige Galoppsprünge vor ihm lagen, riss er das Pferd herum und drehte nach Westen ab. Er spürte einen scharfen Schlag im Oberschenkel und einen betäubenden Schmerz. Seine Hände krallten sich in die Mähne, gerade rechtzeitig, denn wieder stolperte sein Pferd, das in sein Hinterteil getroffen worden war. Verzweifelt stelle Raen fest, dass er in die falsche Richtung ritt und sich immer weiter von den Löchern in der Mauer entfernte. Tief duckte er sich über den Pferdehals. Eine weitere Salve Pfeile zischte an ihnen vorbei, verfehlte sie aber. Unter höllischen Schmerzen brachte er sein Pferd schließlich dazu, erneut die Richtung zu ändern. Er musste zur Mauer! Für einen kurzen Moment wurde ihm schwarz vor Augen und er drohte den Halt zu verlieren. Reflexartig krallte er sich noch fester in die Mähne. Als er wieder klar sehen konnte, erkannte er, dass die Schotterschulter nicht mehr weit war. Oben auf der Mauer konnte er sogar einzelne Köpfe ausmachen. Gerne hätte er ihnen zugerufen, aber er bekam seine zusammengekrampften Kiefer nicht auseinander. Dann war er an der Schulter und änderte ein letztes Mal die Richtung zurück nach Osten. Das schäumende Pferd wurde immer langsamer und fiel schließlich in einen unregelmäßigen Trott. Mit jedem holperigen Schritt übertrugen sich die Bewegungen des Pferdekörpers direkt auf den Pfeilschaft, der seinen Oberschenkel durchbohrt hatte und im hölzernen Sattel steckte. Raen brach eiskalter Schweiß aus, bei dem Versuch die Bewegungen auszugleichen. Eine schwindelnde Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus, und er musste ein paar Mal trocken würgen. Endlich kam vor ihm eines der Löcher in Sicht, und er gab dem strauchelnden Pferd den Befehl, die Schulter hinaufzugehen. Das widerstrebende Tier aber hielt an. Es war am Ende seiner Kräfte.
„Bitte, bring’ mich dort hoch, ich kann ja nicht von dir absteigen! Na, los“, raunte er dem Pferd beschwörend zu und trieb es an. Doch es blieb, wo es war, zu erschöpft, um den Aufstieg im tückischen Geröll zu wagen. Raen stützte sich mit den Armen vorn auf den Sattel und entlastete die Wunde. Der brennende Schmerz raubte ihm fast die Sinne.
„Bitte, geh doch, Pferd! Geh!“, flehte er. Das Pferd atmete schwer und wankte.
„Nein, bleib auf den Beinen, halt durch! Jetzt nicht umfallen!“, rief er ihm panisch zu.
Ein Zittern durchfuhr den langen Rücken unter ihm. Das Wanken wurde stärker. Verzweifelt wand Raen seine letzten Kräfte auf und zerrte an dem Pfeil in seinem Bein. Aber außer, dass es seine Schmerzen nur noch verschlimmerte und noch mehr Blut hervorquoll, tat sich nichts. Er zerrte trotzdem weiter, biss sich auf die Unterlippe, bis auch sie blutete. Ein Vorderbein des Pferdes knickte ein, doch es blieb unter einem Stöhnen mühsam stehen. Raen zog und zog und gab wimmernde Töne von sich. Und plötzlich waren wie durch ein Wunder helfende Hände zur Stelle. Sie stützten ihn und durchschnitten vorsichtig den Pfeil an der Stelle, wo er in den Sattel eingedrungen war. Erlöst sackte Raen kraftlos vom Rücken des Pferdes und wurde sanft aufgefangen. Er bekam noch mit, wie er den Schotterhang hinaufgetragen wurde, und die ärgerlichen Stimmen seiner Landsleute, doch dann wurde die Welt um ihn herum schwarz, und mit einem letzten lächelnden Gedanken an seine gewagte Tat tauchte er hinab in die samtenen Tiefen der Ohnmacht.
Er hatte seine Prophezeiung erfüllt und er würde Suneka wiedersehen, denn er war am Leben!

Die beiden Verfolger, Setna und Bhuras, hatten nur noch zusehen können, wie der flüchtende Hy die Mauer erreichte, und sie zügelten ihre Pferde bei den Katapulten. Weiterzugehen, wäre glatter Selbstmord gewesen, davon hatte Bhuras den Prinzen schließlich doch noch überzeugen können. Gemeinsam beobachteten sie, wie die Hy ihren Kameraden hoch zur Mauer trugen, ihn über das Geröll durch das Loch hievten und dahinter verschwanden.
„Verflucht sei der Hurensohn!“, stieß Setna giftig aus. „Und mit ihm seine gesamte hinterhältige Sippschaft von Schweinehirten! Wie konnten wir nur so dumm sein und uns von diesen Bauerntölpeln derart vorführen lassen? Ich kann es einfach nicht glauben!“ Er hob einen Zeigefinger in Richtung der Mauer. Bhuras bemerkte, wie der Prinz einmal heftig schluckte und dann fortfuhr: „Aber in Zukunft wissen wir eines mehr von euch: Ihr seid nicht so anständig, wie ihr vorgebt zu sein. Und ich schwöre euch hier und heute, dass ich nicht eher ruhen werde, bis ich euch vernichtet habe. Euch, eure Frauen und eure Kinder! Ich werde Kasai rächen!“
Bhuras stimmte Setna nickend zu. Auch er wünschte sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als den Hy die peinliche Schmach dieser ersten Niederlage zurückzuzahlen. Allerdings mischte sich in seinen empfundenen Hass auf den Feind auch ein wesentlich angenehmeres Gefühl, und Bhuras verbarg sein herauf drängendes Siegergrinsen hinter einer betroffenen Miene. Auch, wenn es offenbar kein von Lata angeheuerter Schütze gewesen war, der Kasai auf so unschöne Weise beseitigt hatte, war der Weg trotz allem nun endlich frei! Frei für General Bhuras!

37. Kapitel


Vom Tor aus kam Suneka freudestrahlend auf ihn zugelaufen. Er hielt Jakori an, stieg ab und lief ihr entgegen. Über ihren Köpfen stiegen die sanften, traurigschönen Klänge des Heimkomm-Liedes in die abendliche Sommerluft auf. Suneka fiel ihm in die Arme, und er presste sie an sich. Es war schön, sie endlich wieder zu haben, sie als Teil der Realität zu spüren. Er vergrub seine Hand in ihrem offenen Haar, und seiner Liebsten rollten vor Glück die Tränen über ihre geröteten Wangen.
„Endlich bist du wieder da! Ich habe dich so vermisst!“, flüsterte sie durch ihre heftigen Schluchzer und schlang ihm die Arme um den Hals.
„Aber jetzt bin ich wieder da!“ Glücklich gab er ihr einen langen Kuss. Ihre Lippen waren weich, und er schmeckte ihre Tränen. Er war zu Hause, SIE war sein Zuhause!

Nur widerwillig löste er sich von diesen wärmenden Bildern. Zuhause. Ein drängendes Gefühl zog ihn davon weg. Nein, ich will zu Hause bleiben! Lasst mich doch zu Hause sein! Das Drängen wurde ein Fordern, und Raen begann seinen Kopf hin und her zu werfen. Warum darf ich nicht zu Hause bleiben! Fremdes Licht drang schneidend zwischen seine Bilder. Ich will nicht! Es löste sie auf. Er hob abwehrend eine Hand - als könne man Licht vertreiben. Es wurde heller und heller und schob sich unter seine Lider. Nein! Nur langsam öffnete er seine Augen. Schmerzhaft zogen sich seine Pupillen zusammen. Es war ungewohnt, und es brauchte eine ganze Zeit, bis sich die drehenden Elemente zu einem neuen Bild zusammengesetzt hatten. Da war ein Fenster, durch das grelles Licht fiel, ein hölzerner Wandschirm mit grünen Ornamenten bemalt, da waren massive Deckenbalken, ein Schrank und ein Gesicht, nein, es waren zwei. Das Drehen legte sich etwas. Ja, ganz sicher, es waren zwei Gesichter. Aber kannte er sie? Nein, ich glaube nicht, dachte er sich ganz unbeteiligt und schloss die Augen wieder. Zurück zu den warmen Bildern. Zurück zu Suneka.
„Raen!“
Doch, diese Stimme kannte er.
„Raen!“
Ja, ganz bestimmt. Nur woher? Eine Hand legte sich auf seine Stirn, berührte dabei versehentlich sein Aun.
Vater! Seine Augen flogen auf.
Roman beugte sich über ihn, als er zu sprechen versuchte, aber er brachte nur ein trockenes Krächzen hervor.
Das andere Gesicht neben seinem Vater bewegte sich. Es war eine junge Frau, und kurz blitzte es in Raens Gedächtnis auf, doch er konnte dem Gedanken nicht folgen.
„Hier trink etwas“, sagte die Frau und hielt ihm einen Becher hin. Raen hob mühsam den Kopf, und sie stützte ihn. Das ungewohnte Nass rann salbend seine Kehle hinunter, und er trank so viele kleine Schlucke, wie er konnte. Danach musste er sich erst einmal von dieser Anstrengung ausruhen, bis er seinen nächsten Versuch startete, zu sprechen. Seine Stimme klang brüchig und fremd in seinen Ohren: „Wieso bin ich hier?“ Er hob eine Hand an den Kopf. Er war heiß. „Bin ich krank?“
Sein Vater sah unschlüssig aus. „Kannst du dich nicht erinnern?“, fragte er.
Raen kräuselte die fiebrige Stirn. Seine Erinnerungen waren wirre Bilder, die er nicht deuten konnte, aber vor allem sah er Suneka, wie sie auf ihn zulief.
„Sind wir in Shari?“
„Nein, wir sind noch immer in Doban.“
„In Doban?“ Raen versuchte sich zu entsinnen, was es damit auf sich hatte. Doban? Die Grenze. Krieg? Nur sehr langsam setzten sich die Bilder in die richtige Reihenfolge. Er sah sich auf der Mauer stehen, die Katapultgeschosse flogen durch die Luft und er roch Rauch; er sah Kaeras Gesicht, ein Buch mit Aufzeichnungen, sah sich durch die Dunkelheit schleichen und das Loch in der Mauer.
„Vater, ich habe ...!“, rief er plötzlich, aber dieser unterbrach ihn.
„Schhh, ruhig. Erzähle es später, du musst dich noch ausruhen. Du bist verletzt und hast hohes Fieber.“
„Aber ich ...“ Raen wehrte sich gegen die Hand, die ihn sanft aber bestimmt wieder auf sein Lager zurückdrücken wollte. Da fuhr ihm ein stechender Schmerz durch seinen rechten Oberschenkel.
„Oh!“, stöhnte er auf und fiel zurück auf sein Kissen. Sein Gesicht war blass und schweißglänzend. Nur die frische Narbe leuchtete rot auf seiner Wange.
„Der Pfeil hat dein Bein sauber durchschlagen“, meldete sich die junge Frau wieder zu Wort. „Der Knochen ist unbeschädigt geblieben, es ist nur Muskelgewebe betroffen, aber die Wunde hat sich entzündet. Der Pfeil war verschmutzt gewesen, wahrscheinlich mit Kot, das tun die Askharer für gewöhnlich. Du musst dir Mühe geben, ruhig liegen zu bleiben, damit sich die schlechten Säfte der Entzündung nicht noch weiter in deinem Körper ausbreiten!“
Raens glänzende Augen richteten sich auf die Frau, und jetzt erkannte er sie. Sie war die Medizi, der er damals - wie lange war es eigentlich her? - geholfen hatte, Anin zu versorgen, und mit der er sich hinterher gestritten hatte. Und auch jetzt blickte sie sehr ernst.
„W-werde ich mein Bein verlieren?“, fragte er angstvoll.
„Wenn die Entzündung zurückgeht, dann nicht!“
Roman sah die Medizi vorwurfsvoll an, die seinen Blick zu verstehen schien, denn sie erklärte: „Du musst vor allem ruhig liegen, hast du verstanden! Deshalb ist dein Bein auch in einer Schiene.“ Raen nickte, zu schwach, um seine Augen noch länger offenzuhalten.
„Bitte, lasst mich nicht im Stich ...“, flüsterte er kaum hörbar, und obwohl ihn der Gedanke, sein Bein zu verlieren, entsetzte, sank er in einen fiebrigen Schlaf zurück. Dort, tief in seinen unruhigen Träumen, empfing ihn erneut Suneka mit strahlenden Augen und ausgebreiteten Armen.

Das Fieber hielt Raen mehrere Tage in seinem glühenden Griff. Orientierungslos trieb er zwischen den Welten hin und her wie ein ermatteter Fisch, der im algenerstickten Teichwasser verzweifelt versucht, zum Atmen an die Oberfläche und damit gleichzeitig auch wieder in die Wirklichkeit zu gelangen. Aber immer wieder wurde er von trügerisch echten Bildern der Heimkehr oder den bizarren Fragmenten seiner traumgleichen Erinnerung an seine Taten im Grenzgebiet in die falsche Richtung gelockt. Real war einzig und allein der heftig pulsierende Schmerz, der immer dann seinen Körper überschwemmte, wenn die Wirkung des verabreichten Vedas nachließ. Mit scheinbar genüsslicher Absicht erinnerte er Raen in regelmäßigen Abständen an die unterbewusst wach gehaltene Angst um sein Bein. Dann wiederum war es, als hätte ihn eine von diesen kleinen, bösen Sonnen getroffen; aus wütender Rache auf ihn geschleudert von den Armen der lebendig gewordenen Katapultungeheuer. ‚Du hast uns zerstört und jetzt zerstören wir dich!’, riefen die Ungeheuer und taten ihre Freude darüber mit einem schnarrenden Lachen kund, das wie das Knarren von Holz auf Holz klang, während die kleine Sonne an ihm fraß und sich tief in sein Fleisch brannte. Und wenn er dann an sich hinab auf sein Bein sah, kamen lodernde Flammen daraus hervor. Farblos flimmernd warfen sie seine verkohlte Haut in Blasen wie auf Anins Rücken.
Von Panik gepackt versuchte er, sie zu löschen, schlug mit den Händen wild um sich, und die junge Medizi, die wachend an seinem Lager saß, hatte alle Mühe, sie einzufangen und ruhig zu halten.
Zwischen diesen zwei Zuständen war er gefangen wie ein Schiff im Sturm, und wenn Raen nicht gerade die wirren Bilder neckten und lockten, so quälten ihn die Visionen von dem Feuer, das unaufhaltsam weiter sein Bein zersetzte und bald bis zu dem bloßliegenden, rosableichen Knochen vorgedrungen war.
Mitten in einem dieser verrückten Momente, in dem er von dem einen Zustand in den anderen wechselte, war es ihm schließlich, als sehe vollkommen klar. Überrascht blinzelte er in die Gesichter einiger Medizi, die sich über ihn gebeugt hatten. Sie berieten sich unbekümmert darüber, ob es noch einen Sinn hatte, das Bein noch länger dran zulassen, ganz ungeachtet dessen, dass er sie genau verstehen konnte.
Mitleidig schüttelten sie ihre Köpfe - eine Geste, die ihm einen kalten Schauer über den verschwitzten Rücken jagte.
Und ehe sich Raen versah, fesselten sie seine Arme mit Ledergurten an den Tisch und holten ein großes Messer und eine Säge hervor. Entsetzt versuchte er, sich zu wehren. Sein Mund öffnete und schloss sich, aber kein Ton kam heraus, dann spürte er ein Beißholz zwischen den Zähnen. Verzweifelt würgte er an den Riemen und wand sich mit letzter Kraft, doch das führte nur dazu, dass noch zusätzliche stahlharte Hände ausgestreckt wurden, um ihn erbarmungslos auf den Tisch zu pressen.
„Nein, um Himmelswillen, nein!“, wimmerte er machtlos. „Bitte nicht!“
Doch das Messer wurde am Ansatz seines Oberschenkels angesetzt, gleich unter dem Hüftgelenk, und als sie den ersten Schnitt durch Haut und Muskeln taten, fuhr Raen mit einem erstickten Schrei auf und führte einen kraftlosen Schlag in Richtung der Gestalten aus, die ihn hielten. Doch statt einen von ihnen zu erwischen, fegte er lediglich durch die Luft und sah schließlich in das Gesicht der jungen Medizi - oder war es Suneka, die ihn da anlächelte? Die Lippen der dunkelhaarigen Frau bewegten sich und er versuchte angestrengt, ihnen zu folgen, doch er verstand nicht, was sie sagte. Gehetzt sah er sich um. Zu seiner großen Erleichterung konnte er aber weder die Medizi, noch ein Messer oder ein anderes furchteinflößendes Instrument erblicken. Schlagartig wich die Anspannung aus seinem Körper, und erschlafft fiel er zurück in sein schweißfeuchtes Kissen. Er spürte ein kühles Tuch auf seiner Stirn und eine fürsorgliche Hand, die über seine Wange strich.
„Oh, Suneka, wie gut, dass du wieder da bist“, flüsterte er. „Du glaubst ja nicht, was sie soeben tun wollten! Sie wollten mir tatsächlich das Bein abnehmen! Aber jetzt ist es wieder gut, sie haben noch einmal davon angelassen. Ich werde bald gesund sein und dann komme ich zu dir!“

