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Fesseln

Verlassen stand das Haus oben in den Dünen und der aschfahle Rauputz flammte im Licht der untergehenden Herbstsonne dahin. Lustlos saßen die Möwen zwischen den hohen Gräsern, aufgeplustert, der eisigen Kälte trotzend. Der Winter nahte. Und schon bald würden dicke, weiße Flocken auf die See hernieder- schneien, doch nur um dem salzigen Spiegel zu erliegen. Dabei würden sie doch heimkehren. Sie würden wieder mit dem verbunden sein, von dem sie einst getrennt wurden, um auf eine weite Reise zu gehen.

Apathisch beobachtete sie durch das Fenster den endlosen Ozean und verlor sich in seiner Weite, seiner Kraft. Ihr Blick war verschwommen, doch nicht von Tränen. Sie erinnerte sich nicht daran, wann sie das letzte Mal geweint hatte. Und obwohl ihr im Augenblick nach nichts anderem war, schaffte sie es nicht sich zu überwinden, sich ihrer Trauer hinzugeben. Ihre Seele weinte, das war genug. Sie warf einen langen Blick hinter sich, sah in den Kamin, der genauso von Leblosigkeit zu berichten wusste, wie alles hier in ihrem erwählten Reich. Sie hätte sich gerne bewegt, wäre vor die Tür gegangen. Sie hätte gerne Holz herein geholt, um es brennen zu lassen. Es ver- langte sie nach Wärme, von irgendetwas, von irgendwem. Sie sehnte sich nach kräftigen Armen, die sie fordernd in sich bargen, nach Flammen, die ihr Herz berührten, nach sehn- süchtigen Augen und einer selbstlosen, innigen Berührung ihrer Lippen, die nur ihr gehörte. Doch etwas fesselte sie. Sie schaute wieder aus dem Fenster, betrat erneut die Welt, aus der sie einen kurzen Moment entfliehen konnte.

Schweigend stand sie vor dem Feuer, das vor ihren Augen davonschwemmte. Eine Flut von Gedanken marterte ihr Herz, ein Orkan von Gefühlen betäubte ihren Kopf und hilflos stierte sie in die flackernde Flüssigkeit. Selbst das Grollen, das durch die weit entfernten Wolken brach, schaffte es einfach nicht, sie noch einmal aus ihrer Welt zu holen. Sie hatte noch etwas zu erledigen, bevor sie zurückkehren würde. Aber was sollte sie tun? Schutzlos stand sie in dieser Fremde, hatte vor Augen, was sie haben wollte, doch die reißende Flut und der Orkan lieferten ihr einen wütenden Kampf. Woher sollte sie die Kraft nehmen, sich aufzulehnen? Dicke imaginäre Taue, um ihre Hände gebunden, schnitten ihr tief in das Fleisch. Und je mehr sie sich gegen diese Fesseln wehrte, desto mehr wurde ihr bewusst, dass es nicht sie war, die sie davon befreien konnte. Ein drangsalierender Wind von Gefühlen trieb ihr die Tränen in die Augen und die getrübten Wellen ihrer Gedanken schwemmten sie wieder fort, ließen sie glücklich zurück. Sehnsucht erfüllte sie und sehnsüchtig versuchte sie ihre Hände zu bewegen. Die Stränge waren noch dort und die harten Fasern stachen sie in die Haut. Resignierend schüttelte sie ihr Haupt. Doch aufgeben? Nicht nach all der Zeit.
In Gedanken wünschte sie sich an den Rand der Dünen, auf diesen endlosen sandigen Pfad zwischen gräsernen Wellen und den Wogen des Meeres. Zwei ungleiche Mächte, voneinander getrennt, und nur eine hatte die Möglichkeit, die andere zu ergreifen, sie auszuschwemmen, zu sich zu holen. Sie brauchte nur auf die eine achten, denn die Kraft in ihrem Rücken konnte ihr nichts anhaben. Ein selbsttäuschendes, gebrochenes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Schließlich war es genau diese harmlose Weltenwange, die sie jetzt hier sein ließ, fern von den Menschen, fern von Geborgenheit, Trost und Wärme. All die Ereignisse in ihrem trivialen Leben, die Bürden ihrer Vergangenheit waren ihr in dieser Welt widerfahren. Aber wo sollte sie hin?