Roman blickte von einem der Wachttürme aus über das verwaiste Gefechtsfeld. Es regnete in Strömen. Die Katapulte duckten sich in der Ferne wie frierende Schneider. Sie schwiegen jetzt schon seit fast zwei Wochen und auch sonst war nicht viel Aktivität im Grenzgebiet gesichtet worden. Seit Raens eigenmächtigem Ausflug war das askharische Heer nicht wieder aufmarschiert. Doch der Gedanke, der sich Roman aufzudrängen versuchte, war so unerhört, dass er es kaum wagte, ihn zu denken. War es tatsächlich Raen gewesen, der das Einhalten der Askharer bewirkt hatte?
Roman sah hinab zu den Resten des Pferdekadavers, auf dem heute nur ein einzelner Rabe saß, den sonst aber stets die Geier aus dem Junghal in Beschlag genommen hatten. Aber seine Gedanken kreisten unaufhörlich weiter: Hatte Raen anstelle Zaizuras entschieden und sie alle gerettet, so wie es in der Prophezeiung geheißen hatte? Vielleicht ist es aber auch nur das durchgängig schlechte Wetter, das den Angriff gestoppt hat, wandte seine Vernunft ein. Du solltest dich lieber etwas in deiner Euphorie bremsen, sonst erregst du noch Aufsehen!
Der Rabe unten auf dem Kadaver wippte scheinbar zustimmend mit dem Kopf und krächzte dabei seinen kehligen Ruf.
Roman ließ seinen Blick wieder zu den bewegungslosen Gerüsten der Katapulte wandern. Zu gern hätte er gewusst, was Raen dort unten alles angestellt hatte. Aber seit man seinen Sohn vor zwei Tagen für sein Vergehen abgetadelt hatte, redete er nicht mehr viel, nicht einmal mit ihm. Roman erinnerte sich an den stummen Vorwurf im Blick seines Sohnes, als dieser auf seinem Krankenlager von Clanchef Lako, Kensa und dem Oberpriester von Doban besucht worden war. Roman selbst hatte im Hintergrund gesessen und schweigend zugehört, wie sie maßregelnd auf Raen eingeredet hatten, der gerade erst am Tag zuvor vollends aus seinem Fieber erwacht war. Es war eine schonungslose Strafrede gewesen, und sie hatten nicht viel Rücksicht auf seinen Zustand genommen. Roman hatte still mit ihm gelitten, aber er hatte nicht eingreifen oder ihn gar verteidigen können. Das Geheimnis um die Prophezeiung verdammte ihn zu absolutem Stillschweigen. Und so hatte er die drei Männer, die das hyaunische Gesetz vertraten, ihre Anschuldigungen gegen Raen ungehindert vorbringen lassen. Sie konnten ja nicht ahnen, daSS der Junge nach weitaus höheren Gesetzen gehandelt hatte als den ihren, und deshalb auch nicht unter die hyaunische Gerichtsbarkeit fallen sollte, aber leider konnte Roman sie nicht über ihren Irrtum aufklären. Mit quälendem Gewissen hatte er auf seine Hände gestarrt, und erst, als die beiden hohen Krieger und der Hyaunset suer gegangen waren, hatte er seinen Sohn ansehen können. Dessen gekränkter Blick hatte ihn tief getroffen, und beinahe hätte er sich dazu hinreißen lassen, Raen alles zu offenbaren: Seine wirren Empfindungen, die in ihm vorgingen; dass er sich sehr mit ihm verbunden fühlte, gleichzeitig aber auch beschämt, zornig, voller Hoffnung und auch Stolz war - allem voran aber unendlich erleichtert, dass die Prophezeiung sich endlich erfüllt hatte. Doch all das musste er für sich behalten und alles was er in seiner einsamen Qual schließlich hatte vorbringen können, war, sich in einer hilflosen Geste des Dankes vor seinem Sohn zu verneigen.
Jetzt blickte Roman wieder auf seine Hände. Sie lagen auf dem steinernen Sims des oberen Wehrganges des Wachtturmes. Der Regen trommelte unaufhörlich auf das Dach über ihm und übertönte das Zähneklappern des Wachtpostens neben ihm. Der hatte sich gegen die ungewöhnliche Kälte in eine dicke Wolldecke gehüllt und sich sogar die Regenhaube über den Kopf gezogen, obwohl es unter dem Dach trocken war. Aber sie wärmte wenigstens die Ohren. Gedankenverloren starrte der Posten in die tiefhängenden Wolken, und sein Atem stieg sichtbar von seiner Nase auf. Roman, ohne wärmende Decke ausgestattet, fröstelte bei dem Anblick. Es war wirklich arg kalt geworden und auf den Bergen in ihrem Rücken war sogar Schnee gefallen. Dabei war es doch Sommer! Er verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Schultern hoch.
‚Jetzt sehe ich selbst aus wie ein frierender Schneider’, dachte er und lächelte müde. ‚Wie froh werde ich sein, wenn wir alle bald nach Hause zurückkehren können!’ Er wusste, dass er unter all den vielen Kriegern seines Volkes der einzige mit wirklich begründeter Hoffnung auf eine baldige Heimkehr war und am liebsten hätte er jedem einzelnen von seinen Kameraden ermutigend auf die Schulter geklopft und gesagt: „Seid unbesorgt, die Askharer werden nicht mehr kommen, der Krieg ist zu Ende. Mein Sohn hat ihn beendet! Er hat es geschafft. Ich weiß es so sicher, wie ich Hyaun geschworen habe, Ihm immer zu dienen!“ Aber natürlich konnte er es nicht. Dafür würde er in Kürze erlöst sein und eine Last weniger zu tragen haben. Endlich - nach zwanzig langen Jahren! Roman seufzte. Mittlerweile war es dieser Gedanke, der ihm am meisten Zuversicht verlieh. Natürlich schämte er sich über sein egoistisches Glücksgefühl in Grund und Boden, in Anbetracht dessen, dass Raen dafür den Schaden hatte. Aber was sollte er tun? Ohne zu Zögern hätte er dessen Strafe, so schwer sie auch ausfallen mochte, sofort auf sich genommen. Ein wenig tröstete er sich damit, dass sein Sohn stellvertretend für sie alle für das Wohl des Volkes eingetreten war und dadurch wie ein wahrer Krieger Hyauns gehandelt hatte! Und genau das würde Hyaun auch anerkennen, war sich Roman gewiss. Er, der Erhabene, würde zweifellos noch einlenken und dafür sorgen, dass die anderen erkannten, dass sie Raen zu Unrecht verurteilten.
Und dann würde das Licht kommen, so wie nach dem Regen die Sonne wieder hinter den Wolken hervorkam, und der Frieden. Ein weiterer volltönender Seufzer entstieg Romans Brust. Der Krieger neben ihm sah ihn an.
„Nicht, dass ich den Regen je geliebt hätte, aber im Moment ist er doch ganz nützlich, er hält die Askharer vom Feld“, sagte Roman zu ihm. „Ich gehe wieder runter und komme nachher wieder, um dich abzulösen.“ Der Krieger nickte und blickte wieder aufs Grenzland hinaus.
Roman stieg die Stufen zu den unteren Stockwerken hinab. Dort brannte ein Feuerchen in einem Kamin und rundherum drängten sich durchgefrorene Gestalten, die sich gedämpft unterhielten. Das Wetter, so vorteilhaft es sich auch für sie auswirkte, drückte ihre Stimmung. Roman setzte sich schweigend zu seinen Kameraden und hielt seine Hände in die abstrahlende Wärme des Kamins. Seine Gedanken waren immer noch bei seinem Sohn, der im Krankenlager des Chorten gut versorgt wurde und auf dem Wege der Genesung war.

*



„Verdammt noch mal!“, knurrte Katthike und schlug mit der Faust auf den Tisch. Er saß in seinem gemütlich warmen Zimmer im umgebauten Chorten in Braud, und um ihn waren seine engsten Berater und Prinz Setna versammelt. Draußen regnete und stürmte es seit Wochen und das nasskalte Grau der Tage schlug allen aufs Gemüt, als seien die tiefhängenden, regenschweren Wolken direkt bis zu ihnen ins Zimmer geweht worden.
„Ich habe es satt, mich ständig wiederholen zu müssen. Noch einmal: Ich sagte Nein, und dabei bleibt es! Und jetzt schert euch gefälligst raus! Alle, bis auf Lata und Bhuras.“ Mit einer herrischen Bewegung seines Armes scheuchte er seinen Beraterstab hinaus und hätte damit beinahe den Kelch mit dem heißen Wein umgestoßen, der auf dem Tisch vor ihm stand. Das Gesicht rot vor Wut, rieb er seine Handflächen aneinander und forderte Lata und Bhuras auf, sich ihm gegenüber zu setzen. Selbstverständlich war auch Setna im Raum geblieben. Er saß im Erker am Fenster und hatte abwechselnd mal in den verhangenen Himmel und mal hinüber zu den sich streitenden, gewichtigen Männern des Königs gesehen und sich schön herausgehalten. Die Debatte um die Fortführung des Krieges war ihm zu hitzig gewesen und außerdem hätte ihm sowieso niemand Gehör geschenkt. Also hatte er schweigend den drängenden Argumenten der Berater gelauscht, die den König dazu überreden wollten, den Krieg abzublasen.
‚Den Krieg beenden, pah! Diese feigen, bequemen Hunde!, dachte Setna. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er, egal ob es wie aus Kübel schüttete, sofort wieder zum Angriff geblasen. Sicher, die Katapulte waren nicht einsatzfähig, dafür hatte dieser verteufelte Meuchelmörder ebenfalls gesorgt, aber sie hatten drei Breschen in der Mauer und das war immerhin etwas. Und bis die Katapulte wieder repariert waren, konnte man doch den ein oder anderen Vorstoß unternehmen, denn schließlich hatten auch die Hy unter dem schlechten Wetter zu leiden. Er hatte sogar eine Idee, wie man die Reiterei die Schotterschulter hinauf bekommen und somit die volle Stärke des Heeres einsetzen könnte, ohne dass sie zuerst eine Straße anlegen müssten. Auf Menschen- und Pferdemaß vergrößerte Hühnerleitern waren seiner Ansicht nach die Lösung; stabile Holzplanken mit Querverstrebungen darauf, einzelne, leicht zu transportierende Teile, die mit schweren Kettengliedern vor Ort verbunden wurden. Er war kurz davor gewesen, es dem alten General zu erzählen, doch dann war der Anschlag dazwischen gekommen. Und mit Kasai hatte er den einzigen Menschen verloren, der ihm stets gewillt Gehör geschenkt und ihn trotz seiner onkelhaften Obsorge nicht wie einen kleinen, zerbrechlichen Jungen behandelt hatte. Jetzt würde er das Ganze vorerst wohl für sich behalten können und die Kriegsspezialisten sich selbst und ihrem klugen Geschwätz überlassen, denn mehr brachten sie derweil nicht zustande.
Setna hatte sich ein hysterisches Lachen verkneifen müssen, als er mit angehört hatte, dass die Katapulte nicht alle sofort wieder instandgesetzt werden konnten, da die Zeugmeister nur Ersatzseil für drei Maschinen im Lager hatten, und der Rest erst in Braud gedreht werden musste. Und hier in der Stadt fehlte es wie zum Hohn auch noch an Rohhanf. Welch schlechte, stümperhafte Vorbereitung! An alles hatten sie gedacht nur an das nicht. Setna verbiss sich die säuerliche Spottlust, die er verspürte, da sie auch seinen General in schlechtes Licht stellte. Aber keiner von ihnen hätte auch nur im Traum daran gedacht, ein Hy könnte die Maschinen sabotieren. Und allein schon die Tatsache, dass ein einziger dieser primitiven Bauernkrieger seinen Nichtangriffspakt, oder wie auch immer sie dieses alberne Gesetz nannten, einfach missachtet und die Grenze überquert hatte, säte Furcht unter den Soldaten und beim König. Einfach lächerlich, fand Setna. Aber Katthike fühlte sich mit einem Mal nicht mehr sicher. Er wollte die Belagerung abbrechen und nach Askhari-Kaise zurückkehren.
Setna schnaufte leise verächtlich, denn er schätzte die Bequemlichkeit und die anderweitigen kostspieligen Interessen seines Vaters nicht gerade. Sie waren Katthikes Schwachpunkt und würden ihm eines Tages noch Kopf und Kragen kosten. Mit den Fingernägeln kratzte er über das Holz des Fensterbretts und versuchte, seinen aufsteigenden Ärger zu verdauen. Er würde daran ohnehin nichts ändern können. Noch nicht. Nur mit halber Aufmerksamkeit verfolgte Setna weiter das ungedeihliche Gespräch seines Vaters mit dem griesgrämig dreinblickenden Lata und dem neuen Obersten General, Herzog Bhuras.
„Mein König, gibt es denn wirklich nichts mehr, womit wir Euch überzeugen können?“, fragte Bhuras diplomatisch. Wenigstens er wollte weiterkämpfen, dachte Setna, auch wenn er den Herzog dafür hasste, dass dieser nun den Posten Kasais bekleidete.
Katthike verzog mürrisch das Gesicht. „Nein! Es ist beschlossene Sache, wir ziehen ab, sobald der Regen nachlässt und wir nicht mehr bis zu den Knien im Schlamm versinken. Zum Teufel, was ist bloß mit Euch? Warum wollt Ihr um jeden Preis diesen Krieg?“
Bhuras räusperte sich und strich sich mit seinen unpassend zarten Händen über den Bart.
„Der Kampf ist unser Leben, das Leben und die Seele des askharischen Volkes. Wir sind Krieger und wollen kämpfen, wir wollen das Reich erweitern und den Wohlstand mehren für Euer Großreich Askhar!“, erklärte er schließlich nicht ohne gewissen Stolz in der Stimme.
Der König zeigte ein nachsichtiges Lächeln. „Herzog Bhuras, ich habe Euch nach meinem guten Freund Kasai nicht zum Obersten General ernannt, damit Ihr jetzt Hals über Kopf meine Armee ins Verderben schickt! Das schlechte Wetter hin oder her, aber dies ist keine Belagerung einer Stadt oder einer Festung. Es ist eine Grenzmauer, und ich muss Euch ja wohl nicht erklären, was das heißt. Auch wenn wir noch so lange abwarten, ihr Hinterland gewährt den Hy unbegrenzt Vorräte und Nachschub an Kriegern. Unsere Männer dagegen werden immer unwilliger und, wie Ihr mittlerweile mitbekommen haben solltet, bringen nicht einmal erhöhte Rationen oder die Aussicht auf eine mögliche fette Kriegsbeute sie dazu, hier noch länger in diesem Regen herumzuhocken und zur Zielscheibe für einen oder gar mehrere weitere verrückte Attentäter zu werden - genau wie ich im übrigen! Ohnedies sind unsere Soldkassen leer, und die Graue Garde ist fortwährend nur damit beschäftigt, Deserteure wieder einzufangen und zu bestrafen. Wir verstümmeln uns selbst. Was also würdet Ihr mir jetzt als Oberster General, der immerhin die Verantwortung für das gesamte Heer trägt, raten und wie wollt Ihr es darüber hinaus gegenüber den Herzögen im Kriegsrat vertreten?“
Katthike durchbohrte Bhuras regelrecht mit seinen eisblauen Augen, und auch Setna war gespannt auf die Antwort des neuen Generals.
Doch der entgegnete selbstbewusst und untermalt von seiner wohl bedachten Gestikulationskunst: „Majestät, Ihr habt natürlich Recht, verzeiht mir meinen Versuch, für die Herzen der Krieger zu sprechen!“
„Ach was“, winkte der König ab. „Die meisten werden froh sein, diesen Ort hier endlich verlassen zu können! Die Herzen der Krieger sind leer, wie unsere Kassen. Nur gut, dass das der gute Kasai nicht mehr miterleben muss! So eine Schande!“
Setna ahnte, dass dem König der Verlust von General Kasai sehr nahe ging, immerhin hatte er einen Freund verloren und davon hatte er nicht besonders viele.
Während der Unterhaltung mit Katthike saß Lata vermeintlich gelangweilt da und hielt sich mit Äußerungen zurück. Sein Kinn hatte er in eine Hand gestützt, und sein Blick ging ins Leere. Aber irgendetwas schien in ihm vor zugehen, das erkannte Setna, obwohl der Berater versuchte, es hinter seiner aufgesetzten Gleichgültigkeit zu verbergen. Wurmte auch ihn das drohende Ende des Feldzuges? Aber was hätte er zu gewinnen gehabt, wenn es ihnen gelungen wäre, die Hy zu schlagen und über das Gebirge in das Hauptland vorzudringen? Kriegsbeute? Sklaven? Lata hatte bereits alles im Überfluss: Reichtum, Macht und Einfluss auf den König. Was konnte er also noch wollen, jetzt da sogar sein härtester Rivale das Zeitliche gesegnet hatte? Setna entsandte einen hassglühenden Blick gegen den Teilnahmslosigkeit vorheuchelnden Konsultas. Wäre es nicht ein schmutziger Hy gewesen, der den General gemeuchelt hatte, und hätte er ihn nicht mit eigenen Augen gesehen, so hätte er schwören können, dass der Mord an Kasai auf Latas Kappe ging. Setna spürte wie der Abscheu auf diesen Mann sich bitter in seiner Kehle staute und er wandte seine Aufmerksamkeit wieder auf den noch immer grimmig dreinblickenden König und Herzog Bhuras, der sich mittlerweile erhoben und seine schönen Hände vor dem Körper verschränkt hatte.
„Wie Ihr wünscht, Majestät. Der Krieg ist vorbei. Ich schlage vor, so schnell wie möglich den Kriegsrat davon in Kenntnis zu setzen und alsbald die Stellung zu räumen. Wir alle werden uns freuen, wenn die Sonne Askhars endlich wieder unsere kalten Knochen wärmt.“
Mit dieser Bemerkung des Generals schien sich die Laune des Königs augenblicklich aufzuhellen, denn beinahe erleichtert sagte er: „Gut, gut, General, so sei es. Heute Abend noch soll der Kriegsrat zusammenkommen. Ich wünsche, dass Ihr das veranlasst, Bhuras. Ihr dürft Euch nun zurückziehen, auch Ihr, Konsultas.“ Katthike warf dem wie beiläufig blinzelnden Lata einen Blick zu, der sich daraufhin mit einem Nicken erhob. Mit einer Verbeugung verabschiedeten er und Bhuras sich und sie verließen den Raum.

Als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, lehnte der König sich zurück und blickte unverwandt zu Setna hinüber, der vorgab, verträumt aus dem Fenster zu schauen. Regentropfen prasselten gegen die rautenförmigen Fenstergläser.
„Nun, mein Sohn, was sagst du dazu?“, hörte Setna seinen Vater tatsächlich fragen. Er wandte seinen Kopf und musste sich Mühe geben, ihn im Dämmerlicht des Raumes, in dem nur der Kamin vor sich hin schwelte, zu erkennen.
„Meine Meinung ist völlig unbedeutend, ich überlasse die Entscheidung lieber den Männern, die mehr Erfahrung von der Kriegsführung haben. Ich bin jung und habe noch viel zu lernen.“ Unter anderem auch, mit Enttäuschungen umzugehen, dachte er bei sich in harschem Zorn, doch sein Gesicht, das so grau wie der Tag war, blieb vollkommen unbeteiligt. So hatte selbst Katthike Probleme, zu erkennen, was sein Sohn wirklich fühlte.
„Ach, mein Junge, das ist weise gesprochen. Wir sollten uns mit dem unglücklichen Verlauf dieses Feldzuges nicht mehr weiter belasten. Es ist gut, dass wir nach Askhari-Kaise zurückkehren, dort ist es wenigstens warm und wir verschwenden nicht noch mehr Zeit, Geld und Nerven in dieser aussichtslosen Sache. Mir scheint, diese scheußlich kalten Berge hier wollen uns einfach kein Glück bringen.“
‚So, hatte ich es nicht gemeint, mein lieber Vater!’, dachte Setna ärgerlich. ‚Warum denkst du nur immerzu an deine eigene Behaglichkeit!’ Diese Kritik war nicht ganz gerecht, das war Setna klar, denn Katthike hatte bereits viele große Siege errungen und war dadurch zu Ruhm und Ehre gelangt. Und es war vielleicht doch ein wenig verständlich, dass er es nun mit fünfzig Lebensjahren und gut der Hälfte davon an Amtszeit langsam überdrüssig wurde, ins Feld zu ziehen. ‚Aber dann soll er es den Jüngeren überlassen, wozu bin ich sein Nachfolger!’ Setna gelang es nicht, sich zu beruhigen.
„Dann soll Kasai umsonst gefallen sein!“, machte er seinem Ärger Luft.
„Natürlich nicht!“ Sein Vater musterte ihn. „Aber es ist sinnlos dieses Unternehmen jetzt fortzusetzen zu wollen. Wir müssen auf eine andere Gelegenheit warten. Die Grenzmauer zu stürmen, hat sich leider als unmöglich herausgestellt. Und wenn die Hy jetzt auch noch angreifen ... nicht auszudenken! Armer Kasai, dass ausgerechtet er einem so feigen Hinterhalt zum Opfer fallen musste. Solch ein Ende hat der alte Dachs wahrlich nicht verdient!“, betonte Katthike seine echt empfundene Betroffenheit. Aber Setna ließ nicht locker.
„Soll das etwa heißen, ein einziger Mann hat das mächtige Heer Askhars besiegt und zum Rückzug gezwungen?“
„Nein, das heißt es nicht! Du hast doch gehört, welche Gründe wir dafür haben! Außerdem haben wir mit Kasai unseren besten Taktiker verloren. Nicht einmal sein Schüler Bhuras hat seine Klasse.“
Warum rechtfertigte sich sein Vater nur so vehement? Schämte er sich etwa doch für seine Kriegsmüdigkeit? Setna hätte es gerne gewusst, aber eines war ihm auf jeden Fall klar, der nächste Angriff auf Hy würde wahrscheinlich erst stattfinden, wenn entweder sein Vater in das Land der Götter gegangen und er selbst König wäre, oder Lata und Bhuras ihren Einfluss noch einmal geltend machen konnten. Doch letzterer Möglichkeit maß Setna nur wenig Chancen bei. Er ließ von seinem Vater ab und sah auf seine Faust hinab, in welcher der Gegenstand ruhte, der all seine Hoffnungen zunichte gemacht hatte, im Kampf ebenfalls zu Ruhm und Ehre zu gelangen und damit endlich auch als Mann und Krieger und nicht mehr als wohlbehütetes Prinzchen angesehen zu werden.
„Schon gut Vater, ich habe es verstanden“, räumte er unwillig ein und öffnete die Hand. Golden leuchtete ihm die Pfeilspitze entgegen, die er aus der tödlichen Wunde des Generals herausgeholt hatte. Sie hatte sich vom Schaft gelöst, als er den Pfeil gezogen hatte, und war mit den Widerhaken im Innern des Brustkorbes hängengeblieben. Nur mühsam hatte er sie, seinen Ekel unterdrückend und unter den missbilligenden Blicken Bhuras’, mit einem schmalen Stilett zwischen den Rippen aus der blutgefüllten Lunge des Generals herausoperieren können. Sein Vater dachte, es wäre reine Sentimentalität, die ihn dazu veranlasst hatte, die Spitze zu behalten, und das entsprach ein Stück weit auch der Wahrheit, doch da war auch noch etwas Anderes. Diese Spitze hatte etwas Besonderes und das fühlte Setna auf unwiderstehliche Weise jedes Mal, wenn er sie in der Hand umschloss und sie mit seinen Fingern umschmeichelte. Es war ein leichtes Vibrieren, das durch seine Haut in seine Adern drang und sich in seinen Körper legte wie ein vertrauter zweiter Herzschlag. Und Setna konnte nur schwer zugeben, dass es diese eine stille Sehnsucht in ihm weckte, die er über all die Jahre zumeist erfolgreich verdrängt hatte: Er wollte wissen, wer sein richtiger Vater war und warum zum Teufel er ihn gezeugt hatte!

*

„Oh, dieses undankbares Pack!“, brummte Raen und schlug mit der Hand auf die Decke.
Kaera saß bei ihm am Lager und hielt sein kleines Buch in den Händen. Er hatte Raen seit dessen Erwachen jeden Tag besucht, doch jetzt hatten sie zum ersten Mal dieses Thema angeschnitten.
„Psst, nicht so laut“, versuchte Kaera seinen Kameraden zu beschwichtigen.
„Wenn es aber doch so ist, du hättest sie mal hören sollen!“, zischte Raen noch etwas leiser, was er aber nur Kaera wegen tat, am liebsten hätte er es laut geschrien. „Sie haben mich regelrecht zusammengestaucht! Niedergemacht! Mich als einen Straftäter vor Hyaun und seinen Geboten hingestellt. Dabei war Er es, der mir gesagt hat, ich soll es tun.“ Das stimmte zwar nicht ganz, doch schließlich konnte Raen Kaera nichts von der Prophezeiung erzählen. Aber Soghul und Hyaun arbeiteten bestimmt zusammen, dachte er, und deshalb war es wiederum doch fast richtig. „Sie sind derbe laut geworden, als ich versucht habe, es ihnen zu erklären, selbst Kensa. Aber sie haben mir nicht zugehört, nicht ein einziges, gottverdammtes Mal! Sie haben gesagt, ich habe mir selbst, meiner Familie, dem Clan und meinem Volk große Schande bereitet, und es würde noch über eine Strafe beraten werden. Doch vorher soll ich, das hat der Oberpriester von Doban gesagt, vor Hyaun und Zaizura Abbitte leisten und mein Gewissen erleichtern. Ist das nicht absurd, ich habe den verdammten Krieg beendet und nun soll ich noch dafür bestraft werden?“
„Raen, bitte, fluche nicht so gottlos. Du weißt doch, so sind nun einmal unsere Gesetze, du selbst hast ihnen beim Al Aun deine Treue geschworen“, sagte Kaera in einem matten Versuch, Raen zu beruhigen, aber dieser hatte sich in Rage geredet und wetterte unaufhaltsam weiter: „Und mein Vater - ich hatte gedacht, er versteht mich! Die ganze Zeit über hat er bloß dagesessen und nichts gesagt. Nicht ein Wort! Dieser Feigling! Er ist doch auch nur einer von diesen allzu beflissenen Regelbefolgern, die zu allem, was der Clanrat verlangt, nur nicken und artig ja sagen!“
„Raen! So darfst du nicht über deinen Vater reden! Er glaubt an die Gesetze Hyauns, genau wie alle anderen auch. Es sind unsere Regeln, die Regeln der Kriegerkaste!“
„Pah!“ Raen verschränkte die Arme vor der Brust. Er ignorierte das Stechen in seinem Bein, das stärker geworden war, weil er sich so aufregte. Er hatte den Krieg beendet und dafür konnten sie ihm gefälligst dankbar sein, jeder einzelne verfluchte Hy. Er sah nicht ein, warum es schlecht gewesen sein sollte, nur weil er eine kleine Regelverletzung begangen hatte. Und wenn man damit etwas Gutes bewirkte, dann konnte es doch nicht ganz falsch gewesen sein.
„Ach ja, und dann wollte ich den Setna persönlich sprechen“, erzählte Raen schließlich weiter. „Ich wollte es ihm erklären, weil die ganzen anderen Dummköpfe mich ja nicht verstehen wollten. Da sind sie vollends ausgerastet. Was ich mir denn einbilden würde, wer ich sei, den Setna zu verlangen! Ich habe daraufhin gesagt, dass ich, wenn ich vor Hyaun ein Verbrechen begangen haben soll, auch den obersten Vertreter Hyauns sprechen möchte, denn ich bin mir sicher, er würde mich bestimmt verstehen. Daraufhin hat der Oberpriester empört ausgerufen, als Gotteslästerer und Gesetzesbrecher hätte ich keinen Anspruch darauf, dem Gesegneten persönlich gegenüberzutreten. Erst, wenn ich meine Strafe verbüßt und mein Gewissen befreit hätte, mich sozusagen von außen und innen gereinigt hätte, überhaupt dann erst dürfte ich darum ersuchen, möglicherweise den Setna sprechen zu dürfen.“
Kaera riss die Augen auf. „Du wolltest wirklich den Setna sprechen?“
„Ja, und ich will es noch. Ich rufe ihn ständig im Geiste an, vielleicht hört er mich ja und kommt auf diese Weise zu mir, dann kann ich ihm alles erklären.“
„Du bist ja verrückt! Ich würde es niemals wagen, danach zu fragen. Außerdem hätte ich Angst, dass er mir bis auf den Grund meiner Seele schaut, wenn er mich anblickt, und dann all die kleinen Vergehen sieht, die ich begangen habe.“
„Sei nicht albern, Kaera, meinst du, der Setna kümmert sich um dein kleines Buch, oder deine Zahlen? Denkst du, er ist ständig nur damit beschäftigt, unsere Gedanken nach etwaigen Unbotmäßigkeiten abzusuchen? Zum einen müsste er mich dann schon längst gefunden und zurechtgewiesen haben, und zum anderen hätte er ziemlich viel zu tun, glaube ich, bei über zehntausend Mitgliedern der Kriegerkaste in unserem Lande!“ Raen lachte leise. „Ich habe keine Angst vor dem Setna. Nein, ich möchte ihn nur sprechen, weil ich es nicht gerecht finde, derart scharf verurteilt zu werden für etwas Gutes, das ich getan habe.“
„Aber du warst da drüben und hast Menschen auf ihrem eigenen Grund und Boden getötet. Du hast eigenmächtig gehandelt und in Zaizuras Arm gegriffen! Das wird ihren Zorn auf uns lenken. Raen, was denkst du dir immer nur dabei?“, entgegnete Kaera sichtlich betroffen über seine Leichtfertigkeit.
‚Bei allen Dämonen der Unterwelt, ich habe eine Prophezeiung erfüllt!’ Raen war innerlich kurz vorm Zerplatzen. Sich nur mit Mühe beherrschend winkte er ab. Seine Kiefer mahlten so heftig aufeinander, dass die Muskeln hervortraten. ‚Wenn ich es doch nur irgendjemandem erzählen könnte. Oh, Hyaun, auch du bist nicht gerecht zu mir. Schickst mich in deinem Namen aus und verwehrst mir dann deine Unterstützung! Nicht einmal dein Stellvertreter will ein gutes Wort für mich einlegen. Aber ich werde es ohnehin allein durchstehen, egal wie schwer die Strafe auch sein mag. So schlimm wird es schon nicht werden.’
Da Raen nicht geantwortet hatte, fuhr Kaera mit seiner besorgten Rede fort: „Ich bin doch nur auf die Wiederherstellung deines Rufes bedacht! Du wirst im ganzen Land eine traurige Berühmtheit sein. Nur, wenn du tust, was sie von dir wollen, dann wird alles wieder gut. Gib ihnen, wonach sie verlangen und sie werden zufrieden sein. Dann werden sie es vergessen.“ Den nächsten Satz sprach er noch leiser: „Aber, egal, was sie tun, unsere Gedanken werden sie niemals mehr verändern können!“ Er verzog verschwörerisch das Gesicht.
Raen, mit einem Mal hellhörig geworden, musterte ihn eindringlich, entgegnete aber nichts.
„Damit will ich sagen“, raunte Kaera weiter, „dass dein Handeln aus meiner Sicht nicht grundsätzlich falsch war.“
„Danke, ich weiß das sehr zu schätzen, aber ich will nicht, dass du meinetwegen auch noch Schwierigkeiten bekommst“
Aber Kaera war noch nicht fertig, er schüttelte den Kopf und lachte leise. „Keine Sorge, denn im Gegensatz zu dir, weiß ich ganz gut, wie man sich aus Schwierigkeiten heraushält. Was ich dir mitteilen wollte, war, dass ich deine Tat in dieser Form an sich nicht gutheiße, dafür war sie viel zu leichtsinnig“, er hob einen Zeigefinger, „aber ich denke, ich kenne deine Absicht, die dahinter steckt.“ Er tippte mit dem gleichen Zeigefinger auf das Buch. „Du hast dir Gedanken gemacht und wolltest helfen, und allein aus diesem Grund war es richtig. Aber wir, das Volk Hy und die Kriegerkaste, haben nun einmal unsere Gesetze, und sie sind es, die uns von all den anderen gewissenlosen und weniger glücklichen Völkern unterscheiden. Wir sollten dafür dankbar sein und sie nicht als Hindernis für unser Handeln betrachten, sondern vielmehr als Hilfe. Sie sind der Dienst an unseren Gott und der Lohn für unser Volk. Wenn wir sie je brechen, sei es auch zu unserem scheinbaren Vorteil, dann sind wir es von diesem Tag an nicht mehr länger wert, sie zu besitzen.“ Mehr sagte Kaera nicht. Er senkte den Kopf und seine Finger strichen beinahe zärtlich über den Bucheinband.
Raen lehnte sich zurück und sah nachdenklich zum Fenster hinüber, durch das nur das trübe Licht eines der unendlichen Regentage fiel. Aus dem Munde Kaeras klangen diese Worte so einfach und richtig und weit weniger scharf und zurechtweisend, als er sie vom ‚Komitee für Lob und Tadel’ zu hören bekommen hatte, und wie gerne würde er sie so vorbehaltlos glauben.
„Es ist nicht leicht“, seufzte er.
Kaera hob seinen Blick nicht. „Ich weiß“, antwortete er schuldbewusst.