Frierend und isoliert stand sie am Strand, der Grenze zwischen ihrer fremdauferlegten Apathie und dem inbrünstigen Verlangen nach Freiheit. Sie steckte all ihre unerfüllten Sehn- süchte in diesen einen Blick zum Horizont und fragte sich, wie wohl ein Leben dort draußen gewesen wäre, jenseits dieser Kraft, die sie fest in ihren Armen hielt, sie verzehrte. Die Wolken waren näher gekommen und der sinkenden Sonne fehlte allmählich die Kraft sich der hereinbrechenden Finsternis noch länger zu behaupten; Immerschweigend ertrank sie in ihrem eigenen Blut. Bizarres, gleißendes Licht durchzuckte unregelmäßig den Himmel - ihre Seele. Schon häufig hatte sie die bunten Nordlichter in allen möglichen Farben schillern sehen, doch heute Abend war ihr, als wollten sie eine Geschichte erzählen, ihr vor Augen halten, was dort draußen war. Sie konnte ihren Blick nicht lösen, diesen Gedanken nicht ablegen, der jemandem bei solch einem Anblick von ergrei- fender Energie einfach durch den Kopf gehen musste. Sie wollte ein Teil von diesem Schauspiel sein. Sie war es und sie wusste es, warum fühlte sie es nicht? Wo war ihre Leiden- schaft? Ihre Fähigkeit, sich hinzugeben, mit einem Augenblick zu verschmelzen?
Das immerwährende Rauschen der Wellen, das ständige Nähern und Fliehen, wie eine winkende ergreifende Hand, versetzte sie in stille Euphorie. Sie fühlte sich gerufen, geborgen in dem geschmeidigen Fluss der nun schneller näherrückenden Wolkendecke, die im laufenden Vorgang ihrer Bestimmung sich ständig verändernde, skurrile Formen annahm. Immer und immer wieder flackerten ihre diffusen Silhouetten in berau- schend buntem Licht, warfen ihre aufdämmernden Schatten auf die nun tosende See. Sie war wilder, erzürnt, dass all ihre verführenden Taten nicht halfen, diese Kreatur dort draußen zu überreden, endlich näherzukommen. Dabei konnte dieses Geschöpf einfach nur nicht wahrhaben, dass dort draußen etwas war, von dem sie begehrt wurde - von dem sie glaubte, dass es nun Zeit war, Abstand zu nehmen.

Einsam lief sie barfuss über den kalten Sand. Sie wusste, sie würde sich den Tod holen, doch das war ihr gleich. Sie sehnte sich nach einem Menschen, der sie bei der Hand hielt, ihr liebevoll über den Körper strich. Aber es war nur ein seidenes Tuch, das ihren nackten, erregten Körper im eisigen Wind umspielte, bei jeder Böe sinnlich über ihre Haut zitterte. Berauschend streichelte der zarte Stoff über ihre Brust, bei jedem ihrer Schritte. Sie blieb stehen, schloss die Augen und wünschte die Hände eines Mannes, der sie mit seiner Leiden- schaft zu begehren verstand, sie spüren ließ, dass sie eine Frau aus Fleisch und Blut war und nahezu unstillbare Lust empfinden konnte.
Spärlich waren die Risse in den Wolken verteilt, und nur eine Hand voll Sterne vermochten ihren traurigen Glanz auf die Erde hinunterzuwerfen. In unendlicher Ferne lebten sie unbewusst und einsam dahin. Sie sah in den Himmel und fühlte sich für einen Moment verbunden, doch dann bedrückte sie das Bewusstsein darüber, dass sie nicht einmal betrachtet wurde.
Unwirklich irisierte der Nimbus des Mondes durch die Wolken, die ihre schwere Last nun über den Saum von Wasser und Land schleppten. Verzaubernd schwebte das Licht der vollen Luna, wie ein schillerndes sich windendes Schild auf der brausenden See. Der bitterkalte Wind stach ihr jetzt, wie unzählige kleine Nadeln, in die rosige Haut. Der leichte Schmerz befriedigte sie, ihren Drang, dass sie etwas berührte. Dann blieb sie wieder stehen und wandte sich dem Leben zu.
Ihr war als hätten sie gewartet, auf sie gewartet. Wie ein Traum, der sich das allererste Mal über die Gedanken eines Neugeborenen legte, schwebten die ersten Schneeflocken aus dem Himmel herab. Sie legten sich nieder auf das Land, starben auf dem Ozean und ihr wurde wieder einmal klar, dass es verschiedene Welten waren, zwischen denen sie sich gerade befand. Der Schnee taute auf ihrer Haut, in ihrem Gesicht und ließ zartwässrige Wege hinter sich, ahmte Tränen nach, die sie noch immer nicht weinen wollte und erweckte das betörende Gefühl von einer Verlangen schürenden Zungenspitze, die ihren Körper erforschte. Behutsam glitt das Seidentuch von ihrer Haut, und als habe der Wind nur für diesen einen Augenblick geweht, ergriff er es, warf es in die tosenden Wellen und starb mit ihnen.
Kristalline Melodien fielen weiß und linear auf die beiden nun ruhevollen Welten hernieder, tauchten alles in märchenhafte Pracht. Melancholie erfüllte ihr Herz und das erste Mal empfand sie ein Stück von jenen Gefühlen, wonach sie suchte: Glückseligkeit. Geborgenheit. Freiheit.