38. Kapitel



Lata hatte es weiterhin vermieden, Bhuras über den Weg zu laufen, und bis jetzt war ihm das auch ganz gut gelungen. Er wollte ihm keine Möglichkeit bieten, seine momentane Überlegenheit an ihm demonstrieren zu können. Er saß in seinem Zimmer, das ein Stockwerk unter dem des Königs lag, und hatte alles gepackt. Die Truhen standen abholbereit an der Tür.
Er war abreisefertig und freute sich, endlich aus diesem stinkenden Schlammloch von Stadt herauszukommen. Auch wenn es immer noch regnete und es windig war wie im Herbst, tauschte er dieses warme Zimmer doch liebend gerne gegen einen Platz in dem schaukelnden Pferdewagen ein, der ihn nach Askhari-Kaise bringen würde. Hier in diesem alten Chorten - er hatte es von Anfang an gehasst, die Hy-Festung als Quartier zu haben - beschlich ihn ständig das Gefühl, seine Vergangenheit könnte ihn erdrücken. Zu seltsam fühlte sich die Erinnerung in diesen wurmstichig gewordenen Wänden an, und etwas davon war gefährlich lebendig geworden. Mit gewissem Abscheu strichen Latas Hände über das Holz der Erkerbank unter ihm, so als ob er sich immer wieder versichern musste, dass es echt und damit auch seine Erinnerungen es waren. Er hatte in der letzten Zeit nur schwer einen klaren Gedanken fassen können, was nicht nur daran lag, dass sein Plan fehlgeschlagen war und er nun fürchten musste, Bhuras würde ihn möglicherweise an den König verraten. Es hatte in der letzten Zeit ein paar Momente gegeben, da war er nicht mehr Herr seiner eigenen Gedanken gewesen. Er war nachts aufgewacht und hatte noch seine eigenen Worte im Ohr gehabt, die er im Schlaf gesprochen hatte. Worte in einer Sprache, die er sich geschworen hatte, niemals wieder zu sprechen, und er war entsetzt darüber, dass sie sich ausgerechnet jetzt wieder einschlich. Zum Glück schlief er immer strikt allein. Nicht einmal eine seiner Konkubinen durfte die ganze Nacht über bei ihm sein, wenn er sich mit ihnen zuvor vergnügt hatte, und er verbat es sich ausdrücklich, Wächter oder Diener vor der Tür stehen zu haben.
‚Eine sehr weise Sicherheitsmaßnahme’, dachte er missgestimmt. Draußen hauchte der Wind seinen nasskalten Atem gegen die Fensterscheibe, und die Läden klapperten. Bei diesem Geräusch, lief ihm unwillkürlich ein Schauer über den Rücken.
‚Jetzt reiß dich zusammen, du Narr, in wenigen Stunden wirst du diesem Ort hier den Rücken zukehren.’ Er stand entschlossen auf. ‚Ich brauche Luft und etwas zu essen!’Er ging an den Truhen vorbei zur Tür. Gerade, als er sie öffnen wollte, klopfte es laut. Lata zog sie schwungvoll auf in der Erwartung, davor die Träger zu sehen, die sein Reisegepäck abholen wollten, doch als er in dem untersetzten Mann, der dort stand, Bhuras erkannte, stieß er scharf die Luft aus.
Der frisch ernannte Oberste General war allein, was darauf hindeutete, dass er in einer Angelegenheit von rein persönlicher Natur hier war. Nur unschwer konnte Lata den Grund dafür erraten, doch sollte der General sein Anliegen zuerst vortragen. Mit kalter Verachtung blickte er Bhuras an.
„Truchsess Lata, ich ersuche um ein persönliches Gespräch mit Euch, und zwar jetzt!“, erklärte Bhuras ohne jeglichen Deut an Höflichkeit in seiner Stimme.
Lata verzog herablassend das Gesicht, als er seinen Titel vernahm, bei dem er sonst nie genannt wurde, denn er bestand darauf, lediglich mit dem Titel Konsultas angeredet zu werden. Das sollte seine pflichtbewusste Bescheidenheit ausdrücken, um die er sich stets beflissentlich bemühte. Bhuras aber hatte eine scheinbar ganz genaue Ahnung, was er davon zu halten hatte, und das ärgerte Lata.
„Warum so förmlich, mein lieber General. Ihr wisst doch, ich erhebe keinerlei Anspruch auf diesen Titel, genau, wie Ihr Euch, ganz nach der bescheidenen Tradition Eures leider viel zu überraschend verstorbenen Vorgängers einfach nur General, anstatt Oberster Heerführer der Königlichen Armee zu nennen pflegt!“, versetzte er der Unverschämtheit seines Besuchers einen Gegenstoß. An Schlagfertigkeit hatte es ihm noch nie gemangelt und der wortbrüchige Bhuras würde schon noch merken, dass man sich mit ihm besser nicht anlegte, auch wenn er meinte, etwas gegen ihn in der Hand zu haben.
„Aber bitte, so tretet doch ein!“ Lata machte eine übertriebene Verbeugung mit einer Handbewegung in den Raum. Es hätte nichts genützt Bhuras abzuweisen, denn er war hier, um etwas Entscheidendes zu klären, das so oder so irgendwann auf den Tisch gekommen wäre. Warum dann also nicht jetzt? Lata versuchte, unbekümmert zu wirken, als Bhuras seine Aufforderung ablehnte, sich ihm gegenüber in den Erker zu setzen.
„Nun, seid unbesorgt, hier ist sonst niemand, außer meiner Wenigkeit. Ich habe dieses aufdringliche Dienervolk noch nie gerne in meiner Nähe gemocht.“ Lata lächelte säuerlich, während Bhuras einmal misstrauisch den Raum abschritt. Der General wollte wohl sichergehen, dass er keine seiner winkelzügigen Vorkehrungen hatte treffen können.
Nachdem Bhuras seinen Rundgang beendet hatte und offenbar zufrieden mit der Situation war, wandte er sich dem wartenden Lata zu. Er legte eine Hand betont lässig auf den Griff des Schwertes, das er an seiner Seite trug, um damit seine körperliche Überlegenheit zu unterstreichen. Wie beiläufig schaute er auf die für einen Kriegsmann gutgepflegten Nägel seiner anderen Hand und spitzte die fleischigen Lippen.
„Nun, mein Freund Lata“, begann er, und Lata dachte: ‚Ach, sieh an, nun auf einmal nennt er mich Freund!’
„Ich glaube, Ihr ahnt bereits, warum ich hier bin, deshalb keine langen Vorreden.“ Dafür war Lata dankbar, denn er hasste überflüssiges Geplänkel. ‚Nur zu, sprich es endlich aus, du verräterischer Hund!’, dachte er und wappnete sich.
„Ich weiß, nicht, was das Wort zu bedeuten hatte, welches Ihr in jenem denkwürdigen Augenblick benutzt habt“, fuhr Bhuras fort, „aber es ließe sich bestimmt leicht herausfinden. Ich könnte es aber auch dabei belassen, wenn Ihr ein Geschäft mit mir eingeht.“ Jetzt sah er durchdringend auf Lata hinab.
‚Oh ja, das kann er!’, dachte der Berater. ‚Sein Blick ist eindeutig seine Waffe, aber auf seine alberne Gestik falle ich nicht herein!’ Er fand es ekelhaft, ja, geradezu grotesk unnatürlich, wie vornehm der hässliche Bhuras beim Sprechen seine Hände bewegte, und fast wünschte er sich das simple und kunstlose Kriegergebaren Kasais wieder zurück. Der war wesentlich leichter zu durchschauen gewesen und ein viel müheloser zu beeinflussender Gesprächsgenosse.
„Und was für ein Geschäft wäre das?“, fragte Lata, als er lange genug gewartet hatte. Er setzte dem Blick Bhuras’ eine unschuldige Miene entgegen.
„Ihr werdet mir zusichern, Euch nie wieder in meine Belange einzumischen. Sämtliche Kriegsdinge sind für Euch von jetzt an nicht mehr von Interesse. Das bestimmen in Zukunft allein der König und ich. Ihr haltet Euch da raus! Ihr könnt lediglich Eure Zustimmung zu einem Feldzug geben, mehr aber nicht. Die restlichen Befugnisse, mit denen Ihr ausgestattet seid, gehören weiterhin ganz Euch! Sie sind für mich ohne Wert.“ Der letzte Satz triefte vor bissigem Sarkasmus. „Ach ja, ich vergaß, und wenn Ihr meint, Ihr könnt Euch darüber hinwegsetzen, dann -“
„- dann verratet Ihr mich an den König, nicht wahr! Ach, wie schön einfach Ihr es Euch doch macht! Aber seid Ihr wirklich sicher, Euch damals nicht verhört zu haben?“, erinnerte Lata den General an die Situation, in der Bhuras atemlos vom Schlachtfeld nach Braud geeilt war, um dem König vom Attentat und der Sabotage des Hy zu berichten. In Katthikes Vorzimmer war er auf Lata gestoßen. Er hatte Bhuras dazu gezwungen, zuerst ihm Bericht zu erstatten. Dabei war es geschehen, der unverzeihliche Lapsus! Und unglücklicherweise war ausgerechnet Bhuras Zeuge geworden. Dafür hatte sich Lata, der sich selbst als Meister in der Kunst der Verschleierung und Berechnung ansah, hinterher unzählige Mal verflucht. Nachdem der General ihm erzählt hatte, dass es sich bei dem Übeltäter um einen Hy handelte, der seine Grenze überschritten hatte, war Lata ein einziges Wort herausgerutscht. Zutiefst erschüttert und vollkommen unbewusst hatte er es vor sich hingemurmelt, doch Bhuras hatte es zu seinem Leidwesen sehr deutlich verstanden: ‚Sami Tekantosene!’
Lata war sich sicher, dass der Herzog mittlerweile herausgefunden hatte, was es bedeutete, auch wenn er das Gegenteil behauptete. Denn Bhuras war nicht dumm, das war Lata längst bewusst geworden. Das Wort, das ihm in seiner ursprünglichen Muttersprache, die er ja nie wieder hatte sprechen wollen, so unkontrolliert über die Lippen gegangen war, bestand eigentlich aus zwei Wörtern und bedeutete ‚Grenzübergeher‘ oder auch ‚Gesetzesübergeher’, was gleichbedeutend war mit ‚Verbrecher‘. Lata verfluchte diesen unseligen Tag und ahnte, dass Bhuras durch diesen ungewollten Hinweis gefährlich nahe an sein Geheimnis gekommen war und er dies nun als geeignetes Druckmittel verwenden wollte, sich aus ihrem einstigen Bündnis loszusagen. Lata entsann sich, wie leicht sich Bhuras hatte überreden lassen, in den Komplott gegen Kasai mit einzusteigen. Allein das Glück hatte es beschieden, dass der Herzog sich nicht selbst die Finger hatte schmutzig machen müssen, sondern ein völlig Unbekannter Mann Kasai niedergestreckt hatte. Und nun glaubte er, er hätte etwas gegen ihn in der Hand, weil er aus der Geschichte fein raus war. Aber Lata ließ sich nicht so einfach ausbooten, nicht ohne Grund war er der zweitmächtigste Mann in Askhar.
„Ja, ich bin sogar sehr sicher, mich nicht verhört zu haben“, entgegnete Bhuras indes mit altkluger Miene. „Meine Ohren sind schließlich noch jünger als Eure Zunge. Ihr sagtet ganz deutlich, Sami Tekantosene, spreche ich das richtig aus? Sami Tekantosene! Soll ich es noch einmal wiederholen?“
Lata blieb ungerührt. Aber innerlich wünschte er sein Gegenüber in die Verdammnis. Dann sagte er ruhig und schaute dabei zu Bhuras auf: „Sami Tekantosene, der Verbrecher und Grenzübergänger auf Hyaunisch. Das habt Ihr gut ermittelt, General. Ihr vergesst offenbar, dass ich dieser Zunge mächtig bin. Und ich bediente mich dieser Redewendung, da es sich ja um genau solch einen Grenzübergänger handelt. In den Augen der Hy gilt so jemand im Übrigen auch als Gesetzesbrecher. Er dürfte es auf seiner Seite der Grenze auch nicht mehr besonders leicht haben. Wahrscheinlich verurteilen und verbannen sie ihn. Wie dem auch sei“, er machte eine abwertende Handbewegung, „ich denke, diese Angelegenheit hätten wir geklärt.“ Demonstrativ blickte er auf die Tür.
„Nun gut, wie Ihr wollt, dann muss ich es jetzt wohl doch laut aussprechen. Ich hoffe nur für Euch, Ihr habt tatsächlich keine Spione hier versteckt, denn das, was ich gleich sagen werde, dürfte auch für sie neu sein und sich als durchaus interessant erweisen, um sich beim König vielleicht eine noch bessere Stellung zu verschaffen!“
Lata wartete unbekümmert und seine Miene blieb dabei regungslos.
Der General wollte gerade zum Sprechen ansetzen, da kam er ihm zuvor: „Ich schlage vor, wir einigen uns auf ein Patt!“
„Wie bitte?“, fragte Bhuras verständnislos.
„Ein Patt, ein Unentschieden!“
„Was habt Ihr denn schon für ein Unentschieden anzubieten?“, knurrte Bhuras grimmig und hob wissend einen Zeigefinger. „Nein, nein, Konsultas, ich habe Euch durchschaut, von Euch lasse ich mich nicht überrumpeln!“
Lata verzog seinen Mund zu einem dünnen Lächeln und lehnte sich entspannt zurück. Er sah, dass es die gewünschte Wirkung zeigte, denn Bhuras blinzelte verunsichert. Aufreizend langsam erhob er sich daraufhin von seinem Erkerplatz und schlenderte mit auf dem Rücken verschränkten Armen ein paar Schritte durch den Raum. Dann blieb er direkt vor Bhuras stehen, der ihn zwar nicht überragte, aber doppelt so breit war wie er. Dessen muskelbepackte Körperlichkeit konnte Lata jedoch nicht einschüchtern. Er hob das Kinn und sagte: „Mein lieber General, ich glaube, Ihr habt noch einiges zu lernen! Und ich werde Euch die Möglichkeit geben, das auch weiterhin tun zu können, da ich der Meinung bin, dass Ihr ein guter Mann seid, der sich nur auf Abwege verirrt hat. Doch ich möchte Euch auch daran erinnern, dass ich nicht ohne Grund da bin, wo ich jetzt stehe, und Ihr Euch nur dank eines allzu glücklichen Umstandes auf dem Platz befindet, den Ihr vor noch nicht allzu langer Zeit eingenommen habt.“ Er machte eine Pause, nahm seinen eiskalten Blick aber nicht von Bhuras Gesicht. Ihm entging nicht, wie sehr der Jüngere sich alle Mühe gab, weiterhin unbeirrt zu wirken.
„Wisst Ihr, auch für mich sind Nachforschungen ein beliebter Zeitvertreib. Zum Beispiel war es für mich ein Vergnügen, herauszufinden, woher Ihr eigentlich stammt, Bhuras. Auch, wenn Ihr es trotz Eures mäßigen Talentes gut versteckt gehalten habt, und ich darüber einige harte Nüsse zu knacken hatte. Aber ich weiß jetzt, dass ich nicht der Einzige bin, mit dem Ihr noch gemeinsame Sache treibt! Was für ein Glück für Euch, dass Euer zweiter Auftraggeber und ich das gleiche Ziel verfolgt haben, so konntet Ihr getrost ruhigen Gewissens sein, das Richtige zu tun, wenn Ihr Kasai beseitigt. Doch jetzt gehen unsere Interessen leider gewaltig auseinander, und ich denke, Ihr seid mehr als gut beraten, wenn Ihr das Unentschieden, das ich Euch anbiete, annehmt. Ansonsten sehe ich mich leider dazu gezwungen, ausplaudern, was mir über Euch zu Ohren gekommen ist - natürlich rein zufällig.“ Lata hatte jetzt Oberwasser und kostete das voll aus. Er war wieder einmal froh darüber, wie sehr sich die Mühe doch stets auszahlte, sich im Vorfeld bis ins kleinste Detail über die Leute zu informieren, mit denen er etwaige Geschäfte einging.
Bhuras Miene verzog sich unwillentlich, als er antwortete: „Was sollte Euch meine Herkunft schon verraten! Sie sagt rein gar nichts aus.“
„Ach, nein? Ihr seid zwar in Askhari-Kaise geboren, aber Euer Vater kommt aus Bolthaischan, nicht war? Und er war früher in den Diensten Karlis’ gewesen, ein Hauptmann, der dann in den Palast befördert wurde. Man sagt, er war anschließend ein außerordentlich treuer Gehaltsempfänger der Königlichen Armee und hat viele Auszeichnungen vom König erhalten. Aber es ist natürlich nur verständlich, wenn Eure Sympathie trotz allem weiter nach Euren Wurzeln schlägt.“
„Ihr sitzt einem wahrhaft gewaltigen Irrglauben auf, Konsultas. Wenn Ihr mich fragt, spielt Ihr doch nur weiter Euer dreckiges Spiel! Aber damit könnt Ihr mich nicht mehr beeindrucken“, spuckte Bhuras ihm verächtlich entgegen.
Lata lächelte wieder sein halbseidenes Lächeln. „Zu dumm nur, dass Eure Frau bereitwillig über Eure Familienangelegenheiten plaudert, wenn man ihr das richtige Argument an die Kehle hält! Und auch Euer Sohn!“
„Ihr habt meine Frau und meinen Sohn bedroht!“, platzte es wütend aus Bhuras heraus und er stieß mit seiner massigen Brust vor, so dass sie sich nun fast berührten.
Lata sprach ungerührt weiter: „Es war interessant, was sie zu erzählen hatten, besonders die Wahrheit über Eure wirkliche Gesinnung. Hatte ich schon erwähnt, dass sie auch Herzog Karlis-Renandi erwähnt haben und die Königsblutliga, mit der Ihr es bedenklich freundschaftlich haltet?“
„Ihr seid ein Teufel, ein ausländischer Bastard!“, fluchte Bhuras atemlos und hob drohend eine Faust an Latas Ohr.
„Na, na, na, nicht so unflätig.“ Der Berater des Königs blieb gelassen. „Gewalt bringt in diesem Falle gar nichts. Gemessen an meinen Worten ist Euer Schwert nur ein stumpfes Stück nutzloser Stahl und auch Eure Faust ist lediglich ein vergänglicher Part aus Fleisch und Knochen, der bei Gelegenheit auch schon mal schnell von seinem Körper abgetrennt werden kann. Denkt lieber an Eure jetzige Stellung, General. Ihr solltet damit zufrieden sein. Wenn Ihr aber unbedingt den Krieg mit mir wollt, bitteschön, dann nehme ich Euer Angebot an und meines zurück.“ Er hielt der drohenden Nähe Bhuras’ stand und wich nicht einen Fingerbreit von dessen Gesicht ab. Der General presste die breiten Kiefer aufeinander und auf seiner fliehenden Stirn konnte Lata eine Ader hervortreten sehen. Sein engstehender Blick tötete ihn immer wieder und wieder.
„Nun?“, fragte der Konsultas süßlich.
Bhuras blieb einen Moment regungslos, ließ dann aber die Faust sinken und zischte: „Wenn Ihr noch einmal meine Frau oder meinen Sohn anrührt, dann seid Ihr des Todes, Konsultas Lata, das schwöre ich Euch! Ansonsten gehe ich auf Euer Patt ein!“
„Gut!“, antwortete Lata fröhlich und wippte auf den Fußballen. „Es freut mich, dass wir uns einig geworden sind. Eine nicht minder kluge Entscheidung habe ich von Euch erwartet.“
Bhuras tötete Lata ein weiteres Mal mit seinem imaginären Schwert und presste sich dann an ihm vorbei zur Tür, die er hinter sich lautschallend zuschlug.
Mit dieser bitteren Niederlage in der Tasche, stapfte General Bhuras zerknirscht im Treppenhaus nach unten auf den Hof der Festung, wo er froh über die kalte Luft war, die sein Gesicht kühlte. Noch nie ein seinem Leben war er so vorgeführt worden. Lata hatte ihm eine saubere Lektion erteilt und ihm vor Augen gehalten, dass er auf dem Schlachtfeld der Politik und der Worte noch ein grüner Junge war und tatsächlich noch einiges zu lernen hatte. Bis dahin aber musste er mit diesem gerissenen Aal von einem Konsultas sein Abkommen halten. Ihrer beider Schicksale waren von jetzt an miteinander verknüpft, ob er es wollte oder nicht.

Drei Tage später war Bhuras im strömenden Regen damit beschäftigt, den Abtransport der Katapulte vom Schlachtfeld zu überwachen. Die triefend nassen Maschinen wurden an Ort und Stelle in ihre Einzelteile zerlegt und auf die Ochsenkarren verladen. Die Soldaten versanken bis über die Knöchel im Schlamm und hatten Mühe die Wagen voranzutreiben. Der Regen prasselte unbarmherzig auf sie hernieder und durchtränkte auch den letzten trockenen Stofffetzen an ihrem Leib. Bhuras fluchte über das Wetter und die lustlos arbeitenden Soldaten und ab und an meinte er von jenseits der Krone der schwarzen Grenzmauer höhnische Rufe zu vernehmen. Aber jedes Mal, wenn er aufsah und ihm das Wasser, das sich im geöffneten Visier gesammelt hatte, in die Augen lief, konnte er dort oben doch nichts erkennen.
Als sie schließlich die letzte Maschine abtransportierten, ritt er ein letztes Mal an der Stelle vorbei, an der Kasai gefallen war und es erfasste ihn ungewollt Ehrfurcht vor seinem Vorgänger. ‚Du hattest gute Pläne, alter Mann, aber in einem hast du dich gewaltig geirrt! Nämlich in mir!’, dachte er. ‚Aber ich werde dich nicht vergessen und dich mehr als angemessen vertreten, nur nicht so, wie du es dir gedacht hattest!’ Dann richtete er seinen Blick wieder vor sich auf die sich voran quälenden Wagen und seine Gedanken waren wieder bei den trockenen Kleidern und dem warmen Essen, das ihn in Braud erwartete. Bald würden auch sie nach Askhari-Kaise zurückkehren und er würde seine eigentliche Arbeit dort beginnen können.

*

Raen strahlte bis über beide Ohren. Dankend nahm er die Schüssel mit dem Essen entgegen. Er schlug die Decke zurück, kreuzte beide Beine, was ihn noch schmerzte, aber nicht störte, und begann zu essen.
„Dein Bärenappetit ist auch ein gutes Zeichen dafür, dass es dir besser geht“, sagte die Medizi und lächelte zurück. Sie war noch viel jünger, als Raen vermutet hatte; das sah man, wenn sie lächelte. Sie war sehr hübsch, hatte lustig leuchtende Augen und eine kleine Stupsnase. Er mochte sie gern, denn sie hatte sich sehr liebevoll um ihn gekümmert - mehr als die anderen - und sie war immer da gewesen, wenn es ihm schlecht gegangen war. Sie hatte ihn jedes Mal getröstet, wenn die Angst ihn überkommen hatte, sein Bein zu verlieren.
„Wann kann ich aufstehen und ein bisschen spazieren gehen?“, fragte er sie.
„Das muss noch etwas warten. Die Wunde darf nicht wieder aufreißen. Zwei bis drei Tage vielleicht. Sei geduldig.“
„Geduld ist nicht gerade meine stärkste Tugend!“, sagte er und stellte die leere Schüssel beiseite. Er wollte sich bei der Medizi bedanken, wusste aber nicht wie. Verlegen sah er auf seinen Verband.
„Du ... ich ... vielen Dank, für alles, was du getan hast“, brachte er schließlich hervor.
Sie legte ihm sachte eine Hand auf den Unterarm und entgegnete: „Das habe ich wirklich gern getan.“ In ihrem Lächeln lag etwas, das Raen schon öfter wahrgenommen hatte, aber diesmal ließ es ihn unruhig werden. Es war mehr als bloße Zuneigung, und ihm wurde heiß.
„Sag mal, ich habe dich immer nur Medizi genannt, wie ist eigentlich dein voller Name?“, fragte er ausweichend. Ihre Hand auf seinem Arm ließ seine Haut kribbeln.
„Ich heiße Mediziset-Shani-Mate-Silan-adh-Chor-Doban.“
„Shani?“
Shani nickte. Jetzt wurde sie auf einmal rot.
„Meine Kinderfrau hieß auch Shani“, entgegnete Raen. „Sie ist die Mutter meiner ... Freundin ...“, er brach ab. Die Hand verschwand von seinem Arm und das Lächeln auch. Betretenes Schweigen folgte.
„Du hast eine Freundin zu Hause?“, horchte Shani schließlich. In ihrer Stimme war nichts zu erkennen von Enttäuschung oder Ernüchterung, doch Raen war sich sicher, sie gekränkt zu haben.
„Es tut mir leid“, entschuldigte er sich.
„Du musst dich nicht dafür entschuldigen. Ich habe doch bloß gefragt.“ Sie sah auf ihre Finger, die sie in ihrem Schoß ineinander verschränkt hatte. „Sie heißt Suneka, nicht wahr?“, fragte sie dann.
„Woher weißt du das?“
„Du hast diesen Namen mindestens hundertmal im Schlaf gesagt!“
Raen war verlegen. Was hatte er wohl noch so alles gesagt?
„Vermisst du sie?“
„Hm, ja sehr“, entgegnete er vorsichtig.
„Dann hat sie Glück!“, lächelte Shani sanft.
Raen schämte sich für das Kompliment. Er fühlte sich mit einem Mal, als hätte er Shanis Zuneigung ausgenutzt, obwohl es nicht so war.
Er hob an, etwas zu sagen, da kam sie ihm zuvor, in ihren Augen lag ein Hauch von Traurigkeit: „Bald wirst du sie wiedersehen, der Krieg ist aus, und ihr werdet abreisen.“ Sie senkte den Blick.
Raen, unfähig etwas Vernünftiges darauf zu entgegnen, hob eine Hand und strich ihr über den Oberarm. Wortlos fiel sie ihm um den Hals. Überrascht von ihrer Regung und vom auflodernden Schmerz in seinem Oberschenkel verzog er das Gesicht, hielt Shani aber dennoch fest.
„Sei nicht traurig, ich bin es nicht wert, das müsstest du doch wissen. Ich bin ein für schuldig befundener Gesetzesübertreter und auch sonst ein recht schwieriger Zeitgenosse. Im Allgemeinen hat man nur Ärger mit mir, eine vernünftige Frau sollte die Finger von mir lassen“, sagte er halb im Spaß und halb im Ernst.
Er spürte, die Hände auf ihrem schlanken Rücken, wie schnell ihr Atem ging, doch sie weinte nicht.
„Ja, vermutlich ist es wohl besser, einem dahergelaufenen Krieger aus dem Hauptland nicht allzu sehr nachzuweinen.“ Sie löste sich und sah ihn an. Ihre Gesichter waren sich nahe, und für einen Moment hatte er die Befürchtung, sie wollte ihn küssen, doch im nächsten Augenblick richtete sie sich auf und strich sich die dunklen Haarsträhnen von der Schulter.
„Und außerdem, wer behauptet denn, dass Frauen immer vernünftig sind!“, sagte sie und grinste.
Raen fiel ein Stein vom Herzen und lächelte. „Vernunft ist auch nicht gerade eine von den Tugenden, die mir nachgesagt werden!“
„Ich wünsche dir alles Gute“, sagte sie.
„Danke, ich dir auch, und Kopf hoch, es gibt noch andere törichte Burschen, die nach unvernünftigen Frauen suchen!“ Er drückte ihren Unterarm als Zeichen seiner Freundschaft, und sie schlug mit einem traurigen Lächeln die Augen nieder. Dann lehnte er sich zurück auf eine Kissen und seufzte: „Ach, ich freue mich so, nach Hause zu kommen, das kannst du dir gar nicht vorstellen!“
Shani hob den Blick. „Oh doch, ich glaube schon.“ Sie nahm die leere Schüssel auf, erhob sich und sah ihn noch einmal lange an.
Nachdem sie gegangen war, blickte Raen versonnen ins Nichts. Wie gut hatte sich ihr Körper in seinen Armen angefühlt und wie wohl hatte ihm ihre Zuneigung getan, gerade jetzt, da es ihm schien, als sei alle Welt gegen ihn. Schmerzlich bemerkte er, wie sehr er doch die Nähe zu anderen Menschen vermisste. Menschen, denen er vertrauen konnte und die ihm vertrauten. Menschen, die ihn nicht enttäuschten wie sein Vater, Kensa und all die anderen hier, mit Ausnahme von Kaera natürlich. Beinahe sehnsüchtig verlangte es ihn nach den Gesprächen mit Loenka, die Balsam für seine Seele waren, und auch nach der klugen und stets nüchternen Sichtweise seiner Schwester, die immer wieder alles ins rechte Licht rückte. Er stellte sich sogar vor, dass Hereke ihm während seiner Abwesenheit verziehen haben könnte, und sie wieder Freunde sein könnten wie früher. Hereke würde ihn auf seinem Hof empfangen und sie würden lustig plaudern, Unfug aushecken und zusammen zum Steinwald reiten. Aber das war bloß ein Wunschtraum, das wusste Raen, und sein zu schnell vorangepreschtes Herz zog sich ernüchtert zusammen, als die Wirklichkeit ihn einholte. Nein, mit Hereke würde es nie wieder so sein wie es einmal war, dachte er schwermütig und schwenkte seine Gedanken zu dem Grund, der all das ausgelöst hatte: Suneka. Sie vermisste er am meisten. Er sehnte sich nach ihrer tiefen Verbundenheit, die ihm schon von Kindheit an gehört hatte, und ihrem unbefangenen Verständnis, denn gerade jetzt brauchte er diese stille, alles vergebende Anerkennung, wie sie nur die Liebe hervorbringen konnte. Er wollte Frieden finden in ihren Armen und endlich zur Ruhe kommen, vielleicht wollte er ihr sogar das geben, wonach sie sich sehnte und eine Familie mit ihr gründen. Seine Stirn kräuselte sich kurz, als er daran dachte, dass sein Vergehen und sein ihm mit aller Sicherheit vorangeeilter beschädigter Ruf ihr Schwierigkeiten bereiten könnte, und was sie als vernünftige Frau wohl darüber denken mochte. Er stellte sich ihr Gesicht vor, wie sie ihren Mund über dem spitzen Kinn zu einem spöttischen Tadel verzog, ihre braunen Augen dabei schelmisch glitzernd, und wie sie ihm schließlich seine ewigen Dummheiten mit einem wärmenden Kuss großzügig verzieh. Raen seufzte verträumt und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Er malte sich ihre baldige Zusammenkunft aus - natürlich auch jene heimlich zurückgezogene, die nach der offiziellen Begrüßung kommen würde.