Ein angenehmer Schauer durchfuhr sie, legte sich erregend über ihre Brust, ihre Haut. Sie hielt sich an sich selbst fest und streichelte abwesend ihre Oberarme, verfolgte mit ihrem umbestimmten Blick das geschmeidige Auf und Ab ihres Tuches, dass nur wenige Schritt von ihr entfernt auf dem Wasser schaukelte. Ängstlich, sich der neuen Welt zu nähern, steuerte sie darauf zu, blieb stehen vor dieser surrealen Grenze zwischen Novität und Präsenz. Geisterhaft wölbte sich ihr das Stück Stoff entgegen, zeichneten sich Konturen eines mensch- lichen Wesens ab. Was sie sah, lähmte sie, steigerte ihre Furcht vor der Fremde. Hielt sie gefangen, lockte ihre Ungeduld, abzuwarten. Wieder konnte sie die Fesseln spüren, die sie eine Zeit lang vergessen hatte. Sie umschlangen nicht länger ihre Handgelenke. Sie wusste nicht einmal, wo sie waren, aber sie waren da, anders, angenehm. Sie mochte dieses Gespür, sich nicht wehren zu können, sich hingeben zu müssen, ob sie wollte oder nicht.
Die abstrakten Konturen in der Seide prägten sich, wurden plastischer, erhoben sich. Sie sah keine Augen in den markant männlichen Gesichtszügen, keinen Körper unter dem straff gespannten Tuch mit der Form eines athletisch gebauten Mannes. Nur der fallende Schnee schimmerte durch das grünblaue Gewebe hindurch, das ihr fordernd die Hand entgegenstreckte. Sie ergriff sie, nervös, voller Spannung und mit grenzenloser Neugier, über die Berührung zweier Welten. Güte durchfloss sie, Sehnsucht. Ein Vertrauen, als habe sie diese Hand schon ewig gehalten, als wäre sie ein Teil von ihrer warm- herzigen, beschützenden Kraft. Der sanfte Druck wandelte sich in einen Ziehen, erst bittend, dann verlangend, als habe dieses Wesen Anspruch auf sie. Unsicher folgte sie der Aufforderung. Unsicher? – Nach nichts verlangte es sie mehr, als dem folgenden Aneinanderschmiegen ihrer Körper. Er legte ihre Hand in seine Seite und begann erforschend die begehrens- werten Unebenheiten ihres Rückens mit seinen Fingern nachzumalen. Wie kaltes fließendes Gewebe hauchten seine Fingerspitzen über ihre nackte Haut, als wäre jeder Streif nur ein Versehen. Seine Hände verharrten für einen unterlassenen Lidschlag in ihrem Nacken, glitten dann abwärts. So langsam, dass er ihr sich steigerndes Verlangen in ihrem Atem hören konnte. Jeden einzelnen Wirbel ertastend, bis er den Steiß erreichte und ihr ein lustvolles Stöhnen entglitt. Seine erforschenden Hände sanken weiter über ihren Po, bis er ihn in seinen festen Griff nehmen und er ihre entflammte Anspannung fühlen konnte. Dann drückte er ihre Taille gegen seine, und unter seiner spürbaren Erregung erwachte ihre Gier. Sie wollte nicht nur Eines mit ihm werden, eine Verbindung eingehen, sie wollte ihn verschlingen, in sich aufnehmen, verschmelzen. Unter berauschender Lust fielen sie in die Fluten, umgarnten sich und wehrten sich, nahmen sich und gaben sich all den geheimen Wünschen hin, die es jenseits und diesseits ihrer beider Welten gab. Sie lebten auf, bebten dahin und starben immer wieder. Wie elektrisierende Funken, gleich ihrer Ekstase, blitzten die weißen Flocken dort oben in der Weite auf dem Meeresspiegel dahin. Sie tranken ihre Lust, verzehrten ihre Gier und leugneten den Atem.
Ihre Fesseln waren fort, doch in all der Geborgenheit, in der sie sich befand, legte sich die Erkenntnis über ihre Herkunft um ihren Hals, schnürte ihn zu. Mit letzter Kraft bäumte sie sich auf. Ihr salzig nasses Antlitz fuhr empor, heraus aus dem Wasser und sie gierte mit weit aufgerissenen Augen nach Luft, füllte jeden Winkel ihrer Lungen damit, als wäre es der letzte Atemzug. Das kalte, durchtränkte Tuch klebte auf ihrem nassen Körper. Sie fror, wünschte sich nichts sehnlicher, als ein wärmendes Kaminfeuer in ihrem trostlosen, einsamen Reich.

Lächelnd stierte sie aus dem Fenster, spürte die Fesseln um ihre Handgelenke. Wehmütig sehnte sie sich nach den Geheimnissen, die dort draußen in dieser fremden Welt warteten, die nie jemand erfahren würde. Sie hätte jetzt so gerne Holz hereingeholt, ein Feuer entzündet und sich daran gewärmt. Aber sie hatte schon lange keine Materie mehr berühren können, seit sie gestorben war.

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Tag der Veröffentlichung: 15.12.2008

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