Mediziset Shani war nicht beleidigt, sie kam und kümmerte sich auch weiterhin um Raen. Und sie war es auch, die ihm schließlich dabei half, die ersten Schritte zu tun. Auf der einen Seite auf einen Stock gestützt und auf der anderen auf ihre Schulter ging er mit ihr in den regenfreien Momenten auf der Mauer des Chorten spazieren. Jeden Tag etwas länger, bis er nur noch den Stock brauchte. Doch Shani ging auch weiterhin neben ihm her, und er war dankbar für ihre kameradschaftliche Gesellschaft. Oft war auch Kaera dabei, und dann lachten sie viel und ausgelassen, was ihnen allen gut tat nach den schrecklich ernsten Tagen des Krieges, der nun vorbei war, nachdem die Askharer abgezogen waren. Die lastende Verantwortung hob ihren stählernen Schleier von den Herzen der jungen Krieger, und sie waren wieder die Jugendlichen, die sie eigentlich waren.
Inmitten eines dieser unbeschwerten Momente kam Kensa zu ihnen. Sie hatten an der Brustwehr gestanden, nach Norden auf die weißgetünchten Bergspitzen geblickt und darüber sinniert, ob der Schnee, wenn er schmolz, wohl einen zweiten Frühling hervorrufen mochte, als der ältere Banskeid sie höflich in ihrer Unterhaltung unterbrach. Wohlwissend, dass es sich um jene delikate Angelegenheit handelte, die schon seit Wochen überall das Gesprächsthema war, ließen Shani und Kaera die beiden allein.
„Wie ich sehe, geht es dir schon wieder ganz gut“, stellte Kensa reserviert fest und es klang mehr wie eine Einleitung in ein Gespräch, als eine ernstgemeinte Frage nach seinem Wohlbefinden, deshalb nickte Raen ebenfalls nur zurückhaltend.
„Ich bin gekommen, um dich davon zu unterrichten, dass der Gerichtsrat über deine Bestrafung entschieden hat“, setzte Kensa auch sogleich fort.
Trotzig zeigte Raen immer noch keine Reaktion.
„Würdest du bitte mit in den Tempel kommen!“
Raen nickte erneut und zeigte Kensa an, dass er ihm folgen würde. Die Laune des älteren Kriegers verschlechterte sich sichtlich, und Raen vermutete, er nahm es ihm übel, dass er nicht mit ihm redete. Aber sein stummer Protest hatte einen Grund. Er war noch immer schwer enttäuscht von seinem Lehrmeister.
Mit verhärteter Miene wandte Kensa sich um und schritt langsam voran, damit Raen hinterherkam. Es dauerte etwas, bis sie die Treppen hinunter gestiegen waren und den Hof überquert hatten, aber schließlich betraten sie den Tempel von Doban zum Haupteingang, und Raen hinkte hinter Kensa durch die Altarhalle. Hyaun saß genauso ungerührt da wie sonst auch. Sein Blick war leer und in sich gekehrt.
‚Lass mich nur weiterhin allein! Ich scheine es ja offensichtlich verdient zu haben, oh Erhabener’, dachte Raen vorwurfsvoll und wendete seine Augen von der Statue ab. Sie stiegen die drei Stufen hoch in das Obere Heiligtum. Dort, unter dem goldenen Schein der zweiten Statue, die nicht minder unbeteiligt dreinblickte, warteten der Oberpriester und der Clanchef von Doban, Lako, Roman und einige andere Priester. Raens Miene verfinsterte sich. Ablehnend schob sich sein Unterkiefer vor, und er betonte sein Hinken noch etwas mehr, weil er wollte, dass sie alle ein schlechtes Gewissen bekamen.
Sie erreichten die kleine Gruppe und begrüßten sich gegenseitig. Für seinen Vater hatte Raen nur eine knappe, unterkühlte Verbeugung übrig, die keinem entging. Der Oberpriester ließ sich auf seinem Platz vor dem Altar nieder und forderte den Rest auf, dies ebenfalls zu tun.
„Wir sind hier unter der Obhut Hyauns zusammengekommen, um Gericht zu halten über Banskeid Raen“, eröffnete er dann, und Raen fand es übertrieben theatralisch, wie er dabei die Hand in Richtung der Statue hob, „denn er hat gegen das Ban Arnor verstoßen!“ Der Hyaunset suer sah Raen prüfend an, konnte aber hinter dessen verschlossener Miene offensichtlich weder Reue noch Schuldbewusstsein feststellen. Missbilligend schürzte der Mann die Lippen. Am liebsten hätte Raen ihm gesagt, dass er sich diesen ganzen Mummenschanz hier sparen könne und ihm einfach die Strafe mitteilen solle, doch er biss sich auf seine lästerlustige Zunge.
„Banskeid Raen wird zur Last gelegt, gegen die Regel des Nichtangriffsprinzips im fünften Teil des Ban Arnor verstoßen zu haben, die da lautet: Deine Grenzen zu verlassen in kriegerischer Absicht, sei dir ein Verbot, welches dir Respekt und Ehre gebieten. Diese Regel ist der bedeutsamste aller Leitsätze und er betont die Friedlichkeit des hyaunischen Volkes gegenüber den anderen Völkern. Und in dem du sie so bedenkenlos gebrochen hast, hast du unserem Ansehen schwer geschadet.“ Der Oberpriester von Doban sah Raen streng an, aber er hatte lange nichts von der geistigen Energie in sich, wie der alte Gahin in Shari, und deshalb war Raen auch nicht übermäßig beeindruckt. Gleichgültig erwiderte er den Blick. Er spürte die Verärgerung der anderen, besonders von Kensa, dessen Gesichtsausdruck deutlich zeigte, was er von seinem Gebaren hielt, aber das kümmerte ihn nicht. Sie hatten ihn im Stich gelassen.
Währenddessen sprach der Oberpriester mit seiner albern wichtigtuerischen Stimme weiter: „Dies ist ein sehr schweres Vergehen gegen die Gesetze, die der erhabene Hyaun uns in seiner grenzenlosen Güte anvertraut hat, und da deine Schuld, Banskeid Raen, eindeutig ist, wie du es uns selbst durch deine Schilderungen der Geschehnisse eingeräumt hast, ist es dir auch nicht gewährt, dich zu verteidigen, noch einen Fürsprecher an deiner Stelle streiten zu lassen.“
Raen nickte kurz, anstatt etwas zu sagen. Er erkannte es an, was sollte er auch anderes tun?
„Gut. Dann kommen wir jetzt umgehend zur Verkündung der Strafe!“
‚Endlich’, dachte Raen. Er war es leid, dem aufgeblasenen Gerede des Oberpriesters zuzuhören.
„Im Sinne der Gemeinschaft hat der Gerichtsrat beschlossen, dass Hyaun Banskeid Raen, Sohn von Roman, vom Clan Shari, zu fünfundzwanzig Tempelwachen als Buße für jeden unehrenhaft erschlagenen Soldaten verurteilt wird! Sie sind zu leisten nach seiner Rückkehr in Shari unter Aufsicht des dort zuständigen Hyaunset suer. Je vier Wachen in einem Monat. Eine Order wird dem Chor suer Palan von Shari mitgegeben. Des Weiteren muss der Verurteilte sich beim nächsten Erntefest vor dem ganzen Clan und seiner Familie für die Schmach, die er ihnen zugefügt hat, entschuldigen, damit auch sein Name wieder rein werde! Außerdem gibt es eine Verwarnung, und bei einer Wiederholungstat folgt die Aberkennung der Kriegerwürde!“
Raen atmete innerlich auf. Das Urteil war ausgesprochen milde, wie er fand. Fünfundzwanzig Nächte ohne Schlaf und die gleiche Anzahl an Tagen ohne Essen waren zwar viel, aber es war nicht übermäßig tragisch, und wenn sie dachten, dass ihm das etwas ausmachte, dann waren sie allesamt schief gewickelt. Die öffentliche Entschuldigung war da schon unangenehmer. Aber er hatte sich noch viel schlimmere Dinge ausgemalt. Mit Mühe unterdrückte er ein Grinsen, das sich auf sein Gesicht stehlen wollte. Triumphierend blickte er in die Runde der steifen Figuren. Allein bei seinem Vater konnte er untergründig Erleichterung erspüren, was seine harte Haltung ihm gegenüber etwas beschwichtigte.
Der Hyaunset suer hob die Hand. „Ich bin noch nicht fertig!“
Alle sahen ihn an, und er schien seine Rolle als Urteilsverkünder regelrecht zu genießen, denn der Hauch eines höhnischen Lächelns lag auf seinen Lippen. Raen verachtete ihn dafür. ‚Wer bist du, dass du andere verurteilst!’, dachte er erbost.
„Von höchster Stelle wird der Beschuldigte, wegen des erheblichen negativen Aufsehens, das er durch seine Tat erregt hat, aufgefordert, noch eine weitere Strafe zu verbüßen!“
‚Was denn noch?’, fragte sich Raen, und nun packte ihn doch vage Furcht. ‚Was können sie noch von mir verlangen?’ Unsicherheit sickerte in seinen Blick und in seine Haltung. Nervös rutschen seine Hände auf den Oberschenkeln hin und her. Der Oberpriester, der die Schwäche Raens natürlich sofort erkannte, senkte herablassend die Lider und fuhr siegesgewiss fort: „Der gesegnete Setna selbst hat sich des Falles angenommen und hat seinen Teil zu diesem Urteil beigetragen. Er hat bestimmt, dass du eine zusätzliche Abbitte leisten wirst, und zwar vor ihm persönlich!“
Keiner wagte es, die überraschte Stille zu durchbrechen.
Raen jedoch ließ entspannt die Schultern fallen. Für ihn war es bei weitem keine Strafe, sondern eine große Ehre, mit dem Setna sprechen zu dürfen, und das bestätigte ihn in seinem Denken. Aber offensichtlich hielt der Oberpriester es für verwerflich, einen ungereinigten und nicht bußfertigen Straftäter vor den Prinzen zu lassen. Er bedtrachtete ihn mit unverhohlener Abneigung. Doch Raen war glücklich. Er durfte zum Setna.
„Wann kann ich mit ihm sprechen?“, fragte er absichtlich frech und es waren seine ersten Worte seit Tagen, die er zu diesen Menschen sprach.
Der Oberpriester zog eine Braue hoch und im Hintergrund schüttelten Kensa und Lako fast gleichzeitig verzweifelt den Kopf. Roman tat so, als wäre er nicht anwesend. Es war ihm sichtlich peinlich, wie Raen sich benahm.
„Mein junger Banskeid, ich ermahne und erinnere dich an den gebotenen Ernst in dieser Angelegenheit, wir sitzen hier zu Gericht! Auch der Al Setna wird dein Verhalten nicht billigen! Bing nicht noch mehr Schande über dich und deinen Clan!“
„Das werde ich schon nicht!“, entgegnete Raen heiter.
Der Oberpriester schien noch immer nicht ganz gewillt zu sein, der Anordnung des Setna Folge zu leisten und diesen ungebärdigen Burschen vorzulassen, doch dann sagte er mit eisigem Unterton: „Der Gesegnete erwartet dich. Du kannst jetzt zu ihm!“
„Wirklich? Er ist hier?“, fragte Raen aufgeregt.
„Ja, aber bevor du vor ihn trittst, wirst du dich zumindest äußerlich reinigen und dir dieses unziemliche Gestrüpp von deinem Kopf nehmen lassen!“
Raen strich sich ertappt über seinen struppigen Schädel, der schon seit über zwei Monaten kein Rasiermesser mehr gesehen hatte.
„Ja, mache ich“, sagte er, immerhin in dieser Hinsicht schuldbewusst. Über die Wochen im Feld und anschließend auf dem Krankenlager hatte er seine kriegerliche Reinigungspflicht arg vernachlässigt.
„Alsdann schließe ich hiermit jetzt den Gerichtsrat. Ihr seid entlassen“, verkündete der Oberpriester schließlich, und alle anderen erhoben sich mit unbehaglichen Mienen. Wahrscheinlich drängte sich ihnen das Gefühl auf, nicht wirklich eine Einsicht bei dem Beschuldigten erwirkt zu haben, schätzte Raen und sah zu, wie sie sich entfernten. Dann begab er sich in den Waschraum. Dort war um diese Zeit nichts los, aber er fand dennoch einen Priester, der ihm den Kopf schor. Und nachdem er sich gewaschen und wieder angezogen hatte, kam er zurück in das Obere Heiligtum und setzte sich wieder vor den Altar.
Während er wartete, sah er zu dem goldenen Gesicht Hyauns hoch.
„Vielen Dank, nun widerfährt mir doch noch Gerechtigkeit!“, raunte er. „Ich bin gespannt, wie der Setna ist.“
Die Zeit verging und nichts tat sich. Immer wieder schielte Raen zu der Tür hinüber, durch die er kommen würde, doch sie blieb geschlossen. Aus Langeweile begann er die Öllampen zu zählen. Als er bei fünfundzwanzig war - zufällig genau die Zahl der Opfer, die er um Vergebung zu bitten hatte -, hörte er ein leises, scharrendes Geräusch und er drehte sich um. Er erschrak bis ins Mark und hob schützend seinen linken Arm vor das Gesicht, denn direkt hinter ihm stand eine von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllte Gestalt als wäre sie lautlos aus der Erde gewachsen.
„Oh! Gesegneter, verzeiht!“, entfuhr es ihm und er warf sich unverzüglich vor dem Setna auf den Boden. Seine Stirn und ausgestreckten Hände berührten das polierte Holz, als er seine Begrüßung stammelte.
„Erhebe dich, Banskeid Raen!“, kam eine erstaunlich gewöhnlich klingende Stimme unter der Kapuze hervor, die das Gesicht des Setna bis zum Mund verdeckte. Raen richtete seinen Oberkörper auf, blieb aber in demütiger Haltung sitzen. Er wagte es nicht, sich auf dieselbe Ebene des Prinzen zu erheben. Der Setna nickte unter seiner Kapuze, ging um Raen herum und setze sich auf den Platz, auf dem vor Kurzem noch der Oberpriester gesessen hatte. Raen überwand seine ehrfürchtige Starre und drehte sich einigermaßen geschickt zu ihm, ohne die Haltung zu verändern, dabei hielt er seinen Blick gesenkt. Der Setna schwieg eine ganze Weile und betrachtete den jungen Krieger quälend lange, bis er endlich das Gespräch eröffnete.
„Du bist das also“, sagte er, als ob er feststellte, dass ein guter Bekannter vor ihm saß.
Raen blickte überrascht auf. „J-ja?“
„Ich glaube, dann kann ich die Kapuze wohl abnehmen.“
Noch ehe Raen bewusst wurde, was geschah, und er dagegen hätte Einspruch erheben können, hatte der Setna sich die Kapuze vom Kopf gestrichen und sein Gesicht entblößt. Entsetzt blickte Raen ihn an und wandte dann schnell die Augen ab, die gesehen hatten, was sie eigentlich nicht hätten sehen dürfen. Zusätzlich hob er noch seine Hände zwischen sich und den Prinzen. „Das könnt Ihr doch nicht tun, Al Setna! Ihr enthüllt Eure Identität ... vor einem Straftäter! Bitte, setzt die Kapuze wieder auf!“ In seiner angestrengten Haltung verharrend hörte Raen, wie der Setna leise lachte, und seine Verwirrung wuchs. Was sollte das? Niemand durfte den Setna sehen, niemand durfte wissen, wer er ist! Es war ein Gesetz zu seinem Schutz.
„Du kennst mich doch längst. Warum sollte ich mich dann so albern vor dir verhüllen.“
Plötzlich kam Raen die Erinnerung: Der Setna, der ihn von seinem Pferd aus ansah, als sie auf den Angriff der Askharer warteten. Etwas zögerlich ließ er die Hände sinken und lenkte vorsichtig seinen Blick erneut in das Gesicht des Prinzen. Der Mann, welcher das Oberhaupt ihres Volkes war, lächelte ihn offen an. Allmählich entspannte Raen sich wieder.
„Es ist wahr, ich kenne Euch“, sagte er, „damals habt Ihr zu mir gesprochen ... in meinem Kopf, und da wusste ich, dass Ihr der Setna seid.“
„Ja, das habe ich bemerkt, und ich habe dir geantwortet.“
Raen war es unangenehm, dass der Setna ihn so persönlich ansprach.
„Weißt du eigentlich, was ich denke?“
Raen legte den Kopf schief: „Was meint Ihr?“
„Kannst du meine Gedanken hören, so wie damals?“
Raen schüttelte den Kopf. „Nein, das ... das kann ich nicht, das war ...“
Der Setna verzog belustigt die Mundwinkel. „Komm schon, versuche es!“
Raen fragte sich verwirrt, ob das schon ein Teil seiner Abbitte war. „Ich weiß nicht, wie ich es ... anstellen soll.“
„Versuche, meinen Namen zu lesen. In meinem Kopf.“
Raen tat, was der Prinz von ihm verlangte und konzentrierte sich auf dessen Kopf, und mit einem Mal stand die Erkenntnis klar in seinem eigenen Geiste. Überwältigt klappte sein Unterkiefer herunter, und er starrte den Setna mit offenem Mund an.
‚Er heißt Dharin und kommt aus dem Clan Kiruotan’, dachte er wie selbstverständlich.
Ganz genau!
Raen blinzelte. Es funktionierte tatsächlich! Er konnte im Setna lesen, konnte mühelos seine Gedanken hören, jene privaten Gedanken, die nicht an alle anderen Krieger versandt wurden.
‚Aber wieso kann ich es?’, fragte Raen sich.
Das weiß ich auch nicht. Es ist seltsam. Denn als Setna kann ich eigentlich keine Gedanken lesen. Ich kann nur die Gefühle der anderen Menschen wahrnehmen und daraus schließen, was sie denken. Bei dir aber höre ich jedes einzelne Wort, das durch deinen Geist geht!, antwortete der Prinz, ebenfalls ohne es mit Mund und Zunge zu artikulieren.
‚Ihr könnt alsoin meinen Kopf schauen?’, wollte Raen wissen.
Ja, so ist es. Es ist ganz und gar verwunderlich, deshalb habe ich auch mit den Priestern darüber gesprochen.
‚Etwa auch mit dem Oberpriester von Doban?’, entfuhr es Raen erschrocken.
Nein, nein, mit meinen engsten Vertrauten aus Tena-lo-Ghan. Den Palansetna-Priestern, die mich immer begleiten. Man nennt sie auch den Schwarzen Rat.
‚Ach, das sind die Priester in den schwarzen Roben.’
So, ist es. Sie sind nur für den Setna zuständig. Sie unterstützen mich in meiner Aufgabe und sind meine Ratgeber. Ohne sie wäre ich verloren. Sie sind mein Rückgrat, meine geistigen Führer, sie helfen mir, mit der Gabe umzugehen. Weißt du, man trägt schwer am Geiste Hyauns.
Raen war erstaunt, den Prinzen so offen reden zu hören. Er wusste zwar, das die Würde des Setna keine leichte war, aber dass sie solch eine Last darstellte, war ihm nie in den Sinn gekommen.
‚Und was haben die Palansetna für eine Erklärung dafür, dass Ihr meine Gedanken lesen könnt und ich die Euren?’ Er brannte darauf, es zu wissen. Vielleicht offenbarte sich ihm jetzt endlich, warum er so war, wie er war. Warum er das namenlose Gefühl verspürte und warum er wie der Prinz hellsichtige Träume hatte?
Der Setna hob die Schultern. Es scheint auch eine Art Gabe zu sein. Jedenfalls glauben die Palansetna das.
Raen konnte nicht mehr länger mit seiner schon seit langem unterdrückten Ahnung an sich halten. ‚Könnte es sein, dass ich der nächste Setna bin, und dies die Vorzeichen dafür sind?’, platzte es aus ihm heraus.
Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß nur, dass die Vorzeichen bei mir anders gewesen sind. Nun ja, es kam eher plötzlich, aber die Umstände brauche ich dir ja nicht zu erzählen. Du weißt ja, wie es meinem Vorgänger ergangen ist, den der Freiwillige erlöst hat. Aber ich war sehr erschrocken und irgendwie ... nicht bereit für diese Aufgabe. Das ist man, glaube ich, niemals.
Raen nickte, er war ganz gerührt und hingerissen, dass der Setna sich ihm so intim anvertraute.
Weißt du, ich bin kein weiser Mann. Ich bin nur ein Gefäß, durch das der Geist Hyauns spricht.
‚Aber was vermutet Ihr, was es bei mir ist?’, drängte Raen. Er musste es wissen.
Dies können vielleicht die Palansetna selbst herausfinden. Sie wollen im Übrigen auch mit dir sprechen, wenn wir hier fertig sind.
‚Die Palansetna wollen mich sprechen?’ Misstrauisch kräuselte Raen die Stirn.
Ihre Erfahrung ist größer als die meine. Ihnen kannst du dich getrost anvertrauen.

‚Wenn Ihr das sagt.’
Du suchst Antworten und bei ihnen wirst du sie am ehesten finden können. Mehr kann ich dir vorerst nicht empfehlen.
‚Und wie sieht nun meine Abbitte aus, die ich vor Euch zu leisten habe?’, setzte Raen das stumme Gespräch fort.
Du brauchst vor mir keine Abbitte zu leisten. Das habe ich den anderen bloß so erklärt, damit sie zufrieden sind. Der Setna lächelte ihm verschwörerisch zu.
Verwundert sah Raen ihn an, und sein tiefes Gefühl der Zuneigung wuchs. Er mochte die zwanglose Ehrlichkeit dieses Mannes, der nicht wirkte, als sei er derjenige, der die Geschicke ihres ganzen Volkes leitete.
‚Ihr habt den anderen, dem Oberpriester, etwas vorgeflunkert?’
Der Prinz nickte sichtlich amüsiert.
‚Warum?’
Weil ich fand, dass sie dich genug gemaßregelt haben. Ihre Empörung geht etwas zu weit, aber das ist meine ganz eigene Meinung, hörst du. Ich würde es begrüßen, wenn sie auch unter uns bliebe. Auf jeden Fall bin ich froh darüber, dass du durch dein beherztes Eingreifen den Krieg beendet und weiteres Unglück von uns allen abgewendet hast.
‚Da seid Ihr leider der einzige, der so denkt’, entgegnete Raen brummig.
Ich denke, du hattest deine Gründe, und das akzeptiere ich.
‚Richtig, ich hatte meine Gründe!’ Plötzlich erstarrte Raen. Sein Blick hing wie festgefroren in den dunklen Augen des Setna, die wie ein direktes Tor zu dessen Gedanken zu sein schienen. ‚Wenn Ihr meine Gedanken lesen könnt’, ging es ihm mit einem Mal auf, ‚dann kennt Ihr ja auch das Geheimnis der Prophezeiung Soghuls! Dann wisst Ihr, dass ich nur auf sein Geheiß hin gehandelt habe!’ Als er das ausgesprochen, besser eigentlich ausgedacht, hatte, wurde ihm mit einem Mal unwohl, und die Farbe wich aus seinem Gesicht. ‚Oh, bei Hyaun, ich habe es verraten!’
Hab, keine Angst, Raen, du hast nichts verraten. Ich weiß von allem, was in deinem Kopf ist, und natürlich kenne ich auch deine Geheimnisse!
‚Und was passiert jetzt?’, erkundigte Raen sich ängstlich.
Nichts wird passieren. Deine Geheimnisse sind auch bei mir sicher!
‚Und Zaizura?’
Zaizura hat in diesem Moment keine Macht über uns, dieses ‚Gespräch’ ist durch Hyaun geschützt!
Raen war verblüfft. ‚Weil es Seine Gabe ist, mit der wir uns unterhalten können?’, fragte er.
Ganz recht!
‚Aber wenn Ihr jetzt von der Prophezeiung wisst, dann könnt Ihr es den anderen doch erklären, dass ich gar nicht schuldig bin und eigentlich nichts Schlimmes getan habe’, sprudelte es aus Raen heraus. Es war eine fixe Idee. ‚Ihr seid der Setna, Euch werden sie gehorchen.’
Der Prinz wurde schlagartig ernst. Es ist ein Dilemma, das weiß ich, aber es ist unmöglich. Auch, wenn die Prophezeiung Soghuls über unserem Gesetz steht, hat es trotz allem immer noch eine Gültigkeit für dich. Deshalb musst du die Strafe ableisten, die dir auferlegt worden ist.
‚Ich finde das aber ungerecht!’, protestierte Raen.
Das ist es nicht. Niemand hat je gesagt, dass es nicht auch ein gewisses Opfer bedeuten kann, eine Prophezeiung zu erfüllen. Und wenn wir ehrlich sind, ist deine Strafe nicht besonders hart.
Raen senkte seinen Kopf. ‚Ja, stimmt, da habt Ihr Recht. Ich denke, es war nur mein verletzter Stolz, der wollte, dass sie alles zurücknehmen ... und mir dankbar sind.’
Der Setna sah Raen verständnisvoll an. Betrachte die Strafe als Ehre, du hast dein Volk gerettet!
Raen hob seinen Kopf. ‚Ich danke Euch, Al Setna!’
Danke nicht mir, sondern deinem Mut, dich dem zu stellen, was die Prophezeiung von dir verlangt hat! Ich selbst bin zwar noch nie von Soghul in die Pflicht genommen worden, aber ich kann mir vorstellen, dass es mehr eine große Belastung als ein Geschenk ist.
Ein seliges Lächeln trat auf Raens Gesicht. ‚Ich bin froh, dass Ihr mich versteht, das wird es mir einfacher machen!’
Gut, dann kann ich dich jetzt mit gutem Gewissen entlassen?
Raen nickte.
Ich wünsche dir eine gute Heimreise.
‚Ich Euch auch, mein Setna!’ Raen verneigte sich, und der Prinz zog sich die Kapuze wieder über das Gesicht.
Ach, und ich brauche dich sicherlich nicht daran zu erinnern, dass dieses Gespräch hier gleichfalls unter uns bleibt.
‚Ein Geheimnis, das ich sehr gerne mit Euch teile!’, antwortete Raen.
„Ich werde dich jetzt verlassen“, sprach der Setna jetzt wieder laut. „Die Palansetna werden sich deiner gleich annehmen. Lebe wohl, Banskeid Raen.“
„Lebt wohl, Gesegneter!“ Raen sah Setna Dharin hinterher und wartete auf die Palansetna.
Sie kamen durch eine Seitentür in den Altarraum und es waren drei an der Zahl. Sie sahen eigentlich aus wie ganz normale Hyaunset mit geschorenen Schädeln und nackten Füßen, doch ihre pechschwarze Robe hob ihre besondere Stellung hervor. Raen wusste nicht viel über die Palansetna, nur das, was sein Vater und vor kurzem auch der Setna ihm erzählt hatten. Trotzdem beschlich ihn ein mulmiges Gefühl beim Anblick des Schwarzen Rates. Die Palansetna-Priester blickten streng und ohne jegliche Empfindung. Sie wirkten irgendwie unheimlich und finster. Im Gänsemarsch kamen sie auf ihn zu, ihre Hände feierlich vor dem Körper verschränkt.
„Banskeid, Raen?“, fragte einer von ihnen ohne zu grüßen, als sie den Altarabsatz erreichten, auf dem Raen saß.
„Ja, der bin ich“, antwortete er, blickte sie offen an und verneigte sich leicht. Wenigstens er wollte es nicht an Höflichkeit mangeln lassen.
„Folge uns!“ Schon machte der Erste, ein hagerer Kerl mit scharfkantigen Gesichtszügen, kehrt, und Raen musste sich beeilen, aufzustehen und hinterherzukommen.
Sie führten ihn in einen der kleinen angrenzenden Räume und forderten ihn auf, sich zu setzen.
Raen gehorchte und ließ sich auf den Strohmatten nieder. Seinen Stock legte er neben sich.
Die drei Palansetna nahmen in Form eines Dreiecks um ihn herum Platz.
Unbehaglich zog Raen die Schultern hoch. Der Palansetna mit den scharfgeschnittenen Zügen saß ihm gegenüber und die beiden anderen in seinem Rücken. Was würde das hier geben?, fragte er sich, befangen von der erdrückenden Präsenz der schwarzgewandeten Priester. Bewusst wich der dem Blick des Spitzgesichtigen aus, der seelenruhig seine Hände in den Schoß legte und betont deutlich zu sprechen begann: „Ich bin Palansetna suer Rheta aus Tena-lo-Ghan. Und wie der Setna dir bereits mitgeteilt hat, wünschen wir ein Gespräch mit dir.“
„Bekomme ich von euch jetzt auch noch eine Strafe?“, erkundigte sich Raen unumwunden.
Der Palansetna schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, nein, die Strafe, die dir der Gerichtsrat auferlegt hat, ist ausreichend, denke ich“, bekräftigte er. Doch etwas in dem Lächeln Rhetas gefiel Raen nicht, und sein Unbehagen verstärkte sich. Was wollten die schwarzen Priester dann von ihm?
„Es geht um deine besondere ‚Gabe’, so wollen wir es vorerst einmal nennen. Uns ist zu Ohren gekommen, du hättest sie schon länger. Sag mir, wie alt bist du?“
„Neunzehn.“
„Und wann hattest du dein Al Aun?“
„Mit vierzehn.“ Raen sah, wie Rheta einen schnellen Blick mit dem Priester rechts hinter ihm wechselte. Dann richteten sich die grauen Augen wieder auf ihn.
„Und seit wann hast du nun diese ... Wahrnehmungen?“
Raen wusste nicht genau, was der Palansetna mit Wahrnehmungen meinte. Aber er versuchte, dem Rat des Prinzen zu folgen und schob sein eigentümliches Misstrauen gegenüber Rheta zur Seite. Vielleicht hatten sie ja tatsächlich Antworten. Bereitwillig begann er zu berichten: „Hellsichtige Träume hatte ich mit fünf Jahren das erste Mal. Ein Wesen, das ich ‚Blutpferd’ nenne, zeigt mir Dinge, die in der Zukunft geschehen. Damals habe ich mich davor gefürchtet, doch jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Das Gefühl ohne Namen, nun, das weiß ich nicht so genau, aber verspürt habe ich es schon in der Schule, meist, wenn die Lehrmeister mal wieder ungerecht zu mir waren. Und dass ich mich mit dem Setna ohne Worte verständigen kann, weiß ich erst seit eben.“ Voller Erwartung sah er den Palansetna an, nachdem er geendet hatte.
Aber Rheta nickte nur. „Hier, nimm etwas Zhangha, lasst uns eine gemeinsame Zeremonie abhalten. Das reinigt die Gedanken.“ Er hielt Raen einen Zhangha-Beutel entgegen.
„Aber ...“
„Nimm es!“ Der Ton des Palansetna ließ keine Wiederrede zu, und Raen tat, was von ihm verlangt wurde. Er zerkaute ein Kügelchen und schluckte es anschließend. Sofort verschwammen die Konturen vor seinen Augen, und der Raum begann sich zu drehen. In seinem Magen breitete sich eine merkwürdige Dumpfheit aus.
‚Ist das wirklich Zhangha? Es fühlt sich so anders an’, dachte er benommen und tauchte kurz darauf in eine tiefe Bewusstlosigkeit ein.

Als er erwachte, fühlte er sich seltsam leer. Nicht ein Gedanke wollte sich in seinem Kopf formen lassen. Er richtete sich auf, weil er offenbar zur Seite gesunken war und nur mit Mühe gelang es ihm, seinen Blick auf Rheta zu konzentrieren.
„Was war das?“, fragte er lallend.
„Durch deine Verwundung bist du wohl noch zu schwach für das Zhangha, es hatte eine viel zu starke Wirkung auf dich. Du bist Ohnmächtig geworden“, erklärte der Oberste der Palansetna. „Nun ja, das hätten wir uns eigentlich denken können, aber trotz allem hat das Zhangha dich gereinigt. Wie fühlst du dich?“
Die Erklärung des schwarzen Priesters kam Raen etwas lahm vor, aber er antwortete: „Langsam geht es wieder.“
„Gut.“ Rheta klopfte sich mit den Händen auf die Oberschenkel, es war eine abschließende Geste.
„Aber was ist nun mit meinen Wahrnehmungen?“, fragte Raen hastig, bevor sein Gegenüber sich erheben konnte.
Ruckartig fixierte Rheta ihn mit seinen grauen Augen, und es schien dem jungen Krieger, als würde die Luft um ihn herum plötzlich erkalten. Eine Gänsehaut wuchs auf seinen Armen. Die bedrohliche Aura, die er bei dem Priester bereits zuvor vage wahrgenommen hatte, schien sich zu verdichten.
Der Bursche ist gefährlich!, hörte er den Palansetna im Geiste sagen. Es ist unverantwortlich, ihn weiter gewähren zu lassen. Doch Raen wusste, dass er sich das nur einbildete, weil er sich von den Männern in ihren schwarzen Roben einschüchtern ließ. Er straffte seine Haltung, um ihnen nicht noch mehr zu offenbaren, wie nervös sie ihnmachten.
Unvermittelt wandelte sich der harte Ausdruck Rhetas zu einem Lächeln, das jedoch genauso undurchlässig war wie sein Blick, und er sagte: „Sie sind nichts, worum du dich sorgen müsstest. Nimm sie als dein Schicksal. Aber gehe nicht mit ihnen Hausieren.“ Er hob einen Zeigefinger. „Du weißt, das wird nicht gern gesehen, weder von deinen Mitmenschen, noch von Hyaun! So, und jetzt wollen wir diese kleine Sitzung aufheben. Banskeid Raen, denke an unsere Worte und gehab dich wohl.“ Der Priester erhob sich und mit ihm seine zwei Begleiter.
Auch Raen bemühte sich, auf die Beine zu kommen, und seine verheilende Wunde schmerzte dabei empört auf. Einen Moment wankte er, und Rheta reichte ihm den Arm, um ihn zu stützen. Raen verzog entschuldigend das Gesicht, nahm seinen Stock auf und ließ den schwarzen Priester rasch los, denn er wollte keinen Augenblick länger mit ihm in Berührung sein.
„Gehabt euch wohl, meine Herren Palansetna“, sagte er, verneigte sich mit etwas mehr Würde und verließ dann den viel zu kleinen Raum.

In der Küche im Wohnturm bestürmten Shani und Kaera ihn mit Fragen. Es war bereits Zeit für das Nachtmahl, so lange war er im Tempel gewesen. Der große Speiseraum war sehr voll, aber seine Freunde hatten ihm einen Platz freigehalten. Raen setzte sich zu ihnen und bekam eine Schüssel mit Suppe und dazu ein Stück weißes Brot gereicht. Er hatte kaum richtig Appetit, so sehr hatte ihn die eigenartige Begegnung mit den Palansetna mitgenommen.
„Na, auf jeden Fall hat er sich mal wieder gewaschen!“, sagte Kaera und deutete grinsend auf Raens frisch rasierten Schädel, „Na los, jetzt erzähl uns schon, wie war es?“
Raen war überhaupt nicht nach einer Plauderei zumute, aber seinen Freunden zuliebe, erzählte er ihnen in stark verkürzter Version von der Gerichtssitzung, von der Strafe, die sie ihm auferlegt hatten und von dem Gespräch mit dem Setna.
„Ihr habt euch bloß unterhalten?“, konnte Kaera Raens Schilderung nicht glauben.
„Ja.“ Selbstverständlich hatte er verschwiegen, auf welcher besonderen Ebene diese ‚Unterhaltung’ stattgefunden hatte.
„Und was war daran jetzt die Abbitte? Nicht, dass ich dir Schlimmeres gewünscht hätte, Raen, aber was sollte das alles?“
„Ich schätze, er wollte mich einfach kennenlernen. Vielleicht wollte er herausfinden, ob ich das, was ich getan habe, noch einmal tun könnte.“
„Und?“
„Der Rest des Gespräches bleibt unter uns.“
„Och, schade“, seufzte Kaera enttäuscht.
„Dann ist deine Ehre ja wieder hergestellt. Eine vernünftige Frau kann sich also wieder mit dir einlassen!“, rief Shani erfreut aus und schmuggelte ein Augenzwinkern zu Raen hinüber.
„Was meint sie denn damit?“, begehrte Kaera neugierig zu wissen.
„Ach, nichts“, gab Raen fröhlich an. „Es ist nur so ein Scherz zwischen uns.“
„Ach, so ist das, die Herrschaften haben also Geheimnisse! Suneka wäre sicherlich nicht erbaut, davon zu hören.“
„Suneka wird sich freuen, mich wiederzusehen. Behalte deine absurden Phantansiegebilde mal schön für dich, Kamerad!“, erwiderte Raen halb drohend und halb im Scherz.
„Auf jeden Fall brauchen wir uns keine Sogen mehr um ihn zu machen. Das ist doch gut, oder etwa nicht, Kaera?“, lenkte Shani ein.
„Ja, ich bin wirklich froh, daß die unerfreuliche Angelegenheit jetzt geklärt ist. Und wenn ich meine Strafe verbüßt habe, wird sich niemand mehr daran erinnern.“ Raen lächelte versonnen. ‚Ich habe die Prophezeiung erfüllt, und der Setna hat meinen Mut gelobt. Wer kann das schon von sich behaupten? Ich bin ein Banskeid und kämpfe für mein Volk, das habe ich bewiesen!’, dachte er zufrieden und aß, nun doch hungrig geworden, seine Schüssel leer.

Einen Monat später saß er auf Jakori, die mit seinen Habseligkeiten beladen ungeduldig mit dem Vorderhuf im Gras vor dem Dortena mit der Nummer Neun scharrte. Die Wimpel über dem Tor der Unterkunft waren abgenommen, und die Räume und Ställe gesäubert worden. Jegliche Spuren ihrer Anwesenheit, welche auch die Spuren des Krieges waren, waren beseitigt. So waren auch die Löcher in der Grenzmauer Stein für Stein schon fast wieder vollständig zugewachsen, wie auch die Narben der Krieger verheilten. Alles sah so aus wie vor dem Kampf. Nur einige der Männer trugen Andenken an das, was geschehen war, mit sich, wenige davon allerdings sichtbar.
Raen, dessen Pfeilwunde gut verheilte, und dessen Schnitt in seinem Gesicht bloß noch ein roter Katzer war, blickte zu den Gipfeln des Passes empor. Dahinter lag seine Heimat, in der seine Liebste auf ihn wartete. Der Tag war perfekt zum Reisen: Die Sonne schien aus einem leicht bewölkten Himmel, und es war angenehm warm. Der Sommer war mit all seiner Kraft noch einmal zurückgekehrt und mit ihm auch der würzige Duft des Erntemondes.
‚Ich komme Suneka, ich komme!’, dachte Raen überglücklich die wohltuende Luft einatmend. ‚Bald sind wir wieder vereint, und dann gehört das Leben uns!’
Das Signal zum Abmarsch erklang, und er wandte seinen Blick ein letztes Mal dem Dortena in seinem Rücken zu. Dort standen einige der Doban-Leute und winkten ihnen zum Abschied, darunter auch Shani.
„Leb wohl“, sagte Raen leise. Er hob die Hand, und Shani winkte heftiger. „Hab Dank und viel Glück.“ Dann blickte er wieder nach vorn, und unbändige Lebensfreude erfüllte ihn, als Jakori sich in Schritt setzte. Ungezügelt flog sein Herz ihm voran über die Gipfel in die Heimat.

*



Hoch oben in den Bergen von Ghor, tief in dem stillen Berg genannt Tulghan, betrat der Novize Sorgha den Raum, in dem das Orakel mit der Zukunft redete. Eine dichte Wolke Melam umfing ihn, als er die Tür hinter sich schloss.
„Ah, mein guter Sorgha, da bist du ja!“, begrüßte Soghul seinen treuesten Diener. Seine Stimme klang hoch, ein melodischer Singsang.
„Ja, Meister, Ihr habt gerufen?“ Sorgha verneigte sich tief vor dem hageren, beinahe märchenhaft alten Mann. Das Orakel hatte die Kapuze seiner weißen Robe so weit über den haarlosen Schädel gezogen, dass seine Augen gerade sichtbar waren. Sie schienen im Halbdunkel der Berghöhle seltsam zu leuchten; ein mattes, getöntes Weiß. Eine annähernd durchsichtige, knochige Hand hob sich und deutete auf einen Platz zur Rechten des Orakels. Sorgha setzte sich auf den mit Schnitzereien verzierten Stuhl.
Der große Soghul lehnte sich zurück und seufzte tief. Er schloss kurz die Augen.
Sorgha erkannte daran, dass sein Meister vor kurzem gesehen hatte und deshalb erschöpft war. Doch Soghul würde es sagen, wenn er etwas brauchte, und so wartete Sorgha einfach, bis sein Meister die Augen wieder öffnen würde. Er blickte sich in dem ihm vertrauten Raum um. Er war karg, nur die Stühle, ein Baldachin aus weißem Leinen darüber, einem Schränkchen mit Räucherwerk und dem großen, hauchdünn gehämmerten Messingbecken, das auf einem hölzernen Sockel ruhte, waren der einzige Schmuck darin. Das Becken war blitzblank poliert und so groß wie ein Wagenrad. Klares Wasser, das Wasser des Sehens, das aus einer Quelle direkt im Berg kam, stand darin, seine Oberfläche noch nicht ganz zur Ruhe gekommen. Es musste wirklich gerade erst passiert sein, dachte Sorgha, der sich wünschte, eines Tages einmal dabei sein zu können, wenn sein Meister mit dem Hüter der Zukunft Kontakt aufnahm. Aber er würde es niemals wagen, ihn danach zu fragen.
Nach einer ganzen Weile öffnete das Orakel seine Augen.
„Verzeiht Sorgha, ich bin sehr müde, es erschöpft mich immer mehr, zu sehen, was Al Nor mir zeigt. Wie sehr sehne ich mich nach etwas Ruhe.“ Er seufzte erneut. „Einfach nur Stille hinter den Augen!“
Sorgha war peinlich berührt, von seinem Meister solch eine Gemütsbekundung zu hören. Soghul war immer ein Hort der Kraft und Selbstbeherrschung gewesen, auch wenn er beileibe nicht so aussah, aber er konnte nächtelang über der Schale sitzen und in die Zukunft spähen. Jetzt zu vernehmen, dass er müde sei, beunruhigte ihn.
„Meister, fehlt Euch etwas?“, fragte er sorgenvoll.
Soghul schüttelte den Kopf, ganz langsam. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen schmalen Lippen, und die Haut schien sich noch mehr über seinen hervorstehenden Wangenknochen zu spannen als sonst.
„Nein, nein, sei unbesorgt, mein Bester, noch bin ich von meinen Pflichten nicht entbunden. Ich werde nur immer älter und älter und frage mich, wie lange es noch dauern wird, bis die Welt mich nicht mehr braucht.“
„Aber Meister ...“ Sorgha blieben die Worte im Halse stecken. Die Vorstellung, das ehrwürdige Orakel würde einmal nicht mehr sein, bereitete ihm Angst.
Soghul kicherte leise, als hätte es seine unsinnigen Gedanken gehört. Das Orakel von Tulga war schon immer da gewesen und wird es immer sein!
„Manchmal wünschte ich mir, auch in meine Zukunft schauen zu können“, wieder lachte er, „nur einen winzig kleinen Blick.“ Soghul spitzte vergnüglich die Lippen. „Aber nun Spaß beiseite.“ Er blinzelte und sah Sorgha ernst an, das Lächeln war nur noch eine vage Erinnerung in diesem von Räucherwerk wabernden Raum.
„Es hat begonnen!“, raunte er geheimnisvoll, und es war, als hallte seine Stimme von den dunklen, roh in den Stein gehauenen Wänden wider.
„Oh, Meister“, seufzte Sorgha, der die Bürde dieses Wissens mit dem Orakel teilte, „es hat begonnen. Endlich!“ Jetzt ließ auch er sich ein seinem Stuhl zurücksinken und schloss die Augen. Seine Lippen bewegten sich ein wenig, als er Al Nor, dem Hüter der Zukunft, ein stilles Gebet zusandte.


ENDE
Erster Teil

Impressum

Texte: Anette Strohmeyer
Bildmaterialien: Anette Strohmeyer
Tag der Veröffentlichung: 02.05.2012

Alle Rechte vorbehalten

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